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Finn, Sohn des kultigen Ex-Bundesligatorwarts Erik Eimer, hat dessen fußballerisches Talent geerbt. Engagiert versucht Vater Erik, den eigenen freien Fall nach der Karriere zu kompensieren - und setzt alle Hebel in Bewegung, Finn eine Profi-Karriere zu ermöglichen. Mit Hilfe windiger Spielerberater scheint Finns sportlicher Aufstieg heraus aus dem Hamburger Amateurbetrieb tatsächlich unaufhaltsam. Wenn, ja wenn er für sich die Frage beantworten kann, ob er die Struktur des Fußballbusiness akzeptieren möchte ...
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Seitenzahl: 274
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Michael Böpel war seit der Kindheit in einem Sportverein. Dank großartiger Mitspieler gelang in jungen Jahren der Aufstieg in die 2. Volleyball-Bundesliga, ehe sich die Prioritäten bei ihm verschoben. Erst knapp zehn Jahre später erkannte er den Verlust und den unvergleichlichen Wert des Mannschaftssports.
Michael Böpel lebt zusammen mit seiner Frau in Hamburg und betreibt das Schreiben als Hobby neben seinem Beruf in der Medienbranche. Vereinsliebe (2022) ist nach Kopflose Meute (2020) der zweite Roman von ihm.
Für die unermüdlichen Mitarbeiter in den Sportvereinen!
Kapitel 1: Abschied der Jugend
Kapitel 2: Alte Geschichten
Kapitel 3: Trainingsplan
Kapitel 4: Sommerferien
Kapitel 5: Geburtstagsgeschenke
Kapitel 6: Willkommen
Kapitel 7: Museumsbesuch
Kapitel 9: Auf Abwegen
Kapitel 10: Stundenplan
Kapitel 11: Trainingslager
Kapitel 12: Mannschaftsabend
Kapitel 13: Spielerberater
Kapitel 14: Premiere
Kapitel 15: Kopfwäsche
Kapitel 16: Kaffeekränzchen
Kapitel 17: Schattenmann
Kapitel 18: Hindernisse
Kapitel 19: New Life I
Kapitel 20: Schotter
Kapitel 21: New Life II
Kapitel 22: Nummer Sieben
Kapitel 23: Feuertaufe
Kapitel 24: Höhenflug
Kapitel 25: Lawine
Kapitel 26: Anklage
Kapitel 27: Liebe
Kapitel 28: Comeback
Kapitel 29: Glück
Der Stürmer mit der großen Nummer Neun auf dem Rücken nahm den Ball gekonnt aus der Luft an und ließ die Verteidiger mit einer einzigen Körpertäuschung stehen. Er raste, den Ball eng am Fuß führend, in den Strafraum. Dort ließ er mit einer weiteren gekonnten Drehung den verzweifelt hinterherhechelnden Verteidiger ins Leere rutschen und schoss mit Links unbedrängt halbhoch ins lange Eck.
Gebannt, mit dem Torschrei auf seinen Lippen, sah er der bunten Adidas-Plastikkugel hinterher – und registrierte überrascht, wie ein hellgrün kostümierter Puma seine rechte Pranke im Sprung ausfuhr und den Schuss seitlich am Pfosten vorbei lenkte.
Enttäuscht sank die Nummer Neun auf die Knie und schlug die Hände vor das Gesicht.
„Bravo, Finn!“, klatschte ein Mann am Seitenrand. Der leichte Bauchansatz zeichnete sich unter dem Trainingsanzug ab.
Es war der Jugendtrainer des 1. FC Meiendorf, eines kleinen Fußballvereins im Nordosten Hamburgs, der ein Schattendasein neben den großen Vereinen der Hansestadt führte.
Finn war der grüne Puma. Er stand heute zum letzten Mal im Tor der Meiendorfer U-18. Nicht, weil er für diese Altersklasse dann zu alt wäre - im Gegenteil, er würde in Kürze erst siebzehn Jahre - sondern weil er nach dieser Saison aufgrund seines Talents bereits in den Herrenbereich aufsteigen sollte.
Umso größer war Finns Motivation heute, im letzten Saisonspiel, kein Gegentor zu bekommen. Seine Mannschaft konnte zwar nicht mehr die Meisterschaft in der Jugendliga erringen, lediglich Platz vier wäre bei einem Sieg realistisch, Finn wollte aber der Mannschaft beweisen, dass seine vereinsinterne Beförderung vollkommen zurecht geschah. Nebenbei konnten er und seine Mitspieler dem Gegner empfindlich weh tun:
Denn es handelte sich um den Tabellenzweiten aus dem Schleswig-Holsteiner Umland, Hamburgs Speckgürtel, der zwingend einen Sieg benötigte, wenn er noch die Liga gewinnen wollte.
Kurze Zeit später pfiff der Schiedsrichter zur Halbzeit. Auf dem Weg in die Kabine klopften mehrere Mitspieler Finn auf die Schulter. Sie alle hatten vorhin den wuchtigen Schuss bereits im Netz zappeln sehen. Finn registrierte die Aufmunterungen kaum. Auf dem Weg zur Kabine suchte sein Blick die Zuschauer ab, in der Hoffnung jemanden Bestimmtes zu finden. Immer wieder streifte er über die halbvolle Tribüne, über die Männer mit Bierflaschen an den Stehtischen und über die Warteschlange vor dem Ausgabefenster des maroden Vereinsheims. Erfolglos. Seine tolle Parade war anscheinend unbemerkt geblieben. Enttäuscht streifte er die Torwarthandschuhe ab und nahm einen Schluck sehr schalen Wassers aus seiner Plastiktrinkflasche.
