Krall - L. P. Ludwig - E-Book

Krall E-Book

L. P. Ludwig

0,0

Beschreibung

Seit unvordenklichen Zeiten befahren Güterzüge von kolossaler Größe die Ödnis des Kontinents. Als eines Tages die junge Hanna und ihre große Schwester, die Hochstaplerin Flic, zur Zwangsarbeit auf dem Zug Karlamagnus landen, hoffen sie lediglich, ihr aus dem Ruder gelaufenes Leben reparieren zu können. Doch bald schon werden sie eng in eine Geschichte verwickelt, die ihren Anfang vor vielen Jahren genommen hat. Eine Geschichte, die von der Entführung des Jungen Habakuk auf den entsetzlichen Geisterzug Krall berichtet, und von den vier unlösbaren Prüfungen, die ihm dort auferlegt wurden. Habakuk, mittlerweile der greise Kapitän des Karlamagnus, hat seither nur noch ein Ziel: Den Krall wiederzufinden. Und bald schon müssen die beiden Schwestern erfahren, welchen Preis er dafür bereit ist zu zahlen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 599

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

Kapitel XXXII

Kapitel XXXIIII

Kapitel XXXIV

Kapitel XXXV

Kapitel XXXVI

Kapitel XXXVII

Kapitel XXXVIII

Kapitel XXXIX

So neigte sich zu ihm herab die Geliebte, die Tochter des Priesters, Flüstert ins Ohr mit den blutroten Lippen den grau’nvollen Namen, »Scylla«, da sprang aus dem Dunkelder Hund und zerriss ihm die Kehle.

Quintus Flavius Luscus, Allegorien, II, 132-135

I

Der Zug raste durch die Ödnis wie ein wütender Gott, und ich in ihm. Es gab Zeiten, da war er nur ein fernes Echo einer längst vergessenen Erinnerung, doch nun ist alles anders. Er wird größer, mächtiger, drängt sich unbarmherzig wieder in den Vordergrund. Eben noch war mein Leben eine bloße Abfolge zufälliger Ereignisse, doch jetzt erscheint mir ihr Sinn und Zweck ganz klar, und ich sehe den Zug, den vermaledeiten schwarzen Zug, ganz deutlich vor meinen Augen. Jedes Detail, jeder Gedanke, den ich dort fasste, all die sonderbaren Erlebnisse sind mir plötzlich wieder vertraut.

Ein seltsames Ding ist das Gedächtnis. Jemand sagte einmal zu mir, alle Fakten über die Welt seien nichts als falsche Erinnerungen, die Ordnung der Dinge, die wir für göttlich hielten, ein Hirngespinst, alle Menschen, denen wir begegneten, nur Phantome. Bedeutet das im Umkehrschluss, so fragte ich mich seither stets, dass die Phantome in unseren Köpfen, Dämonen und dunkle Götter, in der Welt leibhaftig umherschreiten können, gerade wie es ihnen beliebt? Ein Tröpfchen Bosheit findet immer seinen Weg in die sogenannte stoffliche Welt, zusammengehalten von Ängsten und Begierden. Und mit meiner Angst wuchs mit der Zeit auch der schwarze Zug aus meiner Erinnerung, wurde greifbarer, schrecklicher, aber auch verlockender.

Ich schreibe diese Zeilen an meinem ersten Tage als Kapitän des Karlamagnus, des mächtigsten Zuges, den die Welt je gesehen hat, und an sagenhaften Geschichten, die ihn umgeben, dem anderen, dem Schwarzen, nahezu ebenbürtig.

Und plötzlich, ich kann nicht sagen wie, taucht aus dem Dunst der Erinnerung alles wundersam auf, dieselbe Luft, dieselbe brache Ödnis, die wir durchschneiden, und dasselbe rhythmische Stampfen und Rollen aus den Schmieden der Hölle selbst, alles gerade so wie damals. Wie hatte ich jemals Zweifel hegen können, diese Dinge wirklich erlebt zu haben? Wie hatte ich meinen besorgten Eltern, den Freunden, den Ärzten Glauben schenken können, die sie für eine krankhafte, aber letztendlich unbeständige Ausgeburt jugendlicher Fantasie hielten?

Nein, ich bin mir meiner nun sicher, und ich weiß, was meine Aufgabe ist: ein Leben auf den Gleisen zu führen, die die unfasslichen Weiten des grauen Kontinents überspannen, und dort notfalls mein Leben zu lassen. Ich werde nicht eher ruhen, bis ich ihn wiedergefunden habe, den schrecklichen dunklen Gott aus Träumen und Ängsten, Feuer und Stahl: den Schwarzen Krall.

Wieder und wieder erzählte ich meine Geschichte, und einer nach dem andern wandte sich nach und nach von mir ab: meine Eltern, die Ärzte und die wenigen Freunde, die ich hatte.

