Konflikte im Kern gelassen lösen -  - E-Book

Konflikte im Kern gelassen lösen E-Book

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Beschreibung

Was wäre, wenn Konflikte zu Hause, am Arbeitsplatz und in der Welt die gleiche Ursache hätten? Was wäre, wenn wir diese Ursache systematisch missverstehen? Und was wäre, wenn wir dadurch systematisch genau die Probleme aufrechterhalten, von denen wir glauben, sie lösen zu wollen? Jeden Tag. Endlich erscheint der internationale Bestseller auf Deutsch. Anhand einer bewegende Geschichte von Eltern, die mit ihren eigenen Kindern und mit Problemen zu kämpfen haben, die ihr Leben zerstören, lernen wir von einst erbitterten Feinden den Weg zur Lösung persönlicher, beruflicher und globaler Konflikte, auch in Zeiten allgemeiner Unsicherheit. Befreien Sie sich aus der Box!

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Stimmen zum Buch

„Dieses Buch bewegt – lädt uns ein, persönlich zu reflektieren, uns selbst in Frage zu stellen und Eigenverantwortung für bestehende Konflikte zu übernehmen. Für mich zeigt Arbinger hier einen beeindruckenden Weg auf, Teams authentisch und ehrlich zusammenzuführen, um gemeinsam die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern – geschäftlich, wie privat.“Jörg Kunz, Vice President & Partner, IBM Global Business Services

„Für mich bietet dieses Buch wichtige ergänzende Werkzeuge im Umgang mit Konflikten und bei Verhandlungen in meiner Arbeit als Anwältin und Anwaltscoach. Den unmittelbar praktischen Nutzen im Alltagstest hat es gleichzeitig für mich als Führungskraft des ICF und als Mutter dreier Teenager bewiesen. Absolut empfehlenswert.“Dr. Geertje Tutschka, Rechtsanwältin und President Past der International Coach Federation Deutschland e.V.

„Die ‚Anatomie des Friedens‘ zeigt auf nachvollziehbare Weise, wie wir über den eigenen Zustand unsere Beziehungen verbessern und Konflikte reduzieren können – sowohl im Privatleben als auch bei Herausforderungen im Arbeitsleben. Aus meiner Perspektive und Erfahrung bieten die Erkenntnisse und Modelle von Arbinger leicht anwendbare Instrumente, die unternehmerische Veränderungsprogramme zum Erfolg führen.“Adel Al-Saleh, Vorstandsmitglied der Deutschen Telekom AGund CEO der T-Systems International GmbH

„Nachdem ich das Buch gelesen und die weisen Worte aufgesogen habe, die jede Seite des Buches füllen, frage ich mich, warum wir Mathematik zur Förderung logischen Denkens, Sprachen für interkulturelle Kommunikation und andere Dinge unterrichten und dabei das Wesentliche vergessen: eine gute Methode für soziales Verhalten! Lasst uns an Schulen und Universitäten vom Arbinger Institute konzipierte Kurse anbieten, Politiker und Staatsmänner in der ‚Anatomie des Friedens‘ unterrichten und Arbinger einladen, alle möglichen Menschen in ihrem Verständnis davon zu schulen, welchen Beitrag jeder Einzelne von ihnen zur Entwicklung des Friedens auf der Welt leistet.“

Annelies van der Horst, Gleichstellungsprojekt, Zentrum für Gender und Diversity der Universität Maastricht, Niederlande

DER INTERNATIONALE BESTSELLERVON DEN EXPERTEN DES MINDSET CHANGE

KONFLIKTE IM KERN

Die Anatomie des Friedens

HEEL

HEEL Verlag GmbHGut Pottscheidt, 53639 KönigswinterTel.: 02223 9230-0, Fax: 02223 9230-13

E-Mail: [email protected]

Deutsche Ausgabe: © 2019 HEEL Verlag GmbH

Originalausgabe: © 2006, 2008, 2015 Arbinger Properties, LLC © Second Edition 2015 by

Berrett-Koehler Publishers, Inc.

Oakland, CA, USA

All rights reserved

Published by arrangement with Maria Pinto-Peuckmann, Literary Agency, World Copyright Promotion, Kaufering, Germany

Originaltitel: The Anatomy of Peace. Resolving the heart of conflict

Original-ISBN 978-1-62656-431-2

Redaktion und Korrektorat: PeopleSpeakLayout: Beverly Butterfield, Girl oft he West ProductionsCoverbild: Shutterstock/R. Gino Santa Maria

Deutsche Ausgabe:Übersetzung aus dem Englischen: Barbara GerhardsSatz: Ralph Handmann, BonnLektorat: Ulrike Reihn-Hamburger

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks, der Wiedergabe in jeder Form und der Übersetzung in andere Sprachen, behält sich der Herausgeber vor. Es ist ohne schriftliche Genehmigung des Verlages nicht erlaubt, das Buch und Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer bzw. mechanischer Systeme zu speichern, systematisch auszuwerten oder zu verbreiten.

– Alle Rechte vorbehalten –

Printed in Czech Republic

ISBN 978-3-95843-891-0eISBN 978-3-95843-922-1

Unser Schicksal wird von innen herausnach außen geformt,nie von außen nach innen.JACQUES LUSSEYRAN

