Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Langsam und unbemerkt arbeitet eine Untergrundorganisation in Hamburg: Sie nennt sich die MEUTE und sieht ihr historisches Vorbild im italienischen Faschismus der 1920er Jahre. Der wahnwitzige Plan sieht vor, durch die heimliche Besetzung staatlicher Institutionen an die politische Macht zu gelangen. Noch ist die MEUTE aber längst nicht soweit. Ihre Anhänger um den unberechenbaren Anführer Balbo begnügen sich mit einzelnen Scharmützeln im kriminellen Milieu und dem Anwerben neuer Mitglieder für ihre Bewegung. Sven Schark, genannt Sharky, ahnt nichts von alledem. Er führt ein sorgenfreies Studentenleben, finanziell gut abgesichert durch seine wohlhabende Mutter und verbringt mehr Zeit mit launigen Gesprächen in seiner Stammkneipe als in den Hörsälen der Uni. Als er unvorhergesehen seinen früheren Mitschüler Kay trifft, stellt er verwundert fest, wie der sich vom pickeligen Außenseiter zum attraktiven Influencer gewandelt hat und unter dem Namen Kosmo in der virtuellen Welt erfolgreich ist. Anders ergeht es Sharkys Sportkamerad Fabian. Der fühlt sich als schikanierter Paketbote mit allerlei Privatsorgen abgehängt und übergangen. Anders als Kay findet Fabian in der Welt der sozialen Netzwerke keinen Erfolg, sondern kommt erstmals in Kontakt mit der MEUTE. Eine schicksalhafte Beziehung nimmt ihren Lauf und zieht auch bald Sharky und seine Weggefährten mit sich ... schmerzlich müssen sie erkennen, wie gefährlich die moderne Kommunikation ist.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 342
Veröffentlichungsjahr: 2020
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Michael Böpel, geboren 1980, studierte erfolgreich BWL mit dem Schwerpunkt Marketing an der Universität Hamburg.
Danach arbeitete er bei den Potsdamer Neuesten Nachrichten als Media Sales Trainee, ehe er in Hamburg bei der iq digital in den Verkauf von Online Medien wechselte. Danach war er für 7 Jahren in der Mediaplanung einer Hamburger Werbeagentur tätig, ehe es zum Verlag Gruner & Jahr an den Hamburger Hafen ging. Hier ist er seit 2017 im Digital Sales angestellt.
Michael Böpel lebt zusammen mit seiner Frau in der Hansestadt. Der Roman Kopflose Meute ist sein Debüt, in dem er seine Berufserfahrung in der Medienwelt mit ironischer Ernsthaftigkeit einfließen lässt.
„Die faschistische Revolution zerstört den empfindlichen, vertrackten Mechanismus, genauer gesagt die Verwaltung eines großen Staates, nicht ganz und auf einen Schlag – sie geht schritt- und stückweise vor …“
Benito Mussolini, 31. Januar 1923
„Wer sich der Geschichte nicht erinnert, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.“
George Santayna 1853 – 1963, Philosoph
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Epilog
Ein kurzer Knall erfüllte die Häuserschlucht der engen Straße. Die Polizeibeamten lauschten angestrengt in die Dunkelheit. Die schlecht einzusehende Straße führte vom Altonaer Bahnhof in die verwinkelten Ecken des kultigen, ehemals zu Dänemark gehörenden Hamburger Stadtteils. Es war wieder still und niemand im Dunkeln zu erkennen.
Die gemischte Streife, bestehend aus einer jungen Frau und zwei nur unwesentlich älteren Männern, war wie so oft an den vergangenen Wochenenden zu Fuß unterwegs. Rund um den Bahnhof war es in den langen Wochenendnächten seit längerem unruhig. Das feierwütige Volk traf sich hier in Massen, um mit der S-Bahn in Richtung Reeperbahn aufzubrechen oder um zu Fuß in die Bars der umliegenden Gassen des Viertels zu strömen. Je später es wurde, desto stärker stiegen die Alkoholpegel. Die Polizeipräsenz half dabei, die entstehenden Aggressionen einigermaßen im Zaum zu halten. Heute war es bisher ruhig geblieben und jetzt, kurz vor 1 Uhr morgens, war kaum noch jemand auf den Straßen unterwegs.
Es knallte wieder, diesmal etwas weiter weg. Fragend wechselte einer der Beamten Blicke mit seiner Kollegin.
„Das kam aus dieser Richtung!“, sagte die Beamtin bestimmt und deutete auf die Erzberger Straße, die rechts von ihnen abging. Einer der Kollegen leuchtete mit einer Taschenlampe in die genannte Richtung, konnte aber weiterhin niemanden ausmachen. Der Lichtkegel streifte eine Laterne, kehrte zu ihr zurück und blieb dort hängen: Auf dem dunkelgrauen Metallmast war ein Aufkleber des FC St. Pauli durch einen schwarzen Sticker mit weißen Runen überklebt worden. Er ließ das Wort Meute erkennen, darüber eine Art Axt mit einem zu langen Griff.
„Schon wieder eines dieser komischen Symbole. Ich dachte die Zivilfahndung wollte sich um diesen Vandalismus endlich kümmern?“, brummte der Beamte und schüttelte den Kopf: „Der komplette Bahnhof ist damit bereits verunstaltet.“
Alle drei gingen weiter in die Straße hinein. Der Lichtkegel wanderte mit – und erfasste auf dem Kopfsteinpflaster einen zersplitterten Seitenspiegel, der ursprünglich zu einem am Straßenrand parkenden Mercedes gehörte. Die Beamten sahen sich an und löschten das Licht. Leise setzten sie ihren Weg fort. Sie lauschten gespannt in die Dunkelheit des Nachtlebens.
Nach kurzer Zeit hörten sie leise ein entferntes Pfeifen.
Dann wieder einen Knall begleitet vom zersplitternden Glas. Die Polizisten konnten etwa zwanzig Meter von sich entfernt zwei Schatten erkennen. Von einem ging eine fröhlich gepfiffene Melodie aus, der andere Schatten nahm Anlauf und sprang mit gestrecktem Bein einen parkenden Sportwagen an. Der Außenspiegel brach knallend ab und landete mit einem klirrenden Geräusch auf dem Asphalt. Wie auf Kommando rannten die beiden männlichen Beamten los, während ihre Kollegin via Funk Kontakt mit der Zentrale aufnahm.
Der pfeifende Schatten drehte sich um und verstummte abrupt, als er die Beamten bemerkte:
„Die Bullen, Amerigo!“, rief er dem anderen zu und flüchtete selbst in die Dunkelheit der nächsten Seitenstraße. Der zweite Schatten war nach seinem Kung-Fu-Tritt unglücklich gelandet und zu Fall gekommen. Die beiden Polizisten erreichten ihn und hatten keine Mühe, den kräftigen Mann am Boden zu fixieren.