Am Anfang glich meine Schilderung einem verblassten Traum, war vage und vieldeutig. Doch mit jedem weiteren Mal wurden meine Beschreibungen deutlicher und lebhafter, als wenn ein Nebel sich auf einem verschlungenen Garten lichtete und die Blumen und Gräser, die Bäume, aber auch das vermodernde Laub und die Grabwürmer nach und nach zum Vorschein träten. Die Ärzte waren ratlos und ersannen immer neue, zunehmend bizarrere Therapien, um mir den sich immer mehr verdichtenden Alptraum auszutreiben. Und gerade als es schien, es gäbe keinen Ausweg aus meinem Trauma, verschwand es plötzlich.

Niemand wusste, weshalb und warum zu gerade diesem Zeitpunkt, aber der Krall versank im Nebel vergessener Träume und verblasster Erinnerungen. Zumindest eine Weile.

Ich heiratete früh nach dem Wunsch meines Vaters, doch war die Ehe freudlos und nicht mit Kindern gesegnet. Einige Jahre später starb meine Frau an der Cholera, die damals verheerend grassierte und weder Reich noch Arm verschonte. Zu dieser Zeit hatte ich das schwarze Phantom schon lange vergessen, und hätte es jemand mir gegenüber erwähnt (was nicht geschah, denn jeder, der mich kannte, fürchtete einen Rückfall), so hätte ich nur gelacht und diesen Jemand einen rechten Schelm geheißen. Gegen den Wunsch meines Vaters strebte ich nicht danach, sein Teilhaber in dem bedrückenden Handelskontor an der See zu werden, wo das schleimige Wasser Tag für Tag an den zerfallenden Backsteinen leckt. Noch weniger verspürte ich den Drang, diesen salzigen Tümpel auf den grässlichen stählernen Molochen zu befahren, bei deren bloßem Anblick die Übelkeit schon unerträglich wird.

Nein, mein Herz zog mich dem Landesinnern zu, einer inneren Stimme folgend wollte ich die trockene der feuchten Einöde vorziehen, auf Schienen die Welt bereisen und Waren aller Art durch die entlegensten Regionen befördern. Ein aufrechter Mann, so war meine Meinung, müsste sich ekeln und grausen vor der unflätigen See und die groben Seemannslieder verabscheuen, die sie aus rauen Stimmen preisen, hätte er auch nur ein einziges Mal die Wunder der Eisenbahn geschaut!

Und ich rede dabei nicht von den erbärmlichen Karikaturen, die auf Gleisen von vier Fuß Spurweite dahinkriechen, wie sie die moderne Zeit offenbar für nötig befunden hatte einzuführen. Mitnichten! Die wahre Eisenbahn, das sind die Großzüge unsrer Vorväter, deren vierrädrige Achsen das ehrwürdige Maß von sechsundsechzig Fuß überspannen. Ehrliche Männer und gewissenhafte Frauen sind es, die darauf ihren Dienst tun, und mein Herz erglüht, wenn ich eine der prächtigen Lokomotiven schon von fern lustig pfeifen höre und kurz darauf die geballte Schaffenskraft der Menschheit heranrollt, meilenweit bepackt mit Gütern aller Art, und die bunten Wimpel am Bahnhof sie freudig begrüßen.

Und der König all dieser prächtigen Maschinen, ihr wahrer Meister, alt wie Methusalem und rot wie die aufgehende Sonne, ist ohne Zweifel der Karlamagnus! Auf ihm wollte ich dienen, nirgendwo sonst.

Auch mein Vater musste das widerwillig einsehen, und alsbald packte ich meine Sachen, um unser Unternehmen als Handelsagent an Bord des roten Kolosses zu vertreten.

Hier geschah es nun. Es war wohl kurz nach meiner Beförderung zum Kapitän, nachdem ich bereits zehn Jahre auf dem Karlamagnus gedient hatte, als die Erinnerung plötzlich – ich wusste nicht wie und warum – mit einem Schlage zurückkehrte. Der schwarze Zug! Der Krall! All meine Erinnerungen stürmten wieder auf mich ein, alle auf einmal. Und nicht nur das: Sie waren viel mächtiger, farbenfroher und lebendiger als jemals zuvor! Selbst zu der Zeit, als ich meine Erlebnisse noch nicht verdrängt hatte, waren mir die Erinnerungen stets bruchstückhaft erschienen, wie ein Puzzle, das nicht vervollständigt werden konnte. Doch nun war alles anders, alles fügte sich innerhalb einer einzelnen Sekunde zusammen, und das ganze furchtbare Abenteuer stand mir wieder überdeutlich vor Augen, so als hätte ich es gerade eben erlebt.

Habakuk … Ja, das ist mein Name, nicht wahr? Jetzt weiß ich alles wieder. Mein wahrer Name, er lautet Habakuk, wie konnte ich das nur vergessen? Kalt nehme ich den Füllfederhalter in meine zittrige Hand und schreibe diese Zeilen in mein Tagebuch. Ich weiß nicht für wen, denn niemals würde ich es dulden, dass meine Geschichte öffentlich würde. Ich schreibe und schreibe wie von Sinnen und werde nicht ruhen, bis alles auf Papier gebannt ist. Das Sonnenlicht, rot wie alles im Karlamagnus, malt ein paar letzte Streifen an die Wände meiner Kajüte. Bald wird es stockdunkel sein. Ich muss mich beeilen. Ich weiß nicht, wie lange die Erinnerung diesmal anhalten wird. Geschwind, geschwind, bevor die Geister entschwinden!

