Kontakt und Widerstand - Gordon Wheeler - E-Book

Kontakt und Widerstand E-Book

Gordon Wheeler

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Beschreibung

In diesem Klassiker der Gestaltliteratur untersucht und revidiert Gordon Wheeler zentrale Konzepte der Gestalttherapie. Bei aller Wertschätzung für die Begründer der Gestalttherapie stellt Wheeler fest, dass das vorherrschende Gestalt-Modell zu figurzentriert sei, also mehr der Veränderung der Kontaktfiguren im Augenblick diene als der Neuorganisation der Strukturen des Grundes. Durch eine Akzentverlagerung vom Vordergrund des Kontaktgeschehens auf die Strukturen des Grundes wird ein Neuverständnis der Widerstandsformen im Kontaktprozess möglich. Anhand ausführlicher Falldarstellungen aus dem Bereich der Psychotherapie, der Organisationsberatung und der therapeutischen Ausbildung verdeutlicht Wheeler, wie mit Hilfe dieses Neuverständnisses Verzerrungen in der Entwicklung der Gestalttherapie überwunden und damit ganz neue Möglichkeiten für theoretische und praktische Probleme gefunden werden können.

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Seitenzahl: 358

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Aus dem Amerikanischen übersetzt vonReinhard Fuhr und Martina Gremmler-Fuhr

Zum Autor:

Gordon Wheeler, Ph.D., ist in seinen vielen Jahren klinisch-psychologischer Praxis auch systemischen Dynamiken und Organisationsfragen nachgegangen. Er war Schüler der Nachfolger von Perls und Goodman am Gestalt Institute of Cleveland sowie der Nachfolger von Lewin am National Training Laboratory (NTL). Unter Bezugnahme auf Lewins Arbeiten verwendet Wheeler das Gestalt-Modell, um innerpsychische, zwischenmenschliche und systemische Dynamiken für Interventionen zur Veränderung und zum Wandel zu integrieren. Er ist Mitglied des Lehrkörpers des Gestalt Institute of Cleveland, das er viele Jahre geleitet hat, und President des Esalen Institute, Big Sur, Kalifornien. Daneben ist er Herausgeber von Gestalt Institute of Cleveland Press und Autor zahlreicher Bücher.

© 1993, 2015 EHP - Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbachwww.ehp-koeln.com

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Gestalt Reconsidered – A New approach to Contact and Resistance by Gordon Wheeler, Ph.D.«

© 1991 by Gestalt Institute of Cleveland Press by arrangement with Mark Paterson and Gardner Press, Inc.

Übersetzung aus dem Amerikanischen:

Reinhard Fuhr und Martina Gremmler-Fuhr

2. korrigierte Auflage 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagentwurf: Robert de Zoete / Uwe Giese

– unter Verwendung eines Bildes von Doortje de Vries –

Satz: WB Birkhölzer

Gedruckt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher.

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Für BeverlyFigur und Grund

Inhaltsverzeichnis

Einführung

1. Kapitel:Der Hintergrund in der Gestaltpsychologie

Gestalt und das Assoziationsmodell

Die Gestalt-Schule – frühe Arbeiten

Die Erweiterung des Modells von Wertheimer

Das Modell Lewins

Goldsteins hierarchisches Modell

Gestalt-Persönlichkeitstheorie

Ein Gestaltmodell der Veränderung

2. Kapitel:Das frühe Werk von Perls

3. Kapitel:Gestalttherapie: Das Modell von Goodman und Perls

4. Kapitel:Die Arbeit der Cleveland School

Der Zyklus des Erlebens

Das Gestaltexperiment

Die interpersonale Perspektive

Gruppendynamik

Arbeit mit Systemen

Die Erweiterung des Perlsschen Widerstandsmodells

5. Kapitel:Ein neues Verständnis von Widerstand

6. Kapitel:Die Struktur des Grundes: Zwei klinische Fälle

Der Fall von Josh oder Skylla und Charybdis

Der Fall Linda oder die Bürgerkriege

7. Kapitel:Die Struktur des Grundes (Fortsetzung): Zwei Systemfälle

Das System ohne Widerstand

Einführung

Eine Einführung gibt dem Autor, wie Erik H. Erikson bemerkte, die Möglichkeit, seine nachträglichen Gedanken an den Anfang zu stellen. Nach der Gestaltterminologie markiert er damit die Kontaktgrenze zwischen sich und dem Leser; es ist eine Grenze besonderer Art, die in spezieller Weise gefühlsmäßig besetzt und organisiert ist, bevor der Autor in das vor ihm liegende Material eintaucht. Auf der einen Seite ist da er, der gerade aus dem Gebiet zurückkehrt, das dem Leser noch mehr oder weniger verborgen ist, wobei der Autor sich in der Phase des Rückzugs oder der Reflexion nach seiner Reise befindet, und dabei wird er von den Gefühlen und Interessen beeinflusst, die zu dieser Phase des Kontaktzyklus gehören: etwa Befriedigung und eine zunehmende Aufregung bei dem Gedanken daran, dass er die Eindrücke der Reise nun mit einer anderen Person teilen wird, aber möglicherweise auch Traurigkeit und Verlustgefühle, Befürchtungen, wie andere diese Präsentation des Selbst wohl aufnehmen werden, Besitzansprüche und sogar eine vorweggenommene Verteidigungshaltung – also all jene Empfindungen und Gefühle, die mit dem einher gehen, was Paul Goodman uns den Widerstand des Egotismus zu nennen lehrte, jene Furcht vor dem Verlust oder der Beschädigung des Selbst, ein allerletzter Versuch, den entscheidenden Augenblick des Loslassens, der die Begegnung selbst ist, zurückzuhalten oder wenigstens zu kontrollieren.

Auf der anderen Seite gibt es da den Leser, der sich an einem völlig anderen Ort im Rhythmus des Engagements oder des Kontakts befindet, mit einem ganz anderen Spektrum wahrgenommener Gefühle, Bedürfnisse und Befürchtungen, die den Grund für die Figur des Kontakts in diesem Augenblick organisieren und die wiederum den Zugang zu dem umfassenderen Kontakt prägen, der vor ihm liegt. Aufmerksamkeit oder Ablenkung, Aufregung oder relative Gleichgültigkeit, Offenheit oder Vorsicht, Skepsis, Vertrauen, Einvernehmlichkeit mit einer Autorität, Abwehrhaltung gegenüber der zuvor erwähnten Begegnung seitens des Autors oder die Hingabe des Selbst an diese – sie alle sind in ihren möglichen Mischungen und Schattierungen an der dynamischen Organisation der Kontaktgrenze des Lesers beteiligt; und diese ist nicht, wie Goodman sagt, ein Punkt oder ein Ort, sondern vielmehr ein Prozess, der »Ausdruck einer bestimmten Beziehung«; und das ist gleichzusetzen mit Kontakt (Perls u.a. 1951, 269). Der wahrgenommene Zweck oder das empfundene Bedürfnis, um Kurt Lewin zu umschreiben (und dabei das Hauptargument des ersten Kapitels vorwegzunehmen), organisieren die Begegnung auf beiden Seiten – innerhalb der gegebenen Bedingungen und mit der Unterstützung oder der Begrenztheit der besonderen Fähigkeit jeder Person zu einer flexiblen Bandbreite von Haltungen oder Zugehensweisen, die für jene intendierten Ziele und Bedingungen angemessen sind (welche jeweils das besondere Thema der Psychotherapie sind).

