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Menschen entwickeln ihr Konzept für ein Werk, eine Tat und für ihr Ego und korrigieren es unter dem Einfluss von Mit- und Gegenmenschen. Das kann ihr Konzept beleben oder zerstören. Die damit verbundenen Konflikte werden in vier Lese-Dramen unter dem Generaltitel "Konzept und Korrektur" lebendig beleuchtet. Ein Husarenoberst der britischen Armee muss sich unter Schmerzen von seinem charakteristischen Bart trennen, weil sein Vorgesetzter, von ihm durch eine Illoyalität provoziert, auf die königlichen Vorschriften pocht ("Der Bart des Brabazon"). Arthur Schopenhauer, Hagestolz und voller Vorurteile gegenüber Frauen, erliegt dem Charme und der Klugheit einer jungen Bildhauerin, in deren Hand er seinen "Kopf" gibt ("Die Hochzeit des Fauns"). Der Theaterdirektor Goethe kann sein Idealbild der Bühne nicht verwirklichen, weil sein Weimarer Herzog und dessen geliebte Staraktrice ihren eigenen Kopf haben ("Des Pudels Kern"). Ein Marschall von Frankreich wird von der Treue zu dem von Elbe zurückkehrenden Napoleon und seinen persönlichen Interessen zerrissen ("Berthiers Tod"). In einem der Dramen mischt sich die Souffleuse in den Dialog ein, um ihn zu beeinflussen. Die Lesenden können besser als die nur Schauenden durch stille Reflexion zu Mitspielern avancieren.
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Seitenzahl: 374
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Die Hochzeit des Fauns
Der Bart des Brabazon
Berthiers Tod
Des Pudels Kern
Personen
Arthur Schopenhauer Elisabet Ney, Bildhauerin Dr. Wilhelm Gwinner, Gelehrter und Jurist Margarethe Schnepp, Haushälterin Jules Lunteschütz, Maler Johann Schäfer, Fotograf
Ort und Zeit
1942 Oktober 1859 in und bei Schopenhauers Wohnung an der Schönen Aussicht in Frankfurt am Main
(Schopenhauers Studierstube mit einem Bücherregal, einem Schreibtisch, auf dem eine Büste Kants steht, einer Konsole in der Ecke mit goldener Buddha-Statuette; über einem Sofa mit rundem Tisch ein Porträt Goethes, an den Wänden Porträts Kants, Shakespeares, Descartes’, Claudius’, Familienbilder, Daguerreotypen Schopenhauers und Hundestücke. Margarethe Schnepp putzt; später Elisabet Ney)
Schnepp Komm her, du alter Heidengott! Der Doktor sieht’s nicht gern, dass ich dir zu Leibe rücke mit dem Tuch. Aber der sieht auch nicht den Staub, der in deine Rippen kriecht. Die vielen Falten! Den Wedel soll ich nehmen, sagt der Doktor. Der hat gut reden. Überall Staub, auf den Büchern, auf den Papieren, überall. Mit dem Staubwedel! Nachher niese ich wieder, wenn ich den Kaffee bringe – und der Doktor sagt: wieder nicht durch die Nase geatmet draußen in der frischen Luft, wie, liebe Frau Schnepp? Das Wasser wird dem goldigen Kerl nicht schaden. Grinst mich an, dieser Heidengötze. Willst du mich verspotten? Bleiben Sie Ihrem Gott treu, liebe Frau Schnepp, der Mensch braucht einen Gott, das hat der große Kant uns gesagt. (geht zu Kants Büste) Komm her, kriegst auch den nassen Lappen auf den Schädel. (putzt die Büste Kants)
Ney(in der Tür) Alle Türen stehen offen! Guten Tag. Entschuldigen Sie bitte, dass ich störe. Wohnt hier der Doktor Schopenhauer?
Schnepp Bleiben Sie da wohl stehen! (geht zur Tür, Elisabet Ney über die Schwelle). Ja. Der wohnt hier.
Ney Habe ich das Vergnügen mit Frau Doktor Schopenhauer?
Schnepp Es gibt keine Frau Doktor. Ich bin die Aufwärterin.
Ney Liebe Frau, Verzeihung! Ich heiße Elisabet Ney, Bildhauerin aus Berlin. Ich möchte gern dem Doktor Schopenhauer meine Aufwartung machen.
Schnepp Aufwartung? Ei, hören Sie!
Ney Der Doktor Schopenhauer ist wohl nicht da?
Schnepp Nein, Fräuleinchen, er ist zu Tisch.
Ney So spät noch? Ich hörte, der Doktor Schopenhauer pflege um eins zu speisen, im Englischen Hof.
Schnepp Heut’ ist er spät gegangen. Alles ist durcheinander. Er saß den ganzen Morgen. Da! So ein Berg! Das muss der Herr Doktor korrigieren, für den Herrn Brockhaus in Leipzig.
Ney(läuft zum Schreibtisch, blickt auf das oberste Blatt der Bögen) Mein Gott! ‚Die Welt als Wille und Vorstellung’! Die neue Auflage, die dritte! Mein Gott! – das ist überwältigend –
Schnepp Fassen Sie nichts an, Fräuleinchen.
Ney Das vierte Buch, Kapitel 44 – Metaphysik der Geschlechtsliebe.
Schnepp Pfui, Fräuleinchen, Geschlechtsliebe. Ist das was für ein Fräulein? Meta – ?
Ney Mein Gott! (liest vom Blatt, ohne es zu berühren)
Ihr Weisen, hoch und tief gelahrt, Die ihr’s ersinnt und wisst, Wie, wo und wann sich alles paart? Warum sich’s liebt und küsst? Ihr hohen Weisen, sagt mir’s an! Ergrübelt, was mir da, Ergrübelt mir, wo, wie und wann, Warum mir so geschah?
Schnepp Der Herr Doktor dichtet auch?
Ney Das ist vom August Bürger – den kennen Sie doch auch, liebe Frau – ach, bitte, ich weiß Ihren Namen gar nicht.
Schnepp Ich bin Frau Schnepp.
Ney Lenore!
Schnepp Margarethe, Margarethe Schnepp.
Ney Lenore. Seine schöne Ballade, die kennen Sie doch, Frau Schnepp – und hurre, hurre, hopp, hopp, hopp ging’s fort in sausendem Galopp –
Schnepp Ja, das kenne ich. Und das hat der Herr Doktor in sein Buch geschrieben?
Ney Ein Motto, Frau Schnepp, ein hübscher Spruch! Ihr Weisen, hoch und tief gelahrt – Margarethe Schnepp, Beneidenswerte, Sie dienen einem Weisen, was sag’ ich, dem Genius des Jahrhunderts. Oh, der Buddha! Und da – Immanuel Kant! Das Geistergespräch, das er mit ihnen führt! Hier in dieser Stube!
Schnepp Mit mir? Fräuleinchen!
Ney Ich habe die Lehre des Buddha studiert, ich habe den Kant studiert – jetzt steh’ ich hier in der Studierstube Arthur Schopenhauers, der noch tiefer, weiter, größer gedacht als diese Lehrer der Menschheit. Ich bin überwältigt –
Schnepp Sie müssen gehen, Fräuleinchen. Der Herr Doktor wird ärgerlich, wenn er Sie hier sieht. Zornig, fuchsteufelswild – er hat schon einmal ein Frauenzimmer die Treppen hinuntergeschmissen –
Ney Aber er wohnt doch im Parterre!
Schnepp In Ihrem Berlin, wo der Herr Doktor Professor war. Gehen Sie, Fräuleinchen!
Ney Bitte, bitte, liebe Frau Schnepp, liebe gute Frau Schnepp, sagen Sie mir, wann ich den Doktor Schopenhauer besuchen darf!