„Ey, Finn!“
Das war sein Freund Paul. Mittelfeldspieler mit der Nummer Sieben, Kapitän und Herz der U-18. Er war ein Jahr älter, aber dennoch einen guten Kopf kleiner und weniger muskulös als Finn:
„Hör zu: Deren rechte Seite schiebt offensiv extrem nach vorne. Gerade auch bei Ecken und Freistößen. Das wird in der Zweiten noch stärker der Fall sein – die Idioten sind schließlich gezwungen gegen uns zu gewinnen!“
Er sah Finn in die Augen, als er mit der Taktikanalyse fortfuhr:
„Bei den abgewehrten Ecken werde ich mich nach links fallen lassen. Mach das Spiel schnell, gib mir das Ding“, sagte er im bestimmenden Tonfall zum kopfgrößeren Finn. Der nickte zaghaft und nahm einen weiteren Schluck. Gerade als die beiden gemeinsam den Kabineneingang erreicht hatten, erahnte Finn endlich die gesuchte Person im Augenwinkel. Eine kräftige Gestalt kam händereibend aus der Tür der Männertoilette. Sein Vater schien allerdings Finns spektakuläre Aktion vor der Pause verpasst zu haben.
*
Erik streifte die feuchten Hände an seiner Jeans trocken. Eben auf dem Klo hörte er das Raunen und den Zuschauerapplaus. Er hatte schon befürchtet, ein Tor verpasst zu haben. Er schaute auf die kleine Holztafel oberhalb des Vereinsheims. Es stand weiter null zu null. Erleichtert setzte er seinen Gang fort. Der war unrund. Das lag keinesfalls an den zwei getrunkenen Bieren. Das fehlende rechte Kreuzband machte sich jedes Jahr mehr und mehr bemerkbar. Das daraus resultierende Humpeln führte wiederum zu einem Beckenschiefstand, was weitere Schmerzen beim Gehen verursachte. Ein Teufelskreis.
Er erreichte die Stehtische und lehnte sich erleichtert mit seinem muskulösen Oberkörper dagegen.
„Mensch, Erik. Dein Lütter hat eben einen Ball rausgefischt. Sagenhaft!“, rief ihm ein weißhaariger Mann vom Nachbartisch zu. Er hatte tiefe Falten im Gesicht und zog an einer Zigarette. Erik kannte ihn, der Rentner verpasste kein einziges Spiel, egal welcher Mannschaft des FCM. Der Sportplatz, oder besser: das Vereinsheim, war ihm regelrecht ein zweites Zuhause geworden.
„Das hättest du sehen sollen. Fast so gut wie du früher. Wie eine Katze!“, fuhr er fort und ahmte Finns Übergreifbewegung.
„Schade, dass er gerade dann pissen muss, wenn sich sein Filius als Welttorhüter bewirbt!“, juxte ein weiterer Alter mit drei Bierflaschen auf dem Arm. Es war der Leiter der Fußballabteilung.
„Macht ja nix. Kommt sicher heute Abend im Sportstudio nochmal in Zeitlupe.“
Beide lachten. Erik machte ein verkniffenes Gesicht. Am liebsten hätte er etwas Schlaues erwidert. Leider fielen ihm die besten Antworten immer erst Minuten später ein. Daher antwortete er lediglich mit einem „Danke Dieter“, als der Abteilungsleiter vor ihm eine der Bierflaschen auf den Tisch stellte.
Sie stießen an und nach dem ersten Schluck klopfte der Weißhaarige Erik nochmal freundschaftlich auf die Schulter: „Ernsthaft, Erik. Man erkennt bei Finn immer mehr das Talent des berühmten Vaters.“ „Daher zieht Toni ihn auch hoch zur Ersten“, antwortete Erik schulterzuckend und griff nach den Zigaretten in der Brusttasche seines Kurzarmhemdes.
„Das ist auch richtig so. Wenn man schon den Sprössling der Familie Eimer im Verein hat, sollte man ihn auch entsprechend fördern – sonst schafft er es nie so weit nach oben wie sein Vater!“, stimmte Dieter zu. Erik nickte zustimmend und steckte sich die Zigarette an. Sagte aber nichts. Er hatte heute keine Lust wieder über früher zu reden.
Glücklicherweise erschienen die ersten Spieler zurück auf der Bildfläche und die Aufmerksamkeit lag sofort wieder auf den Jugendlichen. Ein freundlicher Applaus erklang von der gegenüberliegenden Tribüne. Sie war größtenteils von Elternteilen belegt und ähnelte mehr einer Treppe mit langgezogenen Betonstufen als einer Bundesliga-Stadionkurve aus dem Fernsehen. Als einer der letzten kam Finn zurück auf den Platz. Sein Blick war konzentriert und änderte sich auch nicht, als er dem seines Vaters begegnete. Der nickte ihm unmerklich zu und griff erwartungsfroh nach seinem Bier.
*
Bereits kurz nach Wiederanpfiff konnte sich Finn abermals auszeichnen, als er einen strammen Schuss aus zwanzig Metern souverän im Sprung abwehrte. Es zeichnete sich das erwartete Bild ab. Die FCM-Jungs wurden mehr und mehr in die Defensive gedrängt. Nach knapp einer Stunde zogen die Gäste ein regelrechtes Powerplay auf. Der Dauerdruck musste zwangsläufig zum ersehnten Tor führen, was die Meisterschaft bedeuten konnte. Eigentlich.