„Hier Peter 16-Zwo, haben eine Festnahme, Verdacht auf Vandalismus, Erzberger Straße. Brauchen Verstärkung“, sprach die Polizistin in ihr Funkgerät, während sie sich dem fixierten Mann und ihren Kollegen näherte.
„PK 21 hat verstanden“, antwortete es aus dem Lautsprecher, der auf ihrer linken Schulter fixiert war.
„So, der Spaß ist vorbei.“ Die Beamten halfen dem muskulösen Mann auf die Beine und bedeuteten ihm, seine erhobenen Hände an das nächste Auto zu pressen. Dann durchsuchten sie ihn.
„Scheint unbewaffnet zu sein“, sagte einer der Uniformierten und stutzte. „Aber was ist das?“
Er zog etwas aus der Hosentasche des Mannes. Es handelte sich um einen dicken Stapel schwarzer Sticker, die mehrere weiße Runen und weitere Symbole zeigten.
„Scheint als wenn wir jemanden gefunden haben, der endlich für die Sauerei finanziell belangt werden kann!“, freute er sich. Er drehte den Mann zu sich um.
„Haben Sie einen Ausweis bei sich?“
Der Verhaftete sah ihn verständnislos in die Augen und blieb stumm.
„Verstehen Sie mich? Verstehen Sie unsere Sprache?“
Er blieb weiter stumm. Der Beamte registrierte einen deutlichen Alkoholgeruch.
„Haben Sie getrunken oder andere Drogen zu sich genommen?“, fragte er.
Der Mann fing lediglich an zu lachen.
„Alles klar, dann geht es erstmal zum Revier. Wir müssen Ihre Personalien feststellen.“
Der Beamte löste die Handschellen von seinem Gürtel, um sie dem offenbar betrunkenen Mann anzulegen.
„Hier PK 21 – Peter 16-Zwo, bitte kommen!“, ertönte eine tiefere männliche Stimme als vorhin aus dem Funkgerät der Beamtin, die sich die Szenerie mit einer Hand am Waffenholster anschaute.
„Peter 16-Zwo hört“, antwortete sie vernehmbar ohne die gefasste Person aus den Augen zu lassen.
„Entfernen Sie sich bitte aus der Erzberger Straße.“
Die drei Beamten blickten sich verdutzt an.
„Wir nehmen gerade eine verdächtige Person fest und warten auf Verstärkung“, antwortete die Polizistin irritiert.
„Entfernen Sie sich unverzüglich! Sie gefährden eine verdeckte Ermittlung …“, ertönte es bestimmt via Funk.
Das Lachen des Verhafteten wurde lauter.
„Dies ist die letzte Aufforderung Peter 16-Zwo, sonst wird das Ganze ein Nachspiel für Sie haben. Setzen Sie Ihre Tour unverzüglich fort.“
Die drei jungen Beamten wussten einen kurzen Moment nicht, wie sie reagieren sollten. Dann ließen die beiden Polizisten von dem gefassten Mann ab, den sie doch ganz offensichtlich auf frischer Tat ertappt hatten. Der lachte nicht mehr, sondern ging auf den ihm am nächsten stehenden Beamten zu und nahm ihm die schwarz-weißen Aufkleber aus den Händen:
„Schade, Kollegen. Beim nächsten Mal vielleicht.“
Mit einem „Buona sera!“ zum Abschied drehte der Mann ab und verschwand in der nächsten Gasse.
Die drei Streifenpolizisten blieben ratlos zurück.
Sharky schaute ungeduldig auf die große Uhr des Abholbereichs. Seine Mutter hätte nunmehr vor neunzig Minuten am Hamburger Flughafen landen sollen. Die Anzeigetafel verriet ihm immerhin inzwischen die erfolgreiche Landung der verspäteten Lufthansa-Maschine aus Kapstadt. Es konnte somit nicht mehr allzu lange dauern, bis sie aus den automatischen Schiebetüren treten würde.
Die Wiedersehensfreude würde sich in Grenzen halten. Sharkys Familie war seit jeher sehr reserviert zueinander gewesen. Umarmungen oder gar Küsse galten als absolute Ausnahme. Die Distanziertheit zwischen ihm und seiner Mutter hatte sich seit dem Tod des Vaters noch weiter verstärkt. Immerhin behielt Sharky die Familientradition bei und holte seine Mutter vom Flughafen ab. Er selbst hatte zwar kein Auto, nutzte aber ihren Wagen dafür. Sie freute sich trotz ihres ausschweifenden Lebensstils stets diebisch, Fahrtkosten für ein Taxi zu sparen.
Sharky tigerte ungeduldig durch die Empfangshalle. Er wusste gar nicht, warum er heute so unruhig war. Es war ein stinknormaler Sonntagnachmittag im Oktober und er würde nichts Besonderes verpassen. Sicher, vor dem Start des neuen Semesters fand gerade heute Abend eine Studentenfeier statt. Warum der ASTA sie ausgerechnet sonntags ausrichtete, konnten wohl tatsächlich nur die Vorsitzenden des Ausschusses beantworten. Vielleicht, weil sie stolz auf die studentischen Freiheiten waren. Vielleicht auch, weil für sie jeder Tag dem anderen glich. Sharky hatte sowieso keine Lust auf die Feier. Dort würde er sicherlich seine Ex-Freundin Claudia wiedersehen, die im Gegensatz zu ihm selbst bereits jetzt in ihr Abschlusssemester startete. Er hatte wahrlich keine Lust, sich wieder als Schluderer oder Langzeitstudent bezeichnen zu lassen. Immerhin war er gut genug gewesen, um knapp zwei Jahre den spaßigen Unterhalter für Claudia zu spielen – er war nur eine Episode ihres zu Ende gehenden Studienlebens. In Claudias restliches Leben passte Sharky nicht mehr hinein. Wieso mussten Menschen einander immer vergleichen und mit Leistungen überbieten, wo doch auch andere Eigenschaften liebenswert waren?
Gerade als er sich diese Frage selbst stellte, öffneten sich die automatischen Schiebetüren und eine Gruppe Reisender trat mit surrenden Rollkoffern heraus.
Sharky blickte erwartungsfroh zu der Gruppe, erkannte aber schnell das Fehlen seiner Mutter. Dafür kam jemand anderes auf ihn zu, der ihm bekannt vorkam.
Er konnte die Person aber partout nicht einordnen, bis der junge Mann direkt an ihm vorbeischritt, stehenblieb und verwundert fragte:
„Sharky? Du bist doch Sharky, oder?“
„Ähm, ja. Sicher und Du – Du kommst mir bekannt vor?“, stammelte Sharky.
„Kay. Erkennst Du mich nicht? Wir haben zusammen Abi gemacht?“
Sharky musterte seinen ehemaligen Schulkameraden.