Schnepp Das geht nicht.
Ney Morgens.
Schnepp Morgens? Wo denken Sie hin? Keiner darf in seine Stube morgens. Nicht einmal das Frühstück darf ich ihm bringen. Wenn er gebadet hat, seinen Kaffee getrunken, studiert er.
Ney Den ganzen Tag?
Schnepp Am Vormittag. Neuerdings kommen ja Besucher ins Haus – so gegen elfe.
Ney Um elf!
Schnepp Er ist ja jetzt wohl eine Berühmtheit geworden, der Herr Doktor. Früher ist nie einer gekommen. Jetzt kommen die jungen Leute –
Ney Um elf!
Schnepp Wenn die Besucher weg sind, spielt er.
Ney Er spielt –
Schnepp Auf der Flöte. Eine Stunde lang.
Ney Auf der Flöte!
Schnepp Da vergisst er alles. Da muss ich klopfen, damit er den Frack anzieht für den Englischen Hof.
Ney Kann ich dem Doktor da begegnen!
Schnepp Um Gottes willen! Fräulein!
Ney Und nach Tisch?
Schnepp Er kommt nach Haus, trinkt seinen Kaffee und legt sich ein Stündchen auf die Seite. Da dürfen Sie nicht stören, Fräuleinchen.
Ney Aber er schläft doch nicht den ganzen Nachmittag!
Schnepp Was denken Sie! Ein Doktor! Er liest. Wenn er nicht korrigieren muss, wie jetzt für den Herrn Brockhaus.
Ney Geht er auch einmal spazieren?
Schnepp Wenn er gelesen hat. Ja, jeden Tag. Da will er allein sein. Nur einer darf ihn begleiten, der Butz.
Ney Der Butz.
Schnepp Der Pudel.
Ney Der Pudel! Der Butz!
Schnepp Mit dem rennt er um die Wette, wie ein junger Mann – und der Herr Doktor war doch siebzig im letzten Jahr! Den Main hinauf, nach Sachsenhausen, Oberrad – und er fuchtelt mit seinem Bambusrohr in der Luft, er stößt ihn auf den Boden – er spricht mit sich, Fräuleinchen, ja, und mit dem Butz.
Ney Aber dann – dann ist er doch daheim?
Schnepp Dann geht er ins Lesekabinett am Turm. Dort studiert er die Zeitungen, all die englischen und französischen Sachen. Ja, der Herr Doktor weiß, was in der Welt vorgeht – und manchmal erzählt er mir’s. Sachen passieren in der Welt, Fräuleinchen!
Ney Aber am Abend vielleicht? Kommt der Doktor denn so spät zurück?
Schnepp Um acht geht er zum Nachtessen. Das kann spät werden, Fräuleinchen, und wenn er früher heimkommt, ja dann –
Ney Dann liest er?
Schnepp Dann liest er. Dann raucht er seine Pfeife. Und ehe er zu Bette geht, liest er noch in – in seiner Bibel. In der Bibel dieses Heidengotts – dem da! (zeigt auf den Buddha)
Ney(geht zum Sofatisch) In der da? (schlägt den Titel auf)
Schnepp Fräuleinchen!
Ney Die Upanischaden. Oh, die habe ich auch gelesen!
Schnepp So was lesen Sie? Fräuleinchen!
Ney Ich muss mit ihm sprechen, ich muss, ich muss! Seinetwegen bin ich nach Frankfurt gereist. Liebe Frau Schnepp! Wenn die Besucher gegangen sind, am Vormittag, zwischen den Gästen und der Flöte, da könnten Sie doch – liebe, liebe Frau Schnepp! Ich warte, und Sie geben mir einen Wink –
Schnepp Der Herr Doktor empfängt keine Frauenzimmer.
Ney Er wird mich empfangen! Ja, er kennt mich nicht. Aber ich kenne ihn. Ich verehre ihn – ich liebe ihn!
Schnepp Der Herr Doktor ist ein alter Mann, Fräuleinchen, der könnte Ihr Großvater sein. Lieben! Ei, so was.
Ney Ich komme. Ich komme morgen! Frau Schnepp, ich komme morgen. Auf Wiedersehen, Frau Schnepp! (ab)
Schnepp(geht zum Schreibtisch, blickt auf die Bögen) Geschlechtsliebe. Wirklich. Me-ta-phy-sik. Geschlechtsliebe. Das hätte ich nicht gedacht vom Doktor. Schreibt so was und lockt sich die jungen Dinger ins Haus. (liest) „Die Dichter ist man gewohnt hauptsächlich mit der Geschlechtsliebe beschäftigt zu sehen. Dies ist in der Regel das Hauptthema aller dramatischen Werke, der tragischen, wie der komischen, der romantischen, wie der klassischen, der Indischen, wie der Europäischen“ – Hat der Doktor nur Liebesromane auf den Borden? Deshalb darf ich kein Buch anfassen! (blickt eine Weile stumm lesend auf das Blatt) Romeo und Julia. Die neue He-luise. Der Werther. Rien – das ist französisch. Lateinisch. Der Doktor kann sieben Sprachen, aber das Frankfurtisch, das versteht er nicht. Aber er ist auch ein bisschen harthörig. (blickt und horcht zur Tür, hebt Blätter auf, liest) Jesus! (stutzt, liest) „Ein Weib, das gerade gebaut und schöne Füße hat“ – das hat der Herr Jesus gesagt? Jesus Sirach. Das ist nicht der Herr Jesus. Klein sollen die Füße sein! Achtzehn bis achtundzwanzig Jahre! Das könnte dem Alten so passen – dieses Fräuleinchen ist doch höchstens zwanzig. (liest) „Außerhalb jener Jahre hingegen kann kein Weib uns reizen“ – uns! Dieser Alte! Könnte ihr Großvater sein! – „ein altes Weib erregt unsern Abscheu – Jugend ohne Schönheit hat immer noch Reiz, Schönheit ohne Jugend keinen“ – dieser alte Bock! Abscheu! Ich hätte auch noch einen finden können, der mich gewollt hätt’, wenn ich nicht über zehn Jahre hier bei dem Doktor in der Schönen Aussicht verhockt hätte, mit diesem alten, diesem – abscheulichen Mann. Hält sich wohl für einen schönen Mann mit seinem Backenbart, hinter dem die Zähne wackeln! – „ein voller weiblicher Busen übt einen ungemeinen Reiz auf das männliche Geschlecht aus“ – ungemein? Gemein! (betastet ihren Körper) Da hat das Fräuleinchen nichts zu bieten, nichts. Das hat er auch noch unterstrichen! So ein alter Bock. Da muss ich mich ja schämen, dass ich noch in seinem Hause bin! Der mit seinen grauen borstigen Locken, die ihm wie Hörner vom Kopfe stehen.
(Studierstube. Arthur Schopenhauer, Wilhelm Gwinner)
Gwinner(stehend am Schreibtisch, an dem Schopenhauer sitzt, in den Korrekturbögen blätternd) Lassen Sie mich Ihnen helfen, verehrter Herr Doktor. Meine Augen sind jünger als Ihre.
Schopenhauer Ja, wenn ich die Ohren brauchte zum Korrigieren, mein lieber Herr Gwinner! Meine Augen sind scharf und klar. Mein Lebtag habe ich sie in kaltem Wasser gebadet. Das rate ich Ihnen auch, junger Freund. Am Tage hocken Sie über Ihren Pandekten und Akten, und nachts lassen Sie sich das Gemüt von Ihren mystischen Gespenstern verdüstern. Klarheit, Licht! – die unbarmherzige Härte der wirklichen Dinge! Das ist es! Mit unseren Augen denken wir. Hüten Sie Ihre Augen, mein junger Philosoph, sie sollen achtzig Jahre unsere unbestechlichen Berater sein.