Die nächste Angriffswelle rollte über die linke Meiendorfer Abwehrseite auf Finns Tor zu. Den Ball nicht aus den Augen verlierend, registrierte Finn das Lösen der gegnerischen Nummer Neun vom Gegenspieler im Strafraum. Die Flanke kam punktgenau auf den zehnten Meter, genau in den Lauf des Stürmers. Der brauchte nur noch ins Eck einzunicken, wenn nicht Finn dazwischen gegangen wäre und die Flanke vor dem heranrauschenden Gegner mit der offenen rechten Hand ins Toraus bugsiert hätte.
Es war eine unkonventionelle Torwarttechnik, ein Profi hätte den Ball wohl rigoros herausgefaustet. Das Unorthodoxe sah aber spektakulär aus. Die Zuschauer honorierten die Aktion entsprechend mit lauten „Ahs“ und „Ohs“. Finn stand auf, klopfte sich die Handschuhe an seinem grünen Trikot ab und rief kämpferisch:
„Los Jungs! Nicht nachgeben. Die machen heute kein Tor!“
Seine anfeuernde Stimme überschlug sich dabei aufgrund des Stimmbruchs. Die Mitspieler schienen dennoch motiviert und positionierten sich im Strafraum, die nachfolgende Ecke erwartend.
„So Kleiner: Jetzt ist es gleich soweit …“, zischte ihn die Nummer Neun an und tänzelte im Fünfmeterraum dicht vor Finns Nasespitze herum.
Finn achtete nicht weiter auf ihn.
„Achtung die Drei!“, schrie er und deutete auf den freistehenden Spieler am Elfmeterpunkt. Dann fixierte er den Eckballschützen. Sein Blick streifte dabei Paul, der ihm zuzwinkerte.
Die getretene Ecke pflückte sich Finn sicher im Fünfmeterraum herunter. Aufmerksam schaffte er sich Orientierung und warf den Ball mit einer kraftvollen Schleuderbewegung bestimmt 30 Meter weit ab. Genau in den Lauf seines gestarteten Freundes Paul. Der fackelte nicht lange, passte die Kugel direkt weiter nach vorne zum Meiendorfer Toptorschützen Hendrik. Der brauchte nur noch ein paar Schritte zu gehen.
„Schieß! Schieß!“, ertönte es mehrstimmig von der Tribüne. Die Eltern hielt es kaum auf den Stühlen.
Hendrik nahm sich ein Herz und zimmerte das Spielgerät auf des Gegners Kasten. Mit einem Zischen schlug dort der Ball hinter dem regungslosen Torwart ein.
„Jaaaa!“, jubelte der untersetzte Coach am Seitenrand. Er drehte sich zu den Eltern und ballte die Fäuste.
„Juhu!“, jubelten die Eltern auf der Tribüne.
„Ja, ja, ja!“, rief Hendrik, als er jubelnd abdrehte und sich von seinen Mannschaftskollegen abfeiern ließ.
Paul blickte zurück zu Finn und reckte den Daumen nach oben. Finn nickte lächelnd zurück.
Sein Vater Erik beobachte die Szene zufrieden von draußen und klatschte einmal in die Hände.
Es folgten wütende Angriffe auf das Meiendorfer Tor. Sie waren aber allesamt zu überhastet und ungenau, und damit kein Problem für Finn und die FCM-Abwehr.
Wenige Minuten später pfiff der Schiedsrichter ab.
Über der Meiendorfer Sportstätte mischte sich großer Jubel mit dem Aufschrei der Geschlagenen. Die FCM-Jungs klatschten sich ab. Paul legte Finn fast zärtlich den Arm um:
„Habe ich es Dir nicht gesagt? Die ganze Seite war bei denen offen. Super Spieleröffnung, Finn!“
Finn lächelte. Er freute sich über das Lob und über den gelungenen Abschluss seiner Jugendlaufbahn. Seine Gedanken gingen allerdings schon wieder nach vorne. Ab jetzt zählte der Herrenbereich. Er würde härter und fleißiger trainieren müssen als bisher. Sein Blick suchte wieder den des Vaters. Diesmal fand er ihn auch.
Erik nickte wohlwollend. Er hatte in diesem Moment dieselben Gedanken wie sein Sohn.
Der warme Sommertag ging zu Ende. Es wurde bereits langsam dunkel, dennoch war vor und im Vereinsheim des 1. FC Meiendorf die Hölle los.
Den erfolgreichen Saisonabschluss ihrer Söhne nutzten die meisten Väter als willkommene Ausrede, noch auf ein oder zwei Getränke länger als gewöhnlich zu bleiben und auch die Jugendlichen testeten ihre Grenzen aus.
Es gab an diesem Abend - grob gesagt - drei Gruppen: die Hartgesottenen, die Vernünftigen und die Geizkragen.
Die hartgesottenen Väter und Mütter scharten sich um den Tresen im Klubraum. Die vernünftigen Elternteile vertieften sich draußen an den Stehtischen in Unterhaltungen über Schulleistungen und Zukunftsaussichten der Kinder. Die Geizigen schließlich sammelten sich auf dem Parkplatz vor einem Kombi mit geöffnetem Kofferraum und tranken selbstmitgebrachtes Flaschenbier.
Die Jugendspieler verteilten sich flexibel auf Gruppe zwei und drei. Hauptgrund: Im abendlichen Schummerlicht waren Flirtversuche mit den anwesenden Mädchen deutlich einfacher als im engen Vereinsheim unter den aufmerksamen Elternblicken.
