Kotzt du noch oder lebst du schon? - Diana Fey - E-Book

Kotzt du noch oder lebst du schon? E-Book

Diana Fey

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Beschreibung

"Was bist du eigentlich für ein Kotzbrocken, due dämliche Bulimie? Wenn ich könnte, dann würde ich dich jetzt auf der Stelle ..." " ...auskotzen? Tu's doch!" Also kotzte ich ein fünftes Mal. Diana ist vierzehn, als ihr Martyrium beginnt: Nach einem festlichen Abendessen steckt sie sich zum ersten Mal den Finger in den Hals und erlebt die verrückte Lust daran, sich zu übergeben. Mit harten Szenen, aber auch mit absurder Komik schildert Diana Fey die Macht einer Krankheit, die einen an den Abgrund führt - und die man dennoch besiegen kann.

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Diana Fey

KOTZT DU

noch oder

LEBST

du schon?

Mein Leben mit Bulimie

ullstein extra

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Zum Schutz von Personen wurden Namen, Biographien und Orte zum Teil verändert und Handlungen, Ereignisse und Situationen an manchen Stellen abgewandelt.

Das Zitat im Epilog stammt von Anne Morrow Lindbergh, Muscheln in meiner Hand, München, Piper 1990 (1955), S. 92 f.

Ullstein extra ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN 978-3-8437-0618-6

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Inhalt

Teil 1Wie kommt’s?1994 bis 1999

Kotzt euch ruhig aus

Kotzkontrolle

Brech-Begleiter

Übergebensstrategie

Erwischte Erbrecherin

Wildecker Kotzbuben

Brechbrüche

Schulab-Brecherin

Teil 2Wie is(s)t’s?1999 bis 2004

Großkotzige Großstadt

Herzens-Brecher

Bulimie & Bigamie

Herzens-Erbrecherin

Kotzkameraden

Im Würgegriff des Unterbewusstseins

Unkontrolliertes Kotzkind

Brechbilder

Kotz-Protz

Schein-Speien

Übergebenstraining

Puke-Party

Kotzkuchen

Kotzkiste

Mama Mia

Kotzkoller

Kotzkrise

Tschüssikotzki

Erotisches Erbrechen

Rivalitätsreihern

Spei-Spitze

Teil 3Wie geht’s?Nach 2004

Jeder hat seine eigene Wahrheit

Neuanfang

Verlust-Frust

Von der Eifersucht zur Ökosucht

Rückfallrisiko

Krank vor Angst

In der Ruhe liegt die Kraft

Fenster zu – Tür auf

Neues Leben

Wehe, du kotzt!

Zucker-Zensur

Magic Moment

Epilog

Nachwort aus therapeutischer Sicht

Anzeigen

Teil 1

Wie kommt’s?

1994 bis 1999

Kotzt euch ruhig aus

Weihnachten 1994. Ich war vierzehn, trug eine zu lang eingewirkte Dauerwelle mit grünen Strähnen, die eigentlich blond sein sollten, und eine buntgemusterte Leggins, deren Anblick schon genügte, um paranoide Zustände auszulösen. Über der Stirn hatte ich mir mit dem Föhn und einer halben Flasche Haarspray eine Art Betonschild gebaut, das eine erstaunliche Höhe von zehn Zentimetern erreichte. Ich fühlte mich so, wie ich aussah: sehr merkwürdig. Vielleicht, weil auch eine Achtziger-Jahre-Revival-Frisur meine kugelrunden Pausbacken nicht kaschieren konnte und die unansehnliche Glanzhose ebenso wenig davon ablenkte. Vielleicht aber auch, weil ich generell nicht gerne in den Spiegel sah.

Meine Aufwachsstätte war eine hessische Kleinstadt mit Dorfcharakter, die den geschmacklichen Untergang der Achtziger auch noch in den Neunzigern stolz zur Schau trug: Das Straßenbild prägten weiblicherseits knallige Karottenhosen, in denen Beine mindestens dreimal dicker und halb so lang aussahen, neonfarbene Stirnbänder, die schmerz- und dauerhafte Druckstellen neben unschönen Hautallergien hinterließen, und Blusen, deren Schulterpolster Rambos Oberarmen Konkurrenz machten. Gekrönt wurden die modischen Missgriffe durch Wattebauschfrisuren, die aussahen, als würde ihre Trägerin mit Vorliebe in Steckdosen greifen. Ausgerechnet zu dieser Zeit musste ich an diesem Ort groß werden, es zumindest versuchen. Meine Eltern zählten nämlich eher zu den Zwergen. Mama war eins sechzig, Papa eins siebzig. Ich war klitzeklein – und so fühlte ich mich auch.

Das Größte an mir waren Minderwertigkeitskomplexe, zum einen, weil ich unter dem Sandwichkind-Syndrom litt, zum anderen, weil ich das einzige Mädchen unter Brüdern war. So etwas wie Selbstbewusstsein besaß ich nicht, seit ich das Wenige davon an meinen zwei Jahre älteren Bruder Horst verhökert hatte, so wie manch einer seine Seele an den Teufel. Was nicht heißt, dass mein großer Bruder der Teufel war – er war vielmehr dessen bester Freund. Horst war mit einem Durchsetzungsvermögen gesegnet, das schon an Größenwahn grenzte. Was er sich in den Kopf setzte, realisierte er, egal, wie und zu wessen Leidwesen. Ob das heimliche Bauen kleiner Bomben aus dem Silvesterknaller-Innenleben, die gescheiterte Aufzucht von Kaulquappen oder das Zusammensetzen eines Miniatur-Modellflugzeugs mit selbstentworfenem Flugmotor aus Papas Bohrmaschine: Für Horst gab es keine Grenzen. Ich stand ihm dabei meist nur blöd und staunend im Weg.

Zum Glück musste ich als Mädchen keine Flugzeuge bauen. Wenn es nach Mama ging, gehörten Flugzeuge ohnehin nur in meinen Bauch, und das am besten auch nur einmal im Leben, so wie im Märchen.

Märchenmäßig ging es bei uns daheim allerdings nicht zu. Fröscheküssen war schon gar nicht drin, denn die starben bereits in ihrer Kinderstube. Horst vergaß, dass Pfützen im Hochsommer zum Austrocknen neigen und man Kaulquappen nicht in der Hand spazieren trägt, zumindest nicht über drei Kilometer. »Ist doch egal«, lautete seine trockene Antwort auf meine Tränen, die ich beim Beerdigen der vertrockneten Kaulquappen vergoss. »Du bist ein liebes, braves Liebdingli«, sagte Mama und kniff mir in die tränenbedeckten Pausbacken, während Papa Horst die Leviten las und die hausgemachten Bomben entschärfte. »Und du siehst sooo süß aus!«

Tat ich nicht. Ich sah aus wie das Titelgesicht der Mad-Hefte. Horst sagte zu mir »Monsterbacke«, meine Mitschüler nannten mich »Chowchow«.

Doch zurück zu Weihnachten 1994. Die gesamte Familie hatte sich bei uns eingefunden – nicht etwa, um mein komisches Äußeres zu begutachten, sondern um mit uns das Fest der Liebe zu feiern. »Feiern« stand in meiner Familie für Essen, das in den Mund katapultiert wurde, während gleichzeitig ein stetiger Schwall von Worten aus selbigem sprudelte. Keine Unmöglichkeit.

Der lange Esstisch wurde durch ein Zusatzbrett verlängert und jeder noch so kleinste Winkel mit Schüsselchen und Schälchen bedeckt. Was nicht mehr auf den Tisch passte, fand seinen Platz auf der Fensterbank. Tagelang hatte Mama für diese Berge an Essen in der Küche gestanden, gekocht, gebacken und gebraten. Während dieser Zeit beschwerte sie sich pausenlos über all die fiesen Kalorienbomben, die sie produzieren müsse. Lieb oder brav war das nicht. Mama kochte sehr gut, doch oftmals »kochte« sie dabei auch innerlich. Aber darauf verzichten, die Feier absagen, das wollte sie ebenso wenig. Mama war ein wenig widersprüchlich. Und deshalb war es für mich auch normal, dass sie sich stets zu dick fand und immer wieder vom Abnehmen sprach, beim Essen aber routiniert zuschlug wie ein ausgehungerter Löwe.