Gwinner Es gibt so viele Fehler aus Flüchtigkeit und Unverstand, in allen Drucken. Warum wollen Sie sich damit plagen, Herr Doktor? Warum soll der Meister tun, was der Lehrling leisten kann?
Schopenhauer Flüchtigkeit? Das hat Methode. Flüchtig, oberflächlich, dumm gegen alle Feinheit: das ist der törichte Geist unserer Jetztzeit! In jedem Komma müssen wir einen Damm errichten gegen die alles überschwemmende Unsinnsflut unserer elenden Brotskribenten, die keine Zeit für ein Komma haben. Ich denke mir etwas, wenn ich ein Komma setze! Ich werd’ es ihnen ins Stammbuch schreiben, diesen Pfuschern, diesen flüchtigen Geistern! Wo hab’ ich’s denn? (kramt in Papieren) Nun, ich werd’s in die Vorrede nehmen, einmeißeln wie Lettern in den Granit einer Grabplatte. Nicht ein Komma sollt ihr mir verrücken, in alle Ewigkeit. Fluch über die Flüchtigkeit! Ein Damm gegen die schändliche Verstümmelung unserer deutschen Sprache. Wer mir nur einen Satz, ein Wort, eine Silbe entstellt –
Gewinner Überlassen Sie es mir, Herr Doktor. Es ist die Aufgabe eines Schülers, das Wort des Lehrers hochzuhalten.
Schopenhauer Als Steinbruch für eure Philosophie werdet ihr mein Werk benutzen – ich kenne euch.
Gwinner Ich könnte Ihnen bei den Übersetzungen zur Hand gehen, Herr Doktor.
Schopenhauer Lassen Sie’s, Herr Gwinner! Ich liebe meine Dichter und will schon meine Worte für ihre Gedanken finden.
Gwinner Von der Jugend werden Sie verehrt, Herr Doktor. Ich bin jung. Ich könnte Ihnen hier und dort die Sprache der Jugend leihen.
Schopenhauer War ich nicht selber jung, als ich die Welt als Wille, die Welt als Vorstellung dachte – kaum dreißig Jahre? Jünger als Sie, mein junger Freund! Die dritte Auflage – nach vierzig Jahren. Und die ersten beiden hat ein stumpfes Publikum zu Makulatur gemacht.
Gewinner Die dritte Auflage wird die erste sein – die erste von Hunderten!
Schopenhauer Ja, ich spür’s, die Augen öffnen sich. In meinen kleinen Schriften habe ich dem Publikum den Schlüssel gefeilt, den es jetzt ins Schlüsselloch des Hauptwerks zu stecken begierig ist. Der Wille, der die Welt aus ihrem Innersten bewegt, und die Vorstellung, in der er zur Ruhe findet – der weht jetzt die Herzen der Damen aus den Blättern der Magazine und Kalender an. Sie schmelzen dahin! Und wenn ich am Mittagstisch bei meinem Braten sitze, soll ich mit den jungen adeligen Damen über die Schlechtigkeit der Welt und über das Mitleid gegen alle Kreatur schwadronieren! Oh, wie grün die alle sind, die dummen Dinger. So habe ich mir meinen Ruhm nicht vorgestellt. Der Ruhm kann eine Fratze haben, wenn er zu einem Greisen kommt. Die Komödie des Ruhms!
Gwinner Der Philosoph der Jugend ist kein Greis! Er hat der Jugend die Welt in ihrem Schrecken und ihrem Zauber gezeigt und die geistige Kraft in ihr geweckt, dem Trugbild Widerstand zu leisten. Eines Tages – oh, glauben Sie es, Herr Doktor – wird die Jugend Ihr Haupt zwischen den Buddha (weist zu ihm) und den großen Kant (streichelt die Büste) stellen!
Schopenhauer Da müsst’ ich ja dem Künstler stillesitzen! Schon toll gemacht hat’s mich, als der Lunteschütz das Porträt von mir zu fertigen nicht lassen mochte.
Gwinner Das Porträt! (sucht mit den Blicken) Ich sehe es nirgendwo.
Schopenhauer Ein Apostel hat es erstanden, ein Gutsbesitzer aus dem Brandenburgischen. Er wollte ein eigens Haus bauen, darin es hängen sollte. So hat mir doch schon einer eine Kapelle gestiftet – seinem Hausheiligen. Einen prachtvollen Pokal hat er mir zu meinem Siebzigsten verehrt – einen Pokal! Bin ich der Turnvater Jahn, der den Geist der Jugend in ihrem Körper ertüchtigt? Nein, nein, der Kopf, den die Leutchen sich auf die Kommode stellen, ist immer hohl.
Gwinner Nehmen Sie es als Zeichen der Dankbarkeit. Mag es rührend scheinen – es beweist doch die Liebe zur Philosophie und zu ihrem Meister, der ein Welträtsel gelöst hat.
Schopenhauer Das! Meine Philosophie hat das letzte Wort gesprochen.
Gwinner Letzte Antwort – und doch so viele Fragen!
Schopenhauer Der da (weist mit dem Stift auf die Büste Kants) würde mir vom Schreibtisch springen, wenn er hörte, dass ich sein Ding an sich befragt habe, dieses unbegreiflich Unantastbare, mit meinem ungebärdigen Willen ausgefüllt und ihm den heißen Atem der Welt eingeblasen habe.
Gwinner Ich werde noch viele Jahre Zeit haben, über meine Fragen mit dem Platon unserer Zeit zu disputieren.
Schopenhauer Fürs erste, mein junger Freund, sammeln Sie mir die Rezensionen meiner Lehre in den Gazetten. Ich will doch sehen, wie die Philosophieprofessoren und Unsinnschmierer mit der Lehre fertig werden, die sie zu guter Letzt nicht unterdrücken konnten. Da ist das Licht von einem Stern zu ihnen gedrungen, der älter als die Menschheit ist. Wie gefällt Ihnen das, mein junger Herr Doktor, meine Vorrede für die neue Auflage? (liest) „Das Wahre und Ächte“ – das Ächte! Das wollen die nämlich mit dem E schreiben, ächt, ächt, ächt, mit ä, das Ächte leitet sich von Achtung her! – „das Wahre und Ächte würde leichter in der Welt Raum gewinnen, wenn nicht die, welche unfähig sind, es hervorzubringen, zugleich verschworen wären, es nicht aufkommen zu lassen“. Echo, Erfolg, Ehren – im 72. Jahr. Wäre ich noch einmal jung! Hätte ich die letzten vierzig Jahre im Schlaf verbracht wie der Endymion, den Sie, mein Lieber, in Ihrem famosen Roman zum Helden machten.
Gwinner Eine Jugendsünde, Herr Doktor Schopenhauer, ich bitte um Vergebung.
Schopenhauer Diana und Endymion. Sagen Sie, wer war die schöne Diana, die dem Endymion aus den zärtlichsten, scheuesten Küssen fünfzig Töchter gebar?
Gwinner Ich habe nur einen Sohn, den ich Arthur nannte, und seine Mutter heißt nicht Diana.
Schopenhauer Nach der großen Tat vierzig Jahre selig schlafen in der ewigen Jugend, die ein Zeus dem Endymion schenkte! Sich dann mit der Kraft des dreißigsten Jahrs aus dem Traum der Jugend erheben und sehen, dass er lebt. Sie, mein junger Philosoph, sind der wahre Meister, denn Sie sind jung. Jetzt gehen Sie aber rasch. Machen Sie Platz für die Gefährtin meines Lebens. Für meine Flöte.