Kay hatte sich in der Tat seit ihrem Abitur verändert.
Sharky erinnerte sich an ihn als pickeligen Moppel, der Opfer von Hänseleien gewesen war und sogar von deutlich jüngeren Jahrgängen regelmäßig geärgert wurde. Nun hatte sich der Moppel in einen gutaussehenden, durchtrainierten Typen entwickelt. Er strahlte Selbstbewusstsein und Offenheit aus, die Sharky regelrecht überrumpelte.
„Kay? Natürlich. Ich habe Dich kaum erkannt. Du bist so braun gebrannt“, log Sharky immer noch irritiert.
„Wo kommst Du denn her, dass Du nochmal so viel Sonne tanken konntest?“
„Aus Kroatien. Leider hatte mein Flug Verspätung, eigentlich wäre ich längst zu Hause in meinem Bett. Ich muss morgen früh raus. Du musst wissen, ich war beruflich in Kroatien.“
Da war sie wieder, die menschliche Eigenart sich mit Leistungen zu profilieren. Sharky fiel nichts Besseres ein, als darauf einzusteigen:
„Tatsächlich. Was hast Du denn dort zu tun gehabt?“, fragte er gekünstelt interessiert.
„Ich habe doch schon früher in der Schule immer gerne geschrieben. Tja, das habe ich beibehalten und nun bin ich mit meinem Blog ein richtiger Influencer geworden“, antwortete Kay voller Stolz.
Sharky hatte sich nie sonderlich in sozialen Netzwerken getummelt und auch keine genauen Vorstellungen, was er mit dem Berufsbild eines Influencers anfangen sollte.
Er antwortete dennoch so anerkennend wie möglich:
„Wow, meinen Respekt. Da hast Du Dein Hobby zum Beruf gemacht. Glückwunsch!“
„Danke – das kann man wohl so sehen. Und ich verdiene sogar richtig gut Geld damit …“ Sharky hörte gar nicht mehr richtig zu, ihn ermüdeten solche Smalltalks. Hilfesuchend sah er sich um, wie konnte er der Situation nur schnell entfliehen?
„Sven! Hier hinten. Komm doch mal! Hilf mir mit den Koffern!“ Seine Mutter stand an der automatischen Ausgangstür und winkte ihm hektisch zu. Sie war bepackt mit allerlei Umhängetaschen und zog einen riesigen Gucci-Rollkoffer hinter sich her. Sharky hätte nicht gedacht, wie schön Wiedersehensfreude doch sein konnte. Dankbar verabschiedete er sich von seinem ehemaligen Mitschüler: „Sorry, Kay. Meine Mutter wartet. Es war schön Dich mal wieder zu sehen.
Schade, dass es so kurz war.“
„Ja, das fand ich auch“, bedauerte Kay.
Sharky wandte sich bereits ab, als Kay ihm hinterherrief:
„Ich heiße jetzt Kosmo! Du findest mich bei Instagram!“
Sharky überhörte den nett gemeinten Hinweis und eilte zu seiner Mutter.
„Hallo Mutti!“ Keine Umarmung. Keine Küsse. Alles wie immer.
„Hier mein Junge. Kannst Du die Taschen nehmen? Ich zieh den Koffer. Ich habe Dir viel zu erzählen. Wo stehst Du denn? Ist es weit? Der Flug war furchtbar. Selbst in der Business Class ist es reine Folter … hab ich schon erwähnt wie froh ich bin, die Taxi-Kosten zu sparen?“ Seine Mutter plapperte wie ein Wasserfall.
„Glaub ich Dir, Mutti.“ Er nahm ihr die Taschen ab.
„Ich werde übermorgen ja bei Dir zum Geburtstag sein.
Da kannst Du mir alles in Ruhe erzählen. Lass uns jetzt schauen wie wir hier schnell wegkommen.“
Sharky eilte seiner Mutter zum Parkhaus voraus. Er würde froh sein, wenn er sie zu Hause abgeliefert hatte.
Bis dahin musste er noch einen ausgiebigen Reise-Monolog seiner Mutter über sich ergehen lassen. Er spürte instinktiv, er würde nachher seiner Stammkneipe, dem Bürgereck, noch einen Besuch abstatten.
Kay betrachtete stolz das Foto: Die Sonne strahlte vom blauen Himmel. In den Gläsern seiner Ray-Ban Sonnenbrille spiegelte sich das Türkis des Pools. Sein Lächeln präsentierte perfekt angeordnete Zahnreihen, die durch den braunen Teint seiner Haut noch weißer erschienen als sie ohnehin schon waren. Auch die Grübchen und dunkelblonden Haare kamen gut zur Geltung. Kay musste keinen Fotofilter benutzen und auch seine vermeintlichen Freunde lobten das Bild und beneideten ihn reihenweise um die Vier-Sterne-Location direkt an der Adriaküste, die sich am blauen Horizont abzeichnete …
„Nächster Halt – Hauptbahnhof Süd!“
Kay blickte von seinem vorgestern Abend geposteten Selfie auf und in zwei missmutige Gesichter, die sich bereit machten zum Ausstieg aus der vollbesetzten Hamburger U-Bahn.
Es war jetzt kurz nach acht Uhr morgens, die Rush Hour an diesem Oktobermontag also in vollem Gange.
Auch Kay steckte nun sein Smartphone ein und stand mit einem Seufzen auf. Die mehrstündige Warterei gestern am Flughafen Split und seine verspätete Ankunft führte bei ihm zu einem Schlafdefizit, das er heute Morgen deutlich spürte. Aber er musste früh raus. Seine Agentur hatte wirklich ganze Arbeit verrichtet und ihm einen lukrativen Job beschert.
„Ausstieg in Fahrtrichtung rechts!“
Der Zug hielt an und Kay drängte zur nächstgelegenen Waggontür. Sie sprang bereits automatisch auf und entließ erste Fahrgäste auf den vollen Bahnsteig. Er drängelte sich im schmalen Gang an einem fülligen Anzugträger vorbei, wurde dann jedoch von einer Lederjacke mit brauner Haarmähne abgeblockt.
„Entschuldigung“, sagte Kay.
„Entschuldigen Sie bitte …“ Er bemerkte jetzt erst, dass der braune Haarschopf von einem Bose-Kopfhörer eingerahmt war und gedankenverloren auf den Boden blickte. Da konnte er lange um Durchlass bitten.
Er tippte der Lederjacke auf die Schulter. Der Schopf samt Kopfhörer drehte sich zu ihm um. Zwei weibliche braune Augen blickten ihn verständnislos an.
„Hallo, ich müsste bitte vorbei“, sagte Kay nun etwas lauter und winkte dabei mit seiner rechten Hand. Die Frau grinste und wippte ihren Kopf im Rhythmus der Musik auf und ab. Dann winkte sie ihm debil grinsend zurück.