Inhalt

Vorwort

TEIL IGelassenheit in Zeiten voller Konflikte

1 • Camp Moriah

2 • Korrektur ist keine Lösung

3 • Gelassenheit in Zeiten äußerer Konflikte

4 • Tiefer als das Verhalten

5 • Konflikte, die wir selbst am Leben halten

6 • Die Eskalation von Konflikten

7 • Die Kernfrage bei Konflikten

TEIL IIWarum wir anstelle der Gelassenheit die Anspannung wählen

8 • Die erste Anwendung

9 • Die Grundidee von Gelassenheit und Anspannung

10 • Die Wahl

11 • Der Keim von Konflikten

12 • Was uns im Konflikt hält

13 • Was uns noch im Konflikt hält

14 • Der Weg in den Konflikt

TEIL IIIDer Weg zurück von der Anspannung in die Gelassenheit

18 • Veränderung ermöglichen

19 • Ort der Gelassenheit

20 • Fragen

21 • Handeln

TEIL IVGelassenheit und Frieden verbreiten

22 • Strategie des Friedens

23 • Erkenntnisse

24 • Frieden auf dem Mount Moriah

Vorwort

Konflikte sind allgegenwärtig. Arbeitswelten, Familien und Gemeinschaften sind voll davon. Das Problem ist, dass nicht annähernd genug Leute verstehen, was man dagegen unternehmen kann. Die Studie zum Business Coaching aus dem Jahr 2013, die von der Stanford Universität veröffentlicht wurde, zeigt beispielsweise, dass die Geschäftsführer von Unternehmen die Verbesserung ihres Konfliktmanagements als wichtiger erachten als die Schulung anderer Fähigkeiten. Eine Studie unter Eltern würde wahrscheinlich zu ähnlichen Ergebnissen führen.

Warum herrscht nach wie vor so viel Verwirrung, wenn der Bedarf so groß ist? Der Grund ist, dass in einem Konflikt, wie in der Magie, das echte Geschehen dort stattfindet, wo die Menschen nicht hinschauen. Wir gehen beispielsweise davon aus, dass sich Menschen, die sich in einem Konflikt befinden, eine Lösung wünschen. Das ist allerdings nur teilweise der Fall. Eltern streitsüchtiger Kinder wünschen sich, dass die Streitereien ein Ende haben. Personen, die für einen tyrannischen Vorgesetzten arbeiten, wünschen sich, dass die Tyrannei ein Ende findet. Bürger schwächerer Nationen wollen sicherlich mit Respekt behandelt werden. Allerdings werden Sie bemerken, dass die Beteiligten eines Konfliktes alle auf die gleiche Lösung warten: Sie warten darauf, dass die andere Partei sich ändert. Sollten wir daher überrascht sein, wenn Konflikte andauern und Probleme bestehen bleiben?

Es stellt sich heraus, dass den Menschen, die sich in einem Konflikt befinden, etwas anderes wichtiger ist als die Lösung. Dieses Buch zeigt, was das ist und legt dar, wie Konflikte zuhause, im Arbeitsleben und in der Welt von der gleichen Kernursache herrühren. Darüber hinaus zeigt dieses Buch, wie wir diese Kernursache systematisch missverstehen und ungewollt die Probleme, die wir eigentlich zu lösen versuchen, selbst am Leben erhalten.

Die erste Ausgabe des Buches wurde 2006 veröffentlicht. Es ist seitdem in über zwanzig Sprachen übersetzt worden und hat sich zu einem beständigen Bestseller auf dem Gebiet der Konfliktlösung entwickelt.

Konflikte im Kern gelassen lösen hat entscheidend dabei geholfen, Spaltungen in Unternehmen zu überwinden, Methoden und Ergebnisse in der Strafverfolgung zu transformieren, den Rahmen für ganze Universitäts-Lehrpläne zum Thema Konflikt zu entwickeln, Risse zwischen Mitarbeitern und Management zu schließen, Ehen zu retten sowie viele weitere Beziehungen zu heilen. Führungspersönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik, Eltern, Professoren und Konfliktexperten gleichermaßen nutzen dieses Buch als Leitfaden, um Lösungen für ihre schwierigsten Probleme zu finden.

Das Buch selbst ist in Form einer Geschichte geschrieben. Yusuf Al-Falah, Muslim, und Avi Rozen, Jude, haben beide großes Leid erfahren durch die Handlungen der ethnischen Verwandten des anderen. Das Buch erzählt die Geschichte, wie diese beiden Personen ihre persönlichen Konflikte überwanden, wie sie nun anderen helfen, Konflikte zu lösen, und wie auch wir unseren Weg finden können aus den Problem und Konflikten, die uns belasten.

Diejenigen, die das erste Buch des Arbinger Institutes gelesen haben, Leadership and Self-Deception, werden eine Schlüsselfigur wiedererkennen: Lou Herbert. In dem vorliegenden Buch begleiten wir Lou in die Zeit, als er die Ideen der Konfliktlösung erstmals kennenlernte, die sein Unternehmen und sein Leben dauerhaft veränderten.

Obwohl einige Geschichten von wirklichen Gegebenheiten inspiriert wurden, stellt keine Person oder Organisation dieses Buches eine spezielle Person oder Organisation dar. In vielerlei Hinsicht repräsentieren sie jeden von uns. Sie haben unsere Stärken und unsere Schwächen, unsere Sehnsüchte und unsere Verzweiflung. Sie suchen nach Lösungen für Probleme, die auch uns belasten. Sie sind wie wir und wir sind wie sie. Ihre Erkenntnisse geben uns Hoffnung.

Hoffnung? Ja! Weil unsere Probleme, so wie ihre, nicht das sind, wonach sie aussehen. Das ist zugleich unsere Herausforderung und unsere Chance.

TEIL IGelassenheit in Zeiten voller Konflikte

1 • Camp Moriah

„Ich werde nicht gehen!“ Der Protest des Mädchens zog die Aufmerksamkeit aller auf sich. „Ihr könnt mich nicht zwingen!“

Die Frau, die sie anschrie, versuchte den Teenager zu beruhigen. „Jenny, hör mir doch mal zu.“

„Ich werde nicht gehen!“, kreischte Jenny. „Es ist mir egal, was du sagst, ich werde nicht gehen!“

Mit diesen Worten drehte sich das Mädchen um und wandte sich einem Mann mittleren Alters zu, der hin- und hergerissen war, ob er sein Kind in die Arme nehmen oder sich unbemerkt davonschleichen sollte. „Daddy, bitte!“, bettelte sie.