Papa meinte, dass Mama in einer »gestörten« Beziehung zum Essen stand und trotz der Massen, die sie tagtäglich verdrückte, eine erstaunlich gute Figur besaß.

Mama meinte, dass Papa in einer »gestörten« Beziehung zum Essen stand, weil er seit jeher Dinge aß, die durch ihre Eigenartigkeit alle Aufmerksamkeit auf ihn zogen. Das war seine Mittelpunkt-Strategie: Papa belegte ein Brötchen Marke »Extrahart vom Vormonat« mit frischen Zwiebelringen, scharfem Senf, rohen Salzheringen und einem Topping aus Marmelade und Honig – nur um es dann vor den angewiderten Augen aller Anwesenden mit breitem Grinsen zu verspeisen. Er war da recht schmerzfrei. Waren nicht genug Blicke auf ihn gerichtet, packte er einfach noch etwas Abscheulicheres obendrauf. Gab es keine Zuschauer, aß Papa überhaupt nichts und nannte das »Diät«.

Mein großer Bruder Horst war in meinen Augen sowieso »gestört«, vor allen Dingen, wenn es ums Essen ging. Mama und Papa mussten ihn immer wieder ans Kauen erinnern, da Horst seine Nahrung üblicherweise einatmete. Zudem war er süchtig nach Zucker, was Mama dazu bewog, eingekauften Naschkram sofort zu verstecken. Leider vergaß sie mit der Zeit die Hälfte ihrer vierundachtzig Verstecke, die sich dann nach einiger Zeit durch intensiven Geruch von allein bemerkbar machten.

Wenn meine Eltern Horst mal wieder auf Süßigkeitenentzug setzten und seine anschließende Hausdurchsuchung erfolglos blieb, wurde er unausstehlich. Heute hätte man ihm dafür wohl ein paar Ritalin-Pillen in den Rachen geworfen.

Als wäre das alles nicht schon genug, gab es neben mir noch jemanden: meinen achtjährigen Minibruder Billy. Mit seiner weltoffenen Art und den dazu passenden Kulleraugen wäre er das ideale Aushängeschild einer jeden humanitären Organisation gewesen. Doch wie wir alle stand auch er in einer gestörten Beziehung zum Brot der Welt. Billy war hypersensibel, sehr empfindlich oder, wie es mein großer Bruder ausdrückte, »hochbescheuert«. Ärgerte sich das Nesthäkchen, was aufgrund der Anwesenheit zweier Geschwister im Allgemeinen und eines Voll-Horsts im Besonderen täglich vorkam, brauchte es kalorienbombigen Trost. Den wiederum fand Billy in unserem Kühlschrank, der ebenfalls essgestört sein musste, da meine Eltern all das in ihn hineinstopften, was das Frustesserherz begehrte. Das Teil war so beladen, dass wir bald ein zweites in den Keller stellen mussten, direkt neben die gigantische und ebenso überladene Gefriertruhe. Und da Billy nicht mit der Hyperaktivität seines großen Bruders gesegnet war, nahm sein Bauch bereits in jungen Jahren den Umfang eines Medizinballes an, ganz zu schweigen von seinen Pausbacken, die den meinigen ernsthafte Konkurrenz machten. Schade, denn Billy war im Grunde bildhübsch.

Es war also mehr als offensichtlich, dass in meiner Familie bereits irgendein kleines Essproblem allgegenwärtig war, das nur noch auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um endlich auch auf mich überspringen zu können. Und da es bei uns neben dem Essproblem auch noch ein Sprachproblem gab, hatte es leichtes Spiel.

Das Sprachproblem bezog sich nicht etwa auf einen mangelnden Sprachschatz. Nein, vielmehr herrschte in unserer Familie ein Mangel an Zuhörern – bei einem gleichzeitigen Übermaß an Rednern. Hatte man das Glück, einen Zuhörer gefunden zu haben, musste man ihn aufs Aufwendigste unterhalten, denn auch sein Interesse bestand eigentlich nur darin, das Thema geschickt auf sich selbst zu lenken. Letzten Endes redeten immer achtzig Prozent aller Tischnachbarn gleichzeitig und wild durcheinander. Und so störte es auch nicht, dass nebenbei Fernseher und Radio liefen, Billy sich lautstark Geschichten über seinen Kassettenrekorder anhörte und alle acht Minuten Güterzüge durchs Wohnzimmer rauschten (es war wohl kein Zufall, dass mein Vater unser Haus ausgerechnet neben ein doppelspuriges Eisenbahngleis gestellt hatte).

Viel Essen und viel Lärm – daran hatte ich mich gewöhnt. Und beides hatte ich akzeptiert, solange niemand für mein Essen sterben musste.

Ein Jahr zuvor, in der Hitze des Sommers 1993, war ich Vegetarier geworden. Ausgerechnet auf einem Grillfest. Als Papa Schneckenbratwürste auf den Grill legte, deren Fettaugen mir zuzwinkerten, fasste ich den Entschluss, »meine Freunde« lieber nicht mehr zu essen. Tiere waren schon immer meine Freunde – an erster Stelle Schnüffel, eine alte Häsin, die noch immer munter durch unseren Garten hoppelte, und seit Anfang der Neunziger auch Bonnie, eine spanische Hündin, die sich noch immer mit den deutschen Gepflogenheiten und unserer speziellen Familie auseinandersetzte. Die beiden waren meine besten Freunde. An erster Stelle perfekte Zuhörer. Sie hatten auch gar keine andere Wahl. Jeden Nachmittag nahm ich sie mit in mein Zimmer und laberte ihre Ohren mit hirnlosem Teenie-Müll voll, bis sie schließlich auf dem Sesamstraßen-Teppich einschliefen. Vielleicht war mein Vegetarismus ein Beitrag zur Wiedergutmachung jener Hör-zu-Folter. Häsin Schnüffel lief tatsächlich ab und zu Blut aus dem Ohr. Hündin Bonnie nicht, was ich mir aber nur damit erklärte, dass sie aus Spanien kam und mich ohnehin nicht verstand.

Menschen, die keine knuddeligen Fellträger aßen, taten der Welt und damit auch sich selbst nach meiner Ansicht etwas Gutes. Mama bejahte dies, allerdings aus ganz eigenen Gründen. Ihrer Meinung nach konnten Vegetarier nämlich nicht dick werden, da sie auf die fettige Bratwurst und die noch fettigeren Hamburger verzichteten. Ein nicht dicker Mensch war also ein guter Mensch? Wie auch immer. Bis zum Weihnachtsfest 1994 war mir eine Speckschicht am Bauch noch unvegetarisch »wurscht«. Die änderte schließlich auch nichts an meinen Pausbacken und der Tatsache, dass alle anderen sowieso »besser«, »größer« und »tausendmal schöner« waren als ich. Dass jener Speck das blanke Entsetzen, das unheilvolle Grauen, ja, das Übel dieser Welt war, sollte ich ausgerechnet am Heiligen Abend 1994 erfahren – und verinnerlichen. Ob Jesus auf die Welt gekommen war, um mich von meinem Speck zu erlösen …?

Da saßen wir also, versammelt um den Esstisch wie eine Horde Medizinstudenten um ihr erstes Sezieropfer. Meine Tante, ebenso seit jeher auf Diät, schnitt sich von sämtlichen Portionen jeweils nur ein Viertel Stückchen ab. Ich beobachtete sie dabei und stellte fest, dass sie letztlich mehr aß als wir alle zusammen.

Tante Edeltraud litt also auch unter einem Essproblem. Das war mir neu. Ihr Sprachproblem feierte hingegen gerade Jubiläum. Heute vor zehn Jahren setzte Edeltraud uns Kinder darüber in Kenntnis, dass zwei Geschenke aus dem Sack des Weihnachtsmannes in Wahrheit von ihr stammten und mehr als zehn Mark kosteten. Auch enthielt sie uns nicht vor, dass der Weihnachtsmann bloß von ihrer verkleideten Tochter gespielt wurde, weil meine Eltern sich das Geld für einen Studenten sparen wollten.

An diesem heutigen Weihnachtsfest war mir all das egal. Edeltrauds Aufklärungskampagne lag lange zurück, und die nächste Bescherung stand unmittelbar bevor. Ich konnte es kaum noch erwarten, bis das erste Päckchen seinen Weg in meine Hände fand.