Mit anderen Worten, ich habe mit einigen wenigen Strichen die Grundzüge wenigstens eines Kontaktmoments entworfen, der auf komplexe Weise organisiert und höchst politisch ist (in dem Sinn, dass er mit Beziehung oder Einfluss zu tun hat), der allerdings sehr weit entfernt von dem platonischen Ideal Perls’ und Goodmans von einer »klaren, leuchtenden Figur [ist], die frei fließend aus einem leeren Hintergrund mit Energie gespeist wird« (Perls u.a. 1951, 299; Hervorhebung G.W.). Und das Hauptereignis hat noch nicht einmal stattgefunden!

Unter den gegebenen Bedingungen für Kontakt, also den Zielen und Strukturen beider Seiten im Hintergrund, ist es daher nicht erstaunlich, wenn Autoren ihre Einführungen gewöhnlich dazu benutzen, um das Erreichen eines volleren Kontakts in der Zukunft, der in der Begegnung mit dem Haupttext besteht, vorzustrukturieren oder wenn möglich zu beeinflussen. Normalerweise geschieht dieser Versuch in Form einer Führung durch oder einer Übersicht über die Landschaft, die vor uns liegt, wobei verschiedene Sehenswürdigkeiten hervorgehoben und Klippen verkleinert oder umgangen werden. Dabei wird besonders darauf hingewiesen, wo der Leser am anderen Ende herauskommen sollte und welches der richtige Weg ist, um dorthin zu gelangen. Dagegen ist nichts einzuwenden, aber es sollte jetzt klar sein, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Landkarte handelt, wie sie einem naiven Reisenden von einem wohlmeinenden, aber wenig engagierten Führer – falls es so etwas geben sollte! – in die Hand gedrückt werden könnte, sondern vielmehr um ein höchst parteiisches Dokument, eine Einladung, den Kontaktprozess selbst in einer ganz bestimmten Weise (und nicht in einer anderen), auf einer Landkarte, gemäß bestimmten, vorher vereinbarten Merkmalen des Grundes abzubilden. Und wieder sind wir nach ein paar Abschnitten bei einem der grundlegenden Eckpfeiler der philosophischen Kritik von Goodman und Perls an der »etablierten« Psychotherapie jener Zeit angelangt, nämlich der radikalen, positiven Neubewertung des leidenschaftlichen Begehrens als dem entscheidenden Weg zur Wahrheit und zu angemessenem Handeln – in scharfem Kontrast sowohl zu den klassischen Freudschen Ansichten als auch in gewisser Hinsicht zu den östlichen mystischen Überzeugungen von der Erleuchtung durch Objektivität, Sublimation oder Entrückung. Lassen Sie mich in gleicher Weise (in Vorwegnahme vieler nachfolgender Argumente) den Widerstand des Lesers als das eigentliche Zeichen für leidenschaftliches oder aktives Engagement im Kontaktprozess selbst anerkennen und wertschätzen und nicht als ein Blockieren oder Sabotieren dieses Prozesses.

So weit, so gut; aber es besteht mindestens noch ein weiteres Risiko für diese Art einer parteilichen Einführung: Im Verlauf der Kartierung des Geländes, das vor uns liegt, und bei dem Versuch, die verschiedenen Stadien der Reise so darzustellen, als folgten sie nahtlos und notwendigerweise nacheinander, kann es geschehen, dass die gesamte Argumentation des Buches einen strengeren logischen Charakter, eine linearere Erscheinungsform erhält, als dies bei der ursprünglichen Entwicklung der Fall war, die eher organisch war, sprunghaft vor- und zurückging und sich von einer zentralen Idee her zu den einzelnen Komponenten hin verzweigte – mit einem Wort: eher »Gestalt« war. In einem solchen Prozess kann es vorkommen, dass die zentralste These eines Buches, die grundlegendste Idee, die die einzelnen Teile durchdringt und organisiert, nirgends klar formuliert wird (wie die Neueinschätzung des Begehrens, die dem zweiten Band von Gestalttherapie zugrunde liegt, nicht direkt in dem Buch erörtert wird). Ich möchte daher die organisierende Grundidee formulieren, bevor ich mit der Landkarte für die einzelnen Kapitel beginne: dass nämlich das Kontaktmodell, das uns von Goodman und Perls überliefert und durch viele nachfolgende Autoren ausgearbeitet wurde, im theoretischen Sinn figurgebunden ist; dass die Analyse dieses Kontaktprozesses (oder der Bewusstheit oder der Erfahrung) unvollständig ist ohne direkte Berücksichtigung der Organisationsprinzipien oder Strukturen des Grundes, die in einigen Fällen über die Situationen und über die Zeit hin wirksam sind, und die die Figuren im Kontakt selbst beeinflussen und beschränken; dass Psychotherapie (oder jeder andere Veränderungen auslösende Prozess) immer eine Angelegenheit der Neuorganisation der Strukturen des Grundes über die Zeit hin ist und nicht nur der Kontakt-Figuren im Augenblick; dass diese Überbetonung der Figur für das Gestaltmodell, zumindest in theoretischer Hinsicht, ein Handicap bei der Bearbeitung einer Fülle klinischer und systemischer Prozesse war; dass das Modell von Goodman und Perls einige Verzerrungen und innere Widersprüche enthält, die die Entfaltung des vollen Potentials dieses Modells behinderten; und schließlich, dass die Revision dieser widersprüchlichen Annahmen die Formulierung eines Modells ermöglicht, das bestimmte neue Chancen eröffnet – nämlich die Neueinschätzung von »Widerständen« und die Möglichkeit, »klinische« und »organisatorische« Probleme zum ersten Mal mit denselben theoretischen Begriffen anzupacken. All dies sind Variationen der gleichen Grundidee, nämlich der Hinwendung der ungeteilten Aufmerksamkeit in der Gestaltanalyse auf das Problem der Strukturen des Grundes. Dies ins Blickfeld der Aufmerksamkeit zu rücken, ist der Zweck dieses Buches.