Lou Herbert, der die Szene von der anderen Seite des Parkplatzes aus beobachtete, wusste noch vor Jennys Flehen, dass dies ihr Vater war. Er konnte sich selbst in dem Mann wiedererkennen. Er kannte die Zwiespältigkeit, die er seinem eigenen Kind gegenüber verspürte, dem 18-jährigen Cory, der angespannt neben ihm stand.

Cory hatte gerade eine einjährige Strafe in einem Jugendgefängnis verbüßt, wegen Drogenmissbrauchs. Keine drei Monate nach seiner Freilassung wurde er wegen des Diebstahls verschreibungspflichtiger Schmerzmittel im Wert von tausend Dollar festgenommen. Dies hatte noch mehr Schande über ihn, und wie Lou meinte, über die Familie gebracht. Dieses Verhaltensprogramm hier sollte sich etwas einfallen lassen, um Cory wieder zurechtzubiegen.

Er schaute zurück zu Jenny und ihrem Vater, an den sie sich verzweifelt klammerte. Lou war froh, dass Cory per Gerichtsbeschluss in dieses Programm geschickt worden war. Ein Aufstand wie der Jennys hätte Cory einen weiteren Aufenthalt im Gefängnis eingebracht. Lou war überzeugt, dass der Morgen ohne Zwischenfälle verlaufen würde.

Lous Frau Carol signalisierte ihnen, zu ihr zu kommen. Er zog an Corys Arm: „Komm, deine Mutter möchte etwas von uns.“

„Lou, das ist Yusuf Al-Falah“, stellte sie den Mann neben sich vor. „Herr Al-Falah hat uns geholfen, alles für Cory zu arrangieren.“

„Natürlich“, erwiderte Lou mit einem gezwungenen Lächeln.

Yusuf Al-Falah war die arabische Hälfte einer ungewöhnlichen Partnerschaft in der Wüste Arizonas. Er war in den 1960er Jahren aus Jerusalem kommend via Jordanien in die USA emigriert, um seine Ausbildung fortzusetzen. Als Pädagogik-Professor an der Arizona State University ließ er sich dann in den USA nieder. Im Sommer 1978 freundete sich Yusuf mit einem jungen und verbitterten Israeli namens Avi Rozen an, der nach dem Tod seines Vaters im Jom-Kippur-Krieg 1973 in die Staaten ausgewandert war. Damals erhielten er und weitere Jugendliche, die Probleme mit ihren schulischen Leistungen hatten, in einem experimentellen Programm die Chance, ihre College-Karrieren während eines langen Sommers in den Bergen und Wüsten Arizonas zu retten. Der fünfzehn Jahre ältere Al-Falah leitete das Programm.

Es handelte sich damals um ein 40-tägiges Überlebenstraining, die Art Erfahrung, die Araber und Israelis aus der Generation von Al-Falah und Rozen seit ihrer Kindheit geprägt hatte. In diesen 40 Tagen entstand eine Verbindung zwischen den beiden. Zwischen Moslem und Jude, die beide ein Land – mitunter denselben Grund und Boden – als heilig ansahen. Aus diesem gemeinsamen Respekt für das Land entwickelte sich über die Zeit ein Respekt füreinander, trotz der Glaubensunterschiede und dem Konflikt, der ihre Völker spaltete.

So zumindest wurde es Lou erzählt. In Wahrheit war Lou skeptisch, was dieses Bild des Friedens anbetraf, das für die Beziehung von Al-Falah und Rozen gezeichnet wurde. Für ihn roch das nach einer Werbekampagne, die Lou nur zu gut aus der Marketingerfahrung seines eigenen Unternehmens kannte. „Komm, werde geheilt von zwei ehemaligen Feinden, die nunmehr zusammen in Frieden in ihren Familien leben.“ Je länger er über die Al-Falah/Rozen-Geschichte nachdachte, desto weniger glaubte er an sie.

Hätte er in dem Moment über sich selbst nachgedacht, hätte er zugeben müssen, dass es genau dieses Flair des Nahen Ostens um Camp Moriah herum war, das ihn dazu verlockt hatte, zusammen mit Carol und Cory das Flugzeug zu besteigen. Sicherlich hatte er allen Grund, nicht mitzukommen. Fünf Führungskräfte hatten kürzlich seine Firma verlassen und die Organisation in Gefahr gebracht. Wenn er schon zwei Tage am Stück woanders verbringen musste, wie es von Al-Falah und Rozen verlangt wurde, dann benötigte er Entspannung auf einem Golfplatz oder an einem Pool statt für eine Gruppe verzweifelter Eltern Mitleid zu empfinden.

„Vielen Dank für Ihre Hilfe“, heuchelte er gegenüber Al-Falah. Lou beobachtete das Mädchen aus seinen Augenwinkeln. Sie protestierte zwischen Schluchzern und hing und zerrte an ihrem Vater. „Sieht so aus, als hätten Sie hier alle Hände voll zu tun.“

Al-Falahs Augen verzogen sich zu einem Lächeln. „Ich denke schon. Eltern können bei Anlässen wie diesen ein wenig hysterisch werden.“

„Eltern?“, dachte Lou. „Das Mädchen ist hier die Hysterische.“ Aber Al-Falah hatte bereits ein Gespräch mit Cory angefangen, bevor Lou darauf hinweisen konnte.

„Du musst Cory sein.“

„Das bin ich wohl“, antwortete Cory flapsig. Lou zeigte seine Missbilligung, indem er seine Finger in Corys Bizeps grub. Cory spannte als Antwort die Muskeln an.

„Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Junge“, erwiderte Al-Falah ohne von Corys Ton Notiz zu nehmen. „Ich habe mich schon lange auf diesen Moment gefreut.“ Er beugte sich vor und ergänzte: „Wahrscheinlich mehr als du. Ich kann mir kaum vorstellen, dass du dich freust, hier zu sein.“

Cory antwortete nicht direkt. „Nein, nicht wirklich. Nein“, gab er schließlich zu und zog seinen Arm aus dem Griff seines Vaters. Er strich reflexartig über seinen Arm, als ob er die letzten möglichen Fasern seines Vaters entfernen wollte.