Erik gehörte zur ersten Gruppe. Er saß auf einem Barhocker direkt am Zapfhahn. Die geöffneten oberen Hemdknöpfe ließen eine Goldkette auf der beharrten Brust hervorblitzen. Er nippte an seinem Getränk und genoss die Raumatmosphäre. Er liebte die Geselligkeit nach Spieltagen fast so sehr wie das Spiel selbst. Das war schon zu seiner aktiven Zeit der Fall gewesen. Die Diskussionen über strittige Entscheidungen oder das Nachstellen von Spielaktionen gehörten zu diesem Sport einfach dazu. So war es auch heute Abend.
„Also, wie Hendrik die einzige Chance eiskalt versenkt hat? Ein guter Stürmer braucht nicht viele Gelegenheiten“, floskelte ein untersetzter Mittvierziger.
Allgemeine Zustimmung.
„Aber vergiss nicht meinen Pawel, der war auch stark!“ Das war Pawels Vater, Heini Kaminski. Ein zäher Handwerker mit rauen Händen und mit eigenem Betrieb. Einer der größten Gönner und Sponsoren der FCM-Jugend.
„Wenn Pawel kommende Saison nicht zu den 1. Herren gezogen wird, wechselt er den Verein! Das verspreche ich. Dann drehe ich auch den Geldhahn zu!“, drohte er lauthals, so dass es auch jeder mitbekam.
„Das macht der Toni schon“, antwortete der Mittvierziger beschwichtigend und blickte über die Theke zu einem athletischen Mann mit dunklen Haaren und blauen Augen. Ein Frauenschwarm, der es auch wusste. Das war Toni. Er war der Trainer der ersten FCM-Mannschaft, hieß passenderweise Musculus mit Nachnamen und half heute beim Bierzapfen aus.
„Ein Cheftrainer hat stets überall seinen Blick. Der Nachwuchs bekommt selbstverständlich immer eine Chance“, sagte er gelassen und zapfte ein weiteres Bier an.
„Pawel ist ja sowieso kommendes Jahr zu alt für die U-18. Er wird bei uns zur Probe mitmachen können. Durchsetzen muss er sich dann allein. Das gilt für alle. Egal, ob der Vater ein Mäzen ist oder einen berühmten Namen trägt.“
Toni schielte zu Erik hinüber. Der blieb gelassen und lächelte nur.
„Naja, ich glaube schon, dass Finn von Eriks Namen profitiert!“, warf Kaminski vorwurfsvoll ein. Eriks Lächeln wich einem Stirnrunzeln, so dass Kaminski schnell beschwichtigte: „Verstehe mich nicht falsch, Erik. Finn ist ein talentierter Torhüter.“
„Aber?“, fragte Toni provozierend und reichte das Frischgezapfte mit einem zweideutigen Lächeln weiter an eine geduldig wartende Mutter mit blonden Haaren. „Nun ja, wir kennen doch alle Eriks legendäre Spiele damals in der Relegation!“, griff der Abteilungsleiter Dieter in die Diskussion ein: „Wir sind alle stolz darauf, den Mann im Verein zu haben, der damals St. Pauli im Elfmeterschießen nach oben in die 1. Liga gebracht hat.“
Er klopfte Erik auf die Schulter und deutete Toni mit einem Zeigefinger an, selbst auch noch ein Bier haben zu wollen.
„Leute, Leute, Leute!“, knurrte Erik. „Jetzt lasst doch mal die alten Kamellen ruhen. Finn hat mit dem damaligen Aufstieg nichts zu tun, der war noch nicht einmal Quark im Schaufenster – und ist heute schon besser als ich damals in dem Alter.“
„Na komm, Erik!“, Dieter lallte bereits etwas. Er hatte offenkundig schon einige Bier vernichtet.
„Erzähl uns noch einmal, wie Du die Elfer gehalten hast. Was hast Du nochmal zum Kruse gesagt, als der als fünfter Stuttgarter Schütze am Elfmeterpunkt stand?“ Er kicherte voller Vorfreude, da er die Antwort bereits kannte: „Komm schon Erik! Bitte!“ Erik winkte beschwichtigend mit beiden Händen ab.
„Na los, sag es!“, forderte Dieter ungeduldig. Erik zauderte, ehe er letztlich doch resignierend seinen legendären Satz von damals gepresst hervorbrachte:
„Gleich ist alles im Eimer!“
Gelächter brach aus. Die Pointe mit Eriks Nachnamen brachte immer Erheiterung in die Runde. Egal, wie oft sie auch erzählt wurde. „Erik Eimer - Fußballgott!“, ertönte es nun mehrstimmig im Klubraum. Erik winkte ab, auch wenn die Huldigung ihm jedes Mal schmeichelte und er sich wie damals mit Anfang zwanzig vor der Fankurve fühlen konnte. Das Interesse der Blondine wurde geweckt. Sie war scheinbar eine der wenigen, die Eriks Story noch nicht kannten.
*
Währenddessen hatten sich Finn und Paul mit weiteren Mitspielern abseits der Erwachsenen auf dem Fußballplatz breit gemacht. Sie vertrieben sich die Zeit mit Lattenschießen. Ziel des Wettbewerbs war es, mit einem Schuss genau die Latte des Tores zu treffen. Reihum wurde geschossen, nach jeder Runde ging es fünf Meter weiter zurück. Jeder nicht erfolgreiche Versuch führte zum Ausschluss.