Um den Weg für diese Diskussion zu bereiten und dabei auf besondere, bisher nicht beschrittene theoretische Wege hinzuweisen, werde ich zunächst im ersten Kapitel an den Anfang dieses Jahrhunderts zurückgehen, um einiges von der faszinierenden und revolutionären Arbeit der ersten Generation akademischer Gestaltpsychologen in den Blick zu nehmen (zu nennen sind hier insbesondere Wertheimer, Koffka, Köhler und deren Nachfolger); ihre Arbeit war von so bedeutendem Einfluss, dass es unmöglich ist, sich heute irgendeine Psychologie vorzustellen, nicht einmal eine eindeutig »behavioristische«, die nicht grundlegend gestaltorientiert wäre. Von dort werde ich mich den Auswirkungen dieser Arbeit auf das zuwenden, womit sich die zweite Generation der »Gestaltschule«, besonders Lewin und Goldstein, beschäftigte – und zwar nicht deshalb, weil deren weitreichende Differenzierungen des ursprünglichen Wahrnehmungsmodells im Bereich der Persönlichkeit und des Verhaltens das Modell von Goodman und Perls direkt beeinflusst hätten, sondern weil dies seltsamerweise gerade nicht geschah. Die Gründe hierfür werden im zweiten und dritten Kapitel näher behandelt. Dabei werde ich bewusst eine Position einnehmen, die im Gegensatz zu denen von Henle (1978), Arnheim (1949) und (manchmal) von Perls selbst (vgl. z.B. 1969b) steht. Sie alle behaupteten, dass zwischen der eigentlichen Gestaltpsychologie und dem Modell der Gestalttherapie keine wichtigen oder überhaupt keine Zusammenhänge bestünden. Im Gegensatz dazu werde ich im ersten Kapitel (und auch in den folgenden Kapiteln) zu zeigen versuchen, dass es unmittelbare und bedeutsame Zusammenhänge gibt, auch wenn sie nicht immer vollständig entwickelt wurden. Perls selbst spürte diese Verbindung zwar zunächst, formulierte sie jedoch in seinem frühen gemeinsamen Werk mit seiner Frau Laura Perls Ich, Hunger und Aggression (Perls 1947), nicht sehr klar aus.

Diesem frühen Werk der beiden Perls’ werde ich mich im zweiten Kapitel widmen. Aus der Perspektive des späteren Gestaltmodells ist dieses Buch bestenfalls »skizzenhaft« (um Perls’ eigenen Begriff zu verwenden): Die Gestaltideen, die er zu Beginn ankündigte, werden im größten Teil des Textes kaum entwickelt, und wenn sie schließlich kurz am Ende berührt werden, wird ihre Verbindung mit der Gestaltperspektive nicht deutlich gemacht. Eine Anmerkung ist hier auch auf die Gefahr hin angebracht, dass ich etwas betone, was unstrittig ist: nämlich dass es ohne Fritz Perls kein Gestalttherapie-Modell gäbe. Wie bereits oben erwähnt, war es Perls, der zuerst die Implikationen einer Gestaltsicht der Bewusstheit für einen neuen Zugang zur Persönlichkeit und zur Psychotherapie »roch« (diese Konsequenzen wurden, wie im ersten Kapitel ausgeführt wird, im frühen Werk von Lewin und Goldstein sehr deutlich, aber Perls kannte die Arbeit Lewins vielleicht nicht und verstand seinen eigenen Aussagen zufolge [1969b] Goldsteins Arbeit erst viele Jahre später). Fritz Perls war es auch, der zusammen mit seiner Frau die Forschungsgruppe zusammenbrachte, die das Gestalttherapie-Modell in New York in den Jahren unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg ausformulierte. Und zweifellos war es auch Perls, der Paul Goodman das Original einer Monographie gab, die zumindest der Ausgangspunkt war für Goodmans umfassendere theoretische Darstellung im Jahr 1951. Leser dieses zweiten Kapitels, die Perls persönlich kannten, merkten meist an, dass etwas Wesentliches dieses Mannes selbst – seine Präsenz, seine Hingabe an Lebendigkeit und Authentizität, seine eigene, besondere Art von Integrität oder Ganzheit – in dieser eher rein theoretischen Kritik nicht durchkomme. Nach den Worten von Ed Nevis stand Perls für eine »ganz neue Art, in der Welt zu sein«, die uns dazu veranlasst, auf das zu horchen und es wertzuschätzen, was wahrhaftig in uns ist, bevor wir uns einer vorzeitigen Resignation hinsichtlich dessen überlassen, was möglich oder praktisch oder sozial am ehesten akzeptabel ist. Vielleicht ist es unvermeidlich, dass für jene unter uns in den nachfolgenden Generationen, die nicht die Chance hatten, von Perls persönlich angeregt zu werden, im Laufe der Zeit etwas von der inspirativen Kraft aus dem Kontakt mit ihm verlorengeht. Wenn wir in den folgenden Kapiteln von Perls sprechen, dann meinen wir nicht Perls, den Menschen, sondern den Schriftsteller, oder noch spezifischer das geschriebene Wort, das er uns hinterließ, und das im Vergleich zu seinem tatsächlichen Einfluss auf die gegenwärtige Psychotherapie nicht sehr umfangreich ist.

Wenn ich mich dem dritten Kapitel zuwende, der Arbeit von Goodman (in etwas undurchschaubarer Zusammenarbeit mit Perls und anderen), werde ich bei einem umfassenden Modell der Gestalttherapie selbst angelangt sein – zumindest bei einer vollständigen theoretischen Grundlage für solch ein Modell – und bei einem Vorschlag, wie dieses Modell in seiner Anwendung aussehen könnte. (Es blieb in einem Ausmaß, das in der Gestaltliteratur nicht immer richtig eingeschätzt wird, anderen Autoren und Lehrern, insbesondere Laura Perls, Isadore From, Erv und Miriam Polster, Joseph Zinker und vielen anderen überlassen, die anspruchsvolle, theoretische und praktische Arbeit zu vollbringen, die erforderlich war, um diese Grundlage zu einer klinischen und pädagogischen Methodologie mit natürlich vielen Erweiterungen und Verfeinerungen zu entwickeln.) Aber wer ist der Autor dieser ursprünglichen Darstellung? Goodman beansprucht die Autorenschaft auf der Grundlage einer vorläufigen Monographie von Perls (Wysong 1985), und zumindest in der Öffentlichkeit wurde dieser Anspruch niemals in Frage gestellt (obwohl unter anderen Joel Latner behauptet, dass Perls’ ursprüngliches Manuskript etwas besser ausgearbeitet und näher an der endgültigen Version war, als es Goodman zugeben wollte; Latner, persönliche Mitteilung an E. Nevis, 1988). Wie dem auch sei, ein Vergleich der veröffentlichten Texte scheint hinlänglich zu belegen, dass die Urheberschaft von Gestalt Therapy, Bd. II, bei Goodman liegt – unabhängig davon, welches gemeinschaftliche Denken auch den Hintergrund dieser Urheberschaft gebildet haben mag. Die Figur, könnten wir sagen, ist Goodman, aber der Grund schließt sicherlich Perls, Laura Perls und auch andere mit ein. Überdies gibt es bestimmte eindeutige Diskrepanzen in der Akzentuierung, zumindest zwischen den Darstellungen dort und anderen Arbeiten, die unter dem Namen von Perls sowohl vor als auch nach Gestalt Therapy veröffentlicht wurden – die wiederum auf die Handschrift von Goodman in diesem Band hinweisen. Und schließlich gibt es sowohl Diskrepanzen als auch einige regelrechte Widersprüche zwischen Band I und Band II des Buches (von denen einige im Detail im dritten Kapitel erörtert werden); all dies unterstützt Goodmans Behauptung, dass er den zweiten Band »schrieb« und dass sich sein Anteil daran von dem unterscheidet, was er zum ersten Band beitrug. Wenn ich daher in diesem Kapitel und im ganzen Buch die Formulierung »Goodman sagte« oder Variationen davon verwende, meine ich damit, dass zumindest Goodman selbst sich die besondere Behauptung oder das in Frage stehende Argument zu eigen machte, da es aus seiner Feder stammte, ohne dass ich damit eine Vorentscheidung darüber treffen will, ob die Co-Autoren diese spezielle Ansicht teilten oder nicht oder welchen genauen Anteil sie bei ihrer Entstehung hatten.