„Hallo, ey – ich muss hier raus!“, rief Kay nun ärgerlich.
Hinter ihm wurden andere Fahrgäste ebenso ungeduldig und drehten schimpfend ab, um den weiter weg gelegenen anderen Ausgang zu erreichen.
„Ey, mach mal jetzt Platz …“, motzte Kay.
Der Haarschopf nahm tatsächlich die Kopfhörer vom rechten Ohr: „Häh?“
„Ich muss mal vorbei, das gibt es doch gar nicht.“
Der Schopf schaute überrascht nach rechts und sah die Haltestelle: „Oh Gott, ich muss hier raus!“, rief er erschrocken.
„Zurückbleiben bitte!“
Piep. Piep. Piep. Die Türen waren dabei automatisch zu schließen, als der braune Schopf sich ruckartig dazwischenwarf und sich somit auf den Bahnsteig retten konnte. Gleich hinter ihm zwängte sich auch Kay noch durch den sich schließenden Türspalt.
Außer Atem pampte er den Kopfhörer-Schopf an:
„Wahnsinn, bist ja eine richtige Blitzmerkerin.“
„Entschuldigung. Ich war in Gedanken. Sowas ist mir lange nicht passiert.“
Ihre Stimme klang nett und die Entschuldigung hörte sich wirklich ernst gemeint an. Kay konnte gar nicht mehr groß böse sein. Zumal die Frau in ihrer Lederjacke, den Kopfhörern und einer passenden Boyfriend Jeans sportlich, attraktiv und jung aussah.
„Ja, schon gut – wir sind ja beide nochmal rausgekommen.“
Er zeigte ihr sein Lächeln. Sie stockte.
„Kennen wir uns?“, fragte sie überrascht.
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Doch, doch – dieses Grinsen kenne ich. Du kommst von hier, oder?“
„Ja, ich bin Hamburger – aber viel unterwegs. Du verwechselst mich wahrscheinlich.“
„Warte mal …“ Sie griff in ihre Handtasche und wühlte nach ihrem Smartphone.
„Warte, warte – hier habe ich es doch: Da, das bist doch Du!?“
Sie hielt Kay das Display hin und er schaute auf das Bild: Es zeigte ihn in einem engen T-Shirt mit einem grellen Logo auf der Brust. Er lehnte lässig an einem Crossfit-Gerät. Sein durchtrainierter Körper kam gut zur Geltung. Seine Haare waren deutlich länger als aktuell – aber sein unverwechselbares Lächeln verriet ihn.
„Wow! Das Bild habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Muss so vor zwei Jahren gewesen sein. Für die Website eines Kumpels. Er betreibt einen Sportklub. Und Du bist da wohl Mitglied, wie?“
„Na ja, mal mehr mal weniger. Sagen wir: Ich spende da monatlich einen Betrag, um mein Gewissen zu beruhigen“, erwiderte sie lachend.
„Ich bin halt nicht die disziplinierte Sportlerin. Und eben auch keine Blitzmerkerin – in allen Belangen.“
Jetzt lachten beide.
„Ich muss weiter – schönen Tag noch“, sagte Kay und drehte sich in Richtung Treppenaufgang.
„Na, Du musst mir jetzt wenigstens verraten wie Du heißt – wo ich Dich schon jahrelang in meinem Instagram-Account mit mir rumschleppe?“
„Ich bin Kosmo“, erwiderte Kay im Umdrehen.
„Ich heiße Bea!“, rief sie ihm hinterher.
Kay reagierte nicht mehr, sondern eilte endlich die Treppe hinauf. Er musste sich beeilen, um rechtzeitig in der Agentur zu sein.
Die Türklingel läutete. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Sharky wälzte sich auf seiner Matratze, drehte sich schließlich auf den Rücken. Sein Kopf schmerzte. Es war der dumpfe Schmerz, eindeutig zurückzuführen auf die letzte Runde Jägermeister. Er war gestern noch ins Bürgereck gegangen, nachdem er seine Mutter heil abgeliefert hatte. Wollte er nicht trotzdem gestern pünktlich zum Tatort zu Hause sein? Wieso hatte das denn wieder nicht geklappt? Ach ja - langsam kam er zu sich. Maler-Jens und Media-Marko waren auch noch mit in seiner Stammkneipe im Viertel.
Immer wenn seine zwei Freunde dabei waren, konnte er den Absprung nicht finden. Zumal das gestrige Fußballspiel einiges an Diskussionen hervorrief, die letztlich in einer unaufschiebbaren Generalkritik an der FIFA und in der Infragestellung des gesamten Gesellschaftssystems mündeten. Da spielte es dann auch keine Rolle, dass sowohl Jens in seinem Malerbetrieb als auch Marko in seiner Mediaagentur pünktlich sein mussten. Den Zweien konnte es unmöglich besser gehen als ihm. Sharky brachte trotzdem kein Mitgefühl auf. Im Gegenteil, er machte die beiden für seinen eigenen Brummschädel verantwortlich.
Es klopfte nun an seiner Tür.
„Ey, Sharky – mach auf. Du bist doch da, oder?“
Er stöhnte und schaute auf seinen Wecker, der direkt neben seiner Matratze stand. Es war 8:52 Uhr.
Erneut ertönte ein Klopfen, nun mit Nachdruck.
„Sven! S-V-E-N!“
Wie er es hasste, wenn man ihm mit seinem richtigen Vornamen ansprach. Das machten nur seine Uni-Dozenten oder seine Mutter. Selbst die meisten Lehrer nannten ihn früher in der Schule Sharky. Eigentlich hieß er Sven Schark. Scharky wurde er ab der Grundschule gerufen, da es in seiner Stufe drei weitere Svens gab. Später hatte er sich angewöhnt, diesen Spitznamen ohne C zu buchstabieren. Sharky klang nach Raubtier und somit deutlich cooler.
Es klingelte und klopfte nun gleichzeitig.
„Ich komme ja!“, rief Sharky und hievte seine nackten Beine von der am Boden liegenden Matratze auf das Laminat seiner Einzimmerwohnung und setzte sich langsam Richtung Wohnungstür in Bewegung.
„Einen Moment noch!“ Er blickte kurz in den Spiegel, der im Eingangsbereich neben der Tür hing. Man, sah er fertig aus. Er öffnete.