Der Wettbewerb war bereits fortgeschritten. Aus etwa 25 Metern galt es jetzt die Latte zu treffen. Nach jedem Versuch fielen die Blicke der Jungs immer wieder zum Rand der Tartanbahn, in Richtung der zuschauenden Mädchen. Als wenn die sich dem Gewinner am Ende um den Hals werfen würden.
Einer nach dem anderen scheiterte an der enormen Reichweite. Pawel, ein kräftiger Flügelstürmer mit Pickeln im Gesicht, Sohn von Kaminski, war nun an der Reihe. Er legte sich den Ball auf die Markierung, nahm Maß – und traf mit einem satten Klatschgeräusch die Latte.
„Bähm – Jungs. Hier kommt der Papa und zeigt euch, wo es lang geht!“, feixte er und linste zu den Mädchen hinüber.
Der kleine Dribbelkönig Paul war der nächste. Er schnappte sich die Kugel und ging ein paar Schritte zurück. Mit schiefem Kopf fixierte er das Tor, lief an und traf wunderschön in den rechten Torwinkel, aber eben nicht an die Latte. Bedröppelt gesellte er sich zu den anderen ausgeschiedenen Spielern auf die Seite.
„Oh, oh! Nur noch einer, dann steht der verdiente Sieger fest!“, tönte Pawel selbstbewusst.
Er schaute sich um, ob es auch alle mitbekamen. Finn machte sich bereit. Als Jüngster hatte er in der Mannschaft trotz guter Leistungen einen schwierigen Stand. Er positionierte den Ball auf dem abgewetzten Rasen.
„Du bist Torwart – gib lieber gleich auf“, höhnte Pawel siegessicher.
Finn ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er nahm Anlauf und chippte den Ball gefühlvoll auf die Querlatte. Mit einem Pong hüpfte er von dort hinter das Gehäuse.
„Übertritt! Du warst zu weit vorne“, protestierte Pawel vehement.
„Das ist doch Fake. Der Kleine hat geschummelt.“
Die Mädchen kicherten. Pawels Verhalten war das eines bockigen Kleinkindes. Er wurde rot, als er es selbst bemerkte. Und wütend. Finn lächelte amüsiert.
„Das findest du witzig, oder wie?“, wollte Pawel wissen. „Kleiner, nur weil du der Sohn vom Eimer bist, kannst du dir nicht alles erlauben! Bilde dir nur nichts darauf ein, dass Toni dich zu den Herren hochzieht. Bei denen wirst du ganz klein aussehen. Kotz-Eimer, das bist du. Ich kann auch anders mit dir umspringen…“ Er hob die Fäuste wie ein Preisboxer.
„Lass doch Finn in Ruhe!“, riefen die Mädchen von gegenüber.
„Ja“, ergänzte Inga, ein großes blondes Mädchen aus der Abschlussklasse und Schwarm der meisten Jungs an der Meiendorfer Schule: „Lass Finn zufrieden. Er ist doch noch fast ein Kind. Aber so süß.“
„Ach, leckt mich doch alle am Arsch! Weiber …“, schrie Pawel noch wütender zurück. „Keine Ahnung vom Fußball! Ich habe gewonnen und basta!“ Finn zuckte nur mit den Schultern:
„Ja? Na dann, Glückwunsch, Pawel“, sagte er leise. Mehr zu sich als zu den anderen. Er trottete gleichgültig in Richtung Vereinsheim davon. Pawel blieb mit einem schalen Erfolgserlebnis zurück.
„Warte mal!“, rief Inga. Sie rannte Finn hinterher. Der drehte sich erst um, als sie ihn schon beinahe erreicht hatte.
„Der Spruch war doof von mir – du bist kein Kind mehr.“ „Ach komm“, erwiderte Finn, „ich weiß schon, wie ihr alle über mich denkt. Der Kleine, der nur spielt, weil sein Vater ein früherer Bundesligaspieler war.“ „Nein. Das stimmt doch überhaupt nicht!“ Finn warf ihr einen stirnrunzelnden Blick zu. „Okay. Es ist schon so, dass wir wissen, wer dein Vater ist. Aber darauf sind wir doch stolz. Dass wir jemanden kennen, der …“
„Der ein Star ist?“, fragte Finn vorwurfsvoll. „Star ist auch wieder falsch. Einen, den man eben kennt. Ein prominentes Gesicht der Stadt. Das ist doch etwas Schönes …“
Inga schaute Finn mitleidig an. Ihr war gerade aufgegangen, wie hart ein Leben sein musste, indem stets ein Vergleich mit jemand anderem gezogen wurde. Jemand, der auch noch dein eigener Vater war.
„Aber“, ergänzte sie schnell, „Du bist Du! Wir haben alle das Spiel geschaut. Die eine, um ihren Freund zu unterstützen, die andere ihren Bruder zu sehen und die meisten, um heute Abend Spaß zu haben. So viel passiert hier in Meiendorf ja nun wahrlich nicht!“ Sie lachte und machte mit den Armen eine kreisende Bewegung:
„Und wir alle, ehrlich, wir alle haben gesehen, wie gut du heute gespielt hast. Unabhängig von deinem Nachnamen.“
„Der albern ist“, grinste Finn nun, dem die Aufmunterung durch die hübsche Inga sichtlich guttat.
„Es ist halt ein … Nachname. Eimer.“
Sie musste nun auch losprusten.
„Aber du bist Finn. Du bist jünger als alle anderen hier und wirst kommende Saison bei den 1. Herren spielen. Das macht Eindruck, mehr als dieser bescheuerte Weitschusswettbewerb, über den morgen niemand mehr auch nur ein Wort verlieren wird.“ Sie sah ihn von unten nach oben an: „Und wie ein Kind siehst du auch wirklich nicht mehr aus. Sehr sportlich und maskulin.“
Finn lief rot an. Das hatte noch nie ein weibliches Wesen zu ihm gesagt. Völlig neue Gefühle stiegen in ihm auf.