Im vierten Kapitel werde ich einige der »Erweiterungen und Verfeinerungen« aufgreifen, die ich zuvor erwähnte, insbesondere solche, die ich der Cleveland School zuschreibe; diese stellt selbst einen sehr vielfältigen Ansatz dar, dem jedoch gewisse wiederkehrende Themen und Fragestellungen eigen sind. Wie ich zuvor erwähnte, ist eine Theorie nicht notwendigerweise auch eine Methode, obwohl sie eine solche enthalten kann und von einer jeden auf die jeweils andere geschlossen werden kann. Es ist eines (wie beispielsweise Goodman) zu behaupten, dass die neue Therapie sich der »inneren Struktur des gegenwärtigen Erlebens« (Perls u.a. 1951, 273) widmet, und etwas ganz anderes, wenn man in praktischen und theoretischen Details darlegt, wie genau dies auszusehen hat, welche Methode anzuwenden ist und was eine mögliche Sequenz von Interventionen durch den Therapeuten sein kann. Wieder waren es die Autoren der Cleveland School – einschließlich der Autorenpaare Nevis und Polster sowie Zinker und anderer – die die kreative Anstrengung auf sich nahmen, diese Methodologie auszuformulieren (eine Methodologie, die im wörtlichen Sinn die Dreh- oder Grenzpunkte und ihre Verbindungen aufzeigte). Was Goodman für Perls in dem Sinn war, dass er eine brillante, ursprüngliche Einsicht aufgriff und sie zu einer umfassenden und zusammenhängenden theoretischen Aussage ausformulierte, waren die Autoren von Cleveland während der letzten vier Jahrzehnte in gewisser Hinsicht in Beziehung zu Goodman. So die klassische Arbeit der Polsters, die hervorhoben, was im Gestalt-Sinn mit Kontakt und Widerständen gemeint ist; Zinkers höchst einsichtsvolle, sorgsame und eindrucksvolle Ausarbeitung des Gestalt-Experiments; oder die Erweiterungen des Modells durch die beiden Nevis’ für Anwendungen auf Systeme mit mehreren Personen.

In vielen ihrer Arbeiten und in ihrer Lehre haben die Autoren der Cleveland-Gruppe und andere (wie deren Lehrer Laura Perls und Isadore From) manchmal viele der gleichen Fragen gestellt und Zweifel hinsichtlich bestimmter Teile der überlieferten Theorie geäußert, die auch das zentrale Thema dieses Buches ausmachen. Wie es für das Stadium des Entwerfens einer Methodologie im Rahmen einer Theorieentwicklung angemessen ist, bestand deren Antwort in einigen Fällen darin, dass sie die Probleme in methodischen Begriffen anpackten. Daher tauchen Aspekte wie der Hintergrund einer Gruppe oder sozialen Einheit, das intensive Sich-Einlassen, die kreative Verwendung von »Widerständen«, Probleme des »Charakters« und der »Persönlichkeit« sowie die Verwendung der persönlichen Geschichte in der Psychotherapie häufig als Themen in diesen Schriften und in der Lehre auf. Was ich nun gern in einer späteren Phase bei einem erweiterten Zyklus der Theorieentwicklung hinzufügen würde, ist die Konzentration der Aufmerksamkeit unmittelbar auf diejenigen Bereiche des ursprünglichen Modells, die es schwierig erscheinen lassen, diese Fragestellungen in konsequenter und wirklich praktischer Weise aufzugreifen, und auf die vernachlässigten Erweiterungen der akademischen Gestaltpsychologie in jenen Bereichen, die diese Fragestellungen unterstützen könnten.

Im fünften Kapitel wende ich mich der Integration all dessen zu, was vorher ausgesagt wurde: der Verwendung der Modelle von Lewin und Goldstein bei der Entwicklung eines Konzepts für einen strukturierten Grund; den Konsequenzen dieser organisatorischen Zugehensweise auf die Bewusstseinstheorie des Wandels und die Induktion von Wandel; der daraus resultierenden Verlagerung des Akzents bei der Definition von Kontakt selbst; dem revidierten Verständnis der »Widerstände«, das sich aus dieser Verlagerung ergibt (theoretisch revidiert; in der Praxis, so behaupte ich, ist diese Revision schon lange wirksam); und dem integrierten Modell selbst, das meiner Meinung nach die ganze Bandbreite menschlicher und klinischer Probleme, die zuvor dargestellt wurden, in einer Weise erfassen kann, die folgerichtiger und flexibler ist und viel mehr dem entspricht, was »Gestalt« ist. Um es noch einmal zu wiederholen: Weit davon entfernt, eine Einstellung einnehmen zu wollen, die sich gegen den Geist Perls’ oder Goodmans richtet, sollen diese Argumente zu den grundlegenden Vorannahmen ihres Modells zurückführen, indem ich bestimmte unvollständige oder vernachlässigte Aspekte dieses Modells aufgreife, die heutzutage drängender und vordergründiger sind als damals. Da ich darauf bestehe, mit dem Grund zu beginnen und nicht mit der Figur, werde ich schließlich auf diesem Weg quasi als methodologischem Ertrag zu einem Modell gelangen, welches endlich intrapsychische und zwischenmenschliche oder systemische Probleme in der gleichen theoretischen Sprache behandeln kann – etwas, was vor allem den Klinikern seit den Zeiten Freuds nicht vergönnt war.

Und damit ist meine (keineswegs vorurteilsfreie) Vorausschau auf das Gebiet, das vor uns liegt, praktisch vollständig. (Ob die Argumente, die in diesen fünf Kapiteln vorgebracht werden, vollständig sind oder nicht, bleibt dem Urteil des Lesers überlassen.) Im allgemeinen wurden Fallbeispiele und Veranschaulichungen mit Ausnahme von einigem illustrativen Material aus der frühen Gestaltforschung im ersten Kapitel in der Hoffnung herausgelassen, dadurch einen erzählerischen Rhythmus und die Klarheit einer anderen, eher theoretischen Art und Weise zu erreichen. Einerseits sollte jedes Kapitel für sich stehen können, und der Leser, der eher an dem einen Thema interessiert ist als an dem anderen, sollte in der Lage sein, jedes einzelne Kapitel – oder überhaupt alle Kapitel in beliebiger Reihenfolge – zu lesen und doch wenigstens die Essenz des übergreifenden Gedankenganges zu erfassen, der daher in jeder neuen Phase der Präsentation wiederholt wird. Andererseits versuche ich in jedem Kapitel, diese theoretische Erzählung anzusprechen und in der Richtung voranzutreiben, die oben skizziert wurde (und man beachte den Tonfall eindimensionaler Parteilichkeit, der sich an dieser Stelle meiner Fremdenführung wieder einschleicht). In der Hoffnung, dieses Ungleichgewicht von Theorie und Praxis wenigstens bis zu einem gewissen Grad auszugleichen, werden in den beiden letzten Kapiteln zwei Arten von Fällen präsentiert, zum einen aus dem »klinischen« Bereich und zum anderen aus dem sozialen oder institutionellen Bereich (wobei es angesichts der Neuformulierungen, die in den vorhergehenden Kapiteln entwickelt werden, möglich sein sollte, diese verschiedenen Problemebenen mit den gleichen Begriffen zu erfassen). Ich beanspruche nicht – um einen Punkt noch einmal aufzugreifen, der bereits erwähnt wurde und in den folgenden Kapiteln auch häufig wiederholt wird – der erste zu sein, der dies im Rahmen des Gestaltmodells versucht. Vielmehr geht meine Einschätzung dahin, dass die beste und kreativste Gestaltpraxis vieles von dem, was in dieser theoretischen Neuformulierung aufgegriffen wird, schon verwirklicht hat. Aber die »beste Praxis« nach dem Gestaltmodell, so behaupte ich, wird nicht überall von der Theorie unterstützt, sondern ist gezwungen, einige gewohnheitsmäßige Sprünge, unerklärbare Rückgriffe oder verwirrende Verbindungen vorzunehmen. Das ist ganz gut und schön, wenn man weiß, was man tut, aber es ist sehr schwer zu lehren! Daher besteht meine Hoffnung eigentlich darin, dass die Gestaltlehre am meisten durch dieses Buch beeinflusst werden kann, wobei es mein Ziel ist, jene kreative Praxis auf der Grundlage eines besser organisierten theoretischen Grundes zu unterstützen und zu vermitteln.