Schon wechselten wir die Rollen. Nun war es Edeltraud, die mich beobachtete.

Das kleinste Päckchen war von Edeltrauds Schwester, meiner Mama, und ich fand darin den wohl weltschönsten Ring. Edeltraud sah mir zu, wie ich ihn mit funkelnden Augen betrachtete, und Mama begann zu erzählen:

»Gut, dass er dir gefällt. Weißt du, es war gar nicht einfach, einen Ring in deiner Größe zu bekommen. Du hast so lange, schmale Finger. Wunderschöne Finger!«

Unglaublich. Etwas an mir sollte schön sein? Sogar wunderschön? Ehrfürchtig betrachtete ich meine Hände. Meine Finger waren tatsächlich lang und schmal. Das sah ich heute zum ersten Mal – und es machte mich wirklich stolz. Dazu tat es ungemein gut, solch ein Kompliment aus dem Munde meiner Mutter zu hören. Denn bis auf die Aussage, dass ich ein liebes, braves Liebdingli war, machte sie mir recht selten Komplimente, was vielleicht auch daran lag, dass ich ihr meist aus dem Weg ging. Das wiederum lag wohl an der Pubertät. Die gab meinem ohnehin nicht vorhandenen Selbstbewusstsein den obligatorischen Rest. Nach Wachstumsschüben, die zuerst die rechte und dann die linke Brust betrafen, was wirklich kein noch so weiter Sweater bedecken konnte; nach sich abwechselnden Akne-Perioden in allen Formen und Formaten; nach Fetthaar-Attacken, die auch stärkste Dauerwell-Toupierungen nicht verhindern konnten, und der Tatsache, trotz alldem noch immer das einzige »Kind« der Klasse zu sein, weil meine erste Periode einfach nicht einsetzen wollte; ja, nach all diesen Erfahrungen befand sich meine Seele wohl auf einem ungeahnten Tiefpunkt. Ein Ring, verbunden mit jenem »wunderschönen« Kompliment, war in diesem Moment wie pflegender Balsam für mein angeknackstes Teenie-Ego.

Und Mama fuhr fort: »O ja, schon kurz nach deiner Geburt ist Tante Edeltraud aufgefallen, was für schöne, lange und dünne Finger du hast. Nicht wahr, Schwesterherz?«

Ach ja? Edeltraud erkannte meine »Schönheit«?

»Ja! Das war 1980. Da war die Welt noch in Ordnung. Die Menschen waren gut zu mir. Heute trau ich mich kaum noch aus dem Haus …«, jammerte Edeltraud – Jammern zählte zu ihren herausragenden Qualitäten. Nachdem Mama ihr mit rollenden Augen antwortete, kam Edeltraud zurück zum Thema. »Ich wusste jedenfalls schon damals, dass das Mädchen mal groß und schlank wird, weil ihre Finger das verraten. Die wird eine Augenweide! Ihr werdet stolz auf sie sein. Gebt ihr noch ein paar Jahre.«

Jetzt war ich aber baff. Ich, groß und schlank? Ich, eine Augenweide?

Edeltrauds Worte bewirkten bei mir mehr als eine dreistündige Massage. Ich spürte ein Fünkchen Selbstliebe in mir aufflammen. Anscheinend war ich gar nicht so übel, wie ich immer angenommen hatte. Bald schon würde ich eine schöne, große und schlanke Diana sein, auf die meine Familie zu Recht stolz sein konnte. Danke, Mama! Danke, Edeltraud!

Ich wollte beide gerade herzlichst in die Arme schließen, mich für ihre Liebesbekundung bedanken, als Mama wieder das Wort ergriff, und zwar mit einem bekümmerten Blick in Richtung meiner Tante. »Aber nein, das ist doch gar nicht möglich!«

Wie bitte? Für einen Moment dachte ich, Mama habe sich versprochen, doch sie ging nun richtig ins Detail: »Edeltraud, ich hab dir doch schon damals gesagt: In unserer Familie wird niemand groß und schlank, weil wir alle klein und dick sind. So sind wir eben. Das ist unser Schicksal. Und Diana gehört auch dazu – trotz ihrer schönen, langen und dünnen Finger!«

WIR SIND ALLE DICK!

Mama betonte diesen Satz, als sei er ein Indiz für die Todesstrafe.

Augenblicklich stieg in mir Panik hoch. Ich sah mich verdammt dazu, als kleiner Pummel durch die Gegend zu rollen, umgeben von Mannequins und Modellathleten, deren lange Beine ich mühsam umkurvte. Natürlich hätte ich mich in diesem Moment auch fragen können, warum Klein- und Dicksein etwas Schlechtes und Gardemaß und Schlanksein offenbar per se etwas Gutes waren. Wer hatte sich diesen Dreck eigentlich ausgedacht und ihn gar zu einer Regel gemacht?

Diese Gedanken wälzte ich unzählige Male – aber erst später. An jenem Abend, in jenem Moment, als die schicksalhafte Aussage meiner Mama wie ein Damoklesschwert über dem reichgedeckten Esstisch im feierlichen Licht der Weihnachtskerzen schwebte, kam mir urplötzlich ein Gedanke in den Sinn: Nicht mit mir!

»Ja, du hast recht. Tut mir leid, Diana, aber uns geht es ja allen so«, erwiderte Edeltraud im jämmerlichen Ton.

Auch ich musste Mama in einem Punkt recht geben: In unserer Familie gab es keine Hungerhaken. Andererseits waren wir aber auch von den Wildecker Herzbuben noch weit entfernt (jedenfalls im Bezug auf die Körpermaße – die Herzbuben wohnten nämlich im Nachbarort). Ob meine Mama, Tante und Co. in einem gestörten Verhältnis zu Kalorien und den Fettansammlungen ihrer Körper standen oder einfach zu viel Langeweile und zu wenig Gesprächsstoff hatten, war mir bis zu jenem Moment schlichtweg egal. Jetzt nicht mehr.

Was auch immer in diesen Minuten geschah, es veränderte mein bisheriges Denken und mein Leben für immer.

Weihnachten 1994 war der Startschuss für eine Sache, die schon lange tief in mir schlummerte und nun endlich an die Oberfläche kriechen konnte. Eine Sache, die so viel mehr mit Machtausübung und Kontrolle zu tun hatte als mit Schlankheitsidealen. Weder Mama noch Tante trugen Schuld an dem, was danach geschah.

Auch wenn die Dickenthematik zwischen ihnen an jenem Abend furchterregende Züge annahm. Wir erfuhren, dass Edeltraud tatsächlich nur aufgrund ihres scheinbar massiven Körpergewichts von ihrem Ehemann geschieden worden war. Auch war ihre Fettmasse der Grund für die Kündigung durch ihren Arbeitgeber. Ebenso lag es einzig an ihrer Fülle, dass wir Kinder sie nicht oft genug besuchten. Und nur weil sie so dick war, musste sie zweimal in der Woche zur Psychotherapie gehen, bei der sie aufgrund ihrer Fettleibigkeit mehr zahlen musste als andere. Ich bekam es mit der Angst zu tun – zumal ich immer gedacht hatte, wir Kinder mieden Edeltraud allein wegen ihres kontinuierlichen Klagens.

Zwangsläufig kam mir der Sahnetorten-Nachtisch wieder in den Sinn. Ein Wahnsinnsschrecken durchfuhr mich wie ein Blitz. Was hatte ich nur getan? Ich hatte mich vollgepumpt mit den widerwärtigsten Kalorien, die mich geradewegs ins Verderben stürzten. Wollte ich etwa Germanys next Topmoppel werden? Auf keinen Fall! Aber es war zu spät. Das Kind, die Torte, lag bereits im Brunnen, im Magen. Was konnte ich jetzt noch dagegen tun? Nichts! Angsterfüllt dachte ich an meine verbockte Zukunft.