Ich war zwölf, und eines Tages erwachte ich an Bord eines gewaltigen Zuges.

Dass ich mich auf einem Zug befand, auf einem Großzug noch dazu, wurde mir erst nach und nach klar. Denn was ich zuerst wahrnahm, glich ganz und gar nicht dem Inneren eines Waggons oder einer Lokomotive.

Ich lag auf einem kalten Parkettboden. Mit den Fingern spürte ich zahlreiche Rillen und Risse in dem alten, schmierigen Holz. Weit entfernt grollte es, wie von einem unruhig schlummerndem Ungetüm tief unter der Erde, und je intensiver ich darauf achtgab, desto mehr Schichten und Ebenen offenbarte das Grollen. Ich konnte jetzt auch ein Zischen und Klopfen unterscheiden, ein Rumpeln in einem Dutzend verschiedener Frequenzen und – kaum wahrnehmbar – ein dünnes Singen, monoton und wunderschön wie der Klang einer gläsernen Geige.

Dann der Geruch, ah! Der Geruch nach Harz, altem Wachs, zähem, schwerem Öl und dickflüssigen Substanzen. Der Geruch des Todes. Des Todes tausender verrottender Bäume, in Jahrmillionen des langsamen Erstickungstodes in feuchte, dumpfe Erdgräber eingepfercht, um schließlich die Essenz preiszugeben, den kostbaren schwarzen Saft, der die titanischen Maschinen der Menschen beseelt.

All dies nahm ich in mich auf und kerkerte diese Eindrücke in meinem Körper ein, um sie niemals zu verlieren. Dann öffnete ich die Augen.

Zuerst sah ich gar nichts. Nur verschwommene Schemen, grau und schwankend wie durch eine beschlagene Brille. Langsam, ganz langsam wurde alles klarer, doch je deutlicher ich die Umgebung wahrnahm, desto schwächer wurde das Grollen, desto mehr entschwand der beißende Geruch.

Ich lag am Boden eines Saales oder der Zimmerflucht eines Palastes, wie ich noch nie einen gesehen hatte. Von einer Wand zur andern erstreckte sie sich in der Breite etwa dreißig Fuß, die Länge jedoch war unerforschlich, denn zahlreiche weiße Schleier, Kommoden, Schränke und Paravents verdeckten die Sicht nach beiden Seiten. Ich erkannte lediglich, dass die Länge erheblich sein musste. Es war kühl und zugig, als ob von irgendwoher der kalte Wind durch ein Loch in der Wand bliese, ohne dass auszumachen war, woher die Brise stammte. Außerhalb der kleinen Fenster mit den zugezogenen Gardinen war es finster, Gaslampen beleuchteten den seltsamen Raum mit warmem, dezentem Licht. Erst als ich eine der Gardinen beiseite zog und zu meinem Erschrecken Telegrafenmasten erblickte, die in rasender Geschwindigkeit vorbeischnellten, wurde mir bewusst, dass ich mich an Bord eines Zuges befand. Panik überkam mich. Wie war ich hierher gekommen? Warum konnte ich mich nicht erinnern, was zuvor passiert war? Was war das für ein seltsames Gefährt?

Es war dies selbstverständlich nicht meine erste Zugreise, doch keiner der Waggons, die ich je gesehen hatte, glich diesem Raume, der durch die Dunkelheit glitt, lautlos und geschmeidig wie eine Eule, denn kein Geräusch war zu vernehmen außer dem Echo des tiefen Grollens, das noch durch meine Ohren tönte. Und kein Ruckeln und Schaukeln war wahrnehmbar, als stände der Zug still und unbeweglich.

Ich lief den Waggon entlang auf der Suche nach einer Tür oder einem Ausgang, doch nichts war zu finden. Alle Fenster waren fest verschlossen, und so weit ich auch lief, eine Tür fand ich nirgends. Nur immer neue Möbelstücke, nur noch ein weiterer Vorhang, ein weiterer Raumteiler führten den Gang entlang, immer weiter und weiter. Ich hastete vorbei an cremeweißen, weich gedeckten Betten, quer in den Raum ragenden getünchten Holzbalken, alten Sesseln und Ottomanen, tropischen Zimmerpflanzen und vollgestopften Bücherregalen.

So lief ich und rief dabei lautstark um Hilfe, ohne Antwort zu erhalten. Ich hämmerte gegen die Außenwände, gegen verschlossene Schränke, ich tastete den Parkettboden nach einem verborgenen Durchlass ab, doch alle Bemühungen waren fruchtlos. Schließlich sank ich erschöpft auf einen Berg taubengrauer Kissen, die von einer Nachttischlampe gedämpft beleuchtet wurden. Kurz bevor ich wieder in die Finsternis hinüberdämmerte, vernahm ich noch einmal das dumpfe Grollen und Pochen aus der Tiefe, wie den Atem eines gewaltigen, stählernen Drachen, der mich in den Schlummer wiegte.