Und nun noch einmal ein (fast) letztes Wort über Goodman und Perls. Es ist üblich, dass diejenigen, die etwas neu bearbeiten, behaupten, sie würden zu den Grundlagen zurückkehren, die irgendwie im Laufe der Zeit verloren gegangen sind oder verzerrt wurden – oder dass sie auf einzigartige Weise auserkoren wären zu erklären, was die Meister wirklich meinten, besser als es die Meister selbst konnten. Heutzutage ist es auch üblich, die Tatsache hervorzuheben, dass vieles von der Arbeit Perls’, besonders in seinen späteren Jahren, eine Zurschaustellung gleichsam einer einzigen Ecke des Gestaltmodells, das er so mühevoll entwickelt hatte, war und dass diese Arbeit, wenn sie nicht schon selbst eine Karikatur dieses Modells war, sich doch dafür hergab, dies in den Händen anderer, weniger disziplinierter Show-Männer (und Show-Frauen) zu werden. Wie ein Hokusai, der seine Pinselführung mit zunehmendem Alter vereinfacht, verwendete Perls Abkürzungen und schnelle Striche, die schnell zu leblosen Klischees in den Händen einiger seiner Imitatoren wurden, die in ihnen nicht wohlbegründete Sprünge ins Zentrum der Sackgasse sahen, sondern eine Abkürzung, die die Notwendigkeit lebenslanger klinischer und kultureller Erfahrung umgehen könnte. Daher rührt die heute verbreitete Praxis, ein paar rituelle Blitzlichter auf Perls zu werfen, um sich mit der eigenen Position von einer bestimmten Art von »Gestalt«-Praxis, die in wohlverdienten Misskredit geraten ist, distanzieren zu können. Dies ist nicht die Absicht dieses Buches, noch ist es das hier dargestellte Bild von Perls selbst, was immer auch die Unterschiede in der theoretischen Akzentuierung, die in diesen Kapiteln entwickelt werden, sein mögen, und wie immer unangemessen die Darstellung von Perls, dem Kliniker, und Perls, dem Menschen, besonders im zweiten Kapitel, sein mag. Trotz der Widersprüche in seinem Leben und in seiner theoretischen Perspektive stand Perls immer in Figur und Grund für Authentizität, Lebendigkeit und Abenteuer (im wahren Sinne des Wortes, dass man das Selbst in der Begegnung riskiert). Das heißt nicht, dass er alle Argumentationen in diesem Buch unterstützt hätte. Hätte er aber, sagen wir, zehn oder fünfzehn Jahre länger gelebt, hätte er seine berühmte Ungeduld und seinen scharfen Blick sicherlich auf die verbreiteten klinischen Probleme dieser Tage gewandt, Probleme, die ich als Verzerrungen nicht nur der Figur, sondern auch des strukturierten Grundes charakterisiert habe: Vereinsamung, Konsumsucht, Ich-Bezogenheit und fehlendes commitment, sowohl in persönlicher als auch in politischer Hinsicht, und die damit zusammenhängenden Probleme des leidenschaftslosen Herzens, die sich uns so häufig in der klinischen (und nicht-klinischen) Population unserer Zeit stellen. Man denke sich – mit einigem Vergnügen – ein glückloses Opfer von heute auf dem heißen Stuhl unter der Peitsche des berüchtigten Zorns von Perls vor: »Mach, dass Du hier wegkommst! Ich kann mit Dir nicht arbeiten. Du lässt Dich wirklich auf gar nichts ein.«

Das gilt auch und sogar in noch stärkerem Maß für Paul Goodman. Heute, nachdem Goodmans literarische und politisch-philosophische Arbeit fast völlig in Vergessenheit geraten ist, ist es nur eine Frage der Zeit, wann er wieder für das, was er war und ist, anerkannt wird: nämlich als eine der einflussreichsten kritischen intellektuellen Stimmen in der Mitte unseres Jahrhunderts in Amerika und einer der vorbildlichsten Literaten. Es war – um einen Vorgriff auf den nachfolgenden Text zu wagen – ein unendlich großer Verlust für die Gestalttherapie und tragisch für unsere Zeit, dass Goodman nicht lange genug lebte, um seine brillante Eloquenz und sein umfassendes intellektuelles Wissen im Hinblick auf die verschiedenen Probleme (oder die verschiedenen Manifestationen des gleichen Problems) des Individuums in der Gesellschaft unserer Zeit zum Tragen zu bringen. Es gerät heute leicht in Vergessenheit, dass Goodman als prophetischer Kritiker zu seiner Zeit keineswegs eine einsame Stimme in der Wüste war. Im Gegenteil, er beeinflusste die gesamte Bandbreite der Befreiungsbewegungen der Fünfziger- und Sechziger-Jahre auf sehr umfassende und direkte Weise – einschließlich der Bewegung zur Befreiung der Psychotherapie von der schalen Begrenztheit Freudscher Ausbildungsinstitute (die heute teilweise wegen des konkurrierenden Einflusses des Gestaltmodells viel weniger schal sind). Er prägte schließlich die Gemüter einer ganzen Generation, die im Gegensatz zu den gesamten autoritären Kräften jener Tage ihre eigene innere Abscheu gegen einen obszönen Krieg wandte. Wenn Goodman zur Zeit der Entstehung dieses Buches noch gelebt hätte, wäre er lediglich so alt wie Präsident Reagan. Diesen Vergleich auch nur auszusprechen, heißt, das anzuprangern, was diese Gesellschaft in der Lage ist, ihren besten Männern und Frauen anzutun.

