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Kontextoptimierung ist eine erfolgreiche Methode für die Therapie grammatischer Störungen bei Kindern mit Spracherwerbsstörungen. Die Ergebnisse mehrerer Interventionsstudien haben ihre Effektivität und Effizienz in Einzel- und Gruppentherapie ebenso wie in therapeutischen Phasen des Unterrichts nachgewiesen. Die Erfolge zeigen, dass Kinder durch Kontextoptimierung ihre Blockaden im Grammatikerwerb abbauen, in kurzer Zeit grammatische Fähigkeiten erwerben und ihre grammatischen Störungen überwinden. Dieses Buch führt verständlich in das therapeutische Know-how und die Essentials der Kontextoptimierung ein und bietet konkrete Beispiele für die Praxis. Die downloadbaren Zusatzinhalte bieten zusätzlich 370 kontextoptimierte Phasen mit Arbeitsblättern und Folien für die vorschulische und schulische sowie therapeutische Arbeit mit Kindern mit grammatischen Störungen. Die Ideen sind komfortabel vernetzt und können über verschiedene Kriterien gesucht werden. Die Therapiephasen für die Schule sind auf den Unterricht in vielen Fächern der Klassen 1 bis 7 abgestimmt.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Prof. Dr. Hans-Joachim Motsch lehrt Sprachbehindertenpädagogik in schulischen und außerschulischen Bereichen am Department für Heilpädagogik und Rehabilitation der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln.
Dr. Margit Berg, Sprachheilpädagogin, akademische Oberrätin im Lehrgebiet „Sprachbehindertenpädagogik“ an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, ab Sommer 2017 Professorin im Förderschwerpunkt Sprache und Kommunikation an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, beschäftigt sich in Forschung, Lehre und als Fortbildungsreferentin mit der Diagnostik und Therapie grammatischer Störungen.
Ebenfalls im Ernst Reinhardt Verlag erschienen:
Motsch, H.-J.: Diagnostikmaterial zu ESGRAF 4 – 8
(2016, ISBN 978-3-497-02620-3)
Motsch, H.-J.: ESGRAF-MK. Evozierte Diagnostik grammatischer
Fähigkeiten für mehrsprachige Kinder (2011, ISBN 978-3-497-02236-6)
Motsch, H.-J., Marks, D., Ulrich, T.: Wortschatzsammler.
Evidenzbasierte Strategietherapie lexikalischer Störungen im Kindesalter
(2. Aufl. 2016, ISBN 978-3-497-02607-4)
Motsch, H.-J., Rietz, C.: ESGRAF 4 – 8. Grammatiktest für 4- bis 8-jährige
Kinder – Manual (2016, ISBN 978-3-497-02632-6)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-497-02702-6 (Print)
ISBN 978-3-497-60408-1 (PDF)
ISBN 978-3-497-60444-9 (EPUB)
4., völlig überarbeitete Auflage
© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in EU
Reihenkonzeption Umschlag: Oliver Linke, Augsburg
Cover und Fotos im Innenteil: © Margit und Thomas Berg, Heidelberg
Abb. 20 und 21: Marc Schmidt, Luxembourg
Satz: ew-print medien & service GmbH, Würzburg
Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]
Inhalt
Vorwort zur vierten Auflage
Einleitung
1 Evidenzbasierung
1.1 Graduelle Evidenz
1.2 Stufen zum „Gold-Standard“ – Interventionsergebnisse
2 Erwerb grammatischer Fähigkeiten
2.1 Zusammenhänge mit dem frühen Spracherwerb und der Allgemeinentwicklung des Kindes
2.2 Grammatikerwerb als mehrjähriger Lernprozess
2.3 Wichtige Erwerbsschritte
2.3.1 Erwerbsreihenfolge grammatischer Fähigkeiten
2.3.2 Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz und Subjekt-Verb-Kontroll-Regel
2.3.3 Verbendstellungsregel in subordinierten Nebensätzen
2.3.4 Kasusmarkierung
2.4 Sprachliche Modalitäten
2.5 Erklärungsansätze des Grammatikerwerbs
2.5.1 Psychologische Spracherwerbstheorien
2.5.2 Linguistische Spracherwerbstheorien
2.5.3 Integrative Ansätze
2.5.4 Gebrauchsbasierte Ansätze
2.5.5 Modularer versus epigenetischer Grammatikerwerb
2.6 Konsequenzen für die therapeutische Praxis
3 Störungen des Erwerbsprozesses grammatischer Fähigkeiten
3.1 Vom „Agrammatismus infantilis“ zur „Specific language impairment“ – Wandel in der Betrachtungsweise grammatischer Störungen
3.2 Definition grammatischer Störungen
3.3 Wichtige und weniger wichtige Störungsphänomene
3.4 Bedingungshintergrund
3.5 Konsequenzen für die therapeutische Praxis
4 Diagnose grammatischer Störungen
4.1 Vom Auflisten von Defiziten zur Suche nach Lernblockaden
4.2 Qualitätsstandards therapierelevanter Diagnostik
4.3 Diagnostische Verfahren
4.3.1 Screenings
4.3.2 Subtests aus standardisierten (Sprach-)Entwicklungstests
4.3.3 Rezeptive Verfahren
4.3.4 Sprachanalysen
Spontansprachanalayse
Evozierte Sprachanalyse
4.4 Diagnose grammatischer Störungen bei mehrsprachigen Kindern
4.5 Konsequenzen für die therapeutische Praxis
5 Therapiemethoden grammatischer Störungen
5.1 Wie spezifisch muss grammatische Therapie sein?
5.2 Pattern practice (produktionsorientierte Satzmusterübungen)
5.3 Kompensatorische Methoden (reflexionsorientierte Hilfen)
5.4 Inputmanagement (rezeptionsorientierte Angebote)
5.4.1 Entwicklungsproximaler Ansatz
5.4.2 Linguistische Inputtherapie
5.5 Postdysgrammatische Phase trotz Sprachtherapie?
5.6 Studien zur Methodeneffektivität
5.7 Konsequenzen für die therapeutische Praxis
6 Grundlagen und Anwendung der Kontextoptimierung
6.1 Konzeptentwicklung
6.2 Therapiedidaktik
6.2.1 Kontext
6.2.2 Ziel der Kontextoptimierung
6.2.3 Prinzipien der Kontextoptimierung
Kick-off (Startschuss)
Ursachenorientierung
Ressourcenorientierung („Finde selbst heraus, was Dir hilft!“)
Modalitätenwechsel
6.2.4 Checkliste der Kontextoptimierung
6.3 Therapieziele
6.3.1 Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz
Erwerbsaspekte und Bedeutung des Ziels
Diagnostische Erfassung des Fähigkeitenstandes
Essentials der Therapie
6.3.2 Subjekt-Verb-Kontroll-Regel
Erwerbsaspekte und Bedeutung des Ziels
Diagnostische Erfassung des Fähigkeitenstandes
Essentials der Therapie
Therapeutische Kontexte
Unterrichtliche Kontexte
6.3.3 Komplexe Syntax
Von Margit Berg
Erwerbsaspekte und Bedeutung des Ziels
Diagnostische Erfassung des Fähigkeitenstandes
Essentials der Therapie
Therapeutische Kontexte
Unterrichtliche Kontexte
6.3.4 Kasusmarkierung
Erwerbsaspekte und Bedeutung des Ziels
Diagnostische Erfassung des Fähigkeitenstandes
Essentials der Therapie
Therapeutische Kontexte
Unterrichtliche Kontexte
6.3.5 Überwindung der Artikelauslassung und Genusmarkierung
6.3.6 Pluralmarkierung
6.3.7 Kontextoptimierung im Sekundarbereich
Von Margit Berg
6.3.8 Kontextoptimierung mit mehrsprachigen Kindern
6.3.9 Sicherung des Therapieerfolges
7 Materialien zur grammatischen Förderung
7.1 Griff in den Materialschrank oder individuelle Therapiegestaltung
7.2 Kriterien zur Materialien- und Medienbewertung
7.3 Kategorien der im Handel erhältlichen Materialien
7.3.1 Einzelbildmaterial
7.3.2 Bilderserien
7.3.3 Arbeitsbücher
7.3.4 Kartenspiele
7.3.5 Brettspiele
7.3.6 Spielsammlungen
7.3.7 Aufgaben mit Selbstkontrolle
7.3.8 PC-Software
8 Professionalität in der Therapie grammatischer Störungen
Literatur
Verzeichnis der Therapiematerialien
Sachregister
Vorwort zur vierten Auflage
In den sieben Jahren seit dem Erscheinen der dritten, völlig neu bearbeiteten Auflage der Kontextoptimierung wurden in dem multizentrischen Forschungsprojekt „Grammatikerwerb deutschsprachiger Kinder 4 – 9“ die grammatischen Fähigkeiten von 964 Kindern in drei Bundesländern (Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen) untersucht (Motsch / Becker 2014). Die robusten Ergebnisse dieses großen Forschungsprojektes führen zu einer völlig neuen Betrachtungsweise des normalen und gestörten Grammatikerwerbes (Ulrich et al. 2016).