„Ich kann dir das nicht verübeln“, entgegnete Al-Falah und schaute zu Lou und dann zurück zu Cory. „Ich nehme dir das gar nicht übel. Aber weißt du was?“, Cory sah ihn misstrauisch an. „Es würde mich wundern, wenn du dich sehr lange so fühlen würdest. Vielleicht ja. Aber es würde mich wundern.“ Er gab Cory einen Klaps auf den Rücken. „Ich bin nur froh, dass du hier bist, Cory.“

„Ja, ok“, sagte Cory etwas weniger scharf als zuvor. Dann zurück in alter Form säuselte er: „Was immer Sie sagen.“

Lou warf Cory einen verärgerten Blick zu.

„Also, Lou“, sagte Al-Falah, „Sie sind wahrscheinlich auch nicht allzu begeistert, hier zu sein, oder?“

„Im Gegenteil“, entgegnete Lou mit einem gezwungenen Lächeln. „Wir sind sehr froh, hier zu sein.“

Carol, die neben ihm stand, wusste nur zu gut, dass das überhaupt nicht stimmte. Aber er war mitgekommen. Das musste sie ihm zugestehen. Er beschwerte sich oft über Unannehmlichkeiten, aber am Ende entschied er sich meistens für die unbequeme Option. Sie ermahnte sich selbst, sich auf diese positiven Dinge zu konzentrieren – auf das Gute, das nicht allzu weit unter der Oberfläche lag.

„Wir sind sehr froh, dass Sie hier sind, Lou“, antwortete Al-Falah. Sich Carol zuwendend fügte er hinzu: „Wir wissen, was es für eine Mutter bedeutet, ihr Kind in die Hände anderer zu geben. Es ist eine Ehre, dass Sie uns das Privileg einräumen.“

„Ich danke Ihnen, Herr Al-Falah“, erwiderte Carol. „Es bedeutet mir sehr viel, das von Ihnen zu hören.“

„Naja, so sehen wir das hier“, antwortete er. „Und bitte, nennen Sie mich Yusuf. Und du auch, Cory“, sagte er und drehte sich in Corys Richtung. „Genau genommen, gerade du. Bitte nenn mich Yusuf. Oder ‚Yusi‘, wenn du möchtest. So nennen mich die meisten jungen Menschen hier.“

Anstelle des überheblichen Sarkasmus’, den er bisher an den Tag gelegt hatte, nickte Cory einfach nur.

Wenige Minuten später beobachteten Carol und Lou, wie Cory in einen Bus stieg, zusammen mit den anderen Jugendlichen, die die nächsten 60 Tage in der Wildnis verbringen würden. Mit allen außer Jenny. Sie rannte über die Straße und setzte sich streitsüchtig auf eine Mauer, als sie merkte, dass ihr Vater sie nicht retten würde. Lou bemerkte, dass sie keine Schuhe trug. Er blickte gen Himmel in die morgendliche Sonne Arizonas. „Es wird nicht lange dauern und sie wird ein wenig Verstand beigebracht bekommen“, dachte er bei sich.

Jennys Eltern schienen nicht zu wissen, was sie tun sollten. Lou sah, wie Yusuf zu ihnen hinüberging. Einige Minuten später betraten die Eltern das Gebäude und schauten sich noch einmal nach ihrer Tochter um. Jenny heulte laut auf, als die Eltern durch die Tür gingen und aus ihrem Blickfeld verschwanden.

Lou und Carol verweilten noch etwas auf dem Parkplatz und machten sich mit einigen der anderen Eltern bekannt. Da waren Pettis Murray aus Dallas, Texas, das Ehepaar Lopez aus Corvallis, Oregon und eine Frau namens Elizabeth Wingfield aus London. Frau Wingfield lebte zurzeit in Berkeley, Kalifornien, wo ihr Ehemann eine Gastprofessur für Studien des Mittleren Ostens innehatte. Ähnlich wie bei Lou bestand für sie die Attraktion des Camp Moriah vorwiegend darin, die eigene Neugier bezüglich der Gründer und ihrer Geschichte zu befriedigen. Sie begleitete ihren Neffen nur widerwillig, dessen Eltern sich die Reise von England nach Arizona nicht leisten konnten.

Carol machte eine Bemerkung über die geographische Vielseitigkeit der Gruppe, aber obwohl alle zustimmend nickten und lächelten wurden diese Gespräche kaum registriert. Die meisten Eltern waren viel zu sehr mit ihren Kindern in dem Bus beschäftigt und warfen ihnen alle paar Minuten verstohlene Blicke zu. Lou war am meisten daran interessiert, warum keiner etwas für Jenny zu tun schien.

Lou wollte Yusuf gerade fragen, was er zu tun gedenke, damit der Bus losfahren und ihre Kinder zu dem Camp bringen konnte. In dem Moment klopfte Yusuf dem Mann neben sich auf den Rücken und begann, auf die Straße zuzugehen. Jenny ignorierte ihn.

„Jenny“, rief er zu ihr hinüber. „Bist du okay?“

„Was glaubst du wohl?“, schrie sie zurück. „Du kannst mich nicht zwingen zu gehen, du nicht!“

„Da hast du recht, Jenny. Wir können dich nicht zwingen. Und wir würden es auch nicht tun. Ob du gehst oder nicht, bleibt dir überlassen.“

Lou drehte sich Richtung Bus und hoffte, dass Cory das nicht gehört hatte. „Vielleicht kannst du ihn nicht zwingen zu gehen, Yusi, aber ich kann. Und so kann das Gericht“, dachte er.

Yusuf sagte eine Minute lang nichts. Er stand nur da und schaute zu dem Mädchen hinüber, während ab und zu Autos zwischen ihnen vorbeifuhren. „Hast du etwas dagegen, wenn ich zu dir komme, Jenny?“ rief er schließlich.

Sie antwortete nicht.