Gwinner Auf Wiedersehen, Herr Doktor. Morgen fesseln mich meine Pflichten ans Stadtgericht, aber übermorgen – auf Wiedersehen, Herr Doktor.
Schopenhauer Ja, mein Endymion.
(Studierstube. Schopenhauer spielt auf der Flöte „di tanti palpiti“ aus Rossinis „Tankred“ oder den Marsch aus Mozarts „Titus“. Elisabet Ney hat behutsam die Tür geöffnet und geht, wie auf Spitzen tanzend, in den Raum, bis sie hinter Schopenhauer steht. Schopenhauer hält im Spiel inne)
Ney Oh, dieses zauberhafte Spiel.
Schopenhauer(fährt herum, schreit) Haaa – (springt auf)
Ney Ich bitte um Vergebung, Herr Doktor Schopenhauer –
Schopenhauer(laut) Vergebung? Wer schleicht da in meiner Stube herum? Hat meine Magd Ihnen die Tür geöffnet? Frau Schnepp! Schnepp!
Ney Frau Schnepp ist unschuldig, Herr Doktor. Ich war so kühn –
Schopenhauer Kühn? Unverschämt!
Ney Unverschämt.
Schopenhauer Ist das die Nymphe Echo? Tanzt hier wie eine Geistererscheinung nach meinen Melodien. Ich wünsche nicht gestört zu werden! (fixiert sie) Habe ich Sie nicht schon gesehen, beim Mittagsmahl im Hof? Eine von den exaltierten Damen, die auf meinen Teller starren und dieser Sehenswürdigkeit von Philosophen die Bissen in den Mund zählen? Ich wünsche nicht gestört zu werden in meiner Häuslichkeit, meine Dame!
Ney Elisabet Ney, Bildhauerin aus Berlin. Herr Doktor, sehen Sie mir meine Kühnheit nach, meine Unverschämtheit. Nicht im Englischen Hof bin ich meinem Meister begegnet. Aus seinem großen Buch ist mir sein Geist vertraut geworden.
Schopenhauer So! Mein Geist. Und deshalb nehmen Sie sich die Kühnheit heraus, mir wie ein Geist zu erscheinen. Künstlerin?
Ney Als Künstlerin komme ich zu Ihnen.
Schopenhauer Ein künstlerisches Fräulein – so.
Ney Ja. Ich bin nicht berühmt, mein Name ist noch unbekannt –
Schopenhauer Ney. Da gab’s den Né, Napoleons berüchtigten Marschall, der so kühn war, dass sie ihn zum Schluss erschossen haben.
Ney Mein Großonkel, verehrter Herr Doktor.
Schopenhauer Die Nichte des Marschalls, so. Sag ich’s doch immer: von den Vätern haben wir den Charakter –
Ney Ich weiß, Herr Doktor Schopenhauer, die Metaphysik der Geschlechtsliebe, im II. Teil, im 4. Buch, Kapitel 44.
Schopenhauer Metaphysik der – Das nenn’ ich mir eine recht marschallmäßige Attacke, Fräulein Né.
Ney Bitte, Ney, Herr Doktor. Ich bin eine deutsche Künstlerin. Ich bin Christian Rauchs Schülerin. Er starb vor zwei Jahren.
Schopenhauer Der Goethes schönen Kopf gemacht?
Ney Ja. Das Monument des großen Friedrich zuletzt. Er hat dem König und der Königin von Hannover, dem Ernst August, das Grabmonument gemacht – und das ist die Referenz für seine Schülerin. Ich bin unterwegs nach Hannover, wo ich den König Georg in Marmor bilden soll.
Schopenhauer Den König. So. dann eilen Sie, Mademoiselle Né.
Ney Noch erwartet der Hof mich nicht. Ehe ich zum König eile, dacht’ ich mir, besuche ich den König der Philosophen, Arthur Schopenhauer, und frage ihn und bitte ihn –
Schopenhauer Ich kann Ihnen keine Empfehlung an den König geben, Fräulein Marschallin, der blinde König wird mein Werk nicht gelesen haben.
Ney Ich will eine Büste aus Bronze machen, Ihre, Herr Doktor Schopenhauer.
Schopenhauer Meinen Kopf wollen Sie? Soll er vielleicht gar die Flöte blasen?
Ney Wenn Sie es wünschen, Herr Doktor Schopenhauer.
Schopenhauer Ich wünsche keine Büste, Fräulein Né. Wer in aller Welt hat dies Unmögliche bestellt bei Ihnen? Ja, die Leute bestellen sich den Schopenhauer in ihr Haus seit neuestem. Haben Sie die abscheuliche Fratze gesehen, die Fotografie des Mylius in der Leipziger Illustrierten Zeitung? – ganz verhunzte Stirn, das abscheuliche Maul, schielige Augen, infam. Sechstausend Abonnenten, dreißigtausend Gaffer.
Ney Es ist die Begeisterung über Ihr unsterbliches Werk. Sie hat mir den Auftrag gegeben, sie allein. Ich arbeite auf eigene Rechnung. Ich werde, wenn Sie es erlauben, Ihre Büste in die Ausstellung geben, nach Paris, nach Berlin. Das Publikum soll den Kopf sehen, der die Welt als Wille und Vorstellung ersann. Nein, erschuf!
Schopenhauer Das verfluchte Publikum!
Ney Ihre Anhänger, Ihre Schüler, Herr Doktor!
Schopenhauer Ich wünsche keine Büste zu haben, am wenigsten von einem so jungen und mehr als kühnen Fräulein!
Ney Soll ich zwanzig Jahre warten? Sie wären neunzig, Her Doktor Schopenhauer.
Schopenhauer Kühn und unverschämt. So dulden Sie auch eine Unverschämtheit aus meinem Mund. Schätzen Sie nicht auch die Romane meiner Mutter? – diese Fräuleinliteratur? Als der Goethe – oh, er hat mich gekannt, er war einer meiner frühen Leser – als der Goethe also ein Bildnis der Johanna Schopenhauer sah, aus Frauenhand – was sagte er wohl? Kunstarbeiten von Damen setzen einen jedes Mal in Verwunderung, geben aber nie Gelegenheit zur Bewunderung. Ich wünsche meinen Kopf nicht von Ihnen, Fräulein Né.
Ney Dort auf dem Tisch des größten Denkers unseres Jahrhunderts liegt sein Werk –
Schopenhauer Ein Haufen Papier, über dem ich mir die Augen noch verderben werde. Mein Werk? Das wissen Sie? Hat die Nymphe Echo nach meinen Melodien auf meinem Tisch getanzt?
Ney Die platonische Idee, das Objekt der Kunst, drittes Buch, Kapitel 36 – demzufolge besteht der geniale Ausdruck eines Kopfes darin, dass ein entschiedenes Übergewicht des Erkennens über das Wollen darin sichtbar wird. Was Sie lehrten, Arthur Schopenhauer, will ich sichtbar machen. Ich kann’s! Die Lust des Lebens, den Schmerz, das große Nein –
Schopenhauer Haben Sie mein Werk nicht allzu flüchtig gelesen, Fräulein Né? Was lehrte es über die Aufgabe der Skulptur? Sie soll die Idee, in welcher der Wille den höchsten Grad seiner Objektivation erreicht, anschaulich darstellen. Das vermögen Sie, Fräulein Né? In Ihrer Familie scheint das Unmögliche eine fixe Idee zu sein.
Ney Die Idee, ja.
Schopenhauer Sie mögen mit Ihren zwanzig Jahren –
Ney Sechsundzwanzig!