In der dritten Auflage konnte begründet werden, dass kontextoptimiertes Arbeiten effizient und effektiv ist. Das Kernstück des Buches, die Therapiedidaktik Kontextoptimierung, erfuhr durch die evaluierte Praxis entscheidende neue Impulse. Wir machten den Schritt von der Beschreibung von Therapieprinzipien hin zur Gewichtung und Bewertung einzelner Therapieelemente als wesentliche und unverzichtbare Wirkfaktoren einer effektiven Therapie. Für jedes Therapieziel wurden „Essentials“ des therapeutischen Vorgehens herausgearbeitet.
In der vierten, völlig überarbeiteten Auflage fließen Ergebnisse des GED-Projektes in die einführenden Kapitel zum normalen und gestörten Grammatikerwerb ein. Als praxisrelevantes Produkt kann in dem aktualisierten Kapitel über diagnostische Verfahren auf den ersten Test grammatischer Störungen, ESGRAF 4 – 8 (Motsch / Rietz 2016) verwiesen werden.
ESGRAF 4 – 8 wird auch zur Begründung der Therapieziele für das kontextoptimierte Arbeiten herangezogen. Die Therapiemethode selbst musste nicht verändert werden, vielmehr wurde das therapeutische Vorgehen durch das neue Wissen über den Grammatikerwerb empirisch gestützt.
Wie gewohnt wurden auch alle anderen Kapitel aktualisiert, so dass dem Therapeuten wieder ein Praxisbuch zur Verfügung steht, dass seine Schritte zur Umsetzung und Anwendung der Kontextoptimierung unterstützt.
Köln / Heidelberg Januar 2017
Univ.-Prof. Dr. Hans-Joachim Motsch
Dr. Margit Berg
Einleitung
Probleme bei der Therapie grammatischer Störungen bildeten den Ausgangspunkt des Forschungsprojektes zur Entwicklung und Erprobung des Therapiekonzepts Kontextoptimierung.
Der „Dysgrammatismus“ war schon immer ein heißes Eisen in der Sprachbehindertenpädagogik – ein heißes Eisen in mehrfacher Hinsicht. Homburg (1997) bezeichnete den Dysgrammatismus als unscharf definierte Sprachstörung und als Stolperstein der Sprachheilpädagogik. Diese theoretische Unschärfe wurde durch ständig wechselnde Bezeichnungen und neue Klassifikationen, insbesondere auch durch den Begriff der „Spezifischen Sprachentwicklungsstörung“, nicht reduziert (Schöler et al. 1998; Motsch 2009a).
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass auch in der sprachtherapeutischen Praxis ein Unbehagen bezüglich der Therapie grammatischer Störungen besteht. Praktiker entscheiden sich häufig für einen der beiden folgenden Wege:
Ein Teil ist vorsichtig und lässt lieber die Finger von einer spezifischen Sprachtherapie. Diese Sprachtherapeuten und Sprachheillehrer entscheiden sich für eine „allgemeine Sprachförderung“ oder befassen sich mit der Therapie der Aussprachestörungen, die viele der spracherwerbsgestörten Kinder auch zeigen.
Der andere Teil orientiert sich am „systematischen Satzaufbau“. Dabei werden mit dem Kind in weitgehend künstlichen Settings – bspw. durch Nachsprechaufforderungen und Materialien wie „Wir wollen gute Sätze bauen.“ (Eisenberger / Elstner 1987) – Satzmuster „eingesprochen“. Dieser Verzicht auf eine individuelle, spracherwerbsorientierte Ableitung von Zielen in der Förderung von Kindern mit grammatischem Förderbedarf zementiert in Sprachheilschulen häufig „globale Klassenlösungen“ („Sprich im ganzen Satz!“); diese bedeuten für viele Kinder eine Überforderung (für andere eine Unterforderung) und stellen aufgrund des oft akzeptierten kleinsten gemeinsamen Nenners sprachlicher Komplexität – häufig einfache Subjekt-Verb-Objekt-Sätze – selten eine echte Förderung dar. Die hinter derartigem Vorgehen stehenden „Sprachlernmodelle“ verfügen über keinerlei theoretische Basis, da der Grammatikerwerb der Kinder nicht in einem „Satz-für-Satz-Lernen“ besteht, sondern im Entdecken verständnis- und planungsrelevanter satz- und wortstruktureller Merkmale und Strategien.
Der Erwerb syntaktischer und morphologischer Fähigkeiten gelingt einem Teil der spracherwerbsgestörten Kinder nicht. Ihr Spracherwerb beginnt im grammatischen Bereich zu stagnieren, und sie befinden sich häufig in der Grundschulstufe erst auf dem grammatischen Niveau von Zwei- bis Dreijährigen.
Bereits im Jahr 1983 forderte Dannenbauer (1983) als Therapie für diese Kinder ein „entwicklungsproximales Vorgehen“, in dem der stagnierende Erwerbsvorgang dadurch wieder in Bewegung zu setzen versucht wird, dass
a) vorab der individuell erreichte Stand morphologischer und syntaktischer Fähigkeiten des Kindes erfasst wird;
b) von diesem Entwicklungsstand begründete Zielstrukturen aus der „Zone der nächsten Entwicklung“ abgeleitet werden;
c) die Inputstrukturen dann so verändert werden, dass sie die Zielstrukturen in dafür geeigneten Handlungs- bzw. Spielhandlungskontexten häufiger, eindeutiger, prägnanter und kontrastiver enthalten.
Das entwicklungsproximale Vorgehen hat in der sprachtherapeutischen Praxis und insbesondere in den Schulen für Sprachbehinderte nicht die zu erwartende Akzeptanz erlebt. Einer der Gründe lag dabei in der „diagnostischen Eingangsschwelle“ (siehe oben a), ohne deren Überwindung die Schritte b) und c) nicht möglich waren. Um diese diagnostische Eingangsschwelle auch für die Praktiker überwindbar zu machen, wurde im Rahmen des mehrjährigen Forschungsprojektes „Förderungsorientierte Erfassung grammatischer Fähigkeiten spracherwerbsgestörter Vorschul- und Schulkinder“ ESGRAF (Evozierte Sprachdiagnose grammatischer Fähigkeiten) als ein praxistaugliches Instrument, das theoriegeleitet, kindgerecht und arbeitsökonomisch ist, zur Anwendungsreife entwickelt (Motsch / Hansen 1999; Motsch 1999; 2000a; 2000b) und 2009 durch die noch leistungsfähigere ESGRAF-R (Motsch 2009b) ersetzt. Seit 2016 löst nun ESGRAF 4 – 8 (Motsch / Rietz 2016) als psychometrisches Verfahren die Vorläuferversionen ab und liefert valide Ergebnisse zur Begründung grammatischer Therapieziele.
Ein weiterer Grund für die mangelnde Umsetzung entwicklungsproximaler Therapie war aber auch darin zu sehen, dass Erfolge bei diesem Vorgehen lang auf sich warten ließen. Selbst die Publikationen, welche die Effektivität entwicklungsproximalen Vorgehens nachweisen (Dannenbauer / Kotten-Sederqvist 1990; Hartmann 1995; Haffner 1995; Hansen 1996), belegen dies.
Zwei Jahrzehnte war kaum Bewegung im Handlungsfeld der Therapie von Kindern mit grammatischen Störungen festzustellen. Das hat sich geändert. Insbesondere Linguisten und Psycholinguisten liefern „neue“ diagnostische und therapeutische Ideen (Siegmüller / Kauschke 2013; Siegmüller 2003; Kauschke / Siegmüller 2002; Penner 1999; Penner / Kölliker Funk 1998). Verlage und Hersteller (z. B. paedalogis, ProLog, trialogo) propagieren neuerdings Spielsammlungen zur Unterstützung des kindlichen Grammatikerwerbs als „langersehnte Bereicherung der Dysgrammatismustherapie“ (Werbetext trialogo) oder gar „Zukunft der Sprachtherapie“ (Werbetext paedalogis). Obwohl der Einsatz derartiger Hilfen fraglos eine „enorme Arbeitserleichterung“ darstellt, haben alle diese neuen Ansätze und Medien entweder keine erkennbare oder eine problematische theoretische Fundierung. Positive Effekte dieser neuen Ansätze im Sinne der Deblockierung grammatischen Lernens sind bisher empirisch nicht belegt.