Im Treppenhaus stand ein untersetzter Muskelprotz mit Stoppelhaarschnitt in DHL-Uniform. Er hatte ein Paket der Größe Mittelklassefernseher in seinen Händen und plapperte froh drauf los:
„Moin Sharky, wusste ich es doch. Ein Student wird doch am Montagvormittag zu Hause sein. Kannst Du ein Paket für Familie Mommsen annehmen? Da macht gerade keiner auf.“
„Fabian – Alter. So dringend? Ich dachte schon, es wäre weiß Gott was passiert. Die Mommsens sind meines Wissens verreist und sicher erst in vierzehn Tagen wieder da. Ich habe keine Lust, so lange deren Warenlager zu spielen!“ „Kannst Du das Paket nicht nehmen? Bitte! Ich werfe denen einen Zettel rein und sie holen es doch sicher gleich ab, wenn sie wieder da sind – ich muss jetzt echt weiter. Montags habe ich immer die große Tour und die Menschen haben scheinbar am Wochenende nichts Besseres zu tun, als das Internet leer zu kaufen.“
Sharky betrachtete den Amazon-Karton in Fabians dicken Armen und gab nach:
„Na, gib schon her. Aber mach das nie wieder. Wenn jemand nach dreimal klingeln die Tür nicht öffnet, ist er nicht da. Klar!?“
Fabian gab ihm dankbar das Paket. Es war wesentlich leichter als es die Größe vermuten ließ.
„Ja, ist gut. Danke Dir. Deine Laune ist ja heute echt so wie Dein Aussehen“, sagte er, während er mit einem Kugelschreiber etwas auf den Zustellschein schrieb.
„Jetzt lass mal gut sein und übertreib es nicht. Mir geht es nicht sonderlich“, antwortete Sharky müde.
„Das sieht man – aber sag mal: Bist Du heute Abend trotzdem im Sport District? Danach wird es Dir sicher besser gehen.“ Er klebte den Zustellschein an die Wohnungstür der Mommsen.
Sharky konnte sich vieles vorstellen, aber abgesehen von einer Runde Jägermeister war eine Runde Hantelstemmen im miefigen Sportklub das Letzte, was er machen wollte.
„Nein, Fabian. Ich glaube nicht. Ein anderes Mal.“
„Das sagst Du schon seit Wochen. Du verlierst den Anschluss. Habe ich Dir schon erzählt, dass ich gerade eine Kreatin-Kur angefangen habe? Schau mal, ich finde am Bizeps siehst Du schon was …“ Fabian war drauf und dran, seinen rechten Ärmel hochzukrempeln.
„Ja, glaube ich Dir. Aber mir geht es echt nicht gut. Ich melde mich bei Dir, ja? Ich hoffe, Du kommst gut durch mit Deiner Montagstour“, noch während er das sagte, schloss Sharky die Tür und ließ das Paket in seinem winzigen Flur stehen.
„Bis dann“, hörte er noch dumpf durch die Tür, ehe sich entfernende Schrittgeräusche nach unten anschlossen.
„Puh“, seufzte Sharky. „Das ist ja ein Start in die Woche.“
Was dachte sich Fabian eigentlich? Der kannte ihn noch nicht einmal richtig gut. Nur weil sie beide im gleichen Sportstudio waren, waren sie ja nicht gleich beste Freunde, sondern eher lose Bekannte.
Gut, Sharky war schon stolz darauf, dass der massige Fabian beim Sport seine Nähe suchte. So gehörte er gleich zum Inner Circle und konnte sich dem Respekt anderer Klubmitglieder sicher sein. Dafür nahm er auch gerne die einseitigen Gespräche mit dem redseligen Fabian in Kauf. Der wusste nämlich kaum etwas über Sharky, während dieser bestens über Fabians Leben im Bilde war:
Fabian Gonzalez. Mutter Deutsche. Vater Venezolaner und früh abgehauen. Verheiratet, keine Kinder. Abitur, aber auf der Suche nach der Erfüllung. Seit vier Monaten DHL-Fahrer und leidenschaftlicher Hobby-Bodybuilder, den man so gut wie jeden Tag im Fitnesscenter Sport District antreffen konnte.
Sharky schlurfte durch seine Wohnung, nahm sich seine Jeans von einem Stuhl und zog sie sich im Gehen Richtung Küche an. Er brauchte erst einmal einen Kaffee, ehe er überhaupt noch einen weiteren Gedanken fassen konnte. In der Küche angekommen, sah er schon das Elend:
Neben dreckigen Kaffeebechern und vollgekrümelten Teller stand die Kaffeedose. Sie war leer.
„War ja klar“, stöhnte er.
Kay stellte seinen E-Scooter vor der Agentur ab und loggte sich mit Hilfe seines Smartphones aus. Es war noch nicht viel Betrieb in den Straßen der künstlich hochgezogenen Hafencity. Nur einige Touristen stromerten in Richtung Elbphilharmonie und ließen sich vom trüben Hamburger Oktober-Himmel nicht einschüchtern. Kay war etwas zu früh und konnte nochmal seinen Instagram-Account checken:
„Hey Kosmo, geile Sonnenbrille. I like!“
„Dein Leben möchte ich haben.“
„Diese Grübchen – so süß...“
„Spast, geh sterben und nich anderen auf die Eier.“
„Kroatien ist so so schön – ich wünschte, ich könnte auch da sein!“
Kay löschte den Spast-Beitrag und steckte sein Smartphone wieder in seine Bauchtasche, die er sich lässig quer über den Oberkörper geschnallt hatte. Gerade wollte er noch einen Coffee-to-Go aus dem Starbucks gegenüber holen, als er ein entferntes Brummen hörte.
Es wurde schnell lauter. Er blickte nach rechts und sah einen weißen Porsche Cayenne zügig die Straße herauffahren. Er kam direkt vor ihm an der Tiefgarageneinfahrt der Agentur zum Stehen. Das getönte Fahrerfenster fuhr herunter.
„Hey Kosmo, willkommen zurück in der schönsten Stadt der Welt. Schön, dass Du es pünktlich geschafft hast.“
„Hallo Robert, freue mich Dich zu sehen. Bei Deiner guten Nachricht musste ich einfach pünktlich sein.“
„Haha, ja – da hast Du sicher Augen gemacht. Geh schonmal hoch, ich komme gleich!“
Der Cayenne setzte sich in Bewegung und brauste die Einfahrt hinab. Kay sah seinem Auftraggeber hinterher und betrat das Agenturgebäude.
Der Fahrstuhl hielt in der vierten Etage: Modern Media Agency. Inhaber Dr. Robert Breitzke.
Die Tür schwang auf und gab einen Blick auf den edlen, schwarzgefliesten Eingangsbereich frei. Im Zentrum stand ein breiter Holztresen, der den Blick auf zwei Schreibtische dahinter verdeckte. Der Tresen und die beiden Arbeitsplätze dahinter waren verwaist, wie Kay enttäuscht feststellen musste.
„Anna ist heute nicht da – sie ist im Homeoffice“, ertönte es hinter ihm.
Kay drehte sich um und erblickte Robert, der in einem schicken Jersey Jacket und weißen Hosen aus dem zweiten Aufzug trat. Er sah trotz seiner knapp 50 Jahre immer noch recht jugendlich aus. Das Gesicht zeigte nur vereinzelt leichte Falten, seine braunen Haare kein einziges graues Haar.