Schopenhauer – den Charakter der Gattung im schönen reizenden Ausdruck begreifen. Doch den Ausdruck des Charakteristischen, in dem sich bei aller Eigentümlichkeit und Dignität des Individuellen die Idee der Menschheit verkörpert – das übersteigt wohl Ihre zarte Kraft, mein Fräulein. Dazu reicht Kühnheit allein nicht. Ja, wenn Sie meinen Pudel modellieren wollten!
Ney Ich mache ihn. Ihren Butz –
Schopenhauer Sie wissen seinen Namen? Mein allwissendes Fräulein!
Ney Ich modelliere auch Ihren Pudel, Herr Doktor Schopenhauer.
Schopenhauer Erst den Butz und dann mich? Oder erst den Herrn und dann den Hund?
Ney Herr Doktor, ich danke Ihnen! Oh, Sie werden mit mir zufrieden sein! Ich eile, ich gehe. Morgen, morgen bin ich wieder bei Ihnen! Auf Wiedersehen, Herr Doktor Schopenhauer! (läuft hinaus)
Schopenhauer Die Nichte des berüchtigten Marschalls! (ergreift die Flöte zaudernd, legt sie wieder weg) Soll das Fräulein mich zu meinen Korrekturen rufen. Hat auch sein Gutes (greift zur Feder).
(Studierstube. Schopenhauer. Margarethe Schnepp bringt den Kaffee)
Schopenhauer Sie haben das Fräulein gesehen? (Margarethe Schnepp serviert stumm) Sie heißt Ney. Elisabet Ney. Sie kommt morgen wieder.
Schnepp Wann?
Schopenhauer Wann! Fragen Sie das Fräulein.
Schnepp Wo ist es?
Schopenhauer Fort! Sie kommt morgen.
Schnepp Wie soll ich das Fräuleinchen fragen, wenn ich nicht weiß, wo es wohnt.
Schopenhauer Aber sie kommt morgen.
Schnepp Ja, wann?
Schopenhauer Sie wird zur rechten Zeit kommen. Sie ist ein naseweises Ding. Sie wird oft kommen, wohl jeden Tag.
Schnepp Herr Doktor!
Schopenhauer Ich werde ihr sitzen müssen.
Schnepp Sitzen?
Schopenhauer Das dauert lange. Zwei Wochen, drei Wochen, wer weiß. Dem Maler Lunteschütz habe ich zwanzigmal zwei Stunden gesessen.
Schnepp Das Fräuleinchen will Sie malen, Herr Doktor? Ich denke, sie ist – (schlägt sich auf den Mund)
Schopenhauer Zu jung? Jung ist sie. Ja, jung und liebenswürdig. Ein Schelm. Sehr charmant.
Schnepp Ist sie das? Das Fräulein Ney.
Schopenhauer Die Großnichte des Marschalls, den der König von Frankreich hat füsilieren lassen, weil er Napoleon in den hundert Tagen seines Desasters treu geblieben ist. 1815. Da habe ich angefangen, mein Buch zu schreiben.
Schnepp So was! Eine Französin!
Schopenhauer Sie will mich in Bronze gießen.
Schnepp Ein Denkmal! Ein Denkmal für den Herrn Doktor! Vergolden, ja? Wie den Buddha, ja. Aber Herr Doktor, dass Sie dem Fräulein nicht sitzen wie der Buddha da in seinem Schneidersitz.
Schopenhauer Unsinn! Frau Schnepp, Sie schweigen still! Ich mache mich auch nicht über Ihren angenagelten Heiland lustig. So ein Unsinn.
Schnepp Ein Denkmal für den Herrn Doktor! Wie das vom Goethe auf dem Rossmarkt. Aber, Herr Doktor, Sie werden doch noch viele Jahre leben wollen –
Schopenhauer Kein Denkmal! So ein Unsinn. Eine Büste, der Kopf –
Schnepp Ach, nur so etwas Kleines! Wie der Schädel vom Kant da.
Schopenhauer Was reden Sie, Frau Schnepp! Ich werde mich hinstellen lassen wie der Goethe? Ich bin ein Philosoph, ich bin ein Gelehrter. Ein Denker ist ein Kopf, und sonst nichts. Sollen sie den Kriegsherren, den Staatsmännern ihre großen Standbilder hinstellen, einem Denker ziemt das nicht.
Schnepp Der Goethe war wohl auch ein Denker und steht gewaltig da mit seinem Kranz in der Hand.
Schopenhauer Das war ein Fehler! Ich hab’s dem Komitee und dem Magistrat bewiesen in meinem Gutachten zur Denkmalsfrage. Sie haben nicht auf mich hören wollen. Ein kapitaler Fehler. Der Kopf! Die Stirn, das Auge, die Energie der Erkenntnis – eine Büste auf einer Säule, nicht zu hoch. Aug’ in Aug’ mit dem Betrachter.
Schnepp So einen Kopf macht Ihnen das Fräuleinchen? Und das steht dann hier in der Stube? Mein Gott, die Haare!
Schopenhauer Wie? Was?
Schnepp Wie will das Fräuleinchen Ihre Haare machen, Herr Doktor? In Bronze! Die weißen Haare? Will sie die machen wie auf der Fotografie von Herrn Hartmann, die Sie mir geschenkt haben?
Schopenhauer Werfen Sie das weg! Abscheulich. Eine Fratze. Auf dem Bild sehe ich aus wie der Talleyrand, den ich oft gesehen habe, als ich zwanzig war, auf dem Erfurter Fürstenkongress.
Schnepp Ein so schönes Bild, Herr Doktor!
Schopenhauer Die Kammer. Die obere Kammer. Fräulein Ney braucht ein Atelier. Sie kann nicht immer hier bei mir sitzen.
Schnepp Die Kammer. Ja, Herr Doktor, aber die Wäschekörbe!
Schopenhauer Dafür wird sich ein Platz finden. Die Kammer. Sie wird dort lange arbeiten müssen. Frau Schnepp, das Mittagessen. Sie holen es aus der Restauration da oben, jeden Tag.
Schnepp Kann das Fräuleinchen Sie nicht in den Hof begleiten, Herr Doktor?
Schopenhauer Das gäbe was zu tuscheln, zu schwätzen und zu lachen. Sie macht mir den Butz auch, Frau Schnepp.
Schnepp Der Butz und der Herr Doktor? Wie er mit ihm spazieren geht? Der Schwanz mit dem Pinsel hochgereckt in die Luft –
Schopenhauer Die Kammer soll sauber sein, kein Staubkörnchen, verstanden! Sie geben Fräulein Ney einen Schlüssel.
Schnepp Einen Schlüssel? Herr Doktor!
Schopenhauer Ja, Frau Schnepp, da kommt ein junges Leben in die Wohnung. Es ist auch manchmal gar so still und tot. Kein Mensch im ganzen Haus –
Schnepp Kein Mensch!
Schopenhauer Keine Frau.
Schnepp Was bin denn wohl ich?
Schopenhauer Meine liebe Frau Schnepp doch. Fräulein Ney wird Ihnen gefallen. Sie ist sehr liebenswürdig, ein Elfchen, eine kleine Fee. Sie wird Ihnen gefallen. In ihrem Wesen liegt etwas Bestrickendes, ein exquisiter Charme. So etwas sehen Sie nicht alle Tage. Kein Alltagsmensch, nichts von der Fabrikware der Natur –
Schnepp Fabrikware, so! Habe ich das um Sie verdient, dass Sie mich immer so beleidigen müssen?
Schopenhauer Liebe Frau Schnepp! Meine Philosophie. Sie unterscheidet den Genius und die Fabrikware der Natur, den gewöhnlichen Menschen, der nur sein kleines Selbst im Auge hat und seine törichten Begierden. Sie sind meine treue, selbstlose Dienerin, sie sind nicht gemeint. Das Fräulein Ney ist ein kleiner Genius. Die Nymphe Echo.