„Ich komme jetzt hinüber und wir können uns unterhalten.“

Yusuf überquerte die Straße und setzte sich auf den Bürgersteig. Lou strengte sich an zu hören, was sie sprachen. Aber es war wegen der Entfernung und des Verkehrs nicht möglich.

„Okay, es ist Zeit, dass wir anfangen.“

Lou drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ein kleiner jugendlich wirkender Mann mit einem kleinen Bäuchlein stand im Eingang des Gebäudes mit einem – wie Lou fand – übertriebenen Lächeln im Gesicht. Er hatte dichtes Haar, das ihn jünger erscheinen ließ als er war. „Kommen Sie doch bitte alle mit“, lud er sie ein. „Wir sollten anfangen.“

„Was ist mit unseren Kindern?“, protestierte Lou und zeigte auf das wartende Fahrzeug.

„Die werden bestimmt gleich losfahren, da bin ich mir sicher“, beruhigte der Mann. „Sie hatten die Gelegenheit, sich zu verabschieden, oder?“

Alle nickten.

„Prima. Dann bitte hier entlang.“

Lou schaute ein letztes Mal zu dem Bus hinüber. Cory starrte geradeaus und schenkte ihnen offensichtlich keinerlei Beachtung. Carol weinte und winkte ihm trotz alledem zu, während die Eltern langsam ins Gebäude gingen.

„Avi Rozen“, stellte sich der haarige Mann vor und streckte Lou seine Hand entgegen. „Lou und Carol Herbert“, entgegnete Lou in dem nachlässigen Ton, den er bei seinen Mitarbeitern verwendete.

„Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Lou. Willkommen, Carol“, sagte Avi mit einem aufmunternden Kopfnicken.

Sie gingen mit den anderen durch die Tür und die Treppe hinauf. Dies sollte für die nächsten beide Tage ihr Zuhause sein. „Zwei Tage, in denen wir besser erfahren, was die tun werden, um unseren Sohn wieder auf Spur zu bringen“, dachte Lou.

2 • Korrektur ist keine Lösung

Lou schaute sich in dem Seminarraum um, in dem etwa zehn Stühle in einer U-Form arrangiert waren. Lou setzte sich auf einen der vordersten Stühle. Ihm gegenüber saßen Jennys Eltern. Der Mutter war die Sorge um die Tochter ins Gesicht geschrieben, rote Flecken zeigten sich auf ihrem Hals und ihrem Gesicht. Der Vater starrte vor sich ins Leere.

Hinter ihnen holte sich gerade Elisabeth Wingfield eine Tasse Tee am Getränke-Buffet, das am Ende des Raumes an der Wand aufgebaut war. „Etwas übertrieben die Kleiderwahl“, dachte Lou beim Anblick von Elisabeths elegantem Business-Anzug.

In der Zwischenzeit nahm Pettis Murray, der Teilnehmer aus Dallas, seinen Platz rechts von Lou in der Mitte des Halbkreises ein. Er wirkte auf Lou wie ein Geschäftsmann mit erhobenem Haupt, scharfem Kinn, kontrolliert.

Das Ehepaar auf der anderen Seite von Pettis hätte entgegengesetzter nicht sein können. Miguel Lopez war ein Riese von einem Mann, mit Tätowierungen, die fast jeden Zentimeter seiner nackten Arme bedeckten. Er trug einen so dichten Vollbart, dass es einem schwarzen Tuch um den Kopf zu verdanken war, dass man sein Gesicht überhaupt sehen konnte. Im Gegensatz dazu war seine Frau Ria gerade mal 1,50 Meter groß und von zierlicher Gestalt. Auf dem Parkplatz war sie die Redefreudigste aus der Gruppe gewesen, während Miguel die meiste Zeit schweigend danebengestanden hatte. Ria nickte Lou jetzt mit einem leichten Lächeln auf den Lippen zu. Er erwiderte die Geste und fuhr mit der Untersuchung des Raumes fort.

Am hinteren Ende des Raumes befand sich eine Person, die für sich blieb und die Lou bisher noch nicht kennengelernt hatte – eine Afro-amerikanerin, die er auf Mitte Vierzig schätzte. Im Gegensatz zu den anderen Teilnehmern mit Kindern in diesem Programm war sie nicht draußen gewesen, um sie zu verabschieden. Lou fragte sich, ob sie ein Kind vorbeigebracht hatte, für Camp Moriah arbeitete oder ob sie einen anderen Grund hatte, hier zu sein.

Lou blickte erwartungsvoll nach vorne und verschränkte die Arme locker vor der Brust. Wenn er eines hasste, dann Zeit zu verschwenden. Und es sah so aus, als hätten sie seit ihrer Ankunft nichts anderes getan.

„Vielen Dank, dass Sie alle gekommen sind“, sagte Avi während er nach vorne ging und sich vor die Gruppe stellte. „Ich habe mich sehr darauf gefreut, Sie alle persönlich zu treffen und Ihre Kinder kennenzulernen. Allem voran weiß ich, dass Sie sich alle Sorgen machen – besonders Sie, Teri und Carl“, sagte er und schaute für einen Moment zu Jennys Eltern hinüber. „Ihre Anwesenheit hier ist ein Beweis für Ihre Liebe zu Ihren Kindern. Sie brauchen sich um Ihre Kinder keine Sorgen zu machen, man wird sich gut um sie kümmern.“

„Eigentlich“, sagte Avi nach einer kurzen Pause, „sind die Kinder nicht meine größte Sorge.“

„Wer ist es dann?“, fragte Ria.

„Sie sind es, Ria. Sie alle hier.“

„Wir?“, wiederholte Lou völlig überrascht.

„Ja“, sagte Avi und lächelte.

Lou war niemand, der vor einer Herausforderung zurückschreckte. In Vietnam hatte er als Sergeant im Marine Corps gedient und die grausame Erfahrung hatte ihn sowohl abgehärtet als auch geschärft. Seine Männer nannten ihn „Höllenfeuer Herbert“, ein Name, der sowohl seine laute barsche Art widerspiegelte als auch seine bedingungslose Ergebenheit seiner Einheit gegenüber. Seine Männer fürchteten und verehrten ihn zugleich. Für die meisten von ihnen war er der letzte Mensch auf der Welt, mit dem sie gemeinsam in den Urlaub fahren wollten. Aber kein anderer Anführer bei den Marines brachte mehr Soldaten lebend zurück.