Demgegenüber stand bei der Entwicklung des neuen unterrichts- und therapiedidaktischen Konzepts Kontextoptimierung die ständige Anwendung und empirische Überprüfung der Effekte im therapeutischen Alltag im Mittelpunkt. Im Forschungsprojekt „Förderung grammatischer Fähigkeiten spracherwerbsgestörter Kinder“ wurde seit 1999 versucht, auf den Stärken vorhandener Therapiekonzepte aufzubauen, deren Schwächen zu vermeiden und neue Wege zu beschreiten, welche die Lernbedingungen für grammatisches Lernen deutlich verbessern sollten (Motsch 2002). Wichtige Ausgangsfragen bei der Entwicklung der neuen Methodik waren:
Wie können die Auswirkungen vorhandener Einschränkungen der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit auf den Grammatikerwerb der Kinder durch dieses Vorgehen reduziert werden?
Wie können fehlende metasprachliche Fähigkeiten aufgebaut und vorhandene metasprachliche Fähigkeiten zur Unterstützung grammatischen Lernens genutzt werden?
Wie können bei Schülern vorhandene schriftsprachliche Fähigkeiten für grammatisches Lernen genutzt werden?
Wie können die sprachproduktiven Erfahrungen der Kinder mit differenzierteren und komplexeren Ausdrucksformen spielerisch und lustbetont erweitert werden?
Wie können ganz allgemein der Kontext der Therapie und des Unterrichts besser für individuelles grammatisches Lernen genutzt werden?
Die Effektivität der neuen Therapiedidaktik Kontextoptimierung für Settings in Unterricht, Einzel- oder Gruppentherapie wurde für die mit ESGRAF ermittelten Therapieziele überprüft. Die dabei als vordringlich eingestuften Therapieziele waren folgende vier, die sich an der von Clahsen (1988) beschriebenen Erwerbsreihenfolge orientieren:
1) Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz (Phase 3 – 4)
2) Subjekt-Verb-Kontroll-Regel (Phase 3 – 4)
3) Komplexe Syntax: Verbendstellungsregel in subordinierten Nebensätzen (Phase 5)
4) Kasusmarkierung in Akkusativ- und Dativkontexten (Phase 5)
Im 2009 abgeschlossenen zehnjährigen Forschungsprojekt wurden alle Therapieziele nicht nur in Einzelfallstudien in der Therapie und in Pilotstudien im Unterricht überprüft, sondern auch danach in drei großen vergleichenden Interventionsstudien.
Dieses Buch hat das Ziel, Sprachtherapeutinnen und -therapeuten sowie Sprachheillehrerinnen und -lehrer in die empirisch überprüfte Methodik der Kontextoptimierung konkret und anschaulich einzuführen, so dass diese ermutigt und befähigt werden, diesen neuen therapeutischen Weg selbst zu gehen. Die ersten Kapitel sollen zu folgenden Fragen Informationen liefern:
Wie erwerben Kinder die grammatischen Fähigkeiten?
Durch welche Bedingungen und in welcher Form kann bei spracherwerbsgestörten Kindern dieser Erwerbsprozess gestört werden?
Wie können die grammatischen Fähigkeiten und Probleme diagnostisch erfasst und Therapieziele begründet werden?
Was sind die Vorteile und Nachteile existierender Therapiemethoden grammatischer Störungen?
Diese ersten vier Kapitel werden immer im Hinblick auf das Verständnis des Lesers für die danach dargestellte Methodik der Kontextoptimierung formuliert, d. h., am Ende jedes Kapitels werden die Konsequenzen für das therapeutische Vorgehen zusammengefasst.
Danach werden die Prinzipien der Kontextoptimierung dargestellt und mit vielen Beispielen aus Therapie und Unterricht konkretisiert. Das letzte Kapitel geht auf die Frage ein, inwieweit im Handel erhältliche Materialien und Medien zur grammatischen Therapie nutzbar sind.
Um den Lesefluss möglichst wenig zu beeinträchtigen, haben wir uns erlaubt, im Fließtext bei Personen- und Berufsbezeichnungen nur die männliche Form zu nennen. Dennoch sind natürlich jeweils beide Geschlechter gemeint.
Diesem Buch liegt eine CD-ROM mit 370 kontextoptimierten Phasen für Therapie und Unterrichtsstunden des Vorschulbereiches und der Klassenstufen 1 – 7 bei. Im Buch werden Sie immer wieder auf nebenstehendes Symbol stoßen. Es verweist auf diese Phasen zu unterschiedlichen Therapiezielen mit Übungen, Folien und Arbeitsblättern. Auf der CD finden Sie in der Datei „Handhabung und Inhalt“ alle Informationen zur Handhabung und zum Inhalt der CD.
1 Evidenzbasierung
1.1 Graduelle Evidenz
Wenn Ihr Kind eine grammatische Störung hätte, wäre es dann nicht beruhigend, wenn Sie wüssten, dass sein Therapeut eine als erfolgreich bekannte Therapiemethode bei ihm anwenden würde? Wenn Sie dieser Therapeut wären, hätten Sie nicht auch selbst ein gutes Gefühl, eine effektive Therapiemethode zu kennen und anwenden zu können?
Suchodoletz (2002) forderte, dass gerade bei den hartnäckig persistierenden spezifischen Störungen der Sprachentwicklung die Effektivität der Therapiemethoden in methodisch anspruchsvollen und damit aussagekräftigen Studien nachzuweisen ist. Die Forderung ist nachvollziehbar: Es sollen nur noch Therapiemethoden zum Einsatz kommen, deren Wirksamkeit empirisch nachgewiesen ist. Von den wirksamen sollen die effektivsten Methoden eingesetzt werden, wobei hier auch Kriterien wie Dauer (Effizienz), Nebenwirkungen und Kosten einer Therapie Eingang finden. Im Sinne der Qualitätssicherung sollen zukünftig Entscheidungsprozesse vor einer sprachtherapeutischen Intervention evidenzbasiert sein (Ullrich / Romonath 2008).
Das Konzept der Evidenzbasierung wurde von Medizinern in den 1980er Jahren entwickelt. Dahinter steht der quantitativ-empirische Forschungsansatz und die Erwartung von großen untersuchten Versuchspersonengruppen im drei- bis vierstelligen Bereich. Überwunden werden soll die Praxis des „Erlaubt ist, was gefällt“.
„Eine Beweisführung, die sich auf Intuition, Generalisierung von Einzelbeobachtungen, plausible Ableitungen aus theoretischen Modellen oder auf Meinungen von allgemein anerkannten Autoritäten beruft, wird verworfen und abgelöst durch gezielte wissenschaftliche Untersuchungen mit experimenteller Anordnung“ (Suchodoletz 2002, 19).
Benötigt werden nicht nur experimentelle Studien, welche die Effektivität einer Methode kontrastierend zu einer Kontrollgruppe unbehandelter Kinder untersuchen, um Entwicklungseffekte auszuschließen, sondern methodenvergleichende Studien parallelisierter Gruppen, in denen die Über- oder Unterlegenheit einer Methode belegt werden könnte.
Abb. 1: Evidenzhierarchie des Oxford Centre für Evidence-based Medicine (2009, vereinfacht)
Dieser Standard wurde bezogen auf die Therapie grammatischer Störungen national wie international nicht erreicht. Allerdings ist auch die Medizin, 25 Jahre nach dieser Formulierung des Standards zur Qualitätssicherung, bei weitem nicht im Bereich aller Anwendungen evidenzbasiert (Baumgartner 2008, 313). Damit wird deutlich, dass die Frage nach Evidenzbasierung keine absolute ja – nein Frage ist. Vor diesem Hintergrund wird es zwingend, graduelle Stufen der Evidenzbasierung zu akzeptieren, die auf einem Kontinuum beginnend von schwacher Evidenz zur stärksten Evidenz führen. Die stärkste Evidenz wird in der Evidenzhierarchie des Oxford Centers mit dem Level I erreicht (siehe Abb. 1).
Eine randomisierte und kontrollierte Interventionsstudie gilt in der Forschung also als nachgewiesen bestes Studiendesign, um bei einer eindeutigen Fragestellung eine eindeutige Aussage zu erhalten und die Kausalität zu belegen. Deshalb wird auch vom „Goldstandard“ der Studienplanung gesprochen. Randomisierung bedeutet, dass die Zuordnung zu einer Behandlungsgruppe nach dem Zufallsprinzip erfolgt. Kontrolliert heißt eine Studie, wenn die Ergebnisse in der Experimentalgruppe mit denen einer Kontrollgruppe ohne Intervention oder mit denen einer Kontrollgruppe mit einer Kontrollintervention verglichen werden.
Bei aller Wünschbarkeit empirischer Effektivitätskontrolle darf dennoch hinterfragt werden, ob der Mehrwert quantitativer Mittelwertvergleiche so unbestritten sein muss. Sprachtherapie ist schwer vergleichbar mit einer Medikamenteneinnahme. Eine Mittelwertüberlegenheit einer Methode A auf hohem Signifikanzniveau kann verwischen, dass sich in der Gruppe der effektiveren Methodik Kinder befinden, die von dieser Methode A nicht oder nur wenig profitiert haben. Diese Kinder hätten aber unter Umständen von der konkurrierenden, unterlegenen Methode B mehr profitiert.