Schnepp Fabrikware! Genius! Die macht Ihren Kopf, Herr Doktor – und dann passen Sie mal auf! – dann stellt sie ihn zu den Wachsfiguren ins Kabinett. Fabrikware macht sie daraus, wie die Bembel. Dieses Fräuleinchen! (ab)
Schopenhauer Frau Schnepp! Die Kammer!
(Studierstube. Schopenhauer auf dem Sofa, Elisabet Ney auf einem Stuhl am Kaffeetisch)
Schopenhauer Den Pudel sollten Sie mir als erstes machen, Fräulein Né.
Ney Als Probe meines Talents? Herr Doktor Schopenhauer! Wer auf dem Weg zum König von Hannover ist, braucht keine Hundeplastik als Empfehlungsbrief.
Schopenhauer Haben Sie meinen Butz gesehen?
Ney Allerliebst. Ich sah Frau Schnepp ihn putzen.
Schopenhauer Haben Sie in sein Auge geschaut? Die Weltenseele blickt dich an. Der Wille zum Leben leuchtet dir in unergründlicher Schwärze entgegen, mit dem Glanz des ersten Erkenntnislichtes, den sich die tierische Kreatur aufgesteckt. Bilden Sie ihn mir!
Ney Ich habe es Ihnen versprochen.
Schopenhauer Die Tierbildhauerei ist eine große Kunst. Der Charakter der Art, nicht des Individuums, ist zu erfassen. Aber auch die eigentümliche Manifestation des Willens, des tiefen Quells, der alle Geschöpfe verbindet. Machen Sie ihn gut, Fräulein Né, den Butz, machen Sie ihn vortrefflich, damit Sie bei seinem Anblick ergriffen sagen: tat twam asi. Das heißt –
Ney Dieses Lebende bist du! Oh, Herr Doktor, ich kenne doch meinen Schopenhauer, ich kenne doch die heiligen Bücher der Hindu.
Schopenhauer Sie sind ein erstaunliches Geschöpf, Fräulein Né.
Ney Né, Né, bitte sagen Sie Ney. Meine Vorfahren kommen aus Schwaben.
Schopenhauer Ney, Ney, Elisabet. Da ist mir wohl wie meinem August Bürger ein Schwabenmädchen ins Haus getanzt? Da kommt der Kaffee! (Frau Schnepp serviert)
Ney O danke, Frau Schnepp! Ich sehe manches gelungene Porträt von Ihnen an den Wänden, Herr Doktor Schopenhauer.
Schnepp Eins hat der Herr Doktor mir geschenkt! (geht zu einem Servierwagen)
Schopenhauer Ja, meine Apostel, meine Evangelisten – sie haben mich zu den Herren Daguerrotypisten und Fotografen geschickt. Alles gräulich. Alles Karikaturen. Und die Lithographie des Gemäldes erst! Misslungen. Fremde Gesichter. Ich gebe es zu, ich mache es den Künstlern nicht leicht. Ich kann nicht stille sitzen. So mobil mein Körper, so versatil mein Gesicht. Ich weiß. Die Künstler sehen in jeder Minute einen anderen Schopenhauer. So sehe ich mal wie ein Dorfschulze aus, mal wie ein grimmiger Frosch, da sehen Sie einen alten Drachen –
Schnepp(mit Gebäck kommend) Herr Doktor!
Ney Der Doktor meint sich selbst, Frau Schnepp. Köstlich, danke, Frau Schnepp.
Schopenhauer Wie Sie in meinen Parerga lesen können, Fräulein Ney – jedes Menschengesicht ist eine Hieroglyphe. Sie lässt sich allerdings entziffern. Ja, wir tragen ihr Alphabet fertig in uns. Der Künstler – pardon, die Künstlerin – muss mich geistig aufzufassen wissen. Schade, mein Fräulein Ney, dass Sie mich nicht malen wollen. Vielleicht gelänge Ihnen das lyrische Gedicht, das mir für ein Porträt vorschwebt – in der Lyrik können Frauen Großes leisten. Eine Landschaft der Seele, in der man die gewachsene Persönlichkeit uns entgegensprechen sieht, mit ihrem ganzen Fühlen, Denken, Wollen. Die Jugend mit der Ahnung des Alters, das Alter mit den Spuren der Jugend. Frau Schnepp! Frau Schnepp! Noch Zucker!
Ney Ich würde gern die Porträts mit in meine Kammer nehmen, Herr Doktor Schopenhauer. Sie könnten mir hier und da, in Details, im Ausdruck, eine Stütze sein.
Schopenhauer Nein, das erlaube ich nicht! Nicht diese Karikaturen! Der Maler Lunteschütz kommt bald mit dem Herrn Schäfer – das ist ein kunstreicher Fotograf. Sollte ihm sein Werk gelingen, könnte es Ihnen auf die Sprünge helfen.
Ney Am liebsten wär’ mir eine Maske, Herr Doktor.
Schopenhauer Eine Maske! Mit Schlamm und Gips mir Haut und Haar verschmieren und verkleben!
Ney Sie spüren nichts, es ist ein äußerst schonendes Verfahren.
Schopenhauer Nein, nein, nein. (springt auf) Nein! Meine Augen! Meine Augen könnten Schaden nehmen. Keine Maske!
Schnepp(bringt den Zucker) Eine Totenmaske! Herr Doktor, nein, bitte, keine Totenmaske.
Schopenhauer Damit die Mägde mir in alle Ewigkeit den Staub aus dem Gesichte blasen.
Ney Eine dünne, feine Maske, leicht wie ein Seidentuch. Was reden Sie von Totenmaske, Frau Schnepp!
Schnepp Der Herr Doktor hat herrliche weiße Halstücher, keiner in Frankfurt trägt so schöne Halskrausen – die Kragen erst.
Schopenhauer Raus! (Frau Schnepp geht zögernd)
Ney Der Kopf ruht auf einer breiten Brust, kraftvoll der Nacken und die Schultern, straff die Muskeln –
Schnepp Den Doktor nackt! Fräuleinchen! Nackt! Herr Doktor!
Schopenhauer(springt auf) Raus! (setzt sich) So hat Ihr Meister Rauch den Goethe gemacht. Aber nicht nach dem Leben. Fräulein Ney, ich bin kein junger Mann. Ja, der Kopf sitzt fest auf den Schultern, und ich darf wohl sagen – die Muskulatur ist kräftig noch. Das kommt von meinen Wanderungen bei Wind und Wetter (geht zur Kant-Büste, hält sie hoch) Der Kopf! Könnte man den Kant sich mit der nackten Brust vorstellen? Seine Haut. Würde wohl mürbe schlottern auf dem Skelett?
Ney Denken Sie an Sokrates, Herr Doktor Schopenhauer.
Schopenhauer Sein Bart mochte wohl den mageren Hals verdecken – ach, lassen wir’s, Fräulein Ney. Ich lass’ mich noch einmal malen von dem Lunteschütz. Gehen Sie einmal ins Städel, Fräulein Ney, dort finden Sie seine Venus und den Amor. Ein liebliches Bild!
Ney In der Skulptur bleiben Schönheit und Grazie die Hauptsache. Das sagte unser Arthur Schopenhauer. Ich werde das nicht vergessen, wenn ich an seiner Büste arbeite.