„Und warum sind wir Ihre größte Sorge?“, fragte Lou spitz.

„Weil Sie nicht glauben, dass Sie es sein sollten“, antwortete Avi.

Lou lachte höflich. „Da drehen wir uns im Kreis, oder?“

Die anderen in der Gruppe schauten, wie die Zuschauer in einem Tennisspiel, zurück auf Avi, seine Antwort erwartend.

Avi lächelte und schaute einen Moment nachdenklich auf den Boden. „Erzählen Sie uns von Cory, Lou“, sagte er schließlich. „Wie ist er so?“

„Cory?“

„Ja.“

„Er ist ein Junge mit vielen Talenten, der sein Leben vergeudet“, antwortete Lou sachlich.

„Aber er ist ein wunderbarer Junge“, warf Carol ein, während sie verstohlen zu Lou hinüberschaute. „Er hat einige Fehler gemacht, aber er ist im Grunde genommen ein gutes Kind.“

„Ein gutes Kind?“, entgegnete Lou höhnisch und verlor ein wenig von seiner bisherigen Lässigkeit. „Er ist ein Verbrecher, um Himmels willen – sogar ein zweifacher! Klar hat er die Fähigkeit gut zu sein, aber reines Potenzial macht ihn noch lange nicht gut. Wir wären nicht hier, wenn er ein so guter Junge wäre.“

Carol biss sich auf die Lippen und die anderen Eltern im Raum rutschten verlegen auf ihren Stühlen hin und her.

Lou spürte das Unbehagen um ihn herum, beugte sich nach vorne und ergänzte: „Entschuldigen Sie, wenn ich Klartext rede. Aber ich bin nicht hier, um die Errungenschaften meines Kindes zu feiern. Ganz ehrlich, ich bin königlich angefressen und stinksauer auf ihn.“

„Überlassen Sie das Königliche mir, wenn es Ihnen nichts ausmacht“, spöttelte Frau Wingfield. Sie saß zwei Stühle weiter rechts, auf der anderen Seite von Carol.

„Natürlich“, erwiderte er mit einem Lächeln. „Ich entschuldige mich bei der Krone.“

Sie nickte ihm zu.

Es war ein Moment der Leichtigkeit, den alle im Raum gerne annahmen. Denn ein Gefühl der Schwere hatte ihr Leben in den letzten Jahren dominiert.

„Lou hat recht“, sagte Avi nachdem der Moment vorbei war. „Wir sind nicht hier, weil unsere Kinder gute Entscheidungen getroffen haben, sondern weil sie schlecht gewählt haben.“

„Das ist es ja, was ich sage“, nickte Lou zustimmend.

Avi lächelte. „Also, was ist dann die Lösung? Wie können die Pro-bleme, die Sie in Ihren Familien erfahren, gelöst werden?“

„Ich denke, das ist offensichtlich“, antwortete Lou sofort. „Wir sind hier, weil unsere Kinder Probleme haben. Und Camp Moriah hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kindern zu helfen, ihre Probleme zu überwinden. Das stimmt doch oder?“

Carol störte sich an Lous Ton. Er sprach jetzt mit seiner Vorstandsstimme – direkt, herausfordernd und aggressiv. Er sprach selten in diesem Ton mit ihr. Aber in den letzten Jahren war dies seine Art geworden, mit Cory umzugehen. Carol konnte sich nicht daran erinnern, wann Lou und Cory das letzte Mal ein richtiges Gespräch geführt hatten. Wenn Sie miteinander sprachen, dann war es eine Art verbaler Ringkampf. Jeder versuchte die Bewegungen des anderen vorherzusehen auf der Suche nach Schwachstellen, die sie dann ausnutzen konnten, um den anderen zur Unterwerfung zu zwingen. Ohne eine wirkliche Matte, in die man den anderen drücken konnte, endeten diese Kämpfe immer unentschieden: Jeder von ihnen beanspruchte für sich einen wertlosen Sieg, während sie mit einer anhaltenden Niederlage leben mussten. Heimlich rief sie gen Himmel um Hilfe, so wie sie es von ihren gottesfürchtigen Eltern gelernt hatte. Sie war sich nicht sicher, ob es überhaupt einen Himmel oder irgendeine Hilfe gab, aber sie sendete ihren Hilferuf nichtsdestotrotz.

Avi lächelte wohlwollend. „Also, Lou“, antwortete er, „Cory ist also das Problem. Das ist es, was Sie sagen.“

„Ja, genau.“

„Er muss repariert werden auf irgendeine Art und Weise – verändert, motiviert, diszipliniert, korrigiert.“

„Absolut.“

„Und, haben Sie das versucht?“

„Was versucht?“

„Ihn zu ändern.“

„Natürlich.“

„Und, hat es geklappt? Hat er sich verändert?“

„Noch nicht, aber deswegen sind wir ja hier. Eines Tages, egal wie groß sein Dickschädel ist, wird er es begreifen. So oder so.“

„Vielleicht.“, erwiderte Avi ohne Überzeugung.

„Sie glauben nicht daran, dass Ihr Programm funktioniert?“, fragte Lou skeptisch.

„Das kommt darauf an.“

„Worauf?“

„Auf Sie.“

Lou stöhnte. „Wie kann der Erfolg Ihres Programms von mir abhängen, wenn Sie diejenigen sind, die in den nächsten zwei Monaten mit meinem Sohn arbeiten werden?“

„Weil Sie im Anschluss wieder mit ihm zusammenleben werden“, antwortete Avi. „Wir können helfen. Aber wenn das Familienumfeld das gleiche ist, wenn er nach Hause kommt, wie vor seinem Aufenthalt hier, dann macht das, was immer hier Gutes geschieht, später wahrscheinlich keinen großen Unterschied. Yusuf und ich sind nur vorübergehende Stellvertreter. Sie und Carol, alle Eltern hier im Raum“, sagte er und deutete auf die Gruppe, „sind die Helfer, auf die es ankommt.“

„Großartig“, dachte Lou. „Was für eine Zeitverschwendung.“

„Sie sagten, Sie möchten, dass Cory sich ändert“, kam eine Stimme von hinten und riss Lou aus seinen Gedanken. Es war Yusuf, der wieder zur Gruppe dazugestoßen war.