Die Therapeutenvariable darf zudem nicht vergessen werden. Zwei Therapeuten, die sich auf die gleiche Methode berufen, setzen diese nicht gleich um. Der Passung zwischen Methode-Therapeut-Kind kommt in der Sprachtherapie jenseits mittelwertgestützter Effektivität Bedeutung zu.
Die in der Sprachtherapie häufig anzutreffenden kasuistischen Darstellungen befinden sich auf Level IV der Evidenzbasierung. Aber gerade am Beispiel der One-Case-Studies kann gezeigt werden, dass selbst diese unterschiedliches Evidenz-Niveau haben können, das durch die Beantwortung folgender Fragen deutlich wird:
Gab es eine valide Prä-Post-Test-Messung des Fähigkeitenstandes?
Wurde die Stabilität der Effekte gemessen (Follow-up-Test)?
Wurde das Interventionskind mit einem Kontrollgruppen-Kind parallelisiert, um Zufalls- und Zeiteffekte auszuschließen?
Bewegt sich die statistische Analyse auf dem Niveau deskriptiver Statistik, oder wurde ein durchaus auch bei Einzelfallstudien möglicher Signifikanztest durchgeführt? (z. B. der exakte Fisher-Test)
Aus diesem Grund wurden die fünf Stufen der Evidenzhierarchie vom Oxford Centre immer differenzierter nochmals graduell unterteilt z. B. in Ia, Ib und Ic.
1.2 Stufen zum „Gold-Standard“ – Interventionsergebnisse
Trotz der berechtigten Bedenken an einer kritiklosen Übernahme des Standards evidenzbasierter Forschungsstrategien für die Sprachtherapieforschung und Sprachbehindertenpädagogik (Baumgartner 2008) wäre es geradezu fatal, den Anspruch des empirischen Nachweises der Effektivität und Effizienz sprachtherapeutischer Ansätze aufzugeben. Erforderlich ist eine Anpassung des evidenzbasierten Ansatzes an die Spezifität sprachtherapeutischer Realität in den unterschiedlichen Handlungsfeldern. Diese Anpassung kann als ein Durchlaufen unterschiedlicher Phasen dargestellt werden (Taylor 2007; Thomas / Pring 2004) oder als ein Hinaufsteigen auf den Stufen zum Gold-Standard.
Seit den ersten One-case-studies im Jahre 1999 haben wir versucht, im Forschungsprojekt FGS (Förderung grammatischer Fähigkeiten spracherwerbsgestörter Kinder) diese Stufen zum Gold-Standard hochzusteigen. Level I haben wir u. a. bereits dadurch erreicht, dass wir internationale Übereinstimmungen unter Experten feststellen konnten. Therapiemethoden, die in vergleichbaren Zeiträumen an unterschiedlichen Forschungsstätten auf der Basis empirischer Studien entwickelt wurden, haben höhere Evidenz als Methoden ohne internationale Übereinstimmung. So gibt es viele Übereinstimmungen zwischen den Prinzipien der Kontextoptimierung (Motsch 2002) mit den von Marc E. Fey und Mitarbeitern (University of Kansas City) 2003 publizierten zehn Prinzipien der grammatischen Therapie, die sich auf mehrere empirische Studien stützen.
In der ersten Phase haben wir mit 25 Einzelfallstudien, in denen das Therapieverfahren exakt auf die definierten individuellen Störungsbilder zugeschnitten werden konnte, Level II erreicht (Motsch 2006). Mit mehreren multiplen Fallstudien mit kleinen Gruppen unter detaillierter Kontrolle der Fallcharakteristika sind wir auf Level III gestiegen (Motsch / Seiffert 2008; Seiffert 2008; Motsch 2007; Motsch / Ziegler 2004; Fostiropoulos 2002). Im Rahmen des mehrjährigen Projektes führten wir drei große vergleichende Interventionsstudien durch, in denen jeweils unterschiedliche Therapieziele (grammatische Regeln) in unterschiedlichen Altersgruppen und in unterschiedlichen Settings untersucht wurden. In allen genannten Studien haben die Kinder in kurzer Zeit hoch signifikante Therapiefortschritte gemacht, die denen der Kontrollgruppe ohne spezifische Intervention oder mit anderer Therapiemethode überlegen waren. Während mit den beiden ersten Studien bereits Level II erreicht wurde, entspricht die dritte Studie den Standards einer RCT (Randomized controlled trial), einer randomisierten und kontrollierten Studie, bei denen die Nachtestungen der Kinder verblendet vorgenommen wurden, d. h., dass die Untersucher nicht wussten, zu welcher Untersuchungsgruppe das untersuchte Kind gehörte. Da alle Ergebnisse mittlerweile national und international publiziert wurden, beschränken wir uns hier auf eine Kurzcharakterisierung der Studien und ihrer Ergebnisse.
1. Interventionsstudie 2001 – 2002 (Berg 2007; Motsch / Berg 2003)
Therapieziel: Verbendstellungsregel im Nebensatz
Versuchspersonen und Setting: 61 Dritt- und Viertklässler aus sechs Sprachheilschulen in Baden-Württemberg mit Therapiebedarf im Bereich komplexer Syntax wurden in drei Gruppen unterteilt.
Experimentalgruppe 1 (n=14) erhielt kontextoptimierte Kleingruppentherapie, drei bis vier Therapieeinheiten (40 Minuten) pro Woche.
Experimentalgruppe 2 (n=27) erhielt unterrichtsintegrierte Therapiephasen (15 Minuten) viermal pro Woche.
Die Kontrollgruppe (n=20) erhielt sprachheilpädagogische Förderung ohne kontextoptimierte Therapie.
Während der Großteil der Kinder der Experimentalgruppen das Therapieziel nach der 12-wöchigen Intervention erreicht hatte, konnten bei der Kontrollgruppe keine Veränderungen nachgewiesen werden. Damit hat sich die Kontextoptimierung als effektive Methode zur Förderung der komplexen Syntax herausgestellt.
Entwicklung der Produktionsleistung im Gruppenvergleich
Abb. 2: Effekte der Interventionsstudie Verbendstellungsregel
2. Interventionsstudie 2005 – 2006 (Motsch / Riehemann 2008a; Motsch / Riehemann 2008b; Riehemann 2008)
Therapieziel: Kasusrektion (Akkusativ und Dativ)
Versuchspersonen und Setting: 126 Zweitklässler aus 19 Schulen mit dem Förderschwerpunkt Sprache in Nordrhein-Westfalen mit Therapiebedarf beim Erwerb der Kasusregeln wurden in zwei Gruppen aufgeteilt.
Abb. 3: Ergebnisse der Interventionsstudie Kasus
Die Experimentalgruppe (n=63) erhielt je vier unterrichtsintegrierte kontextoptimierte Therapiephasen (17 Minuten) pro Woche über einen Zeitraum von zwölf Wochen.
Die Kontrollgruppe (n=63) erhielt eine unterrichtsintegrierte Förderung, Einzel- und Kleingruppentherapie durch die Klassenlehrer mit anderen Methoden.
Die Ergebnisse zeigen, dass sich bereits nach einer Kurzzeitintervention die Kasusfähigkeiten der kontextoptimiert geförderten Kinder höchst signifikant verbesserten und diese Fähigkeiten stabil blieben. Während Kontextoptimierung sowohl zur Verbesserung des Akkusativs als auch des Dativs, dem vorrangigen Therapieziel, führte, waren die herkömmlichen Methoden nur hinsichtlich des Akkusativs effektiv.
3. Interventionsstudie 2007 – 2008 (Motsch / Schmidt 2010; Motsch / Schmidt 2009; Schmidt 2009)
Therapieziele: Verbzweitstellung und Subjekt-Verb-Kongruenz
Versuchspersonen und Setting: 49 Vorschulkinder aus Sonderschulkindergärten in Luxemburg mit Therapiebedarf beim Erwerb der Verbzweitstellungsregel und der Subjekt-Verb-Kontroll-Regel wurden in drei Gruppen aufgeteilt.
Experimentalgruppe 1 (n=15) erhielt vier kontextoptimierte Therapieeinheiten pro Woche über einen Zeitraum von zehn Wochen.
Abb. 4: Interventionsergebnisse Subjekt-Verb-Kongruenz
Abb. 5: Interventionsergebnisse Verbzweitstellung
Experimentalgruppe 2 (n=17) erhielt zwei kontextoptimierte Einheiten pro Woche über einen Zeitraum von zehn Wochen.
Die Kontrollgruppe (n=17) erhielt Einzel- und Gruppentherapie mit herkömmlichen Methoden über einen Zeitraum von sechs Monaten.
Für die Kinder der Experimentalgruppen können hoch signifikante Fortschritte festgestellt werden, während der Fortschritt der Kontrollgruppe deutlich geringer ausfällt.