Schopenhauer Schönheit! Grazie! Ich war dreißig, als ich diese Sätze schrieb, und es war ein aschblondes Haar, das mir den Kopf rahmte, nicht die grauen Flatterborsten – (rennt zu einer Lithographie und strählt im Glasspiegel die Haare in die Höhe) Schauen Sie mich an! Bin ich nicht Pan, der schon gehörnt, bärtig und mit krummer Nase zur Welt kam, so dass seine Mutter erschrocken floh vor seinem Anblick – ?
Ney Aber sein Vater Hermes trug ihn zum Olymp.
Schopenhauer Besser ist die Malerei für einen alten Mann. Das leistet nur der Pinsel – den eigentlichen Charakter des Geistes darzustellen, wie er hervortritt in Affekt, Leidenschaft, im Wechselspiel des Erkennens und des Wünschens. Der Ausdruck des Gesichts und der Gebärden – den wollen Sie im Eis der Bronze bannen? Lassen wir’s, Fräulein Ney.
Ney Jetzt bin ich durch Ihre Gunst Ihre Hausgenossin geworden, Herr Doktor Schopenhauer, und ich werde Ihre Wohnung nicht verlassen, bis ich den Kopf des größten Denkers unserer Zeit in meiner Tasche habe! Ich bringe ihn nach Berlin. Dort wird er gegossen, von den ersten Künstlern ihres Fachs. Die Welt wird staunen! Wille und Vorstellung in einem Kopf vereint.
Schopenhauer Wille und Vorstellung.
Ney Aus der Hand der Nymphe Echo.
Schopenhauer Die Hirten und Hüter meines Werks sind unduldsam, sie werden die Nymphe zerreißen. Fürchten Sie nicht meine Kritik, Fräulein Ney?
Ney Kritisieren Sie die Kantische Philosophie, Herr Doktor Schopenhauer, und die Welt mag auf Sie hören. Aber achten Sie meine Kunst. Bitte, Herr Doktor, rufen Sie Frau Schnepp, sie möchte mir meine Kammer zeigen.
Schopenhauer Die Kammer! Das Atelier! Ich stehe zu Ihren Diensten, mein Fräulein Ney (bietet ihr den Arm, führt sie hinaus).
(Studierstube. Elisabet Ney geht an den Schopenhauer-Porträts an der Wand entlang, skizziert. Margarethe Schnepp, Dr. Wilhelm Gwinner)
Schnepp Fräuleinchen, der Doktor Gwinner ist da. Er fragt, ob er Ihnen Gesellschaft leisten darf, bis der Herr Doktor kommt.
Ney Gewiss. Es ist mir eine Freude.
Schnepp(führt Gwinner herein) Das ist der Doktor Gwinner.
Gwinner Wilhelm Gwinner, gnädiges Fräulein.
Ney Ich bin die Elisabet Ney –
Gwinner Großnichte des berüchtigten Marschalls – so hat Sie mir unser Doktor präsentiert. Seien Sie dem Marschall dankbar, Fräulein Ney, ohne die Protektion seines Namens hätten Sie den Zugang zu dieser Klause nicht gefunden (Frau Schnepp schüttelt den Kopf, ab)
Ney Sie haben ihn wohl auch gefunden, Doktor? Mein Großonkel ist leider ein Verlierer gewesen, zu guter Letzt. Ein Doktor der Philosophie? Ein Apostel oder ein Evangelist?
Gwinner Doktor der Philosophie und der Jurisprudenz – das macht mich dem Doktor Schopenhauer vertrauenswürdig. Kein Apostel, nur ein Verehrer – vielleicht ein Evangelist, der später einmal, vielleicht, mit der Feder den großen Lehrer rühmen wird. Sie arbeiten schon an Ihrem Werk, Fräulein Ney?
Ney Ich mache mich vertraut mit seinem Kopf. Das Innere kenne ich ein wenig, das Äußere gibt mir noch Rätsel auf. Das ist eine harte Nuss.
Gwinner Lassen Sie mich Ihnen raten. Ich kenne Arthur Schopenhauer seit fünf Jahren aus vertrautem Umgang. Viele Jahre bin ich um ihn herumgeschlichen, wenn er in der Stadt spazieren ging, ich habe mich an seine Tafel im Englischen Hof gemogelt, dann habe ich mir ein Herz gefasst und ihn besucht –
Ney Und sind jetzt ein Sohn des Hauses?
Gwinner O nein! Auch die knorrige Eiche, die einsam in freier Landschaft steht, blickt manchmal wohl jovial gesellig auf den niederen Strauch am Wegesrand hinab. Mag der Solitär seine Einsamkeit auch stolz genießen, mag ihm die Ödnis seines menschenleeren Tages auch der Abglanz seiner Freiheit sein, er wird doch manchmal mit dem Don Carlos rufen: ‚Jetzt gib mir einen Menschen!‘
Ney Jurist, Philosoph und Poet dazu!
Gwinner Nur ein Richter in dieser schönen Stadt, die unsern Philosophen verlockt hat, sich in ihr niederzulassen. Sie könnte sich gastlicher gegenüber ihrem großen Gast erweisen, sie tut es nicht – aber nicht ohne die Schuld unseres Doktors. Ein einziges Mal ist es mir gelungen, ihn in mein Haus zu locken. Aber er hat den Braten verschmäht, mit dem meine Frau ihn traktieren wollte. Immerhin: das war wohl der einzige Besuch, den Doktor Schopenhauer in unserer Stadt einer Dame machte. Dass er Ihnen, Fräulein Ney, seine Tür geöffnet hat, ist wohl ein Wunder. Das Misstrauen gegen Welt und Mensch ist seine zweite Natur. Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrem Plan, Fräulein Ney. Ich bewundere Ihren Mut. Der Kopf wird schwer zu machen sein. Er hat hundertmal zu mir gesprochen. Schweigt er, meine ich, sieht er dem Beethoven ähnlich, spricht er, so glauben Sie, Voltaire vor sich zu sehen. Machen Sie einen Kopf daraus! Rühren Sie sein Herz, Fräulein Ney. Dann werden Sie – vielleicht – den Kopf dazu gewinnen. Sehen Sie die Bilder und unsern lebensvollen Greis – das sind alles doch nur Schattenbilder.
Ney Und doch hängen sie hier.
Gwinner Er lebt in der Gesellschaft seiner selbst. In dieser Stube, Fräulein Ney, spielt seit vielen, vielen Jahren ein unsägliches Monodrama. Bücher! Die Bilder und Büsten der Heiligen. Nur eine Stimme – die seine, ja, und die der Margarethe Schnepp. Mit ihr schimpft er, weil es nicht immer Spaß macht, nur auf dem Papier auf den Unverstand der Welt und seiner Zeitgenossen zu schimpfen, und wenn er seinen Pudel schilt, fällt ihm kein grimmigeres Schimpfwort ein als: du Mensch!
Ney Einsamkeit kann ein Glück für einen Künstler sein.
Gwinner Ein verzweifeltes. The solitude of kings – die Einsamkeit der Könige. Das ist die Losung dieser Stube, das stolze Wort Lord Byrons, eines Geistesvetters.
Ney Unser Doktor Schopenhauer war nie vermählt? Keine Liebe in seinem Leben? Er hat nach den Wurzeln des Leids in der Welt gegraben, und er hat doch die kosmische Kraft der Liebe und des Mitleids gefunden.