Da fiel mein Blick auf meine Hände. Und mir fiel etwas ein. Nämlich, dass sich meine ach so wunderschönen, langen, dünnen Finger prima einsetzen ließen – zu etwas ganz Neuem …

Im Nu erhob ich mich von meinem Platz, ließ die gackernden Hühner am Tisch zurück und begab mich auf den Weg zur Toilette. Ich fühlte mich dabei fast wie ein Abenteurer, ja, wie ein Toiletten-Tempelritter. Wenn das, was ich mir gerade in den Kopf gesetzt hatte, klappen würde, könnte sich dadurch mein gesamtes, zum desolaten Dicksein verdonnertes Leben ändern. Dann hätte ich eine Macht, die andere nicht hatten: eine Macht über Kalorien. Massenweise Kalorien, so unnötig wie Pickel im Gesicht, Kalorien, die uns das Leben zur Hölle machen und Schuld an allen Miseren dieser Welt tragen. Aber ich hätte auch Macht über meinen Körper, wäre Herr über Verdauen oder Nichtverdauen.

Ich musste es einfach ausprobieren! Anders als die meisten Abenteurer weihte ich jedoch niemanden in meinen Plan ein. Ich musste ja erst einmal sehen, ob ich überhaupt in der Lage war, »es« durchzuziehen.

Und ja, ich war in der Lage.

Als ich »es« an diesem Abend zum ersten Mal tat, musste ich unentwegt an meinen Geschichtslehrer denken. Vielen anderen würde vielleicht das Resultat ihrer letzten Sauforgie durch den Kopf gehen, oder sie würden ihren Lehrmeister nur dann in Betracht ziehen, wenn allein dessen Anblick schon Würgereize auslöste. Mein Geschichtslehrer, Herr Bander, war mit keinem brechreizbeschleunigenden Aussehen gestraft. Er erzählte nur viel. Noch viel mehr, wenn es um seine Lieblingsthemen ging. Die standen kurz vor den Weihnachtsferien an, als Herr Bander uns über die Herrschaft Roms unterrichtete und seinen Fokus recht fix von den Kastellen zu den Kleidern der männlichen Bevölkerung verlagerte, wohl auch, weil er insgeheim auf Männer stand. Kurz erwähnte er die römischen Schlachtzüge, ging auch hier eindringlich auf den geschmackvollen Kleidungsstil der römischen Soldaten ein und versinnbildlichte uns die großen Feierlichkeiten, die die Römer im Anschluss an jedes Gehaue und Gesteche und auch sonst bei jeder Gelegenheit angeblich vollzogen hatten (und an denen er offenbar selbst gerne teilgenommen hätte …). Die Römer fraßen und fraßen, im Überfluss, im Übermaß. Und wenn der Bauch randvoll gefressen war, war es dann vorbei mit der Feierei? Nein, dann steckten sie sich eine Feder tief in den Schlund – und sorgten so dafür, dass sie einige Minuten später wieder von vorne anfangen konnten.

Herr Bander sprach von einem grenzenlosen Genuss. Das war natürlich Geschmackssache, im wahrsten Sinne des Wortes. Trotzdem sollte der Satz »Die Römer haben das doch auch immer gemacht!« von nun an meine Rechtfertigung sein. Wann immer ich »es« in Zukunft tat, war jener Satz mein Halt. Und dies lag nicht etwa daran, dass die Römer passenderweise auch die Erfinder der Kanalisation waren. Nein, Lehrer Bander stellte sie so positiv dar, als seien sie Götter gewesen. Für mich waren Götter auf jeden Fall Vorbilder. Dass die Römer im Laufe der Geschichte nicht grundlos ausstarben, da sie wahrscheinlich doch keine göttlichen Vorbilder, sondern eben nur Menschen mit einer prägenden Blütezeit und nachfolgender Dekadenz waren, leuchtete mir zu diesem Zeitpunkt nicht ein. Genauso wenig wie die Tatsache, dass mein Lobeshymnen schwingender Lehrer seine Gedanken lieber auf eisenkleidertragende Machos fokussierte als auf die Hexenverbrennung. Als hätte ich kein eigenes Hirn, hielt ich das, was mir vorgetragen wurde, quasi für ein Gesetz. Und warum? Weil ich nicht selbstbewusst war. Ebendeshalb schenkte ich auch acht Jahre zuvor meiner Oma vollsten Glauben, als diese meinen ersten Schultag zum Anlass nahm, mich über gefährliche Viren und Bakterien aufzuklären. Damals verwandelte ich mich geradewegs in eine den Wasserhahn vergewaltigende Waschmaschine, die alle Bakterien, Viren und sogar seelischen Ballast vom Wasser hinforttragen ließ. Das wäre eigentlich kein Problem gewesen, hätte ich dies nicht dreißigmal am Tag getan, denn laut Oma waren die Viren und Bakterien ja überall …

Mit dem Weihnachtsabend 1994 hatte ich jedenfalls einen neuen Lebensweg eingeschlagen, genau genommen einen Würgeweg. Nach vollendeter erster Kotztat nebst Gedanken an Männer in Kleidern mit Federn im Mund, fünfmaligem Händewaschen und dreimaligem Zähneputzen schritt ich stolz zurück an den noch immer reichgedeckten Esstisch. Ich betrachtete meinen neuen Ring und meine langen, dünnen Finger, während Tante Edeltraud mir liebevoll auf die Schulter klopfte und Mama mich anlächelte. Sie hatten keine Ahnung, was soeben passiert war.

Und ich entschied, es dabei zu belassen. Das hatte drei Gründe: Zum einen hatten sie alle ihre eigenen Essthemen und, nicht zu vergessen, ein Sprachproblem, weshalb sie mir wahrscheinlich sowieso nicht zugehört hätten. Zum anderen war es mir ungeheuer peinlich, denn der Satz »Hey, ich habe mir drei Klavierfinger gleichzeitig in die Kehle gesteckt und dann alle katastrophalen Kalorien ins Klo gekotzt!« hätte zwangsläufig bitterböse Bilder im Kopf der Zuhörer aufpoppen lassen, die sicherlich keinen Beifall nach sich zögen. Und drittens sparten meine Eltern, wo sie nur konnten. Es gab schon genug Ärger wegen meines Waschwahnsinns. Ich konnte mir gut vorstellen, dass mir etwas Schlimmes blühen würde, wenn jemand meiner Familie dahinterkäme, dass ich neben unserem Wasser neuerdings auch noch unser Essen »verschwendete«, anstatt es zu verdauen.

Kotzkontrolle

Nach den ersten zaghaften Kotzversuchen fand ich mehr und mehr Gefallen an meinem neuen »Römersport«. Es machte mir Spaß, meinen Körper zu kontrollieren. Es war purer Luxus, dass ich mich nicht beherrschen musste und anschließend auch noch selbst entschied, ob die bösen Kalorien wirklich bei mir blieben oder ich mich ihrer einfach wieder entledigte. Das war eine coole Sache, deren negative Seite ich nicht erkannte. Immerhin war so ein Römer nach seiner Kotzaktion ja noch in der Lage, ein neues Land einzunehmen. Was sollte mir also schon passieren?

So neigte sich 1994 dem Ende zu. Es war ein ereignisreiches Jahr. Das Erwachsenwerden veränderte meine Interessen und damit meinen kompletten Tagesablauf. Während ich vor nicht allzu langer Zeit noch mit meiner besten Freundin Anita, kleinen Plastikponys und meinem Hasen im Garten spielte und wir uns im Fernsehen an Bim Bam Bino erfreuten, klatschte ich mir nun plötzlich quastigen Puder ins Gesicht und malte mit Mamas Lippenstift so lange auf meinem Mund herum, bis das gute Stück abbrach. Bim Bam Bino guckte ich nicht mehr – vielleicht auch nur deshalb, weil die schön frisierte (und, wie wir heute wissen, ebenso kotzende) Gundis Zámbó nicht mehr dabei war. Neben den Anfängen der Pubertät musste ich 1994 auch ein paar Schicksalsschläge in Kauf nehmen: Meine erste große Liebe, den schönen Oliver, bekam ich nicht, und meine beste Freundin Anita verlor ich an eine entfernte Stadt.