„Ob er sich die Haare färbte?“, schoss es Kay durch den Kopf als seine Aufmerksamkeit auf zwei Personen fiel, die in einem gläsernen Besprechungsraum zu Gange waren. Die eine trug eine Nerdbrille im 80er Look und ein Jeanshemd. Es war weit aufgeknöpft, so dass die prachtvolle Brustbehaarung erkennbar war. Die andere Person trug einen Hipster-Oberlippenbart und einen lässigen Sweater mit riesigem Sportlabel auf der Brust.
Beide Männer hatten Headsets auf, beugten sich über ein Tablet und schienen sich mit einer dritten Person per Videostream zu unterhalten.
Kay war irritiert. Sollte Robert den lukrativen Job nicht nur ihm, sondern auch den zwei Stylern nebenan unterbreitet haben?
„Ich weiß doch, Du fährst auf Anna ab!“
„Wie?“ Kay erwachte aus den Gedanken.
„Na, kann Dir ja niemand verdenken. Sowohl Anna als auch Yasmin sind nicht umsonst mein Empfangskomitee und entsprechend ausgestattet. Haha …“, scherzte Robert und zwinkerte ihm kumpelhaft zu.
Kay errötete. Er fand die dunkelhaarige Anna in ihren knappen Röcken, flachen Brüsten und dezenten Tattoos in der Tat mehr als nett, wollte sich über seinen Frauengeschmack aber mit Sicherheit nicht mit seinem Auftraggeber austauschen.
„Wie viele Influencer hast Du eigentlich inzwischen im Portfolio?“, lenkte er plump ab und deutete auf den Glaskasten, wo die Styler gerade Sendepause hatten und an ihren Coffee-to-Go-Bechern nippten.
„Was? Ach so, die beiden da. Nein, das sind zwei neue Mitarbeiter im Rechnungswesen. Heute sehen die alle wie MTV-Moderatoren aus. Find ich ok, solange die keine weiteren Ansprüche stellen“, Robert grinste wieder. „Nur wenn sie mir zu teuer werden, ziehe ich die Notbremse. Solange können die von mir aus täglich fünf Latte-Macchiato oder Mate-Tee trinken. Mir ist doch eh klar, dass die nur den halben Tag total wichtig rumquatschen. So ist das in modernen Startups!“
Er deutete Kay mit einer einladenden Handbewegung an, ihm zu seinem Büro zu folgen:
„Auch Anna und Yasmin nehmen sich ja regelmäßig Homeoffice-Auszeiten, weil sie dort angeblich konzentrierter arbeiten können. Aber wir wissen doch alle, die jungen Dinger von heute sind einfach mal froh, sich nicht aus dem Haus bewegen zu müssen.“
Robert zuckte mit den Schultern und schloss die Bürotür auf.
„Nach Dir“, sagte er und schloss die Tür hinter ihnen.
„Also Kosmo, ich habe Deine Kroatien-Stories gesehen.
Regelmäßig mehr als dreitausend Interaktionen und fast sechsstellige Reichweiten können sich sehen lassen. Ich denke unser gemeinsamer Kunde Ray-Ban ist zufrieden!“, Robert blätterte durch die Zahlen der Reporting-Unterlagen des letzten Jobs.
„Danke“, erwiderte Kay stolz. „Ich habe bereits gesehen, dass auch jetzt noch viele Kommentare eingehen. Ich meine, die Marke passt einfach zu mir.“ „Das denke ich auch und genau dafür hast Du ja uns, die Modern Media Agency. Du musst glaubwürdig bleiben und der Produktfit muss immer stimmen.
Daher auch die neue Anfrage von der Goltz-Brennerei.
Die brauchen für ihren Göltzenen Klaren dringend eine Markenauffrischung und dafür ein junges Gesicht!“
„Das hattest Du mir bereits in Deiner Sprachnachricht mitgeteilt. Aber nicht wann, wie und wo genau.“
„Der Goltz Senior hat in Winterhude seine Stadtvilla stehen. Dorthin wird er Freitag diverse Promis zum Empfang einladen. Anlass ist das am Samstag startende Tennisturnier.“
Kay schaute Robert stirnrunzelnd an.
„Startet das Turnier nicht am Montag?“, fragte er irritiert. Tennis war zwar nicht seine favorisierte Sportart, aber die Großereignisse der Stadt bekam er stets mit.
„Korrekt. Die Hauptrunde beginnt Montag. Am Wochenende vorher findet die Qualifikation für das Hauptfeld statt. Seitdem die Sportstadt Hamburg erkannt hat, dass der Oktober deutlich attraktiver als der Mai für die Profis ist, sind auch fast alle Stars dabei! Bereits bei der Quali werden viele bekannte Gesichter der Tennisszene zugegen sein“.
Kay erinnerte sich zwar an eine Diskussion darüber, die Hamburg Open terminlich weiter weg von den French Open zu datieren, aber was daraus geworden war, wusste er nicht. Und es war ihm eigentlich auch egal – bis jetzt.
„Nicht zuletzt deshalb,“ belehrte Robert ihn weiter, „sind die Hamburg Open attraktiv für Sponsoren. Und genau daher engagiert sich die Goltz Brennerei als Sponsor. Für Dich ist es die Chance: Jede Menge Touchpoints, um ordentlich aufzufallen. Du sollst Dich Freitag unter die Leute mischen, ein paar Bilder mit bekannten Personen machen – und natürlich den einen oder anderen Göltzenen Klaren zu Dir nehmen!“ Robert deutete mit der rechten Hand ein imaginäres Schnapsglas an, das er mit einer Handbewegung leerte.
„Speis und Trank sind natürlich umsonst“, ergänzte er.
„Zusätzlich wirst Du im Vorfeld je Social Post bezahlt.
Details besprechen wir morgen direkt mit dem Kunden.“
„Bezahlt werden fürs Feiern – sowas lobe ich mir!“
Kay setzte sein Sunnyboygrinsen auf und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
Bea war langweilig. Sie hatte gerade einmal viereinhalb Stunden des Arbeitstages geschafft und schaute gefühlt schon zum zehnten Mal in den letzten zwanzig Minuten auf das Display ihres Smartphones.
Sie kannte das inzwischen schon, aber heute fühlte sich der Montag in der Parfümerie noch länger an als in den letzten Wochen. Wenn das so weitergehen sollte, wären die restlichen sechs Wochen des Praktikums wahrlich eine Qual. Bea stand in ihrem Firmendress, bestehend aus körperbetonter Stoffhose und kurzärmliger heller Bluse, an der Kasse und scrollte zum wiederholten Male durch den digitalen Newsfeed. Die Klatsch-und-Tratsch-Nachrichten aus der bunten Promiwelt verschafften ihr aber auch schon länger keine Ablenkung mehr.