Als ich erwachte, war es hell geworden. Die Schatten der Telegrafenmasten tanzten über die Wände, die Gardinen leuchteten in der kühlen Vormittagssonne.

Ich blickte aus dem Fenster, vielleicht in der Hoffnung, einen Bahnhof oder zumindest eine Ansiedlung zu erspähen, doch da war weit und breit nichts als die kalte graue Steppe des Kontinents. Nur vereinzelt huschten tote Bäume oder Sträucher verstohlen vorbei, als scheuten sie den Anblick des merkwürdigen Zuges. Ein unerwartetes Geräusch ließ mich herumwirbeln. Es war ein Krächzen.

Dort, hinter einem der Kissen, sah ich zu meinem Erstaunen einen prächtigen feuerroten Hahn umherstolzieren. Er blähte die Brust und krähte, und sein Krähen war anders als das aller anderen Hähne, die ich je gehört hatte. Es war tief, schien aus einer größeren, feuchteren Kehle als der des Vogels zu kommen, und sein Tremolo jagte mir einen Schauer über den Rücken. Der Blick des Hahns jedoch war genauso dumpf und bar jedes Verstandes wie der jedes anderen Tieres auch.

Das unheimliche Krähen ertönte zum zweiten Male, aber diesmal kam es in der Tat nicht von dem Vogel, der vor mir saß, sondern von irgendwoher zu meiner Rechten. Ich wandte mich um und siehe da! Ein weiterer Hahn, ebenso prächtig und leuchtend rot, stolzierte heran und gesellte sich zu dem ersten. Beide blickten mich aus leeren Augen an. Ich war erstarrt und wusste nicht, was ich tun sollte, als von meiner linken Seite her ein dritter Hahn erschien. Bald kamen noch mehr Tiere herbei, bis es am Ende sieben Hähne waren, die mich umringten und mich anstarrten und gelegentlich ihr markerschütterndes Krähen hören ließen. Alle waren sie identisch bis ins kleinste Detail. Weder saß eine Feder bei einem der sieben an einem andern Platze, noch unterschied sich einer durch einen herausstechenden Fleck oder Makel. Und seltsam: In ihrem Blick – je länger ich ihn erduldete – war etwas, das mich vermuten ließ, sie lenkte ein Geist und ein Wille.

Gerade hatte ich mich aus meiner Starre gelöst und machte Anstalten, rückwärts vor den grausigen Vögeln zu fliehen, da hörte ich es. Ich hörte zum ersten Mal den Laut, den ich nimmermehr vergessen kann. Selbst in meiner Phase der Verdrängung war er mir stets im Ohr geblieben und hatte mich des Nachts gepeinigt, ohne dass ich gewusst hätte, woher er kam.

RRRRUMMMM-TOCK RRRRUMMMM-TOCK

Schritte! Ein dumpfes hölzernes Stampfen hinter mir, gefolgt von einem harten, kurzen, metallischen Aufschlag. Einem Instinkt folgend versuchte ich, mich zu verstecken, vergrub mich, so gut ich konnte, in dem Berg aus Kissen, denn vielleicht hatte mich der Verursacher des Geräusches noch nicht bemerkt. Warum tat ich das? Der Fremde hätte auch ein Offizier, ein freundliches Mitglied des Zugpersonals sein können, der mir einen Ausweg aus meiner Gefangenschaft zeigen wollte. Bestimmt war dies alles nur ein schreckliches Missverständnis. Vielleicht war ich an Bord eines Zuges geklettert und dort schwer gestürzt, was meine Amnesie erklärt hätte. Sicherlich würde ein zufällig vorbeikommender Offizier alles daransetzen, mich wieder wohlbehalten nach Hause zu bringen.

RRRRUMMMM-TOCK RRRRUMMMM-TOCK

Doch etwas in mir wusste, dass es nicht so sein würde.

RRRRRRUMMMM-TOCK RRRRRRRUMMMM … TOCK

Die Schritte wurden langsamer und verstummten.

»Sieh mich an, Junge«, befahl eine Stimme, so tief wie ein schwarzer Brunnen oder ein fernes Donnergrollen über der Steppe. So unnachgiebig wie ein Fels oder das Tosen eines Wasserfalles und doch ganz unverkennbar – weiblich.