„Ja“, antwortete Lou.

„Kann ich Ihnen nicht verübeln“, entgegnete Yusuf. „Aber wenn es das ist, was Sie wollen, dann gibt es etwas, das Sie wissen müssen.“

„Was ist das?“

„Wenn Sie bei Ihrem Kind eine Veränderung ermöglichen möchten, dann muss sich erst etwas bei Ihnen verändern.“

„Ach ja?“, bezweifelte Lou. „Und was könnte das sein?“

Yusuf ging zur Tafel, die fast die gesamte Länge der Wand einnahm. „Lassen Sie mich etwas für Sie skizzieren“, sagte er.

„Am Ende des morgigen Tages“, sagte Yusuf und drehte sich zur Gruppe, „werden wir eine detaillierte Strategie formuliert haben, wie wir anderen helfen können, sich zu ändern. Diese Strategie wird durch ein Schaubild veranschaulicht, das wir die Einfluss-Pyramide nennen. Wir sind jetzt noch nicht in der Lage, die Pyramide im Detail zu betrachten. Deswegen habe ich nur ihre grobe Struktur gezeichnet. Die vollständige Struktur wird uns helfen zu entdecken, welche grundlegende Veränderung bei uns stattfinden muss, wenn wir eine Veränderung bei anderen ermöglichen möchten.“

„Okay, ich lasse mich darauf ein“, sagte Lou. „Welche grundlegende Veränderung?“

„Schauen Sie sich die beiden Bereiche der Pyramide an“, lud Yusuf ihn ein. „Der mit Abstand größte Bereich ist der, den ich ‚Helfen, dass Dinge richtig laufen‘ genannt habe. Im Vergleich dazu ist der Bereich ‚sich mit Dingen beschäftigen, die falsch laufen‘ sehr klein.“

„Einverstanden“, sagte Lou und fragte sich, welche Bedeutung das haben sollte.

Yusuf fuhr fort. „Die Pyramide veranschaulicht, dass wir wesentlich mehr Zeit und größere Anstrengung darauf verwenden sollten, zu helfen, dass Dinge richtig laufen, statt uns mit Dingen zu befassen, die falsch laufen. Leider ist jedoch diese Allokation von Zeit und Anstrengung normalerweise umgekehrt. Wir verbringen die meiste Zeit mit anderen Menschen mit Dingen, die schief laufen. Wir versuchen, unsere Kinder ‚zu reparieren‘, unsere Partner zu ändern, unsere Mitarbeiter zu korrigieren und all jene zu disziplinieren, die sich nicht so verhalten, wie wir es wünschen. Und wenn wir diese Dinge nicht tatsächlich tun, dann denken wir daran, sie zu tun oder zerbrechen uns den Kopf darüber. Habe ich recht?“ Yusuf schaute sich im Raum nach einer Antwort um.

„Zum Beispiel, Lou“, fuhr er fort, „wäre es fair zu sagen, dass Sie einen Großteil Ihrer Zeit darauf verwendet haben, Cory zu kritisieren und herauszufordern?“

Lou dachte darüber nach. Das war in seinem Fall ohne Zweifel wahr, aber er wollte es so schnell nicht zugeben.

„Ja, ich würde sagen, das stimmt“, antwortete Carol an seiner Stelle.

„Danke“, brummte Lou mit unterdrückter Stimme. Carol schaute geradeaus.

„Es ist mit Sicherheit viel zu wahr auch für mich“, kam Yusuf Lou zur Hilfe. „Wenn wir mit einem Problem konfrontiert sind, ist es ganz normal, dass wir zu korrigieren versuchen. Die Schwierigkeit ist, dass dies selten hilfreich ist, wenn wir mit anderen Menschen zusammenarbeiten. Weitere Zurechtweisungen helfen beispielsweise nur selten einem schmollenden Kind oder einem grübelnden Partner – oder einem Kollegen, der auf der Suche nach einem Schuldigen ist. Mit anderen Worten: Die meisten Probleme im Leben werden nicht einfach durch Korrigieren gelöst.“

„Was schlagen Sie also vor?“, fragte Lou. „Wenn Ihr Kind Drogen nehmen würde, was würden Sie tun, Yusuf? Es einfach ignorieren? Wollen Sie mir sagen, Sie würden nicht versuchen, Ihr Kind zu ändern?“

„Vielleicht sollten wir mit einer weniger extremen Situation beginnen“, entgegnete Yusuf.

„Weniger extrem? Das ist mein Leben! Damit muss ich zurechtkommen.“

„Ja, aber das ist nicht alles, worum Sie sich kümmern müssen. Sie und Carol nehmen keine Drogen und ich wette, das bedeutet nicht, dass Sie immer glücklich miteinander sind.“

Lou musste daran denken, wie still sich Carol ihm gegenüber auf dem gestrigen Hinflug verhalten hatte. Sie mochte es nicht, wie er mit Cory umgegangen war und sie kommunizierte ihr Missfallen, indem sie ihn mit Schweigen strafte. Tränen lagen bei ihr meist ganz dicht darunter. Lou wusste, was ihr Schweigen zu bedeuten hatte. Dass er, Lou, ihren Erwartungen nicht entsprach. Und er hasste das. Er hatte schon genug Ärger mit seinem Jungen. Er hatte diese stillen weinerlichen Belehrungen nicht verdient.

„Wir sind nicht perfekt“, räumte Lou ein.