Zusammenfassend haben wir mit mehreren hundert Kindern mit grammatischen Störungen vom Vorschulalter bis ins Jugendalter (7. Klassen) in Einzelfallstudien, Kleingruppenstudien und den großen Interventionsstudien mit Kontextoptimierung gearbeitet, wobei die Therapiefortschritte der Kinder die Effektivität und Effizienz der Methode bestätigt haben. Damit gehört Kontextoptimierung zu den wenigen evidenzbasierten sprachtherapeutischen Interventionen.
2 Erwerb grammatischer Fähigkeiten
2.1 Zusammenhänge mit dem frühen Spracherwerb und der Allgemeinentwicklung des Kindes
Der Erwerb grammatischer Kompetenz vollzieht sich nicht isoliert. Er ist eingebettet in den Erwerb anderer sprachlicher Fähigkeiten. Zwischen grammatischen, prosodischen, phonologischen, semantischen und auch pragmatischen Fähigkeiten bestehen wechselseitige Beeinflussungen und Abhängigkeiten. Zudem wird der Grammatikerwerb beeinflusst durch Fortschritte oder Einschränkungen in anderen Entwicklungsbereichen (Sensorik, Kognition, Motorik, Emotionalität und Soziabilität).
Grammatische Kompetenz umfasst syntaktische und morphologische Fähigkeiten. Syntaktische Fähigkeiten benötigen wir beim Satzbau, um Elemente einer geplanten Äußerung in die richtige Wortabfolge zu bringen. Morphologische Fähigkeiten helfen uns beim Wortbau, um Wörter gemäß ihrer Funktion in der Äußerung – und in ihrer Beziehung zu anderen Wörtern dieser Äußerung – mit Hilfe von Flexionsmorphemen korrekt zu markieren.
Kinder erlernen Grammatik nicht um der Grammatik willen. Sie tun dies, um effektiver kommunizieren zu können, um verstehen zu können und verstanden zu werden. Im ersten Lebensjahr verfügt das Kind bereits über wesentlich mehr Kompetenzen als noch vor wenigen Jahrzehnten angenommen wurde. Publikationen wie „Der kompetente Säugling“ (Dornes 2011) oder „The Young Child as Scientist“ (Chaillé / Britain 2002) verweisen auf diese bisher ungeahnten Fähigkeiten des Babys. Dazu gehört auch seine prosodische Fähigkeit, in dem Redestrom seiner Bezugspersonen Wortgrenzen zu erkennen und Worte als Ganzheiten aufgrund ihrer rhythmischen Betonungsmuster zu identifizieren (Penner 2000). Findet das Baby in seinem ersten Lebensjahr Bezugspersonen, die sich mit ihm liebevoll beschäftigen, sich ihm anpassen und befriedigend mit ihm interagieren, dann wird es bald kommunikative Fähigkeiten entwickeln (hinweisen, bitten, auffordern, austauschen) (Bruner 2008). Das Kind erwirbt so kommunikative Kompetenzen vor dem Sprechen. Zu diesen nichtsprachlichen Beiträgen des Babys im Frühdialog mit gesamtkörperlichen, gestischen, mimischen und stimmlichen Mitteln treten aber bereits Ende des ersten Lebensjahres wortähnliche Lautklanggebilde hinzu. Damit beginnt es, Sprache in die bereits vorhandenen kommunikativen Formen zu „gießen“. Das Kind hat in dem lustvoll motivierten Austausch mit seinen Partnern die kommunikative Funktion der Sprache entdeckt. Es hat verstanden, dass es mit Sprache bei anderen etwas verändern und erreichen kann, z. B. seine Intentionen mitteilen und seine Bedürfnisse befriedigen. In diesem Fall ist Ende des ersten Lebensjahres der Motor des Spracherwerbs angeworfen. Das Benzin für diesen Motor liefert die Motivation zur weiteren Kommunikation mit ihm zugewandten Partnern. So lernt das Kind nie Sprache um der Sprache willen, sondern nur wenn die Kommunikation mit einem Du für es subjektiv wertvoll wird (Tomasello 2003).
Im zweiten Lebensjahr werden die kindlichen Handlungen zunehmend von Sprache begleitet; aus Handlungen entstehen bald Sprachhandlungen (Leontev 1999). Dieser Prozess wird durch die Entdeckung des Kindes beschleunigt, dass Sprache Kommunikation leistungsfähiger macht. Sprache ermöglicht es ihm, seine Intentionen differenzierter, flexibler und gezielter mitzuteilen und dadurch effektiver zu sein. Das Kind entdeckt die repräsentative Funktion der Sprache. Es begreift, dass Lautklanggebilde der Partner für Dinge und Handlungen in der wahrgenommenen Welt stehen, dass sie diese abbilden. Damit erschließt es sich die Inhaltsfunktion der Sprache. Mit der Vereinigung und Integration der kommunikativen und repräsentativen Funktion der Sprache entsteht echtes Sprachverständnis (Zollinger 2015). In der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres hat das Kind mit dieser semantischen Fähigkeit die Sprache entdeckt. Mit zwei Jahren verfügt es über ein mentales Lexikon, das ihm erlaubt, über 600 Wörter zu verstehen und etwa 160 – 200 zu produzieren (Kauschke 2000). Das Erreichen dieses ersten Basislexikons ist eine der Voraussetzungen, um sich im weiteren Spracherwerb mit den formalen und abstrakten Merkmalen der Sprache, zu denen die grammatischen Regeln zählen, auseinander zu setzen.
Das mentale Lexikon ist der Wortspeicher des Menschen. Seine innere Struktur und die darin ablaufenden Prozesse müssen derart organisiert sein, dass ein schneller und zielgenauer Zugriff auf ein bestimmtes Wort aus einer großen Auswahl möglich wird (Rothweiler 2001). Nur ein gut strukturierter Wortspeicher als Teil des Gedächtnisses befähigt den Menschen, in 200 Millisekunden eines der 50.000 – 200.000 Wörter des Erwachsenenlexikons zu erkennen oder in 300 Millisekunden abzurufen und zu produzieren (Aitchison 1997). Gedächtnispsychologen versuchen die Ordnung der im Lexikon enthaltenen Einträge, die diesen raschen und gezielten Zugriff auf Wörter gelingen lässt, modellhaft abzubilden. Eine der diskutierten Theorien stammt von Levelt (1995; Levelt et al. 1999). Levelt geht davon aus, dass vier verschiedene Aspekte des sprachlichen Wissens über ein Wort im Lexikon gespeichert werden.
Abb. 6: Struktur der Einträge im mentalen Lexikon nach Levelt (1995, 188)
Die semantischen Merkmale, welche die individuelle Wortbedeutung enthalten, werden bereits mit dem syntaktischen Aspekt, der die Wortart und damit auch die mögliche Funktion und Stellung dieses Wortes im Satz definiert, gemeinsam als Lemma abgespeichert. Die Wortform ist mit diesem Lemma zwar assoziiert, wird aber getrennt gespeichert. Die Wortform vereinigt die phonologischen Merkmale des Wortes, seine Lautstruktur und seine prosodischen Merkmale – die es ermöglichen, das Wort zu produzieren – mit den morphologischen Merkmalen. Morphologische Merkmale sind der vierte Aspekt des Wortwissens. Sie umfassen das Wissen um den Wortstamm sowie dessen Komposition, Derivation oder Flexion. Bei Nomen sind hier Genus und Pluralmarkierung mit abgespeichert. Zu den von Levelt genannten Aspekten sprachlichen Wortwissens fügt Glück (2010) noch den Aspekt pragmatischen Wissens hinzu (siehe Abb. 7).
Folgen wir diesen Modellvorstellungen, so verstehen wir, dass das Kind bereits über eine ausreichende Anzahl elaborierter, d. h. mit möglichst vollständigen syntaktischen (Lemma) und morphologischen (Wortform) Informationen versehene Einträge im mentalen Lexikon verfügen muss, weil erst diese ihm erlauben, erkannte Regeln des Satzbaues und der Wortveränderung auf sein vorhandenes Wortmaterial anzuwenden.
2.2 Grammatikerwerb als mehrjähriger Lernprozess
Die empirische Basis des Wissens über den Erwerb grammatischer Regeln des Deutschen beschränkte sich bis 2015 auf Untersuchungen, die anhand von Einzelfällen oder kleinen Stichproben durchgeführt wurden. Dabei wurden nur wenige Kinder über das vierte Lebensjahr hinaus beobachtet und dokumentiert.
Abb. 7: Elemente des Wortwissens nach Glück (2010, 23)
Trotz dieser unzureichenden empirischen Datenlage ist die Vermutung, dass dem Kleinkind der Erwerb grammatischer Regeln mühelos und rasch gelingt, state of the art. So nimmt Haberzettl (2007, 69) die Beherrschung grundlegender morphosyntaktischer Strukturen in allen Sprachen der Welt trotz deutlicher sprach- und lernspezifischer Unterschiede bereits „mit etwa drei Jahren“ an. Szagun (2007) sieht den Erwerb der wesentlichen grammatischen Strukturen des Deutschen bis zum Alter von etwa vier Jahren als abgeschlossen an, wobei sie später feststellt, dass der Dativ manchen Kindern auch noch im 5. Lebensjahr Probleme bereitet (Szagun 2013).