Langsam kroch ich heraus aus meinem Versteck, warf die Kissen kraftlos beiseite und wandte mich vorsichtig um. Die blütenweißen Schleier wogten noch in der merkwürdigen Brise aus dem Nirgendwo und enthüllten eine hochgewachsene Gestalt. Es war eine Frau mit rostroten Haaren. Sie war in einen langen dunkelgrauen Kapitänsmantel mit kupfernen polierten Knöpfen gehüllt und trug einen scharlachroten Schal. Das Geräusch ihrer Schritte bestand aus dem dumpfen Stampfen ihrer schwarzen Stiefel und dem Aufschlag ihres Gehstockes aus Ebenholz, den die goldene Nachbildung eines Hahnenfußes als Knauf zierte. Eine schwarze Augenklappe bedeckte ihr linkes Auge, doch das Merkwürdigste war ihr Gesicht selbst. Weder hätte ich sagen können, wie alt sie war, noch aus welchem Teile des Erdballs sie stammte, nicht einmal eine gröbste Schätzung hätte ich mir zugestehen können. Das unverdeckte rechte Auge – grüngold changierend wie Chrysopras – blickte mich mit einem schwer zu deutenden Ausdruck an, in dem sich Verachtung, aber auch Mitleid und – ja, vielleicht sogar Neugier mischten. Es war merkwürdig geformt und sanft geschwungen, die Augenbrauen aber von ausgeprägter Buschigkeit wie die eines Greises. Ihre Lippen glänzten rot wie Blut, ohne dabei künstlicher Farbe zu bedürfen, doch die Zähne dahinter waren gelb und verfault, wie ich sogleich erkannte, als sie weitersprach.

»Du fragst dich wohl, wo du bist, mein Junge?«

Angewidert wandte ich den Blick von ihrem grausigen Mund ab, der beim Sprechen widerliche Speichelfäden zog. Ohne meine Antwort abzuwarten, bückte sich die Frau plötzlich und nahm einen der Hähne, die mich immer noch umringten, in die Arme. Sanft und zärtlich ließ sie die schlanken Finger durch das rote Gefieder gleiten. Lächelnd flüsterte sie ihm etwas zu, das ich nicht verstand. Sie bückte sich wieder, und ein weiterer Hahn flatterte ihr entgegen, landete auf dem ausgestreckten linken Arm und machte sich auf ihrer Schulter breit. Ernst blickte sie mich an.

»Sprich, Junge!«, rief sie zornig, als ich nicht antwortete, »ich habe dich nicht zu mir geholt, um von dir angeschwiegen zu werden wie von einem trotzigen Balg! Du bist doch ein folgsames Kind, nicht wahr?«

Ich nickte schnell. »Das bin ich … Ma’am. Ja, das bin ich. Wo bin ich hier? Wie kam ich hierher? Wer sind Sie?« Und aufgebrachter als ich mir wohl erlauben durfte fügte ich hinzu: »Was meinen Sie damit, Sie hätten mich hierher geholt? Warum haben Sie das getan?«

Sie lächelte schmal. »All die traurigen Menschenkinder, die zu mir kommen – alle denken immer nur an sich selbst. Wie ich hierher gekommen bin, will niemand je erfahren. Und nicht ein einziges Mal kommt es ihnen in den Sinn, zu fragen, wer sie selbst sind.« Eine Weile streichelte sie die beiden Hähne, während weitere herbeikamen und sich zu ihren Füßen versammelten wie ein Hofstaat. »Es liegt nicht an dir zu entscheiden, auf welche Fragen du eine Antwort bekommst, Habakuk«, sagte sie, ohne von den Hähnen aufzusehen.

»Mein Name ist nicht Habakuk«, murmelte ich, leiser als beabsichtigt.

»Wie kannst du das behaupten, Habakuk?«, fragte sie sanft. »Deine Mutter gab dir einen Namen, und jetzt gebe ich dir einen. Aus welchem Grunde sollte der eine richtiger sein als der andere?« Sie fixierte mich wieder mit ihrem einzelnen Auge. »Du siehst, Namen sind nicht von Bedeutung. Den Namen, den mir meine Mutter gab – wenn sie es überhaupt je getan hat – habe ich schon vor sehr langer Zeit vergessen. Doch immer wieder höre ich Leute über mich flüstern. Die Schwachen nämlich wollen stets alle Dinge benennen, auch die, die keine Namen haben. Weißt du, wie sie mich nennen?«

Ich schüttelte den Kopf.

Sie lächelte und schnaubte verächtlich. Dann breitete sie die Arme aus, und die Hähne flatterten mächtig mit den Schwingen wie ein Heer gefallener Engel. »Sie nennen mich Old Sawyer! Und diesen Zug – den Krall!«

II

Niemand hätte die beiden Mädchen für Schwestern oder auch nur verwandt gehalten, die im Morgengrauen den langen Bahnsteig entlang spazierten und dabei versuchten, sich so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen.

Ringsumher war nur die graue Ödnis, es war Ende April, und in diesem gottverlassenen Teil der Welt war es noch immer bitterkalt. Schon wieder begann es zu schneien, und die Flocken drückten sich zaghaft, aber unerbittlich aus der alles verschluckenden Wolkendecke.

Hanna zog den Schal enger um den Hals und zitterte. Sie warf ihrer großen Schwester einen missmutigen, düsteren Blick zu, doch diese schien keine Notiz davon zu nehmen. »Ich hoffe, das war es dir wert, Flic!«, murmelte sie.