Eigentlich hatte die Stellenbeschreibung gut zu ihr gepasst:
Sechs Monate in den Beruf der Einzelhandelskauffrau reinschnuppern und das auch noch in einer Parfümerie, direkt in der Shopping Mall unweit ihrer WG.
Die Inhaberin Frau Spahn war sofort von ihr begeistert gewesen. Beas Traum war es, irgendwann einen eigenen Mode- und Beautyblog zu betreiben und so ihr Hobby zum Beruf zu machen. Sie hatte ein Faible für Kosmetik und achtete sehr auf ihr Äußeres. Generell sollte der aktuelle Job also als Start gut passen. Jetzt nervte er sie aber nur noch. Das lag nicht an der schlechten Praktikumsbezahlung. Schließlich sollte es eine Art Sprungbrett für ihre berufliche Zukunft sein.
Es lag daran, dass einfach kaum etwas zu tun war. Der Laden war so gut wie nie voll und die paar Kunden, die sich mal hinein verirrten, stöberten und schnupperten an den Proben, kauften aber so gut wie nie etwas.
Auch ihre Chefin wusste dies wohl und ließ Bea regelmäßig nach dem morgendlichen Warenauspacken tagsüber allein im Laden. Das beste am Ganzen war noch, dass sie sich dann selbst wie die Filialleitung vorkam. Auch kamen ab und an ein paar Jungs rein, die mehr oder weniger versuchten mit ihr zu flirten.
Manche von ihnen waren auch ganz süß. Bea machte sich einen Spaß daraus, ihnen vorzugaukeln, tatsächlich die Ladenchefin zu sein und den ganz sympathischen Typen sogar ihre eigenen Visitenkarten gönnerhaft zu geben. Letztlich war aber auch das nur reiner Zeitvertreib für sie.
Bea scrollte immer noch in ihrer Timeline, als sich, verbunden mit einem Ping eine Nachricht ankündigte:
„Huhu Süße, heute Abend Netflix auf der Couch?“
Ihre Mitbewohnerin Andrea, genannt Andi.
„Ja. Endlich was Positives heute. Ich bring Sushi aus der Mall mit.“
„Treffpunkt um viertel nach acht auf der Couch!“
„Top!“
Wenigstens der Abend war gerettet. Bea prüfte mit Hilfe der Smartphone-Kamera ihr Gesichts-Makeup und ihr weißes Lächeln. Alles sah wie immer gepflegt aus. Der Laden war weiterhin unbesucht. Auch in der Mall schlenderten kaum potenzielle Kunden vorbei. Sie scrollte unmotiviert weiter.
Ihr wurde ein Foto vorgeschlagen. Ein Sonnenbrillenboy namens Kosmo. Das war doch der sympathische Typ aus der U-Bahn! Sie klickte auf das vorgeschlagene Bild und schaute sich auf dem Instagram-Profil des Typs um. Es schien gut zu laufen, er hatte mehrere Tausend Follower.
Ein Poolbild jagte das andere und bei den meisten kam Kosmos Körper gut zur Geltung. Gerade als Bea Kosmo abonnierte, betrat ein junger Mann den Laden. Er ging gezielt in die Damenecke.
Bea legte ihr Handy unter die Kasse. Sie ging auf den etwas schlumpfig aussehenden Mann zu und fragte hilfsbereit: „Guten Tag, kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Ich schau erstmal. Danke!“, antwortete Sharky.
„Alles klar, für wen schauen sie denn? Für Ihre Freundin?“
„Ehrlich gesagt für meine Mutter. Sie hat Geburtstag und wird übermorgen fünfundfünfzig. Können Sie etwas empfehlen? Ich glaube, sie nutzt immer so ein Parfum in einer hellgrünen Farbe.“
„Grün? Also, da gibt es einige. Die meisten Kunden entscheiden aber nicht nach Farbe, sondern nach Duft“, scherzte Bea. „Vielleicht dieses hier von Giorgio Armani? Wollen Sie es mal testen?“
Sharky verzog sein Gesicht und zuckte unschlüssig mit den Schultern.
„Es ist wirklich ein moderner Duft, der seit einiger Zeit angesagt ist. Auch für die reifere Dame. Sie haben gegebenenfalls ein vierwöchiges Rückgaberecht, wenn sie den Kassenbeleg aufheben. Ich packe es Ihnen gerne als Geschenk ein!“ Bea witterte endlich Umsatz.
Fabian lenkte den gelben DHL-Bus in die Einfahrt der Bezirkssammelstelle. Das Radio vermeldete gerade die 15 Uhr-Nachrichten. Er war gut und vor allem schnell durch seine Tour gekommen. Lediglich fünf Pakete konnte er nicht abgeben und musste sie in einem Paketshop deponieren. Gekonnt parkte Fabian rückwärts in einer Parkbox ein. Der große DHL-Parkplatz war nur spärlich mit gelben Fahrzeugen belegt. Er war heute als einer der ersten Fahrer zurück und schlenderte zufrieden in Richtung Hauptgebäude.
Auf dem Weg dorthin begegnete Fabian seinem Vorgesetzten. Herrn Kinkel konnte er bereits von weitem erkennen: Seine Glatze und der unverkennbare Kinnbart erinnerten ihn immer an die Rolle des Strombergs in der gleichnamigen Fernsehserie.
Genauso wurde Herr Kinkel auch von seinen Mitarbeitern hinter vorgehaltener Hand genannt; und zwar nicht respektvoll, sondern despektierlich. Auch Fabian mochte ihn nicht. Diesen alten Besserwisser, der stets so tat, als ob es bei jeder Lieferung um Leben oder Tod ging.
„Na, Herr Gonzalez? Haben sie neuerdings einen Halbtagsjob?“, fragte Stromberg herausfordernd.
„Guten Tag Herr Kinkel. Nein, ich bin einfach sehr gut durchgekommen. War aber auch bereits sehr früh heute Morgen hier …“ „Da können sie ja die nächsten Tage die Tour von Andrzej Romanski mit übernehmen. Der hat sich nämlich für die ganze Woche krankgemeldet!“
„… ja, ähm… ich komme ja nicht immer so gut durch.“
Fabian hatte wahrlich keine Lust, für das gleiche Geld mehr Arbeit zu haben.
„Normalerweise habe ich außerdem auf meiner Tour auch mehr Lieferungen“, ergänzte er ausweichend.
„Echt? Aber dann wussten Sie ja bereits heute früh, dass Sie nachmittags frei haben würden. Melden Sie sich doch bitte in solchen Fällen unverzüglich bei mir.