Und nun ein allerletztes Wort über die geschlechtsspezifische Sprache in diesem Buch. Die Menschen haben, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, eindeutig das eine oder andere Geschlecht. Die englische Sprache versorgt das weibliche Genus mit einer Reihe eigener Pronomen, während das männliche Genus sowohl für das männliche Geschlecht als auch für das Kollektiv und manchmal für unpersönliche Fälle steht. Wem dies letztlich am meisten zum Nachteil dient, ist unklar, wie bei so vielen Dingen der Genus-Politik. Die Schwerfälligkeit der Wiederholung von »er oder sie«, »sein oder ihr« usw. wird bereits in dieser Einführung deutlich. Die Verwendung von sie und ihre für das unpersönliche man ist auch verwirrend und inakzeptabel. Mit Entschuldigungen an alle Seiten und in der Hoffnung auf bessere Zeiten für die Sprache und für die Kultur folgt dieser Text der unbefriedigenden traditionellen Praxis in der Verwendung von er, sein und seinem, um sowohl den maskulinen als auch den generellen Fall auszudrücken.

Wie jedes andere Buch ist auch dieses Buch eine Unterhaltung oder die eine Seite einer Unterhaltung, die im Geist des Lesers fortgesetzt wird und die dann, wenn der Autor Glück hat, in irgendeiner Form der Erwiderung vervollständigt werden kann. Aber dieses Gespräch ist aus vielen vergangenen Gesprächen erwachsen, die den Grund für diese Figur beeinflusst und organisiert haben. Mein Dank gilt den folgenden Gesprächspartnern – Lehrern, Studenten, Kollegen und Freunden – für ihre kreative Zustimmung oder ihren Widerspruch, ihre Herausforderung und Unterstützung, die alle die gegenwärtige Kontaktfigur durchdrungen haben: Anne Alonso, Norm Berkowitz, Rennie Fantz, Isadore From, Murray Horwitz, Michel Katzeff, Frank Kelly, Carolyn Lukensmeyer, Bert Moore, Ed Nevis, Sonia Nevis, Bernie O’Brien, Patricia Papernow, Erv Polster, Jean-Marie Robine, dem verstorbenen Bill Warner, Joseph Zinker und Walter Grossmann, Mentor und lebendiges Modell des Goodmanschen Ideals eines leidenschaftlichen Intellektuellen und eines vollendeten Menschen; und am meisten von allen gilt mein Dank meiner professionellen Geprächs- und Lebenspartnerin Beverly Reifman.

Gordon Wheeler

1. Kapitel

Der Hintergrund in der Gestaltpsychologie

Gestalt und das Assoziationsmodell

Der Legende zufolge wurde die Gestaltpsychologie im Jahre 1910 irgendwo zwischen Hannover und Frankfurt in einem Eisenbahnzug erfunden (das genaue Datum und die Stunde könnten zweifellos rekonstruiert werden), als der Psychologe Max Wertheimer über das optische Verhalten der Leitungen und Masten des Telegrafensystems nachsann, das parallel zum Schienenstrang verlief (Wertheimer 1964). Je nachdem, ob der Zug schneller oder langsamer fuhr, erschienen die Masten zunächst als das, was sie waren (das heißt einzelne Masten in einer Reihe), dann als ein einziger Mast, der in einer Wellenbewegung vor- und zurücktrat, und dann wieder als ein einziger Mast, der an einem bestimmten Punkt außerhalb des Fensters zu gefrieren schien, während die Drähte selbst das Aussehen eines feststehenden Drahtes annahmen, der auf und ab wippte. Immer noch der Legende nach verließ Wertheimer in Frankfurt den Zug, ging in ein Spielwarengeschäft und kaufte ein Kinder-Stroboskop, um diese bekannten, aber merkwürdigen Effekte besser untersuchen zu können, da sie von der vorherrschenden Reflex-Lehre oder Assoziationspsychologie überhaupt nicht gut erklärt werden konnten. Das Ergebnis war zwei Jahre später der Text: »Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegungen« (Wertheimer 1912), in dem er das Konzept eines »Phi«-Phänomens oder eines integrativen Prinzips darlegte, durch das der Organismus einzelne serielle Sinneseindrücke in eine einheitliche Wahrnehmung oder kontinuierliche Bewegung übersetzt; und so wurde die Gestalt-Schule geboren.

In Wirklichkeit verlief die Entwicklung natürlich viel allmählicher, mit einigem Auf und Ab, wie es bei theoretischen Durchbrüchen immer der Fall ist – sie war viel atomistischer oder »assoziativer« im Gegensatz zu diesem sehr gestaltmäßigen Mythos eines einzigen Augenblicks Newtonscher Einsicht. Das Problem atomisierter versus kontinuierlicher Wahrnehmung geht mindestens bis zu Zeno im fünften Jahrhundert vor Christus zurück, mit dessen berühmtem Paradox von der Schildkröte und dem Hasen (da sich die Schildkröte immer weiter vorwärts bewegt, wie langsam auch immer, während der Zeit, die der Hase braucht, um dahin zu gelangen, wo die Schildkröte vorher war, kann er die Schildkröte rein logisch gesehen scheinbar nie überholen). Die Schwierigkeit besteht hier in der scheinbaren Unvereinbarkeit von fragmentierten und kontinuierlichen Prozessen, ganz gleich wie klein die Fragmente sind, in die man das betreffende Wahrnehmungsphänomen zergliedert (wie das Assoziationsmodell es vorhatte). In der Mathematik wurde dieses Problem theoretisch erst nach ein paar tausend Jahren durch die Erfindung der Differentialrechnung durch Newton und Leibniz gelöst – also durch die Mathematik kontinuierlicher Funktionen. In der Psychologie geht die Verwendung des Begriffs »Gestalt« selbst – für diese und andere Probleme des assoziativen Ansatzes – auf v. Ehrenfels im Jahr 1890 zurück (es war auch v. Ehrenfels, der die Begriffe »Figur« und »Grund« in die Wahrnehmungspsychologie einführte, s. Koffka 1935). Mach selbst, der gewöhnlich als Begründer der modernen Psychologie angesehen wird, war nicht nur mit den »reinen assoziativen« oder Reiz-Reaktions-Mustern in seiner Forschung beschäftigt, sondern auch mit der umfassenderen Frage, wie es kommt, dass die Dinge uns so erscheinen, wie sie es tun (Petermann 1932, 3). In ähnlicher Weise widmeten sich Schumann (1900), Müller (1923), Krüger (1913, 1915) und besonders Martius (1912) alle der Qualität der »Ganzheit« in der Wahrnehmung und kritisierten auf verschiedene Weise die »atomistische« Theorie, die besagt, dass Wahrnehmung nur die Summe einer Reihe einzelner Stimuli sei, von denen jeder vermutlich eine bestimmte Gehirnzelle oder mehrere Zellen aktivieren würde – und verwendeten solche vereinheitlichenden Begriffe wie »Produktion«, »Kohärenz-Theorie«, »Komplexqualität« und sogar »Gestaltqualität«. Exner schrieb 1894 (im gleichen Jahr also, in dem Freud zum ersten Mal die »Abwehrmechanismen«, eine weitere »ganze Konfiguration« der Funktionsweise erwähnte, mit der ich mich eingehend in den nächsten Kapiteln befassen werde) folgendes: »Der ganze Eindruck, der durch ein Bild erzeugt wird, das über die Retina blitzt, wird durch die Erregung unzähliger und funktional unterschiedlicher Fasern ausgelöst. Dass wir trotzdem einen einheitlichen Eindruck gewinnen, in welchem die getrennten Sinneswahrnehmungen unbemerkt bleiben, ist in dem begründet, was ich das Prinzip zentraler Konfluenz nennen würde« (Exner 1894, 201). Exners »zentrale Konfluenz« kommt dem Phi-Phänomen von Wertheimer zwanzig Jahre später sicherlich sehr nahe.