Flic, die eigentlich Felicia hieß, starrte in den Himmel und betrachtete fasziniert die sanft herabsegelnden Flocken, als sähe sie Schnee zum ersten Mal. Sie hatte im Gegensatz zu ihrer Schwester keine dicke Wollmütze auf, und die Flocken ließen sich sachte auf ihren strähnigen schulterlangen Haaren nieder. Sie spitzte die rissigen Lippen und ließ einige Flocken auf den Fingerkuppen schmelzen.

»Wert?«, fragte sie geistesabwesend. »Tu jetzt nicht so. Hab’ dich nicht gezwungen, zu gar nichts.« Sie schloss die Augen und streckte die Zunge heraus. »Wirst sehen, Schwesterchen, das wird eine Geschichte, ich sag dir, phänomenal! Haha!« Sie lispelte stark, denn ihre Zunge war immer noch ausgestreckt.

Hanna wandte den Blick ab. Manchmal wusste sie selbst nicht recht, wie viel von Flics grenzenloser Zuversicht nur gespielt war. Stets wirkte sie ein bisschen zu fröhlich, zu übermütig, auf jeden Fall zu kindisch für ihre vierundzwanzig Jahre. Spielen nämlich, Schauspielern, das hatte Flic schon immer gut gekonnt. Ein Talent, das Hanna nie beherrscht oder auch nur verstanden hatte. Sie zog die dunklen Augenbrauen zusammen.

»Vergiss einfach nicht, warum wir das tun, klar?«, sagte sie, und dachte: Vielleicht haben wir es tatsächlich nur deinem verdammten Glück zu verdanken, dass alles nicht noch schlimmer gekommen ist.

Drei Stunden war es her, seit man sie mit einem zugigen Kleinbus hier abgeladen hatte. Hanna war zuerst verwundert gewesen, dass niemand zu ihrer Bewachung abgestellt worden war, doch bald war ihr klar geworden, dass eine Flucht ausgeschlossen war. Wohin hätten sie gehen sollen? Weit und breit schien niemand zu wohnen.

Sie blies eine Dampfwolke warmen Atems in die kalte Morgenluft und starrte in die Ferne. Es war hier ein wahrer Nimmer-Ort. So hatten sie und ihre Schwester als Kinder Orte genannt, die zwar existierten, aber nie von jemandem besucht werden wollten. Wie Verkehrsinseln. Verlassene Abstellkammern. Oder lange Gänge, in denen man nie lange verweilen wollte. Genauso sah es hier aus. Nur nebelverhangene Eisenbahn-Infrastruktur. Laderampen von mehreren Kilometern Länge, ein undurchdringlicher Wald von Signalen und Schildern, Baracken aus Blech und Teerpappe, Container, groß wie Häuser, zu tristen Monumenten aufgestapelt.

In der Ferne, durch den Morgennebel sichtbar nur wegen schwach leuchtender Lampen, türmten sich Hangars und Lagerhäuser zu grauen Gebirgen. Eine Trabantenstadt, unermesslich viel größer als das Stadtzentrum selbst, das irgendwo dort draußen sein musste, zwei Tagesreisen zu Fuß hinter dem Nebel. Durchzogen von Gleisen und Straßen, Millionen und Abermillionen Tonnen Stahl, in Stränge gepresst und in die Adern des Kontinents injiziert wie Quecksilber in einen Blutkreislauf.

Hanna blickte nach Westen, wo die Bebauung zur Ferne hin weniger wurde und sich die Gleise unendlich weit verflochten und ausbreiteten. Kaum ein Fleck Land war nicht bedeckt von schwarzem Basaltschotter und dunklen Schwellen. Dazwischen und daneben wuchs allerorts trockenes Steppengras.

»Kommst du?« Flics Stimme drang gedämpft aus dem Nebel.

Hanna fluchte und stapfte ihr hinterher, während sich die morgendliche Brühe langsam zu lichten begann. Aus der Ferne tönte Motorengeräusch, zuerst nicht mehr als ein Hintergrundrauschen, dann ganz deutlich. Hanna holte ihre Schwester ein, die stehengeblieben war und die Straße nach Süden entlang starrte.

»Sind sie das?«, fragte Flic staunend.

»Wer denn sonst?« Dass jemand zufällig hier vorbeikam, hielt Hanna für ausgeschlossen.

Gemeinsam blickten sie die Straße hinunter. Der Nebel zog sich immer weiter zurück und gab den Blick auf einen Kleinlaster frei, der sich auf sie zubewegte.

Wenig später hatte er sie erreicht und hielt mit quietschenden Bremsen auf dem Vorplatz vor dem Bahnsteig. Der Motor ratterte immer noch grässlich und blies dreckigen Qualm durch den vibrierenden Auspuff. Es war ein uralter Wagen mitaltmodischen Scheinwerfern und verdreckten Fenstern. Das auf den Laderaum gepinselte, fast verblasste Emblem ließ noch die Worte TR NSCO INENT LE ISENBA CO PANIE KG erkennen. Die Türen sprangen mit einem Knarren auf und eine Frau und zwei Männer stiegen aus.