1995 begann dann mit dem Tod meiner Häsin. Eines Morgens lag Schnüffel regungslos in ihrem Käfig. Hatte sie zu viel gehört? Freilich war sie auch schon sehr alt gewesen. Zusammen mit meinem kleinen Bruder Billy, der sich nicht nur an seinen Tränen, sondern auch an zwei Tafeln Schokolade verschluckte, beerdigte ich meine langohrige Fell-Freundin mit bemerkenswerter Fassung – und in Absatzschuhen, die mich ein wenig größer erscheinen ließen und in denen ich nun täglich mit meinen Klassenkameradinnen Maja, Beate und Melanie in das einzige Café unseres Städtchens klackerte. Dort setzten wir uns wie ausgewachsene Schickeria-Hühner grazil an einen Tisch, bestellten eine Cola mit zwei Strohhalmen (für mehr reichte unser Taschengeld nicht) und blätterten angeregt in den Modezeitschriften. Schon lachten sie uns entgegen, die scheinbar perfekten Frauen mit Endlosbeinen und Zahnpasta-Reklame-Zähnen. Wir waren brennend an ihnen interessiert – an ihrer Kleidung, ihren Hobbys, ihrer kompletten Lebensgeschichte. Ganze Nachmittage füllten wir mit solch sinnlosen Themen wie der Hochsteckfrisur von Jennie Garth. Jennie Garth, die wunderbarste, gertenschlankste, schönste und hellblondeste Frau der Welt, Fernsehstar einer einfallslosen US-Teenager-Serie, in der aus schönen, reichen Kindern schöne, reiche Erwachsene werden. Oberflächlicher Fernsehmüll, der genau das war, was planlose Teenager wie wir zu jener Zeit brauchten. Die Gesprächsthemen der Serie schwappten auf uns über. Wir identifizierten uns mit Jennie und ihren seidenglatten Haaren. Wir suchten nach Gemeinsamkeiten, auf die wir uns gegenseitig hinwiesen. Die schöne Jennie war der Inbegriff des Guten.

Und der Inbegriff des Schlechten? Der saß mit uns am Tisch. Die dicke Beate mit ihren wilden Locken wurde als Ausgleich unser aller Lästerthema. Natürlich nur, wenn sie nicht dabei war.

Beate war wirklich sehr dick. Babyspeck war etwas anderes.

»Die wird ihr Fett nie wieder los«, meinte Maja.

»Ja, genauso wie Jennie und Luke nie zusammenkommen«, antwortete ich in Gedanken an unsere dämliche Serie. Alle nickten.

»Bevor Beate dünner wird, werden erst mal ihre Locken glatt!«, lachte Melanie.

»Bevor Beate dünner wird, macht Shannon Schluss mit Luke!«, kicherte ich.

Zwei Wochen später machte Shannon Schluss mit Luke, und Jennie kam mit ihm zusammen. Die dicke Beate aber blieb weiterhin unser negatives Talkthema, vielleicht auch, weil sie sehr selten zu unseren Nachmittagstreffen kam und wir so ungeniert über sie reden konnten.

Manchmal dachte ich daran, wie ich mich fühlen würde, wenn ich an Beates Stelle wäre. Wie ich mich fühlen würde, wenn ich dermaßen dick wäre und wüsste, dass andere darüber sprachen. Das war kein gutes Gefühl.

Und prompt stockte mir der Atem. Ich fühlte mich noch immer nicht wohl oder schlank in meiner Haut, auch wenn ich nicht so stämmig wie Beate war. Die grazilen Elfenbeine einer Jennie Garth hatte ich nämlich auch nicht, trotz Römersport. Gab es überhaupt eine Garantie, dass meine Freundinnen nicht auch über die »dicke Diana« lästerten? Nein, die gab es nicht.

Dafür steckte Maja kurz darauf Beate, dass sie der korpulente Kern unseres Gewichtsgesprächs sei. Von einem Tag auf den anderen kam Beate gar nicht mehr ins Café. Auch in der Schule bekamen wir sie nicht mehr zu Gesicht. Es war, als habe sich nach unserer endlosen Bigsize-Beate-Besprechung der Erdboden voller Erbarmen aufgetan und die Dicke verschluckt.

Was nicht mehr präsent ist, das interessiert auch keinen mehr. So endeten unsere Beate-Lästereien schlagartig, und schon machte sich in mir die totale Panik vor dem neuen Dickenthema breit, das in der Runde nunmehr sicherlich meiner Person galt. Schließlich waren in meiner Familie »alle dick«. Ich konnte mir gut vorstellen, wie intensiv sich meine Freunde über Jennie, Shannon, Luke und die dralle Diana ausließen.

Da nur in Beates Abwesenheit über sie gelästert wurde, gab es eine Möglichkeit, nicht zum neuen Opfer fieser Worte zu werden: Ich musste einfach immer dabei sein – immer! Prompt stand ich fortan als Erste am Treffpunkt und war als Letzte daheim. Ich traute mich nicht einmal, zwischendurch aufs Klo zu gehen. So bekam niemand eine Chance, auch nur zwei Sekunden schlecht über mich zu reden.

Diese Kontrolle funktionierte, doch ein spaßiges und angenehmes Leben war etwas anderes. Ich gönnte mir keine Pause. Aus dem Kalorien-Kontrolleur wurde auch noch der Klatsch-Controller. Warum ich diese Dinge nicht locker sehen konnte, sondern dermaßen extrem reagierte, sollte ich erst viel später verstehen. Damals lebte ich diesen anstrengenden Schrott einfach so lange, bis mein Körper zum Stoppschild wurde. Ich bekam durch den ganzen Stress Halsschmerzen, eine Mandelentzündung und schließlich eine Mandelvereiterung, wodurch ich zwei Wochen lang das Bett hüten musste. Ich wälzte mich hin und her und dachte an meine Freundinnen, die jetzt ohne mich in unserem Café saßen. Garantiert lästerten sie darüber, wie dick ich doch war.

Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich Geschichten in mein Notizbuch schrieb. Geschichten aufzuschreiben war etwas, das ich gerne tat, seit ich in der Lage war, mit meinen langen, dünnen Fingern Buchstaben aufs Papier zu bringen. Beim Schreiben überkam mich stets eine ausgleichende Ruhe. Diesmal aber fielen mir nur Geschichten über eine dicke Diana ein, die von ihren Freundinnen so lange verspottet wird (»Die hat Blutgruppe Schmalz!«), bis sie schließlich ins Gras beißt (»Bravo, Gras hat kaum Kalorien!«).

Wenn ich wieder gesund sein würde, wäre ich in der Gruppe bereits die neue Dicke. Die neue Blöde. Die neue Exfreundin. Sie alle würden mir die Freundschaft kündigen, und ich würde so enden wie Beate: Erde auf, Dicke rein – und weg ist der Ballast!

Ach, wäre ich doch nur so geendet wie Beate!

Als ich wieder auf den Beinen war und mich sogar etwas schlanker fühlte, da die Schluckbeschwerden dafür gesorgt hatten, dass ich keine schlechten Kalorien zu mir nahm, erlebten wir auf dem Schulhof etwas nahezu Unglaubliches: Beate erschien wieder. Und das war wirklich eine Erscheinung, denn sie hatte abgenommen – nicht nur ein bisschen! In den darauffolgenden Wochen wurde sie noch schlanker, bis das Unfassbare geschah: Beate stand im Körper einer Jennie Garth vor uns. Wie genau sie das fertiggebracht hatte, blieb uns ein Rätsel.

Augenscheinlich verlor Beate jedoch zusammen mit ihrem schlechten Speck auch ihr gutes Gemüt. Ihre positive Ausstrahlung, ihre anhaltend gute Laune und ihr unschlagbarer Humor waren wie weggeblasen. Das jedoch war uns oberflächlichen Teenies total egal. Uns interessierte nur Beates Aussehen, sonst nichts.

Ich erinnere mich an einen Tag, an dem wir alle in unserem Café saßen und an unseren Diät-Colas nuckelten.

»Beate ist mein Vorbild«, hauchte Maja. »Sie ist perfekt, hat eine traumhafte Figur, und die langen Locken stehen ihr richtig gut. Sie ist das Beste, was unsere Schule zu bieten hat.«

Ich dachte an Beates finstere Miene, die überhaupt nicht perfekt war. Zweifelsohne stand dieser Miene ein perfekt schlanker Körper gegenüber. Und der war nun mal das Maß aller Dinge.

Wie bei einem Vulkan schoss es da plötzlich aus mir heraus: »Maja, findest du mich jetzt etwa dick und hässlich?«

Auffällige Ruhe. Ich deutete dies als ein einstimmiges JA und senkte meinen Kopf.

»Mensch, Dianchen, bist du noch ganz knusprig? Du bist doch unser Schnuckelchen!«, munterte Maja mich schulterklopfend auf.