„Das sind meine Frau Lina und ich auch nicht“, pflichtet Yusuf ihm bei. „Und wissen Sie, was ich herausgefunden habe? Wenn Lina sich über mich aufregt, dann ist es wenig hilfreich, wenn ich versuche, sie zu kritisieren oder zu korrigieren. Wenn sie sich ärgert, dann hat sie ihre Gründe dafür. Vielleicht glaube ich, dass sie im Unrecht ist oder ihre Gründe unberechtigt sind. Aber ich habe sie noch nie davon überzeugt, indem ich verbal zurückgeschlagen habe.“

Er schaute Lou und Carol an. „Was ist mit Ihnen? Haben Ihnen die Versuche geholfen, den anderen zu ändern?“

Lou kaute nachdenklich auf der Innenseite seiner Wange, als er sich an die vielen Auseinandersetzungen mit Carol erinnerte anlässlich ihres Schweige-Verhaltens. „Nein, ich glaube nicht“, gab er schließlich zu. „Nicht immer, auf jeden Fall.“

„Für viele Probleme im Leben“, erklärte Yusuf, „liegen die Lösungen also tiefer als die Strategien zu disziplinieren und zu korrigieren.“

Lou dachte darüber einen Moment nach.

„Aber jetzt zu Ihrer schwierigen Frage“, fuhr Yusuf fort. „Was, wenn mein Kind etwas wirklich Schädliches tut, wie Drogenmissbrauch? Was dann? Sollte ich nicht versuchen, das Kind zu ändern?“

„Genau“, Lou nickte.

„Und die Antwort darauf“, sagte Yusuf, „ist natürlich: ja.“

Das traf Lou völlig unerwartet und er schluckte die scharfe Erwiderung, die er geplant hatte, herunter.

„Aber ich werde mein Kind nicht ermutigen, sich zu ändern, wenn meine Beziehung zu ihm hauptsächlich dem Zweck dient, es zu verändern.“

Lou war in dieser Antwort verloren und runzelte die Stirn. Er begann wieder, seinen Einspruch vorzubereiten.

„Ich werde nur in dem Maße ein Gehilfe der Veränderung“, erklärte Yusuf, „wie ich helfe, dass Dinge richtig laufen, statt einfach die Dinge zu korrigieren, die falsch laufen. Statt zu korrigieren, muss ich beispielsweise mehr helfen, erklären, zuhören und lernen. Ich muss Zeit und Anstrengung investieren, Beziehungen aufzubauen und so weiter. Wenn ich nicht an dem unteren Bereich der Pyramide arbeite, werde ich auch in dem oberen Bereich nicht erfolgreich sein.“

„Jenny beispielsweise“, fuhr er fort, „ist gerade draußen auf einer Mauer und weigert sich, mit den anderen auf den Trekkingpfad zu gehen.“

„Immer noch?“, dachte Lou bei sich.

„Sie möchte nicht an dem Programm teilnehmen“, erläuterte Yusuf. „Das kann man wirklich verstehen. Welche siebzehnjährige junge Frau reißt sich darum, 60 Tage auf hartem Boden zu schlafen und sich von Maismehl und Kleintieren zu ernähren, die die Kinder mit selbstgemachten Speeren fangen?“

„Das müssen die Kinder da draußen machen?“, fragte Ria besorgt.

„Naja, so ähnlich“, lachte Yusuf. “Es ist nicht ganz so primitiv.“

„Aber nah dran“, warf Avi mit einem Kichern ein.

Rias Augen weiteten sich und sie sank zurück in den Stuhl bei der Vorstellung, wie sich ihr Junge in dieser Umgebung schlagen würde. Im Gegensatz dazu nickte ihr Ehemann Miguel zustimmend.

„Also was sollen wir tun?“, fragte Yusuf rhetorisch in die Runde. „Jeder Versuch, ihr Verhalten zu disziplinieren oder zu korrigieren hat wenig Aussicht auf Erfolg, meinen Sie nicht auch?“

„Oh, ich weiß nicht“, argumentierte Lou mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung. „Wenn es nach mir ginge, dann wäre ich zu ihr hinübergegangen und hätte ihr gesagt, dass sie ihren Hintern in das Fahrzeug bewegen soll.“

„Richtig weltmännisch von Ihnen, Lou“, spottete Elisabeth.

„Und was, wenn Sie sich geweigert hätte?“, fragte Yusuf.

Lou sah Elisabeth an. „Dann hätte ich sie dazu gezwungen“, sagte er, jedes einzelne Wort sorgfältig betonend.

„Aber Camp Moriah ist eine private Organisation ohne jede staatliche Autorität“, warf Yusuf ein, „und ohne den Wunsch, zusätzliche Probleme zu generieren, indem wir Menschen nötigen, das zu tun, was wir von ihnen wollen. Wir zwingen Kinder nicht, sich in das Programm einzuschreiben.“

„Dann haben Sie ein Problem“, konstatierte Lou.

„Ja, das haben wir mit Sicherheit“, stimmte Yusuf ihm zu. „Das gleiche Problem, das wir alle in unseren Familien haben. Und das gleiche Problem, das Kollegen und sogar Länder miteinander haben. Wir sind alle von selbstbestimmten Menschen umgeben, die sich nicht immer so verhalten, wie wir es gerne hätten.“

„Also, was kann man in einem solchen Fall machen?“, fragte Ria.

„Wirklich kompetent werden in den Angelegenheiten, die tiefer liegen“, erläuterte Yusuf, „helfen, dass Dinge richtig laufen.“

„Und wie kann man darin kompetent werden?“, griff Ria die Aussage auf.

„Genau darüber wollen wir uns die nächsten beiden Tage unterhalten“, antwortete Yusuf. „Lassen Sie uns mit der grundlegendsten Sache von allen beginnen. Diese würde ich gerne anhand einer Geschichte erläutern, die neunhundert Jahre zurückliegt. In einer Zeit, in der vieles falsch gelaufen ist.“

3 • Gelassenheit in Zeiten äußerer Konflikte