Einer der beiden war recht korpulent und trug eine gefütterte Schirmmütze, das feiste Gesicht steckte im schwarzen Lammfellfutter eines schäbigen Mantels, dessen Kragen er nun enger um den Hals schlang. Keuchend humpelte er auf die Schwestern zu. Die anderen beiden hielten sich im Hintergrund. Beide waren mit der schlichten schwarzen Uniform der Eisenbahner bekleidet, schwarze Hosen, schwarzer zweireihiger Blazer, schwarzer bodenlanger Mantel aus Wolle. Der Mann – breit gebaut wie ein Schrank – trug das scharlachrote Halstuch grob um den dicken Nacken geschlungen, die Frau trug es ordentlich mit einem eleganten Knoten. Ein schwarzes Schiffchen saß auf ihren kurzen gebleichten Haaren, und auf der flachen Nase kurioserweise eine Sonnenbrille mit runden Gläsern. Ihre Haut war fast ebenso dunkel wie die Uniform, ihre Silhouette ein schwarzes Loch im Zwielicht.

Beide rührten sich nicht vom Fleck, als wären sie angewachsen. Stumm beobachteten sie den Mann mit der Schirmmütze, der ein vielfach gefaltetes und reichlich durchnässtes Dokument aus der Manteltasche zog. Er förderte ein Stofftaschentuch aus derselben Tasche zutage und schnäuzte sich vernehmlich. Dann drückte er Flic das Papier in die Hand.

»Langwasser, Felicia?«, fragte er unwirsch.

Flic nickte fröhlich.

»Da unterschreiben. Und auf der Rückseite.« Der Mann reichte ihr einen schmierigen Kugelschreiber und Flic folgte seinen Anweisungen.

Sie hat es nicht einmal gelesen, möchte ich wetten, dachte Hanna.

»Der Vertrag läuft so lange, bis die Schulden beglichen sind, die Regelzeit beträgt drei Jahre«, erklärte der untersetzte Mann. »Landurlaub bekommen Sie, sofern beantragt und mit den Vorgesetzten abgesprochen, der Kapitän ist aber nicht verpflichtet, ihn zu gewähren, verstanden?«

Flic nickte feierlich.

Der Mann beäugte sie noch einen Moment misstrauisch und entriss ihr dann das Dokument, um es Hanna in die Hand zu drücken. »Langwasser, Hanna?«, fragte er.

Hanna nickte.

Der Mann zögerte, bevor er ihr den Kugelschreiber reichte, und grinste.

»Hast dich in einen schönen Schlamassel reinreiten lassen, was, Mädchen? Noch nicht mal volljährig, wenn man dem Zettel glauben kann.«

Hanna starrte ihn feindselig an.

Er zuckte lustlos die Achseln. »Na ja, mir kann’s egal sein. Für dich gilt dasselbe wie für deine Schwester.«

Hanna nahm das Dokument entgegen und las alle Abschnitte sorgfältig. Nicht, dass sie tatsächlich die Möglichkeit hatte, zu widersprechen. Der Dicke sollte nur nicht den Eindruck bekommen, Hanna würde sich einfach in ihr Schicksal ergeben.

»Na, mach schon. Hab’ nicht den ganzen Tag Zeit.«

Hanna ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, beendete die Lektüre und setzte entschlossen ihre Unterschrift neben die von Flic.

Mit einem Grunzen nahm der Beamte den Vertrag wieder an sich und stopfte ihn umständlich in seine Tasche. Dann wies er auf die beiden in Uniform, die immer noch starr wie Statuen hinter dem Wagen warteten.

»Das sind eure neuen Vorgesetzten, Herr Albricht und Frau … Frau …« Er stockte und kratzte sich am Nacken. »Na ja, also eure Vorgesetzten. Sie bringen euch an Bord.«

Für einen Moment schien es, als wollte er noch etwas sagen, dann aber machte er eine wegwerfende Geste und humpelte mit ungelenken Bewegungen zurück zum Wagen. Kurz darauf tuckerte die alte Kiste von dannen, nichts zurücklassend als den unangenehmen Geruch von altem Diesel.

Sie waren nun allein mit dem seltsamen Paar in Uniform.

Die Frau trat auf die Schwestern zu und reichte ihnen förmlich die Hand. »Willkommen. Mein Name ist Johebed. Ihr sprecht mich mit Madam oder Quartiermeisterin Johebed an.«

Ihre Stimme war wohlklingend, aber Hanna hatte den Eindruck, als ob darin etwas fehlte. Ihr zuzuhören fühlte sich an wie essen ohne satt zu werden.