Alle nickten und grinsten. Ich deutete ihr Grinsen als »Wenn du wüsstest, wie dick und hässlich wir dich finden …«.

Dies war der erste Tag, an dem ich mich nicht übergab, um fettmachende Kalorien loszuwerden. Nein, es fing bereits auf dem Heimweg an. In meinem Kopf brodelte sich eine fiese Gedankensuppe zusammen. Meine Freundinnen lachten mir gutmütig ins Gesicht, doch ich war davon überzeugt, dass sie mich innerlich auslachten, wenn nicht sogar bemitleideten. Ich war dick und konnte nichts dagegen tun. Mit Sicherheit war ich seit meiner Mandelvereiterung zum Inbegriff des Schlechten geworden, denn seit dieser verflixten Krankheit hatte ich das Wichtigste verloren: die Kontrolle. Ich konnte die Gesprächsthemen meiner Freundinnen nicht mehr kontrollieren. Das Einzige, was ich noch kontrollieren konnte, war das Essen. Diese Kontrolle musste nun doppelt herhalten.

Ich ging mit dem Ziel an den Kühlschrank, so viel wie möglich in mich hineinzustopfen, um es anschließend bis auf den ersten Bissen wieder loszuwerden. Damit konnte ich mir selbst beweisen, dass ich doch noch in der Lage war, Kontrolle auszuüben – wenn schon nicht über Lästerthemen in der Clique, dann zumindest über Lebensmittel in der Kloschüssel.

Mama und Papa beobachteten mich bei meiner Fressorgie, die ich damit begründete, dass ich gerade vom Sport kam (Stöckelschuh-Schnell-Sprint). Ich verdrückte zwei Pizzen, einen halben Zitronenkuchen und drei Schalen Pudding. Dann verschwand ich, »um ein heißes Bad zu nehmen« – so die Aussage vor meinen Eltern –, und entleerte meinen vollgestopften Magen über der Kloschüssel.

Nach vollendeter Tat und fünfmaligem Händewaschen fühlte ich mich vollkommen erleichtert, ganz so, als sei alles schlechte Reden und Denken mit einem Mal von mir abgefallen. Ich war so zauberhaft leicht wie eine Feder, frei von bösen Kalorien, frei von bitteren Kränkungen. Alles war wieder im Lot. Ich war dünn. Ich war ein gutes Kind, über dessen nicht vorhandenes Fett niemand lästern konnte. Ja, und ich hatte wieder alles im Griff, alles unter Kontrolle. Ein sanfter Schwindel überkam mich. Ich genoss ihn und die Müdigkeit, die er mit sich brachte.

Unten in der Küche hörte ich meine Eltern wie immer lautstark reden, mit dem Unterschied, dass es diesmal auch um mich ging.

»Ich verstehe nicht, warum Diana und Billy so überhaupt kein Selbstbewusstsein haben«, sagte Mama. »Die sind so unsicher wie Fähnchen im Wind.«

»Ja, die beiden sind wirklich das Gegenteil von Horst – aber vertilgen dafür das Doppelte von mir«, erwiderte mein Vater.

Man hörte Mama schmatzen und schlucken, dann antwortete sie: »Kein Kunststück, du isst ja so gut wie nix!«

Zwei Minuten herrschte stolzes Schweigen. Dann setzte sie nach: »Aber egal, lass die Kinder ruhig essen. Solange sie noch nicht so dick sind wie ich, können sie sich das auch leisten. Und jetzt iss auch mal was von dem Pudding hier! Wofür hab ich die zwei Kilo denn gekocht?«

»Nein, ich bin noch auf Diät! Ich esse nichts!«

»Gute Idee. Eine Diät sollte ich auch mal wieder machen. Fühl mich im Moment nämlich gar nicht wohl in meiner Haut«, seufzte Mama, änderte aber sogleich wieder ihre Tonlage: »Sieh an, auf dem Pudding hat sich schon Haut gebildet. Mhhh. Lecker …« Erneut hörte man sie schmatzen.

»Iss nicht so viel davon, sonst jammerst du nachher wieder rum«, knurrte mein Vater. Zu spät – gleich danach verfiel Mama zurück in den Jammer-Modus. Keine Ahnung, wie Papa das ertrug. Er hatte ja auch keine Ahnung, wie ich das alles ertrug. Die doppelten Portionen jedenfalls war ich nie selbstbewusster als an diesem Tag losgeworden. Zufrieden kuschelte ich mich ins Bett.

Brech-Begleiter

Die Schließung des einzigen Cafés unserer Kleinstadt beendete kurz darauf die für mich so anstrengenden wie frustkotz-fördernden Nachmittagstreffen. Meine Clique zersprang – und das war auch gut so. Wir Mädels gingen unsere eigenen Wege, machten hier und da auch mal etwas zu zweit, aber das Wichtigste war: Wenn wir uns sahen, sprachen wir nicht mehr über jene, die etwas mehr auf den Rippen hatten. Endlich war mein Nachmittagsstressprogramm vorbei. Die Panik und die Angst, dass schlecht über mein dickes Äußeres gesprochen wurde, schwanden mehr und mehr. Mein Leben und meine Pubertät gewannen wieder an Qualität.

Ich hatte mehr Zeit, meinem Hobby, dem Schreiben, nachzugehen. Mit Hündin Bonnie setzte ich mich unter einen Baum und schrieb allerhand neue Geschichten auf. Lesen wollte sie niemand, aber das war auch egal. Mir tat das Schreiben gut. Und Bonnie war dankbar, dass ich jetzt chlorfrei gebleichtes Holz anstelle ihrer Ohren zumüllte.

Wenn ich mal nicht über dem Papier hing, zog es mich nach wie vor über den Pott. Tatsächlich bereitete mir der Römersport ähnlich viel Freude wie das Schreiben. Römersport war nicht nur ein prima Mittel gegen Kontrollverlust, sondern auch eine tolle Beschäftigung bei aufkommender Langeweile. Sturmfreie, verregnete oder öde Nachmittage konnte ich auf diese Weise schnell hinter mich bringen. Zudem hatte ich inzwischen verbale Freundschaft mit der Bulimie geschlossen. Ja, wir sprachen sogar schon miteinander.

»Nenn mich Mia«, bezirzte mich die Bulimie. »Schließlich sind wir jetzt so was wie Freundinnen.«

Im Fernsehen lief gerade Der mit dem Wolf tanzt, und so dachte ich, eigentlich auch egal, ob der mit dem Wolf tanzt oder die mit der Bulimie spricht, und ließ mich von Mia zum Kühlschrank dirigieren – und anschließend zum Klo.

Eine Zeitlang ging es mir auf diese Weise richtig gut. Meine Umwelt empfand mich stets als ausgeglichen und gut gelaunt, und neben Mia blieb mir auch Maja als gute Freundin erhalten – vorerst.

1995 war auch das Jahr der Liebe – oder dem, was wir unter »Liebe« verstanden (und das war nicht sehr viel). Wer einen Freund hatte, ja, wer mit jemandem »ging«, der war jemand. Alle anderen waren … nichts! Schlimmer als »nichts« war eigentlich nur noch »dick«. Das Motto »Nur schlank ist gut« war nach wie vor das Topthema und mittlerweile auch schon beim anderen Geschlecht angekommen. Allerdings nicht in der Form, dass die Jungs nun auch kalorienzählend auf der Waage standen – nein, ihr Körperfett-Check galt uns! Warum sonst waren die mit Zahnstocherbeinen gesegneten Ballettpüppchen meines Jahrgangs allesamt vergeben, und zwar an die beliebtesten Jungen unserer Schule? Ich hatte keine Zahnstocherbeine, und deshalb gab es auch niemanden, der Interesse an mir zeigte.

Zumindest nicht an unserer Schule. Gegenüber vom Pausenhof befand sich eine Berufsschule. Und immerhin von dort erreichte mich schließlich eine Anfrage – von einem Dachdeckerlehrling, der seine Tage auf Dachstühlen und seine Nächte in Kellerlöchern verbrachte, wo er sich als Teil einer eingefleischten Tekknokultur sah. In einer Unterrichtspause kam Gunnar lässig auf unseren Schulhof geschlendert und sprach mich einfach an. Seine Stimme klang verdächtig nach dem Bandroboter von Kraftwerk. Der Rest war dagegen nicht zuzuordnen. Metallteile in Form von Piercings sind zwar bei Robotern nicht unüblich, doch Gunnar stand zudem in Schottenrock, Schlafmütze, Schnuller und einer selbstgebastelten Brille aus Küchensieben vor mir, und das war nicht seine Berufskleidung. Auf meinen fragenden Blick hin drückte er mir bloß ein UV-Knicklicht und einen kleinen Zettel in die Hand, erwähnte sein Faible für »Acid«, »Goa« und »Schranz« (Was zum Teufel war das …?), bevor er sich zum »Chill-out« auf eine »After-Hour« verabschiedete.