Nach den Vorstellungen der »Wundt-Schule« oder der reinen Assoziationstheorie, die zur Jahrhundertwende vorherrschte, sollte Wahrnehmung folgendermaßen vor sich gehen: Ein bestimmter, unterscheidbarer Reiz in der Umgebung – sagen wir eine bestimmte Frequenz und Intensität von Licht, die von einem bestimmten Objekt ausgesandt wird und mit physikalischen Geräten messbar ist – trifft in einem bestimmten Winkel und mit einer bestimmten Energie auf die Retina. Dies löst Schritt für Schritt eine weitere neurologische Sequenz aus, die wiederum zu der Stimulierung einer bestimmten Gehirnzelle oder einem Muster von Zellen führt, welche dann entweder das geistige Bild »produzieren« oder irgendwie selbst dieses Bild »sind« (das Modell ist an dieser entscheidenden Stelle ein wenig unklar; siehe die Diskussion bei Koffka 1935; auch Köhler 1947). Die Theorie ist also in zweierlei Hinsicht »reduktionistisch«: Das heißt, das geistige Ereignis kann ganz exakt auf physische Ereignisse »außerhalb« reduziert werden und vice versa. Theoretisch zumindest sollte es also eine Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen äußerem Objekt und innerem Bild geben (oder zumindest zwischen innerem Bild und dem, was die Assoziationspsychologen den »unmittelbaren Reiz« nannten, in diesem Fall also das tatsächliche Maß und die Qualität des Lichtes, das auf die Oberfläche der Retina traf – da das »Ding an sich« als Reiz unter den unterschiedlichen Bedingungen des Lichts, der Distanz, der Luftqualität, der Bewegung usw. variieren kann).

Auf die Frage, wie eine endliche Zahl von Zellen der Netzhaut solch ein erstaunlich großes Spektrum von geistigen Bildern hervorbringen kann, ist die Antwort der Assoziationstheoretiker: durch eine Neukombination und Permutation unabhängiger Elemente, d.h. Zellen. Ein Bild zur Veranschaulichung könnte etwa das Telefonnetz einer großen Stadt sein, bei dem die Neukombination von lediglich zehn einfachen Reizelementen in einheitlich variierenden kleinen Ketten von jeweils sieben Elementen verantwortlich ist für alle Telefonverbindungen, sagen wir, von New York City mit ihren vielen Millionen verschiedener Möglichkeiten, ganz abgesehen von den möglichen funktionalen Erweiterungen, Konferenzschaltungen, Ruf-Weiterschaltungen, Wartepositionen, ja sogar Vermittlungshilfen und anderen Möglichkeiten, um die Ketten selbst neu miteinander zu verbinden. Wenn man drei weitere Elemente hinzunimmt, kann man ganz Nord-Amerika erfassen; noch einmal etwa fünf weitere Elemente, und man hat die ganze Welt versorgt. Auf diese Weise ist es möglich, wie die Assoziationstheoretiker behaupten, Konstrukte und komplexe Erinnerungen, sogar abstrakte Ideen und Problemlösungsmuster aus einer begrenzten Zahl einfacher einheitlicher und voneinander unterscheidbarer »Bausteine« durch komplexe Neukombinationen aufzubauen, ohne vage und tautologische »Geister in der Maschine« einführen zu müssen, die erklären, wie die Elemente sich organisieren.

Bei solchen Annahmen ist es natürlich, dass sich viele Laborforschungen nach diesem Paradigma auf die Phrenologie konzentrierten: Das heißt, wo genau im Gehirn könnten die Pfade und speziellen Zellen gefunden werden, in denen die einzelnen Sinneseindrücke »aufbewahrt« wurden, und wie wurden diese Zellen nach dem Reiz-Reaktions-Muster mit anderen kombiniert (vgl. die Diskussion dieser Art von Metaphorik als Forschungsorientierung in der Assoziationstheorie bei Goldstein 1939, 1940; auch bei Koffka 1935, bes. Kap. III). Viel von dieser Arbeit wurde, wie Goldstein hervorhob (1939) dann auch gar nicht in vivo durchgeführt, sondern beschäftigte sich mit Reaktionsmustern des Nervengewebes in vitro oder mit den Nervenreaktionen hirntoter Tiere, deren Gehirne entrindet worden waren und die tatsächlich die Art reiner »reizgebundener« Reaktionsmuster des assoziativen Modells demonstrierten, ganz ähnlich, wie sie Goldstein später bei bestimmten hirngeschädigten Kriegsveteranen im vorderen Hirnlappen finden sollte. Auf diese Weise tendierte das Arbeitsparadigma, wie immer in der Wissenschaft, dazu, den Forschungsansatz zu steuern – ein Phänomen, das übrigens durch die Gestaltspsychologie am besten erklärt werden kann. Die zugrundeliegenden Annahmen des Modells, die oft nicht überprüft werden, bestimmen auf fragwürdige Weise die Bedingungen und Vorgehensweisen der Forschung und die Art von Fragen, die gestellt werden – und daher auch die Befunde, die dann das Modell bestätigen. Dass die Gestaltforschung selbst dieser Art von ungeprüften Annahmen gegenüber nicht immun war, wird in der folgenden Erörterung deutlich werden.

Das Problem jedoch mit dieser Art eines »Netzwerk«- oder »Schaltkreis«-Modells als Erklärungsmetapher in der Assoziationstheorie ist, dass man sich das Gehirn nicht so vorstellen darf, dass es nur das Telefonnetz enthält mit seinen vielen tausend Kilometern Kabel und den verschiedenen Schaltfunktionen, sondern dass man in gewisser Hinsicht auch alle Telefonkunden mitdenken muss; nicht nur die Schaltungen, sondern die Botschaften, die durch diese Drähte gehen, die Gespräche, Bilder, Prozesse, Interaktionen, all diese sind auch irgendwie »im« Gehirn, und zwar scheinbar in einer organisierten und steuerbaren Weise. An diesem Punkt bricht die Assoziationsmetapher zusammen, und man ist geneigt zu fragen, wie man von solch einer vereinfachten und offensichtlich naiven Auffassung des geistigen Lebens jemals erwarten konnte, dass sie brauchbare und vollständige Erklärungen hervorbringen könnte für komplexe abstrakte, geistige Funktionen, die weit abseits von irgendwelchen »unmittelbaren Reizen« auf einer qualitativ anderen Ebene stattzufinden scheinen.