Um bei einem Kind von einem abgeschlossenen Erwerb einer grammatischen Regel zu sprechen, muss das Kind in einer ausreichend großen Sprachprobe in mehr als 90 % aller Kontexte, die diese Regel in der Sprachplanung erfordern, Korrektheit erreichen. Dieses akzeptierte 90 %-Kriterium geht auf Brown (1973) zurück, der es in Spontansprachproben von Kleinkindern aufgestellt und angewendet hat (Szagun 2013; Bittner 2013). Erste Überprüfungen sprachnormaler monolingualer Erstklässler 2008 in Köln zeigten (N=108, 5;8 – 7;4 Jahre), dass unter Anwendung des 90 %-Kriteriums 75 % der Schüler den Dativ noch nicht vollständig erworben hatten (Motsch 2013a). Diese Differenz zwischen Erwerbsannahmen und ersten empirischen Daten im Schulalter lassen die Auffassung, dass Kinder in den ersten vier Lebensjahren alle wesentlichen grammatischen Strukturen ihrer Sprache erworben haben, fragwürdig erscheinen. Erst die robusten Daten des GED 4 – 9 Projektes (Grammatikerwerb deutschsprachiger Kinder zwischen vier und neun Jahren) zeigen, dass sich der Grammatikerwerb bis ins Schulalter hineinzieht und für Kinder eine schwere Lernaufgabe darstellt (Motsch / Becker 2014; Ulrich et al. 2016).
„Kleinkinder zeigen bereits beachtliche sprachliche Fähigkeiten und produzieren viele grammatikalisch korrekte Formen und Sätze. Dennoch ist korrekter Sprachgebrauch kein Beweis dafür, dass Kinder bereits das zugrunde liegende Regelsystem abstrahiert haben. Vielmehr ist in vielen Studien nachgewiesen worden, dass frühe Kindersprache stark formelhaft ist und darüber hinaus viele Strukturen an bestimmte Wörter gebunden sind“ (Behrens 2004, 17).
Zur Beantwortung der Frage, ab wann Kinder grammatische Regeln beherrschen, ist es notwendig, zwischen den verschiedenen Stadien des ersten Auftretens einer Form, ihrer produktiven Verwendung und des Erwerbs der diese Form bestimmenden Regel zu unterscheiden.
Erste grammatische Formen, die in der Sprache des Kindes auftreten, imitiert das Kind unmittelbar aus der Sprache seiner Bezugspersonen. Das Kind verwendet dabei unanalysierte Ganzheiten, die es zunächst noch nicht in ihre Bestandteile zerlegt hat (z. B.: Haste, Papasauto, gibmir).
Grammatikerwerb präsentiert sich als gradueller Prozess der Ablösung von ersten formelhaften Ganzheiten durch regelgeleitete Konstruktionen. Abstrakte grammatische Kategorien im Sinne einer „Erwachsenen-Grammatik“ werden erst im Laufe des Vorschul- und Schulalters entwickelt. Der Erwerbsweg führt stufenweise über die ersten abweichenden Versuche von Markierungen oder Satzstellungsversuchen zu gelegentlich korrekten Bildungen, die dann zunehmend häufiger werden, bis sie das prozentuale Übergewicht aller Bildungen darstellen (Tomasello 2001). Der Erwerb grammatischer Regeln vollzieht sich also in Zwischenschritten, d. h. neben korrekten bleiben immer noch abweichende Formen eine gewisse Zeit erhalten. Außerdem kommt es immer wieder zu Übergeneralisierungen neuer Formen oder zu falschen Analogiebildungen. Korrekte und abweichende Äußerungen stehen somit in einem prozentualen Verhältnis, das sich mit fortschreitendem Spracherwerb zu Gunsten der korrekten Formen verändert. Gelegentliche, abweichende Bildungen bleiben bis in die Schulzeit erhalten, so dass Fehlbildungen bis etwa 10 % in der gesprochenen Sprache immer als sprachnormal anzusehen sind. Der Erwerb einer Regel geschieht also nicht plötzlich, wie beim Umlegen eines Schalters. Bis eine abstrakte Regel vollständig erworben ist, vergehen teilweise Jahre, in denen sich das Kind in der Sprachproduktion einem Korrektheitsniveau von 90 – 100 % annähert.
2.3 Wichtige Erwerbsschritte
2.3.1 Erwerbsreihenfolge grammatischer Fähigkeiten
Das Auftauchen grammatischer Strukturen, die Clahsen (1982) am Korpus von drei Kindern bis zum Alter von vier Jahren in fünf Phasen beschrieben hatte, wurde bezüglich ihrer Reihenfolge durch weitere Forschungsergebnisse im Wesentlichen bestätigt (Cron-Boengeler 1985; Clahsen 1988; Maiworm 2008). Die von Clahsen gelieferten Altersangaben (Tab. 1) belegen das Auftauchen der genannten Strukturen, haben aber keinen Aussagewert bezüglich des Erwerbs der hinter den Strukturen stehenden grammatischen Regeln.
Tab. 1: Phasen nach Clahsen (1982)
Phase
Alter
Wesentliche Merkmale
I
1;6
Einwortäußerung
II
2;0
Zweiwortäußerung
III
2;6
Mehrwortäußerungen Erste Äußerungen mit Verb-Zweitstellung
IV
3;0
Erwerb der Verbzweitstellungsregel und der Subjekt-Verb-Kontroll-Regel
V
3;6
Kasusmarkierungen im Akkusativ und Dativ Produktion erster subordinierter Nebensätze mit Verbendstellung
Die ersten beiden Phasen haben mit Grammatikerwerb noch wenig zu tun. Selbst die Zweiwortäußerungen der Phase II sind semantisch oder pragmatisch motiviert. Dabei drückt das Kind semantische Relationen, z. B. Lokalisierung (Ball da), Attribution (Ball kaputt), Aufforderung (Papi werfen) aus, wobei die Stellung der Worte keinen grammatischen Regeln folgt. Treten Verben auf, sind sie häufig in der uneindeutigen Endstellung, die bei zwei Wörtern aber auch gleichzeitig die Zweitstellung darstellt.
Ein Kind fängt nicht zu sprechen an mit der Intention, grammatikalisch korrekte Sätze bilden zu wollen. Die erste Strategie des Syntaxerwerbs hat folglich im eigentlichen Sinn nichts mit Syntax zu tun. Das Kind orientiert sich an semantischen und pragmatischen Faktoren. Die gewählte Wortstellung, also die Oberflächenstruktur, entspricht der semantischen Struktur seiner Äußerung.
Beispiele:
„Auto Papa“ (Papa kommt mit dem Auto.)
„Papa Auto wasch“ (Papa wäscht das Auto.)
In einer späteren, meist kürzeren Übergangsphase wählt das Kind Strukturen, die mit seinen sprachlichen Perzeptionsstrategien (die Teile einer Äußerung, die es in besonderer Weise wahrnimmt) im Einklang stehen, bspw. orientiert es sich immer am Äußerungsende.
Beispiele:
Mutter: „Papa ist mit dem Auto zur Arbeit gefahren.“
Kind: „Papa fahren.“
Mutter: „Das Auto ist vom Tisch runtergefallen.“
Kind: „Auto fallen.“
Wie Slobin (1979) beschreibt, versuchen Kinder noch lange Zeit, mit geringstem Aufwand an sprachlichen Mitteln zur Übermittlung von möglichst vielen Informationen zu gelangen. Dazu dient ihnen eine Globalorientierung, d. h. das Auslassen von Elementen, die für das sprachliche Verständnis nicht unbedingt erforderlich sind. Sie erreichen durch diese Selektion einerseits eine optimale Ausnutzung der Kapazität ihres Kurzzeitgedächtnisses und verringern andererseits die Verarbeitungskomplexität linguistischer Strukturen. Erst in einer höheren Phase versuchen die Kinder, eine zunehmende Übereinstimmung mit dem sprachlichen Input zu erreichen, wobei immer noch linguistische Strukturen und linguistische Regeln mit hoher Verarbeitungskomplexität vermieden werden.
Kinder, die sich in den ersten beschriebenen Phasen der Grammatikalisierung befinden, stellen keine Zielgruppe für grammatische Therapie dar. Für sie ist es viel wichtiger, dass die pragmatisch-kommunikativen und semantisch-lexikalischen Aspekte der Sprache weiter gefördert und aufgebaut werden.