Bis auf die Tatsache, dass das Eindecken von Dachflächen und elektronische Tanzmusik der einzige Sinn seines Lebens zu sein schien, verstand ich überhaupt nichts. Dann faltete ich den Zettel auseinander – und verstand noch viel weniger. Der Typ wollte mit mir gehen – unglaublich!

Während ich meine unverhoffte »Beliebtheit« beim anderen Geschlecht kaum fassen konnte und das UV-Knicklicht fest an meine Brust drückte, näherte sich meine Freundin Maja und sprach mich ohne große Umwege auf meine veränderten Essgewohnheiten an. Obwohl sich Maja neuerdings wie ein penetranter Fan an die Fersen der so erschlankten wie schlechtgelaunten Beate klemmte, war ihr sehr wohl aufgefallen, dass sich mein Schokoriegel-Konsum verdoppelt, wenn nicht sogar verdreifacht hatte. Nun befürchtete sie, dass ich entweder bald fettsüchtig oder bereits schwanger sein würde, was zwangsläufig beides auf eine »gefährliche« Gewichtszunahme hinausliefe. Natürlich beschwerte ich mich sofort darüber, dass Maja mir eine Schwangerschaft ohne Freund – und ohne Periode – unterstellte. Gleich darauf beschloss ich, Gunnars »Willst du mit mir ›clubben‹?«-Anfrage anzunehmen – und außerdem mein Geheimnis vor Maja zu lüften. Ersteres tat ich, weil es an der Zeit für einen Freund war, ganz gleich, wie speziell er auch sein mochte. Letzteres tat ich, weil ich keine Lust mehr auf die ewige Heimlichtuerei hatte und – ja – durchaus auch stolz auf meinen Römersport war.

Maja hörte mir einige Minuten zu, während ihr Gesichtsausdruck zunehmend grimmiger wurde. Schließlich fragte sie: »Hat man dich deshalb nach einer römischen Göttin benannt? Bloß, weil du so gut kotzen kannst?«

Bevor ich etwas darauf antworten konnte, ergänzte sie: »Scheiß Bander! Nach seiner Geschichtsstunde habe ich das auch gleich versucht, o ja. Mit den Fingern, später sogar mit Federn! Hat trotzdem nicht geklappt. Und darüber bin ich auch froh, sag ich dir. Kotzen ist kacke!«

Während dieser Worte wickelte Maja ihr Nutellabrötchen zurück ins Papier und legte es mir salopp aufs Bein – zumindest verstand sie, dass Kalorien auch irgendwie »kacke« waren. »Dann kotz mal schön!«, waren ihre Worte, bevor sie auf dem Schulhof verschwand.

»Das machen wir auch«, keifte ihr meine neue Freundin Mia hinterher, aber das konnte ja nur ich hören.

Während es mich einerseits traurig stimmte, Maja aufgrund ihres offenbar mangelnden Kotz-Talents weitgehend zu verlieren, erfreute mich andererseits die Tatsache, dass ich »es« konnte, andere aber nicht. »Ätsch! Ich kotz was, was ihr nicht kotzt!«, ging es mir durch den Kopf.

»So ist es«, besiegelte Mia.

Dass Maja nun sicher schlecht über mich dachte und die Sache vielleicht auch an Melanie und Beate herantrug, ließ meinen altbekannten Klatsch-Kontrollwahn erneut aufflackern, doch nur so lange, bis Mia meinte, mein Kotzsieg stünde über diesen Dingen: »Für diese vollfrustrierten Fräuleins gibt es nichts Schlimmeres als Kalorien. Und die kontrolliert keiner besser als du.«

Tatsache! Über eine schlanke Jennie Garth gab es nichts zu lästern. Über eine schlankgekotzte Diana konnten sie gar nicht erst herziehen, denn das würde nur von ihrem Neid auf mein gut funktionierendes »Anti-dick-Programm« zeugen.

Aber was, wenn sie es meinen Eltern erzählten?

»Eltern und Lehrer sind doch noch viel uncooler als Körperfett!«, beruhigte mich Mia. »Du kannst dir sicher sein, dass sie es von diesen dreien nicht erfahren.«

Also war alles in Butter (natürlich nur symbolisch – Fett war schließlich schlecht). Und mir ging es gut – so gut es jemandem gehen konnte, der mit einem Tekkno-Typ ging, der mehr Tekkno als Typ war. In den kommenden sechs Monaten unserer Beziehung sollte ich Gunnar nämlich nur zweimal zu Gesicht bekommen: einmal für rund fünf Minuten zwischen »After-Work« und »After-Hour« und einmal beim gemeinsamen Besuch eines Tekkno-Clubs, einer sogenannten »geilen Abfahrt«, bei der er umgehend in den Nebelschwaden verschwand und ich allein heimtrampen musste. Wenn das Liebe war, dann war ich Nero.

Egal. Ich hatte nicht nur die Möglichkeit, böse Kalorien und aufgestauten Frust zu erbrechen, sondern auch Traurigkeit, Wut und alle schlechten Gefühle dieser Welt, wann immer ich wollte. Ich hielt die totale Flexibilität in meinen Händen. Genauer gesagt, in meinen langen, dünnen – und nicht zu vergessen: wunderschönen – Fingern. Und ganz nebenbei konnte ich alles kontrollieren: mein Essen, meine Gefühle und meinen Körper. Ich war Super-Wonder-Control-Woman, kurz: Super-WC-Woman!

In Wahrheit aber begann die Bulimie bereits damit, mein ohnehin anpassungsfähiges Hirn komplett unter ihre Kontrolle zu bringen. Waren es anfangs noch gelegentliche Essanfälle, so stieg im Frühjahr 1995 urplötzlich mein Verlangen nach Essen und anschließendem Übergeben ins schier Unermessliche.

Dabei bervorzugte ich generell das Klo, in dem das Erbrechen seinen Einstand gab, denn daheim isst und kotzt es sich am schönsten. Und während meine Freundinnen von ihren Eltern ermahnt wurden, sich nicht zu viel von den Kalorienbomben zu genehmigen, erwähnte ich stolz, dass ich einen guten Stoffwechsel besäße und zu den seltenen Menschen zähle, die so viel essen könnten, wie sie wollten. Das konnte ich ja auch. Nur verging inzwischen fast kein Tag mehr, an dem ich mir das Essen nicht noch einmal »durch den Kopf gehen« ließ.

Spätestens ab jetzt war ich ebenso »essgestört« wie der Rest meiner Familie. Ach was, Familie – meiner kompletten Verwandtschaft. Schließlich schien die Nahrungsaufnahme nicht nur der Dreh- und Angelpunkt in unserem Haus zu sein, sondern dehnte sich über unsere komplette, deutschlandweit verteilte Sippe aus. Und so war es bestimmt auch kein Zufall, dass mein Vater ausgerechnet aus einer Stadt namens »Essen« stammte.

Wann immer wir den Verwandten in Essen einen Besuch abstatteten, konnte man diesen grob mit den Worten »… und täglich grüßt das Mümmeltier« umschreiben. Nach dem Aufstehen wurden frische Brötchen im DIN-A5-Format serviert, und es wurde dabei gleich gefragt, was wir denn vormittags essen wollten. Ich schaute auf die Uhr: Es war Vormittag. Das zweite Frühstück bestand dann aus selbstgebackenen Hefeteilchen – im Pizzaformat. Eine Stunde darauf gab es ein zweigängiges Mittagessen plus Nachtisch. Während ich noch krampfhaft versuchte, mir zwei Klöße mit dem Durchmesser von Melonen einzuverleiben, wurden in der Küche bereits »Überlebensbrote« für den anschließenden Verdauungsspaziergang geschmiert, die wir in schwer überladenen Tüten hinter uns herschleiften. Nach dem Spaziergang erwartete uns frischer Kuchen. Die Ausrede »Ich kann nicht mehr« gab es nicht. Wir setzten uns brav an den Tisch, und ich beobachtete aus dem Augenwinkel, dass nebenan schon das Abendessen vorbereitet wurde: Sandwiches und Salat – allerdings Kartoffelsalat, der mehr aus Mayonnaise als aus Kartoffeln bestand.