Kann ja nicht sein, einer fährt zum Kaffee und Kuchen nach Hause, während die Kollegen noch bis abends im Feierabendverkehr feststecken.“
Fabian hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Seine Halsschlagader pochte deutlich sichtbar. Am liebsten hätte er Stromberg eine verpasst oder ihm zumindest eine passende verbale Antwort gegeben. Er kam allerdings nicht mehr dazu, denn sein Vorgesetzter eilte bereits im Stechschritt weiter.
„Alter untervögelter Klugscheißer“, flüsterte Fabian zu sich selbst und betrat das Hauptgebäude.
Er ging den Flur zum kargen Aufenthaltsraum hinunter. Es stank nach kalten Zigarettenrauch, obwohl es eigentlich schon seit Jahren untersagt war, im Gebäude zu rauchen. Auf dem großen Tisch in der Mitte des Raumes standen schmutzige Kaffeebecher herum. Fabian ging zu den Postfächern auf der rechten Seite und holte eine Wahlerinnerung des Betriebsrates sowie einen länglichen Briefumschlag mit der Lohnabrechnung aus seinem Fach. Er prüfte, ob in der Marlboro-Packung auf dem Tisch noch eine Zigarette war. Dies war nicht der Fall. Er zerknüllte die rot-weiße Pappschachtel und warf sie arglos auf den Tisch zurück.
Zurück auf dem Parkplatz wandte er sich dem Haupttor zu. Genau davor hatte er seinen silbergrauen 3er BMW geparkt. Dem Auto sah man sein Baujahr von vor über zwanzig Jahren nicht an, dafür pflegte Fabian die Karre viel zu sehr. Gerade heute, kurz nach dem Wochenende strahlte der Lack noch von der allwöchentlichen Sonntagswäsche. Er schwang sich in seiner DHL-Montur auf den Fahrersitz und öffnete den Umschlag mit seiner Abrechnung. Wie jedes Mal wich die Freude über die erträgliche Bruttozahl schnell der Wut darüber, was nach allen Abzügen netto letztlich überblieb.
„Saftladen. Und dann soll ich auch noch zusätzlich für den blaumachenden Polen mitarbeiten …“, brummte Fabian ärgerlich in den leeren Fahrerraum hinein. Er zerknüllte das Papier und schmiss es auf die Rückbank. Dort verschwand es zwischen Sitzpolster und Sporttasche.
Er startete den Motor und fuhr schlecht gelaunt Richtung Sportcenter. Schon an der ersten roten Ampel fielen ihm merkwürdige Motorengeräusche auf.
Irgendwie hörte es sich anders als sonst an. Er drehte die Musik leiser, aber beim Anfahren kam ihm wieder alles wie gewohnt vor. Bis zur nächsten roten Ampel.
Dort hörte er es sehr deutlich: Im Leerlauf klapperte der BMW wie ein Zweitakter.
Er gab im Stand ein wenig Gas und spielte mit der Kupplung. Bis ihm der Motor absoff. Schnell drehte er den Schlüssel wieder im Zündschloss.
Der Motor hustete, sprang aber nicht sofort wieder an.
Die Ampel war inzwischen wieder seit einigen Sekunden auf Grün gesprungen und die wartenden Autos hinter ihm hupten ungeduldig.
„Ja, ja …“, schimpfte Fabian.
Er fummelte hektisch am Zündschlüssel und endlich sprang der BMW wieder an.
„So eine Scheiße!“, fluchte er und entschied, noch einen kleinen Umweg zu fahren.
Er fuhr langsam, während er sein Handy aus der Hose nestelte, in seinen Kontakten scrollte und schließlich eine Sprachnachricht aufsetzte:
„Hi Daniel, so eine Scheiße. Mein Auto muckt rum. Ich fahre jetzt kurz zu Dir in die Werkstatt, dann kannst Du Dir das ja mal anschauen. Bis gleich!“
Eine Viertelstunde später fuhr Fabian vor einer Hinterhofwerkstatt vor und stieg aus seinem Auto. Den Motor ließ er laufen. Vor dem geöffneten Tor stand ein kleiner kräftiger Mann in einem blauen, ölverschmierten Overall.
„Boah Fabian! Dich habe ich ja schon drei Straßenblocks weiter gehört!“, sagte er und grinste.
„Moin Daniel, sag ich ja. Die Dreckskarre muckt rum!“ „Hört sich nach einer größeren Sache an. Mach den mal auf!“
Fabian setze sich in den BMW und fummelte im Fußraum herum. Es machte klack als die Haube aufsprang. Daniel öffnete sie und beugte sich in den Motorraum.
„Ok, Fabi! Mach den Motor mal aus.“
Der BMW verstummte.
„Was meinst Du, Daniel? Wird das teuer?“
„Abwarten. Ist Dir das Klappern schonmal aufgefallen?
Gerade bei längeren Fahrten?“
Fabian runzelte die Stirn, konnte sich aber nicht erinnern. „Glaub nicht“, sagte er zaghaft.
„Dann schalte den Motor mal wieder an.“
Es ruckelte und ruckelte und schließlich klöterte der Motor wieder.
„Habe ich es mir gedacht.“
„Was denn!?“, fragte Fabian.
„Geh mal in die Garage. Dort steht Links ein Kühlschrank. Hole Dir ein Bier und mir auch gleich eins.“
„Ich will kein Bier, Alter! Was ist mit der Karre?“
„Dann hole mir halt eins, dann sag ich´s Dir“, grinste Daniel.
Fabian grunzte mürrisch und verschwand schließlich im Dunkeln der Garage. Einen Augenblick später kehrte er mit einer Halbliter-Dose Holsten auf den Hof zurück. Er öffnete sie und reichte Daniel das Bier.
„Hier – und nun erzähl…“
„Die Lichtmaschine muss neu.“
„Aha. Dauert das lange? Und was kostet das!?“
„Ich habe die nicht hier. Muss sie erst organisieren – denke so drei Tage wird es dauern. Vielleicht vier. Für Dich mache ich einen Freundschaftspreis. 500 Euro und einen Kasten Pils.“
„500 Euro? Super – genau das habe ich gebraucht. So eine verdammte Kacke! Da arbeitet man einen halben Monat und dann ist die Kohle auch schon wieder so gut wie weg!“
Fabian stand kurz vor einem Wutanfall und kickte einen herumliegenden Stein mit dem Fuß quer über den Hof. Er landete in einem Stapel alter Reifen.
„Ey, ganz ruhig. Ich schau mal, was sich machen lässt.
Du kannst auch in Raten zahlen, wenn es Dir hilft“, versuchte Daniel zu beschwichtigen.
„Es ist nicht nur das Auto. Ich ärgere mich so. Dieser stinklangweilige Job kotzt mich an. Mein Chef Stromberg, der blinde Vogel, sieht meine guten Leistungen nicht! Und als Dankeschön darf ich noch Zusatzschichten für den angeblich totkranken Kollegen Andrzej schieben. Unbezahlt!“
Ein weiterer Stein flog quer über den Hof.