Erst ab der Phase 3, die durch Äußerungen von drei und mehr Worten gekennzeichnet ist, beginnt das Kind die abstrakten morphologischen und syntaktischen Regeln der Bezugssprache zu entdecken und hypothesentestend anzuwenden. Dies geschieht also ab Beginn des dritten Lebensjahres auf dem Hintergrund seines Wissens über die Welt der Dinge und Personen, mit Hilfe eines ausreichend großen mentalen Lexikons und eines phonologischen Wissens, das bereits wichtige Eigenschaften und Regelhaftigkeiten des phonologischen Systems beinhaltet (Hacker 2002). Mit diesen Voraussetzungen kann es sich nun vermehrt mit der Form der Sprache auseinander setzen. In der normalen Erwerbsreihenfolge etabliert das Kind im Zeitraum ab dem dritten Lebensjahr nach und nach die wesentlichen grammatischen Strukturen, die ihm das korrekte Verstehen und Produzieren von Haupt- und Nebensatzkonstruktionen ermöglichen. Jeder abgeschlossene Erwerb einer Struktur setzt beim Kind Ressourcen frei, um sich auf den Erwerb einer „späteren“ Struktur einzulassen. Zwei der von Clahsen beschriebenen Kinder erreichten im vierten Lebensjahr (Phase 5) die Fähigkeit, erste Nebensätze zu bilden und Kasusmarkierungen im Akkusativ und Dativ vorzunehmen. Unklar blieb dabei, auf welchem prozentualen Niveau korrekter morphologischer Markierungen und syntaktischer Regelanwendung sie dies taten und in welchem Alter der Regelerwerb abgeschlossen wurde.
Konkurrierend zu dem Phasenmodell von Clahsen wird das Schichtenmodell von Tracy (2008, 1991) diskutiert. Die von Tracy postulierten drei Schichten unterscheiden sich, was den Erwerb der wichtigen grammatischen Regeln betrifft, aber nur graduell von den Phasen 3 – 5 von Clahsen. „Anders als das Phasenmodell nach Clahsen geht das Schichtenmodell nach Tracy von der Annahme individueller Spielräume bei der grammatischen Entwicklung des Kindes aus.“ (Welling 2006, 112).
Wann aber gilt eine grammatische Regel als erworben?
Wie bereits in Kap. 2.2 ausgeführt muss nicht auf eine 100 %ige Korrektheit gewartet werden, um den Erwerb einer Regel oder Struktur zu konstatieren. Der Erwerbsweg führt stufenweise über die ersten abweichenden Versuche von Markierungen oder Satzstellungsversuchen zu gelegentlich korrekten Bildungen, die dann zunehmend häufiger werden, bis sie das prozentuale Übergewicht aller Bildungen darstellen. Gelegentliche abweichende Bildungen bleiben bis in die Schulzeit erhalten, so dass Fehlbildungen bis etwa 10 % immer als sprachnormal anzusehen sind.
Vor diesem Hintergrund muss zwingend unterschieden werden zwischen Entdecken, d. h. dem erstmaligen Auftauchen der Form, und Erwerben, d. h. einer Regelanwendung auf einem Korrektheitsniveau oberhalb der 90 %. In der Phase 5 nach Clahsen entdeckt das Kind lediglich die Formen der Kasusmarkierung und die Nebensätze. Zu welchem Zeitpunkt es jedoch die Kasusregeln und die Verbendstellungsregeln erworben hat, bleibt offen.
Die nachfolgende Darstellung der Erwerbsreihenfolge syntaktischer und morphologischer Fähigkeiten beschränkt sich auf die vier zentralen, zeitlich abgestuften Bereiche, die bei der Problematik bei Kindern mit grammatischen Störungen von besonderer Bedeutung sind und bei der therapeutischen Intervention im Vordergrund stehen:
1) Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz
2) Subjekt-Verb-Kontroll-Regel
3) Komplexe Syntax: Verbendstellungsregel in subordinierten Nebensätzen
4) Kasusmarkierung in Akkusativ- und Dativkontexten
Der Erwerb dieser grammatischen Regeln vollzieht sich – wiederum mit wenigen später erwähnten Ausnahmen – in Zwischenschritten, d. h., neben korrekten Formen bleiben immer noch abweichende Formen eine gewisse Zeit erhalten. Außerdem kommt es immer wieder zu Übergeneralisierungen neuer Formen oder zu falschen Analogiebildungen. Korrekte und abweichende Bildungen stehen somit in einem prozentualen Verhältnis, das sich mit fortschreitendem Spracherwerb zu Gunsten der korrekten Formen verändert.
2.3.2 Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz und Subjekt-Verb-Kontroll-Regel
Die morphologische Subjekt-Verb-Kontroll-Regel und die syntaktische Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz werden als erste grammatische Regeln erworben. Subjekt-Verb-Kontroll-Regel bezeichnet den Vorgang, bei dem zwischen zwei Phrasenstrukturkategorien eine strukturelle Übereinstimmungsbeziehung hergestellt werden muss, wobei ein Element das andere kontrolliert (control-agreement-principle). Das Verbzweitstellungsparadigma beinhaltet die Regelhaftigkeit im Deutschen, dass das flektierte Verb im Hauptsatz immer an zweiter Stelle steht.
Diese beiden Fähigkeiten hängen u. U. miteinander zusammen, wobei es über die Art des Zusammenhangs divergierende Ansichten gibt. Die Forschergruppe um Clahsen (Clahsen et al. 1997) geht davon aus, dass die primäre Schwierigkeit im Erwerb der Subjekt-Verb-Kontroll-Regel liegt. Die korrekte Verbzweitstellung ergibt sich in dieser Betrachtungsweise nach dem Erwerb der Regel von selbst. Die gegenteilige Position vertreten Grimm (1993) und Penner (1995), die das syntaktische Wortstellungs-Defizit als vorrangig erachten. In dieser Betrachtungsweise stellt der Erwerb des Verbzweitstellungsparadigmas die Voraussetzung zur Etablierung der Subjekt-Verb-Kontroll-Regel dar. In der Untersuchung aller vom Centre de logopédie erfassten spracherwerbsgestörten Vorschulkinder Luxemburgs hatten je ca. 30 % entweder die Verbzweitstellungsregel oder die Subjekt-Verb-Kontroll-Regel erworben, 40 % hatten keine der beiden Regeln erworben (Schmidt 2009). Dieses Ergebnis spricht gegen die zuvor vermuteten Zusammenhänge einer entweder morphologischen oder aber syntaktischen Erst-, d. h. Vorausläuferfähigkeit. Vielmehr ist wohl davon auszugehen, dass auch hier Kinder individuell unterschiedliche Lernwege wählen. Während bestimmte Kinder eine höhere morphologische Sensibilität haben, „knacken“ andere Kinder zuerst die Wortreihenfolge-Regel.
Verbzweitstellungsregel. Das Kind beginnt spätestens zu Beginn seines dritten Lebensjahres zu erkennen, dass der Satzbau des Deutschen nicht aus linear geordneten Einheiten besteht, bei der alle Einheiten gleiches Gewicht haben. Diese Vorstellung entsprach noch vor Jahrzehnten dem Modell der Duden-Grammatik (1973), die von linear geordneten Satzbauplänen (23 für Haupt- und 14 für Nebensätze) ausging (Braun 2006). Im neueren Dudenwerk (1998) wird hingegen auf die besondere Funktion des finiten Verbs aufmerksam gemacht, das in mehrfacher Hinsicht die Satzstruktur bestimmt. Braun (2006) zeigt auf, dass Modelle sowohl des linguistischen Strukturalismus (Phrasenstrukturgrammatik) als auch des linguistischen Generativismus (Transformationsgrammatik) davon ausgehen, dass Sätze hierarchisch geordnete, nicht lineare Gebilde sind. Bereits im Modell der Dependenzgrammatik (Tesnière 1988) bildet das flektierte Verb das strukturelle Zentrum des Satzes und somit seine wichtigste Komponente.
In den Mehrwortäußerungen des Kindes im dritten Lebensjahr kommt es zu adverbial erweiterten Satzstrukturen („Ich geh fort.“, „Papa kommt heim.“). Es tauchen die im Deutschen üblichen Verbpositionen auf: Einfache Verben gelangen z. T. in die Zweitstellung, wobei immer noch eine Tendenz zur Endstellung phasennormal ist. Zusammengesetzte Präfixverben werden zumeist als Einheit in die Endstellung gebracht.
Im vierten Lebensjahr dominieren bei der Mehrzahl der Kinder einfache Hauptsätze, deren Wortstellung meist korrekt ist. Damit ist die erste Verbstellungsregel erworben, d. h. das Kind unterscheidet zwischen finiten Verbelementen (Auxiliare, Modalverben, Kopulae, Stammverben), die es konjugiert in Zweitstellung verwendet, und infiniten Verbelementen (Partizip, Infinitiv, prädikatives Adjektiv, Präfix), die es in Finalstellung setzt. Werden beide Verbpositionen zugleich besetzt und weitere Satzelemente zwischen fi-nitem und infinitem Verbelement eingesetzt, werden die Äußerungen länger und die Verbalphrase gerät in Distanzstellung (Verbtrennung).