„Du musst mich nicht weiter aufmuntern. Aber danke“, genierte er sich und blickte sich um. Die ungewohnte Situation wurde unheimlich. Unkontrollierbar.
„Ich sollte jetzt gleich gehen“, suchte er einen Ausweg. „Schon?“, Inga packte ihm am Arm. Finn durchzuckte die Berührung wie ein Blitz, so intensiv wirkte sie auf ihn.
„Es wird gleich erst richtig witzig. Warte ab, wenn die Crew zum Alkohol greift.“
Sie zeigte mit dem Daumen auf ihre Clique hinter dem Tor, ohne dabei Finn aus den Augen zu lassen. Ihr Gesicht kam seinem dabei immer näher, bis sich ihr Mund schließlich auf seinem wiederfand. Finn wich ruckartig zurück.
„Entschuldige“, murmelte er schüchtern und fürchtete, sie könnte ihn aufgrund seiner Unerfahrenheit auslachen. „Schon gut, mein Fehler. Das war etwas … etwas unbedacht“, erwiderte Inga, griff wieder nach seinem Arm und zog ihn kichernd mit sich.
„Komm, lass uns dahinten zur Bank gehen.“
*
Es wurde später und der Klubraum des Vereinsheims leerte sich stetig. Übrig blieb der harte Kern um Abteilungsleiter Dieter und andere ehrenamtliche Vereinsvertreter.
Auch Kaminski war zu dieser Stunde noch vor Ort. Er hatte Toni in ein Gespräch verwickelt und versuchte weiter den Cheftrainer vehement davon zu überzeugen, seinen Sohn Pawel nächste Saison in der ersten Mannschaft zu berücksichtigen.
Die Aufmerksamkeit um Erik hatte sich gelegt. „Gottseidank!“, wie Erik bei sich selbst dachte. Gedankenverloren blickte er vor sich hin und lauschte den Tönen der Musikanlage, als er an der Schulter angestoßen wurde. Es war die blonde Frau von vorhin.
„Entschuldigung. Wir kennen uns wohl noch gar nicht?“
Sie lächelte und hob ihr halbvolles Glas.
„Ich bin Nadine.“
„Sehr erfreut. Erik. Erik Eimer“, antwortete Erik gelangweilter, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. „Ich weiß. Das war eben nicht zu überhören“, lachte sie unerschrocken zurück. „Was hat es denn mit der Geschichte auf sich: Gleich ist alles im Eimer?“ Ungefragt nahm sie auf dem Hocker neben ihm Platz und rückte interessiert heran. Erik seufzte.
„Du bist dann wohl die Einzige in Meiendorf, die meine alten Geschichten noch nicht kennt.“
„Ich bin gespannt.“
Er zeichnete nachdenklich unsichtbare Linien auf dem schmierigen Thekenholz als er anfing: „Vor dreißig Jahren hatte ich das Glück, mit meiner Leidenschaft Geld zu verdienen: dem Fußball.“
„Du warst einmal ein Profifußballer?“
Ihre Augen blitzten bei dem P-Wort interessiert auf.
Erik war es mittlerweile gewohnt, dass Menschen aufgeregt wurden, weil sie dachten, einem berühmten Prominenten nahezukommen. Ungerührt fuhr er fort:
„Ja. Ich hatte das Glück, beim FC St. Pauli einen Vertrag unterschreiben zu dürfen. Und zwar in der legendären Aufstiegssaison. Wir spielten einen einfachen Ball, hatten am Saisonende dann das nötige Glück und starteten eine Siegesserie, die uns auf den dritten Platz führte. Du weißt, was das bedeutet?“
„Ähm“, zögerte sie. Sie war noch dabei einzuordnen, ob sie Erik schon mal in der Sportschau gesehen hatte: „Ähm ...“
„Relegation!“, half er ihr.
„In zwei Spielen, einem Hin- und einem Rückspiel, entscheidet sich die Arbeit eines kompletten Jahres. Entweder der Sechzehnte der Ersten Liga steigt ab oder der Zweitligist auf. Wir waren der Herausforderer. Unser Gegner die Stuttgarter Kickers. Die keine gute Saison gespielt hatten.“
„Und? Ihr habt es geschafft!?“
„Wir hatten weiterhin Fortuna und alles Glück der Welt auf unserer Seite. Das Hinspiel in Stuttgart ging Null zu Null aus. Wir hatten kaum eine Torchance. Die Kickers zwar auch nicht, aber sie waren zweifellos die technisch besseren Fußballer. Das zeigte sich auch im Rückspiel: Dreimal erzielten sie sogar ein Tor. Dreimal wurde es wegen einer Abseitsstellung nicht gegeben.“
Er hielt ihr drei Finger vor die Nase, um das gesagte zu unterstreichen.
„Da war dann eigentlich glasklar, wie es kommen musste.“
„Nämlich, dass Ihr gewinnt?“, riet sie.