In aller Fairness muss gesagt werden, dass das ursprüngliche Modell selbst, trotz einiger überzogener Forderungen neuerer Behavioristen, wahrscheinlich niemals solche Ansprüche erhob. Die Assoziationstheorie war, ursprünglich zumindest, vor allem der Versuch, mit einigem tautologischen oder »mentalistischen« Ballast aufzuräumen, den die Psychologie von der Philosophie her mitgeschleppt hatte, deren Zweig sie bis noch vor einem Jahrhundert immer war (vor allem mit ihren aristotelischen Konstrukten, die Bewegungen der Motilität zuschrieben, Zweck der Zweckhaftigkeit, Willen der Intentionalität usw.). In ihrem Versuch, von der endlosen Erzeugung von Zirkelschlüssen wegzukommen, waren sich die Assoziationstheoretiker (wie die vorigen Zitate zeigen) selbst einiger der Begrenzungen ihrer eigenen Theorie sehr wohl bewusst (s.a. Mandler & Mandler 1964) und brachten ständig eigene Konstrukte zweiter und dritter Ordnung hervor wie z.B. Lernen, Erfahrung, Interpretation, selektive Aufmerksamkeit und Emotionalität, um die offensichtlichen Transformationen von Sinnesdaten nach ihrem »Eintritt« in das Nervensystem zu erklären (Koffka 1935). Wenn sich das Modell dennoch so lange halten konnte (vgl. Petermann 1933, der wahrscheinlich den letzten Versuch unternahm, es systematisch zu verteidigen), dann geschah dies wahrscheinlich aus vorwiegend zwei Gründen. Der erste liegt in der schlichten Tatsache, dass Empfindung, Wahrnehmung und Denken offensichtlich auf irgendeine Weise mit der Welt »realer« externer Reize verbunden sein müssen, weil sonst schwer einzusehen ist, wie der Organismus jemals erfolgreich mit der Umgebung, wenn auch auf unvollkommene Weise, interagieren können sollte. Und der zweite Grund besteht in den wissenschaftlich-philosophischen Verbindungen zwischen dem Assoziationsmodell und der Newtonschen Physik, die solch eine einfache und befriedigende Reduktion der komplexen Erscheinungswelt auf einige wenige grundlegende Kräfte und Partikel ganz nach dem Paradigma der Assoziationstheorie anbot. Wenn man nach dem Newtonschen Modell zumindest theoretisch jemals damit fertig würde, die genaue Position und Geschwindigkeit auch des letzten einzelnen Partikels des Elementarstoffs im Universum zu katalogisieren – dann wüsste man folglich wenigstens potentiell nicht nur alles, was irgendwo zu einer bestimmten Zeit im Universum geschieht, sondern auch alles, was jemals geschah und geschehen wird. Praktisch gesprochen würde man natürlich niemals alle Koordinaten auflisten können. Jedenfalls gäbe es aber kein theoretisches Hindernis gegenüber totalem Wissen, nur eines der Zeit und der Ressourcen. Kurz gesagt, die Geheimnisse des Universums wären aufgeschlüsselt, und der Mensch würde sich hinsichtlich der physischen Welt schnell auf eine Position der Allwissenheit zubewegen. Wenn die geistige Welt dann auch noch erobert werden könnte, wäre diese Position wahrlich gottähnlich.

Die verführerische Kraft dieses Eroberungs- und Steuerungsmodells ist offensichtlich; selbst heute noch können wir es als einen berauschenden, wenn auch verlorenen Traum nachempfinden. Verloren, weil die Physik selbst, die die frühen Psychologen (und auch einige nicht so frühe) als ihren Prüfstein und ihren Führer nahmen, bereits damals ironischerweise fast hinweggeschwemmt wurde, und zwar zunächst durch die allgemeine Relativitätstheorie nach der Jahrhundertwende und dann in noch niederschmetternderer Weise in den zwanziger Jahren durch Heisenbergs Unschärferelation, die beide für sich den Nachweis beanspruchten, dass solch ein absolutes Wissen seiner eigenen Natur zufolge unerreichbar sei.

Trotzdem und ungeachtet der Ungereimtheiten des Assoziationsmodells, auf das die Gestalt-Schule so heftig reagieren sollte, war es dennoch dieses Paradigma, das für die ungeheure Produktivität der behavioristischen Schule in all ihren vielfältigen Verzweigungen einschließlich der Anwendungen auf Psychotherapie in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts unmittelbar verantwortlich war. Ein starker Irrtum (wie Aquin sagte und wie Paul Goodman ihn in seinen Arbeiten, die ich in den folgenden Kapiteln erörtern werde, gern zitierte) ist immer besser als eine schwache Wahrheit; und nirgends ist dies offensichtlicher als in der wissenschaftlichen Forschung. Die Gestalt-Schule beanspruchte dagegen jene dritte Möglichkeit, nämlich eine starke Wahrheit erfasst zu haben, deren Konsequenzen ich im folgenden erörtern werde.

Die Gestalt-Schule – frühe Arbeiten

Wertheimers ursprünglicher Aufsatz von 1912 wich rückblickend betrachtet trotz alledem nicht allzu sehr von den Prinzipien der Assoziationstheorie ab. Zwar identifizierte er einen spezifischen »einheitlichen Prozess« – das Phi-Phänomen –, durch den die einzelnen Reize innerhalb des Subjekts in ein kontinuierliches Bild übersetzt wurden; und in dieser Hinsicht kann man sagen, dass er sich von der reinen »reizgebundenen« Position wegbewegt hatte. Aber diese »einheitlichen Prozesse« wurden selbst »in besonderer Weise auf der Grundlage einer einzigen Erregung konstruiert« (Wertheimer 1912). Dies ist mit anderen Worten wieder Exners zentrale Konfluenz, eine Art Verschmelzung (oder ein »Kurzschließen«, wie Wertheimer es ausdrückte) von einzelnen Erregungen des Rezeptors. Das heißt, die Betonung und die Steuerung in der Wahrnehmung wird immer noch den externen Reizen und ihren entsprechenden Eins-zu-Eins-Erregungen zugesprochen, die dann auf einem bestimmten Energieniveau »einen Sprung machen« und sich sozusagen in dem Kreislauf des Empfänger-Subjekts selbst vermischen. Dies ist wiederum wie bei vielen der einfacheren Modelle der Assoziationstheorie eine Sichtweise, die in vieler Hinsicht dem Alltagsverständnis entspricht: Das, was ich sehe, ist offensichtlich auf bestimmte und recht abhängige Weise mit dem verknüpft, was »da draußen« gesehen werden kann. Wie sonst könnte meine Welt so praktisch funktionieren, wie sie es tut? Beispielsweise steuere ich hauptsächlich mit meinen Augen; ich falle selten hin und fahre auch nicht gegen einen Baum. Mein Nervensystem »nimmt« daher das »auf« und verarbeitet es, was mehr oder weniger »dort« ist – wie die Assoziationstheoretiker behaupten. Die Frage ist nicht, ob dies geschieht, sondern wie es geschieht. In dieser Hinsicht hatte Wertheimer 1912 noch keinen sehr großen Schritt über die anerkannte Erklärung der Assoziationstheoretiker hinaus getan.

Aber es gab da einen kleinen Unterschied, und um diesen kleinen Unterschied hinsichtlich einer etwas komplexeren Rolle des Subjekts herum – wenigstens was die Erklärung der Wahrnehmungsprozesse gegenüber dem vorherrschenden Modell betraf – entwickelten sich rasch eine neue Denkrichtung und ein neuer Arbeitszusammenhang. Die jungen Psychologen Wolfgang Köhler und Kurt Koffka vereinten ihre Kräfte mit denen Wertheimers zunächst in Frankfurt und später in Berlin und begannen bald zusammen mit ihren Studenten und Schülern, eine Reihe von Schriften herauszubringen sowie Experimente und Argumente zu entwickeln, die alle