Beispiele:
finitAuxiliarinfinitPartizipWirhabenheute Mittag Pizzagegessen.ModalverbInfinitivWirwollenheute Mittag Pizzaessen.Kopulaprädikatives AdjektivDie Pizzaistbeim Italienergut.StammverbPräfixDie Pizzafälltvom Tischrunter.Cover
Impressum
Inhalt
Vorwort zur vierten Auflage
Einleitung
1 Evidenzbasierung
1.1 Graduelle Evidenz
1.2 Stufen zum „Gold-Standard“ – Interventionsergebnisse
2 Erwerb grammatischer Fähigkeiten
2.1 Zusammenhänge mit dem frühen Spracherwerb und der Allgemeinentwicklung des Kindes
2.2 Grammatikerwerb als mehrjähriger Lernprozess
2.3 Wichtige Erwerbsschritte
2.3.1 Erwerbsreihenfolge grammatischer Fähigkeiten
2.3.2 Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz und Subjekt-Verb-Kontroll-Regel
2.3.3 Verbendstellungsregel in subordinierten Nebensätzen
2.3.4 Kasusmarkierung
2.4 Sprachliche Modalitäten
2.5 Erklärungsansätze des Grammatikerwerbs
2.5.1 Psychologische Spracherwerbstheorien
2.5.2 Linguistische Spracherwerbstheorien
2.5.3 Integrative Ansätze
2.5.4 Gebrauchsbasierte Ansätze
2.5.5 Modularer versus epigenetischer Grammatikerwerb
2.6 Konsequenzen für die therapeutische Praxis
3 Störungen des Erwerbsprozesses grammatischer Fähigkeiten
3.1 Vom „Agrammatismus infantilis“ zur „Specific language impairment“ – Wandel in der Betrachtungsweise grammatischer Störungen
3.2 Definition grammatischer Störungen
3.3 Wichtige und weniger wichtige Störungsphänomene
3.4 Bedingungshintergrund
3.5 Konsequenzen für die therapeutische Praxis
4 Diagnose grammatischer Störungen
4.1 Vom Auflisten von Defiziten zur Suche nach Lernblockaden
4.2 Qualitätsstandards therapierelevanter Diagnostik
4.3 Diagnostische Verfahren
4.3.1 Screenings
4.3.2 Subtests aus standardisierten (Sprach-)Entwicklungstests
4.3.3 Rezeptive Verfahren
4.3.4 Sprachanalysen
4.4 Diagnose grammatischer Störungen bei mehrsprachigen Kindern
4.5 Konsequenzen für die therapeutische Praxis
5 Therapiemethoden grammatischer Störungen
5.1 Wie spezifisch muss grammatische Therapie sein?
5.2 Pattern practice (produktionsorientierte Satzmusterübungen)
5.3 Kompensatorische Methoden (reflexionsorientierte Hilfen)
5.4 Inputmanagement (rezeptionsorientierte Angebote)
5.4.1 Entwicklungsproximaler Ansatz
5.4.2 Linguistische Inputtherapie
5.5 Postdysgrammatische Phase trotz Sprachtherapie?
5.6 Studien zur Methodeneffektivität
5.7 Konsequenzen für die therapeutische Praxis
6 Grundlagen und Anwendung der Kontextoptimierung
6.1 Konzeptentwicklung
6.2 Therapiedidaktik
6.2.1 Kontext
6.2.2 Ziel der Kontextoptimierung
6.2.3 Prinzipien der Kontextoptimierung
6.2.4 Checkliste der Kontextoptimierung
6.3 Therapieziele
6.3.1 Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz
6.3.2 Subjekt-Verb-Kontroll-Regel
6.3.3 Komplexe Syntax
6.3.4 Kasusmarkierung
6.3.5 Überwindung der Artikelauslassung und Genusmarkierung
6.3.6 Pluralmarkierung
6.3.7 Kontextoptimierung im Sekundarbereich
6.3.8 Kontextoptimierung mit mehrsprachigen Kindern
6.3.9 Sicherung des Therapieerfolges
7 Materialien zur grammatischen Förderung
7.1 Griff in den Materialschrank oder individuelle Therapiegestaltung
7.2 Kriterien zur Materialien- und Medienbewertung
7.3 Kategorien der im Handel erhältlichen Materialien
7.3.1 Einzelbildmaterial
7.3.2 Bilderserien
7.3.3 Arbeitsbücher
7.3.4 Kartenspiele
7.3.5 Brettspiele
7.3.6 Spielsammlungen
7.3.7 Aufgaben mit Selbstkontrolle
7.3.8 PC-Software
8 Professionalität in der Therapie grammatischer Störungen
Literatur
Verzeichnis der Therapiematerialien
Sachregister
Anzeigen
Rückseite
Cover
Impressum
Inhalt
Vorwort zur vierten Auflage
Einleitung
1 Evidenzbasierung
1.1 Graduelle Evidenz
1.2 Stufen zum „Gold-Standard“ – Interventionsergebnisse
2 Erwerb grammatischer Fähigkeiten
2.1 Zusammenhänge mit dem frühen Spracherwerb und der Allgemeinentwicklung des Kindes
2.2 Grammatikerwerb als mehrjähriger Lernprozess
2.3 Wichtige Erwerbsschritte
2.3.1 Erwerbsreihenfolge grammatischer Fähigkeiten
2.3.2 Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz und Subjekt-Verb-Kontroll-Regel
2.3.3 Verbendstellungsregel in subordinierten Nebensätzen
2.3.4 Kasusmarkierung
2.4 Sprachliche Modalitäten
2.5 Erklärungsansätze des Grammatikerwerbs
2.5.1 Psychologische Spracherwerbstheorien
2.5.2 Linguistische Spracherwerbstheorien
2.5.3 Integrative Ansätze
2.5.4 Gebrauchsbasierte Ansätze
2.5.5 Modularer versus epigenetischer Grammatikerwerb
2.6 Konsequenzen für die therapeutische Praxis
3 Störungen des Erwerbsprozesses grammatischer Fähigkeiten
3.1 Vom „Agrammatismus infantilis“ zur „Specific language impairment“ – Wandel in der Betrachtungsweise grammatischer Störungen
3.2 Definition grammatischer Störungen
3.3 Wichtige und weniger wichtige Störungsphänomene
3.4 Bedingungshintergrund
3.5 Konsequenzen für die therapeutische Praxis
4 Diagnose grammatischer Störungen
4.1 Vom Auflisten von Defiziten zur Suche nach Lernblockaden
4.2 Qualitätsstandards therapierelevanter Diagnostik
4.3 Diagnostische Verfahren
4.3.1 Screenings
4.3.2 Subtests aus standardisierten (Sprach-)Entwicklungstests
4.3.3 Rezeptive Verfahren
4.3.4 Sprachanalysen
4.4 Diagnose grammatischer Störungen bei mehrsprachigen Kindern
4.5 Konsequenzen für die therapeutische Praxis
5 Therapiemethoden grammatischer Störungen
5.1 Wie spezifisch muss grammatische Therapie sein?
5.2 Pattern practice (produktionsorientierte Satzmusterübungen)
5.3 Kompensatorische Methoden (reflexionsorientierte Hilfen)
5.4 Inputmanagement (rezeptionsorientierte Angebote)
5.4.1 Entwicklungsproximaler Ansatz
5.4.2 Linguistische Inputtherapie
5.5 Postdysgrammatische Phase trotz Sprachtherapie?
5.6 Studien zur Methodeneffektivität
5.7 Konsequenzen für die therapeutische Praxis
6 Grundlagen und Anwendung der Kontextoptimierung
6.1 Konzeptentwicklung
6.2 Therapiedidaktik
6.2.1 Kontext
6.2.2 Ziel der Kontextoptimierung
6.2.3 Prinzipien der Kontextoptimierung
6.2.4 Checkliste der Kontextoptimierung
6.3 Therapieziele
6.3.1 Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz
6.3.2 Subjekt-Verb-Kontroll-Regel
6.3.3 Komplexe Syntax
6.3.4 Kasusmarkierung
6.3.5 Überwindung der Artikelauslassung und Genusmarkierung
6.3.6 Pluralmarkierung
6.3.7 Kontextoptimierung im Sekundarbereich
6.3.8 Kontextoptimierung mit mehrsprachigen Kindern
6.3.9 Sicherung des Therapieerfolges
7 Materialien zur grammatischen Förderung
7.1 Griff in den Materialschrank oder individuelle Therapiegestaltung
7.2 Kriterien zur Materialien- und Medienbewertung
7.3 Kategorien der im Handel erhältlichen Materialien
7.3.1 Einzelbildmaterial
7.3.2 Bilderserien
7.3.3 Arbeitsbücher
7.3.4 Kartenspiele
7.3.5 Brettspiele
7.3.6 Spielsammlungen
7.3.7 Aufgaben mit Selbstkontrolle
7.3.8 PC-Software
8 Professionalität in der Therapie grammatischer Störungen
Literatur
Verzeichnis der Therapiematerialien
Sachregister
Anzeigen
Rückseite