„Ja. Im Elfmeterschießen.“
„Elfmeterschießen?“
„Das Rückspiel endete ebenso null zu null. So musste zum ersten Mal ein Elfmeterschießen über Auf- und Abstieg entscheiden. Die jeweils ersten Schützen versagten. Der Druck war unermesslich! Unmenschlich hoch. Sie verschossen kläglich. Die restlichen Schützen traten dann aber souveräner auf.“
Er lachte bitter und zuckte mit den Schultern, als er daran denken musste:
„Ich war kein einziges Mal in der richtigen Ecke. Hatte nicht den Hauch einer Chance gegen die präzisen Schüsse! Dann kam unser fünfter und letzter Spieler an die Reihe. Er lief an – und schoss stramm nach rechts. Dort prallte sein Schuss gegen den Innenpfosten, von wo er ins Netz hoppelte. Fünf Zentimeter weiter und er wäre zurück ins Feld gesprungen. Nun führten wir, vier zu drei. Der letzte Stuttgarter musste treffen. Oder ihr Abstieg wäre besiegelt. Alle Augen waren auf den Schützen gerichtet. Der Stuttgarter Mittelstürmer Kruse. Eigentlich ein ausgebuffter Profi auf seiner letzten Karrierestation. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Aber so eine Situation macht selbst aus solchen Sportlern Nervenbündel. Ich sah ihm die Verunsicherung an, als er auf dem Weg von der Mittellinie zum Strafraum war. Sowas erkennt man. Ich stellte mich auf den Elfmeterpunkt und erwartete ihn mit einem Lächeln. Das Millerntorstadion tobte. Und als er mich fast erreicht hatte, sagte ich den Satz.“
Erik zeigte mit dem Zeigefinder auf Nadine, so wie er damals auf Kruse gedeutet hatte:
„Gleich ist alles im Eimer!“
Sie lachte. Erik zuckte mit den Schultern. „Der Rest ist schnell erzählt. Er lief an. Ich sprang nach rechts. Er traf mich. Es war keine Reaktion von mir. Er traf mich einfach.“
Sie lachte immer noch: „Wow! Alles wie im Märchen. Muss toll sein, Sportgeschichte zu schreiben. Der Fußballgott wollte es so!“
„Ja, das stimmt wohl. Aber er hat alles Glück in diese beiden Spiele gelegt. Es war danach aufgebraucht. Die Saison darauf kassierte ich in den ersten drei Spielen zehn Gegentore. Mir nichts, dir nichts war ich weg vom Fenster. Erste Liga ist nochmal was anderes. Wir hatten einen neuen Torwart aus Jugoslawien. Der war einfach besser als ich. Ich machte kein Spiel mehr. Absteigen mussten wir dennoch.“
Wieder zuckte er resignierend mit den Schultern: „Ich wechselte später in die unteren Ligen. Riss mir das Kreuzband und kam nicht mehr auf die Beine.“ Er setze sein Bierglas an, leerte es und stellte das Glas geräuschvoll zwischen sich und Nadine.
„Ende der Geschichte“, beendete er seine Story. „Ich muss dann jetzt auch mal los. Meinen Jungen finden. Es ist schon spät.“
Er stand auf und winkte zum Abschied Toni und Dieter. Nadine blickte dem humpelnden Mann nachdenklich hinterher.
„Irgendwie eine traurige Gestalt“, dachte sie bei sich.
*
Finn war sich immer noch nicht sicher, ob er träumte oder ob es tatsächlich Wirklichkeit war: Er saß eng an eng mit Inga, einem der schönsten Mädchen der Oberstufe, im Mondlicht auf der Lehne einer Bank und unterhielt sich mit ihr.
Offenbar war sie wirklich interessiert an ihm. Er hatte noch nie eine Freundin. Mädchen waren ihm fremd, irgendwie unnahbar vorgekommen. Bei Inga war es nun schon nach wenigen Momenten ganz selbstverständlich, sich zu öffnen und über Details seines Lebens zu erzählen.
„Wie lange spielst du jetzt schon beim FCM?“, fragte sie gerade.
„Seitdem ich denken kann. Ich glaube, mein Vater hat mich schon als Dreijährigen hierhergebracht. Es war fast wie bei Mogli aus dem Dschungelbuch. Nur dass er mich nicht nachts in einem Korb vor das Vereinsheim gestellt, sondern mich schon ganz offiziell zum Kindertraining angemeldet hat.“
Er lächelte unsicher und hoffte, Inga würde die Anspielung aus dem Disney-Film verstehen. Sie nickte denn auch.
„Fußball ist also bereits dein komplettes Leben ein Teil von dir?“
„Ja, wenn man so will. Seitdem ich denken kann, gehe ich zwei bis dreimal die Woche zum Training und jedes Wochenende ist Spieltag.“
„Puh, ist das nicht eintönig?“
„Da habe ich nie drüber nachgedacht. Es war einfach immer so“, antwortete Finn irritiert.
Er hatte tatsächlich noch nie darüber nachgedacht.
„Versteh mich bitte nicht falsch: Ich habe auch früher im Verein Sport getrieben. Aber mich zusätzlich auch in Musik probiert und später im Tanzen. Ich glaube, als junge Menschen sollten wir alle Richtungen ausprobieren.“
Sie kramte in ihrer Handtasche herum. „Apropos Ausprobieren“, sie zückte eine Packung Zigaretten, „Du rauchst als Sportler sicher nicht, oder?“
Finn zuckte zusammen als sich ihr Gesicht im Schein eines Feuerzeugs erhellte und sie sich die Zigarette ansteckte.
„Vielleicht hast Du ja auch bereits deine Bestimmung gefunden …“, sagte Inga und stieß eine Rauchwolke aus. Wie eine Fabelfigur ergänzte sie verdeckt durch die Rauchwolke noch:
„… dann brauchst du dich nicht ausprobieren.“
Der Zigarettenqualm störte Finn seit jeher bei seinem Vater, dennoch ging bei Inga davon jetzt eine gewisse Faszination für ihn aus. Es wirkte so erwachsen.