Übergewichtig waren meine Essener Verwandten trotzdem nicht. Vielleicht, weil ihre anhaltend gute Laune den bösen Kalorien keine Chance gab. Vom Wesen her war die fröhliche Familie meines Vaters nämlich das absolute Gegenteil der Familie meiner Mutter. Es waren wohl diese Gegensätze, die dazu führten, dass meine Eltern sich fanden, nachdem mein Vater vom Bahnhof der Großstadt zum Bahnhof der Kleinstadt versetzt wurde.

Ich hatte stets das Gefühl, dass in Großstädten nicht nur alles kolossaler war, sondern auch die Ereignisse schneller über die Bühne liefen. Zumindest bekam meine gleichaltrige Essener Cousine, die einen Kopf größer war als ich und auch viel mehr in viel kürzerer Zeit essen konnte, ihre Tage bereits mit elf. Ich hatte sie mit fünfzehn noch nicht, was nur wieder bestätigte, dass ich mehr Klein- als Großstadt-Gene in mir trug.

Wie auch immer. In unserem Städtchen war ich mit Sicherheit die Einzige, die absichtlich kotzte. Auch wenn meine Freunde nicht müde wurden, ihre Angst vorm Dickwerden zu betonen, war ich die Einzige, die wirklich etwas dagegen unternahm. Die Einzige, die Taten auf Worte folgen ließ. Und weil ich die Einzige war, vereinsamte ich mit der Zeit.

Ich dachte oft daran, wie es wäre, eine Verbündete zu haben. Eine Freundin, die mich verstand, weil sie genauso wie ich ständig über der Kloschüssel hing. Leider gab es die hier nicht. Eine – wenn überhaupt – essgestörte Freundin meiner Schulzeit hieß Osejava. Und selbst sie kotzte nicht.

Osejava hatte nicht nur einen komischen Namen, sie war mir auch sonst auf Anhieb sympathisch. Nicht nur, weil sie gertenschlanke Fischgrätenbeine hatte, sondern auch, weil sie kaum etwas aß. Dafür hatte sie allem Anschein nach keine Zeit. Kaum war ihre Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien in unser kleines Städtchen geflohen, lernte das wundersame Mädchen akzentfreies Deutsch, übersprang drei Klassen und wechselte von der Hauptschule aufs Gymnasium. Dort traf ich sie in meiner Parallelklasse. Ich war von ihr fasziniert. Jeder war das. Bis auf Osejava selbst, die so wenig von sich hielt, dass sie nicht nur ihrem Körper die Nahrung verweigerte, sondern auch noch urplötzlich in die Tekkno-Szene abrutschte.

Diese Szene kannte ich auch. Dank meinem Freund Gunnar, der mich einmal in ein entsprechendes Elektro-Etablissement mitnahm – und so mein Denken über die Menschheit im Mark erschütterte. Das Wort »gestört« – nirgends war es treffender. Menschen mit albernen Zipfelmützen auf dem Kopf und bunten Kontaktlinsen in den Augen zuckten im Takt der hämmernden Bässe wie Fische im Netz. Wobei ein Netz vielleicht noch Luxus gewesen wäre, denn die Orte des Geschehens waren meist nur feuchte Kellerlöcher, ausgebrannte Fabrikhallen oder ehemalige Schlachthöfe. Keine Ahnung, warum Menschen wie Osejava, Gunnar oder neuerdings auch mein Bruder Horst gerne in diesen Etablissements verkehrten. Vielleicht wegen der bunten Ecstasy-Pillen, die dort herumgereicht wurden …?

»Quatsch!«, meinte Horst auf solche Nachfragen. »Seh ich aus wie ein kommerzieller Karstadt-Raver, der Drogen braucht, um in Fahrt zu kommen? Meine Droge ist die Musik!«

Das glaubte ich ihm aufs Wort. Ich hatte noch nie jemanden so beknackt tanzen sehen wie meinen Bruder.

»Und wenn ich ein E brauche, dann kaufe ich mir das beim Glücksrad«, kicherte Osejava.

Blöder Scherz. Horst lachte trotzdem. Ich nicht.

Gunnar hatte nach gerade einmal sechs Monaten mit mir Schluss gemacht, ausgerechnet in den Sommerferien, die ich so gerne mit ihm verbracht hätte. Daran hatte ich schwer zu knabbern. Zumal er mich nicht durch eine Frau ersetzte, sondern augenscheinlich durch LSD.

Um mich von meiner Trauer abzulenken, »opferten« sich mein Bruder und Osejava auf und fuhren mit mir in eine stillgelegte Mine, wo eine »erstklassige Abfahrt« steigen sollte. Ein Blick auf den Flyer, und mir war klar, dass »erstklassige Abfahrt« nur wieder ein anderes Wort für »erbärmlicher Abend« war, fuhr aber trotzdem mit, weil Osejava so lieb fragte und Trauern um LSD-Gunnar nichts brachte. Bereits auf der Hinfahrt freute ich mich auf die mehrstündige Dusche, mit der ich meinen Besuch im Tekkno-Land abschließen würde. Wahrscheinlich mangelte es mir an Rhythmus im Blut, um der Tekkno-Szene mehr Bedeutung zuzumessen.

»Bedeutet dein Name irgendwas?«, fragte ausgerechnet Osejava mich zu Fahrtbeginn.

»Jepp – Göttin der Jagd«, antwortete ich, nachdem ich meine Plateau-Turnschuhe noch etwas enger geschnürt hatte. Würde ich mit diesen Teilen stolpern, wäre Gips vorprogrammiert.

»Jagd nach was?«, fragte Osejava.

»Keine Ahnung – passt eh nicht, ich bin nämlich Vegetarier.«

»Himmel! Isst du nicht mal Fleisch?«

Was dachte sie denn? Dass ich auf Fruchtfleisch verzichtete?

»Ich esse nichts, das geschlachtet wurde!«, erklärte ich kurz und knapp.

Osejava sah mich an, als habe ich sie nicht mehr alle. Also wechselte ich das Thema: »Und selbst? Bedeutet dein Name etwas?«

»Ja. Ich bin nach einem großartigen kroatischen Strand benannt.«

Ich blickte auf meinen großen Bruder, der im Takt der dumpfen Bässe aufs Lenkrad trommelte. Horst war nach einem Vogelnest benannt, ich nach einer unglücklichen und ebenfalls kotzenden Prinzessin und Billy nach einem Kondom. Ein kroatischer Strand klang demgegenüber geradezu erhaben.

»Vielleicht sollten wir unsere Namen tauschen«, überlegte ich.

»Wieso? Isst du jetzt doch Fisch?«, spottete Osejava. Wieder mal so ein blöder Scherz. Mein Bruder lachte trotzdem. Die beiden hatten auf jeden Fall einen anderen Humor als ich. Osejava kam ja auch aus einem anderen Land. So wie mein Bruder für mich aus einer anderen Welt zu kommen schien.

Kaum waren wir im Widerspruch der zwar stillgelegten, aber dröhnend lauten Mine angekommen, ließen Horst und Osejava mich allein. Mein Bruder, weil er meinte, ich sei eine peinliche kleine Schwester, Osejava, weil sie sich lieber an meinen coolen großen Bruder hielt.

Ich stand blöd und verlassen herum, schielte auf meine grellgrünen Buffalos, die sogar im Dunkeln leuchteten, und wünschte mich an einen anderen Ort. Nicht unbedingt nach Hause, nur an einen anderen Ort – vielleicht auch in ein anderes Land. Meine Gedanken waren da recht flexibel. Und das mussten sie auch sein, weil mir nämlich noch einige Stunden in der Mine bevorstanden, bis ich endlich wieder auf die beiden traf und mit ihnen nach Hause fuhr.

So gesehen hatte der Besuch im Tekkno-Land auch Vorteile. Denn auf diese Weise verbrachte ich nicht nur einen bruder- und freundinfreien, sondern vor allem auch einen kotzfreien Abend.