Gwinner Ja, ja, und den Herren Astronomen bewiesen, dass der neuentdeckte Planet Neptun besser Eros heißen müsste. Aber es ist nicht der Stern der Liebe, der sein Schicksal lenkt. Er war in Rom, er war in Venedig, er war in Dresden als junger Mann! In Berlin hat der reife Mann um die Hand eines Mädchens geworben, vergeblich – sie war siebzehn! Sie kommen von Berlin, Fräulein Ney? Ist Ihnen der Name der Caroline Medon bekannt? Schauspielerin, Sängerin. Sie war seine Geliebte – die Mutter seines totgeborenen Kindes. Zu seinem siebzigsten Geburtstag noch hat sie ihm einen Brief gesandt, ein Echo aus einer lebendigeren Zeit. Schauen Sie, dort auf dem Tisch, das Etui der Brille! (Elisabet Ney neugierig zum Tisch) Nicht berühren! Die Stickerei aus der Hand seiner Geliebten. Eine Brieftasche, ein Notizbuch, das Futteral für seinen Schlüssel. Achten Sie darauf! Die feinsten goldenen Fäden bestricken sein Herz noch heut’.
Ney Rührend. Der arme alte Mann.
Gwinner Der Philosoph lebe in Freiheit!, ruft er. Nur Muße, kein Muss. Keine Rücksichtnahme auf Weib und Kind. Die echten Philosophen, alle, seien ledig geblieben – und die Ehekomödie des Sokrates sei ja der Welt bekannt. Es klingt – ich muss es wohl sagen – recht philiströs aus seinem Mund, wenn er vom Ehestande sagt: doppelte Pflicht, halbes Recht. Einmal habe ich’s gewagt zu erwidern: halbe Sorge, doppelte Freude. Ja, Sie! – hat er gesagt. Ich bin wohl doch kein Philosoph. Und die traurigen Witze erst, die er über uns Ehemänner macht! Umgekehrte Papagenos seien wir. Vor den Augen des Papageno habe sich eine Alte blitzschnell in eine Junge verwandelt, vor denen des Ehemanns verwandelt sich eine Junge fast ebenso schnell in eine Alte. Wie traurig. Unabhängigkeit! Der Doktor ist vermögend, er ist ein glücklicher Erbe. Können Sie sich unsern Doktor in einem Brot beruf vorstellen? Er würde verhungern, müsste er Konzessionen an einen Brotherrn machen. Können Sie das ausdrücken in Ihrem Werk, Fräulein Ney – diese Öde seines Daseins, seine Menschenverachtung, das gepanzerte Herz?
Ney Glauben Sie ja nicht, dass wir Künstler das Innere ausspähen können, Doktor Gwinner! (umfasst die Kant-Büste mit ihren Händen, betastet den Schädel mit ihren Fingerspitzen) Das wusste der Kant! Und doch haben die Schädeldoktoren und auch die Bildhauer versucht, in diesem Schädel einen Charakter zu erkennen. Eine Furche hier – und schon haben sie ihm das Organ der Ruhmsucht und der Eitelkeit wegoperiert. Hier glätten sie eine Wölbung – seht her, wollen sie zeigen, alle Leidenschaften und Begierden waren diesem Manne fremd! Ein Totenschädel! Aber der Mann war nicht tot.
Gwinner Menschen von Genie haben wohl starke Leidenschaften. Sollte es bei unserm Doktor anders sein? Jetzt preist er das Alter – als wollte er mich über meine Jugend trösten. Wenn einer die Erlösung von der dämonischen Gewalt der Sinnlichkeit feiert wie er – müssen in ihm die Triebe und der Wille nicht besonders heftig toben?
Ney Dämonisch gar!
Gwinner Ja. Er sieht die Feuer, welche so lange in seinen Adern glühten, lächelnd verlöschen. „Die Liebe zwingt uns alle nieder“ – sagt er mit Friedrich Hölderlin, und das – Sie wissen es, wenn Sie sein Buch gelesen haben – ist der Kern, der Brennpunkt des Willens, den unser Arthur Schopenhauer im Vulkan des eignen Wesens beobachtet hat. Der Vulkan ist stumm, er bricht nicht mehr aus.
Ney Er arbeitet immer noch an seinem Werk. Es müssen doch wohl noch starke Funken sprühen.
Gwinner Fußnoten, Randnotizen! Er hat das Leben ausgesperrt!
Schnepp(an der Tür) Der Herr Doktor kommt. Ich höre den Butz bellen. Gehen Sie weg von seinem Tisch, Fräuleinchen!
Ney Oh, ich gehe. Ich will ihm nicht meine Kritzeleien zeigen müssen (eilig ab).
Gwinner(setzt sich auf einen Stuhl) Ich begreife den Doktor nicht! Hätte er nicht einem Künstler seinen Schädel anvertrauen können?
Schnepp(blickt durch die Tür) Das sage ich dem Herrn Doktor auch, Herr Doktor. So ein junges Ding.
(Atelier, Mansarde mit Schrägwand. Tisch, Tonkübel, Rohmodell auf dem Tisch. Elisabet Ney am Modell, Schopenhauer in einem Sessel)
Schopenhauer Eine halbe Stunde, haben Sie gesagt!
Ney Nicht länger, ja. Sie sind entlassen, Herr Doktor Schopenhauer. Darf ich Sie morgen um die gleiche Zeit in meinem Atelier erwarten?
Schopenhauer Den Herren Fotografen bin ich schon nach einer halben Minute weggezappelt. Ihr Werk fasziniert mich. „Hier sitze ich und forme Menschen“ – der Blick des Prometheus ist in Ihren Augen, Fräulein Ney! Ton, nicht wahr, es ist reiner Ton, den Sie mit Ihren Händen streicheln?
Ney Ton, fein geschlämmt, gereinigt, frei von totem Sand. Das plastische Material. Gleichermaßen geschmeidig und stabil, veränderbare und doch dauerhafte Form.
Schopenhauer Wie der Charakter des Menschen. So kommt er durch dies Jammertal seiner Existenz in der Gefangenschaft seiner Erscheinung in Zeit und Raum.
Ney Ist das Tonmodell vollendet, muss ich es rasch in Gips abgießen. Beim Trocknen verändert der Ton seine Form.
Schopenhauer So geht’s dem Menschen, das Feuchte verdunstet, das Fett schmilzt unter der Haut, hat die Sonne nur lange Zeit seinen Körper malträtiert. Und dann der Bronzeguss!
Ney Aber nicht in Ihrer Wohnung, Doktor. Hier werde ich nicht mit dem glühenden Material hantieren. Neun Teile Kupfer, der Rest ist Zinn und Zink – und Blei! Das fließt, das füllt, das schmiegt sich dem feinsten Strich an.
Schopenhauer Dünnflüssig und heiß wie das Blut in den Adern!
Ney Das Kupfer bringt die schöne Patina –
Schopenhauer Den Rost!
Ney Den Glanz der Ewigkeit, den schönen warmen Schimmer unantastbarer Lebendigkeit.
Schopenhauer Ich gehe jetzt. Meine Korrekturen warten. Herr Brockhaus wird schon ungeduldig (steht auf, bleibt am Tisch stehen). Darf ich’s einmal probieren?
Ney An diesem Klumpen können Sie mir nichts verderben, verehrter Doktor.
Schopenhauer(drückt mit den Daumen vorsichtig auf die Kinnpartie) Sind Sie glücklich, Fräulein Ney, wenn Sie in den Spiegel schauen? Ja, Sie sind hübsch! Sie bringen jeden Spiegel zum Lächeln.
Ney Mein Spiegel ist mein Freund in glücklichen Minuten, aber sonst – kennen Sie einen Menschen, den er glücklich macht?
Schopenhauer Ich kenne einen, den er glücklich machen müsste, ich kenne ihn seit sieben Tagen – Sie, mein Fräulein! Ich schaue nie in den Spiegel.
Ney Aber Herr Doktor – müssen Sie nicht prüfen, ob die schöne Spitzenkrause ihre Form hat, die Halsbinde richtig in Ihrem Frack sitzt? Oder fragen Sie Frau Schnepp?
Schopenhauer