Hatte sie Recht? Hatte er nie nach rechts oder links geschaut, ob dort spannende Optionen auf ihn warteten?
Ein Schatten bewegte sich am Vereinsheim, das ruhig und dunkel hinter den Büschen lag.
„Finn? Wo steckst du?“
„Mein Vater!“, stieß Finn hervor. „Ich muss los.“
Inga trat die Zigarette auf der Sitzfläche der Bank aus.
„Alles klar, Finn Eimer. Wir sehen uns!“ Verschwörerisch zwinkerte sie ihm zum Abschied zu, ehe sie zurück zu ihrer Clique ging. Finn sah ihr schwerverliebt hinterher.
Am nächsten Morgen wachte Finn durch Vogelgezwitscher auf. Es war ein ruhiger Sonntagmorgen im Hamburger Stadtteil Meiendorf. Er zog die Gardine in seinem Kinderzimmer auf und blickte aus dem vierten Stock auf die Straße vor der Hochhaussiedlung. Friedlich parkten die Autos, kein Mensch war zu sehen. Er blickte auf die roten Digitalziffern des Weckers: Gleich halb Neun.
Verschlafen warf er sich zurück ins Bett und zog die Decke über den Kopf:
Was war das gestern für ein Tag gewesen? Der erfolgreiche Saisonabschluss vor den Augen seines Vaters bedeutete ihm viel. Wenn er an den Schlusspfiff dachte, klopfte sein Herz immer noch vor Stolz! Oder war es eher die abendliche Begegnung mit Inga, die ihm jetzt das Kribbeln im Bauch bescherte?
Sein Vater hatte immerhin nicht schlecht geschaut, als er gestern Abend aus der dunkelsten Ecke des Sportplatzes hervorkam. Glücklicherweise schien er Ingas Zigarette nicht gerochen und auch sie selbst nicht bemerkt zu haben. Zumindest sagte er nichts zu ihm, als sie gemeinsam den kurzen Weg nach Hause gingen.
Sein Vater war nie sehr gesprächig gewesen. Gestern Abend kam er Finn aber noch nachdenklicher vor als sonst. Auch über das Spiel verlor er kein Wort mehr. Finn war froh, als er ihm schließlich „Gute Nacht“ sagen und in seinem Zimmer verschwinden konnte.
Es klopfte an der Zimmertür.
Finn grunzte als er sich unter der Decke hervorquälte: „Ja?“
„Frühstück ist fertig“, ertöne es dumpf von der anderen Seite der Tür.
Finn atmete tief durch und streckte sich. Sein müder Blick streifte durch das Kinderzimmer mit all den Jugendpokalen in den Regalen und Fußballpostern an den Wänden. Dort, zu Füßen des mit Reißzwecken fixierten Welttorhüters Gianluigi Donnarumma, lag seine zusammengeknüllte Puma-Trainingshose. Er schlüpfte hinein und schlurfte wenig später in die Küche der väterlichen Dreizimmer-Wohnung.
Hier saß Erik an einem kleinen Holztisch. Eine dampfende Tasse Kaffee vor sich sah er Finn erwartungsfroh an: „Guten Morgen!“ „Morgen, Vati!“, gähnte Finn.
„Ich habe uns schon Brötchen geholt.“ Er deutete strahlend auf den gefüllten Brotkorb: „Dinkel!“
„Gibt es heute keine Franzbrötchen?“
Die Enttäuschung war Finn anzusehen. Sonntags gab es sonst stets die süße Hamburgische Spezialität aus Zimt und Zucker.
„Nein. Heute nicht.“
Erik faltete umständlich ein beschriebenes Blatt aus seiner Hosentasche:
„Ich habe mir noch gestern Nacht Gedanken gemacht.“
„Gedanken?“, fragte Finn, während er eines der körnigen Dinkelbrötchen aufschnitt und mit skeptischem Blick beäugte.
„Ja. Über dich!“ „Okay?“
Finn griff vergeblich nach dem Nutella-Glas. Erik rückte es außerhalb seiner Reichweite und drückte ihm stattdessen wortlos den Honig in die Hand. Dann strich er das Blatt Papier auf dem Küchentisch glatt: „Hier“, er klopfte mit dem Zeigefinder bestimmend auf den Zettel, „ich habe Dir eine Übersicht erstellt. Die aufgelisteten Lebensmittel gehören alle zum Power Food!“
„Pauower … what?“
Finn kaute auf seinem Honigdinkelbrötchen herum. „Power Food! Das sind Lebensmittel mit besonders vielen Inhaltsstoffen, die gut für die Gesundheit sind. Die steigern dein Leistungspotenzial.“
Finn schaute verständnislos und biss nochmal von seinem Frühstück ab.
„Finn! Gestern war ein Abschluss – aber auch ein Anfang für uns. Für dich. Ab heute bist du Bestandteil der Herrenmannschaft. Wir müssen einen Gang zulegen. Bedeutet: mehr Training und gesündere Ernährung.“ Finn verdrehte die Augen: „Vati. Mach mal halb lang – erstens startet die Saison erst in ein paar Wochen. Zweitens ist Sonntagsmorgen und drittens spiele ich dann in der Oberliga. Nicht in der Bundesliga.“
„Ja, was denkst du denn?“, fragte Erik herausfordernd.
„Glaubst du, die Profis haben als solche angefangen? Ohne Fleiß kein Preis.“