»Als Frauen werdet ihr mir unterstellt. Kommandant Albricht«, sie wies auf ihren Kollegen, der sie aus finsteren Augen rätselhaft anblickte, »ist oberster Vorgesetzter der Männer in den Maschinen- und Lagerräumen. Ihr werdet sehen, dass an Bord manches anders ist, als ihr es vielleicht gewohnt seid. Doch seid versichert: Alles an Bord des Karlamagnus folgt einer inneren Harmonie. Kapitän Habakuk schätzt die Ordnung, und wer ihr folgt, dem soll es gut vergolten werden.«

»Das halbe Leben ist die Ordnung, nicht wahr, Schwester?«, sagte Flic eifrig und nickte ernst. Sie blickte ihre Schwester aufmunternd an, doch Hanna erwiderte nichts.

Johebed wandte sich ab und blickte nach Westen, wo die Unendlichkeit des Kontinents gähnte und sich die Gleise bis zum Horizont verzweigten und verästelten. Für einen Moment war es totenstill, kein Vogel war zu hören, kein Laub raschelte, kein Wind wehte.

Hannas Ohren fühlten sich dumpf und träge an, und gerade wollte sie etwas sagen, als sie es plötzlich hörte. Zuerst schien es nur der Wind zu sein, doch dann wurde es immer lauter und lauter, bis es ohne Zweifel als das Signal eines heranrasenden Zuges offenbar wurde.

Johebed lächelte ein schmales Lächeln. »Er kommt.«

III

Als Doktor Rugen die Kapitänskajüte betrat, konnte er den Kapitän selbst nicht sofort sehen. Er nutzte den Moment, der verstreichen würde, bis Habakuk auf sich aufmerksam machte, um den Blick über den Raum schweifen zu lassen, der seit über dreißig Jahren das Zuhause seines alten Freundes war.

Die Kajüte befand sich in einer Art keilförmigem Sporn, der über den Bug des Karlamagnus ragte, war sein Kopf in mehr als einer Hinsicht. Keine der altmodischen Gaslampen war erleuchtet, die elektrischen Glühbirnen, die man erst kürzlich eingebaut hatte, ohnehin nicht. Daher lag der größte Teil der Kajüte im Schatten, und grell fiel kaltes Licht aus dem bewölkten Himmel durch die vielfach und unregelmäßig unterteilten Fenster herein. Vieles, was Habakuk im Laufe der Jahrzehnte angesammelt hatte, stand irgendwo hier herum, und wäre nicht Johebeds Sorgfalt gewesen, wäre der Raum sicherlich seit Langem unbewohnbar.

Da waren nicht einer, sondern gleich ein halbes Dutzend schwere Eichenholzschreibtische, von denen allerdings nur zwei regelmäßig in Gebrauch waren. Unzählige Bücherregale in jeder Form und Größe boten an allen möglichen und unmöglichen Stellen Platz für die umfangreiche Sammlung von volkskundlicher Literatur und Büchern mit alten Bahnkarten, über denen der Kapitän Tag und Nacht brütete. Bizarre navigatorische Instrumente aus Messing versammelten sich auf kunstvollen Holzständern, obgleich sie – wie Rugen wusste – nur noch von historischem oder nostalgischem Interesse sein konnten.

Alles war natürlich im charakteristischen Scharlachrot des Karlamagnus gestrichen, sodass selbst die tiefsten Schatten etwas Blutiges und Leidenschaftliches ausstrahlten.

Was unter Habakuks Vorgängern nur eine konsequente Umsetzung der Unternehmensfarbe der Transcontinentalen Eisenbahncompanie gewesen war, hatte, seit Habakuk vor dreißig Jahren die Kapitänswürde erhalten hatte, einen radikalen, fast manischen Wandel erfahren, der so weit ging, dass Habakuk alle neuen Bücher, die er erwarb, in scharlachrotes Leder binden ließ. Er benutzte nur rote Tinte, verordnete seinen Untergebenen das Tragen von roten Flanellhemden unter der Uniform (während er selbst stets ganz in Schwarz gekleidet war) und ließ den flammend roten Außenanstrich des Karlamagnus alle drei Jahre erneuern. Kein anderer Kapitän der Companie hätte sich solche Eigenheiten herausnehmen können, kein anderer außer Habakuk.

Ein Stöhnen riss den Doktor aus seinen Gedanken. Sofort bahnte sich Rugen seinen Weg durch die labyrinthische Kajüte und entdeckte den Kapitän in einer kleinen Nische hinter einem Regal auf dem Boden kauern, das Gesicht schmerzverzerrt. Er hatte noch sein Nachtgewand an, die Adern auf dem kahlen Kopf waren dick angeschwollen, Speichel troff zwischen den zusammengepressten Zähnen hervor.

»Um Gotteswillen, so schlimm dieses Mal!«, rief Rugen und packte den Kapitän unter den Achseln, um ihn aufzurichten.

»Schnell … Rugen … Medizin!«, presste Habakuk unter Ächzen und Japsen hervor.

Rugen hatte Schwierigkeiten, den Kapitän festzuhalten, der zu krampfen begann, und gleichzeitig nach der lebensrettenden Dosis Medizin zu greifen, die er immer in seiner Westentasche aufbewahrte. Er hatte sie fast, da entglitt sie seinen schweißnassen Händen und fiel zu Boden. Habakuk zitterte am ganzen Leib, seine Haut fühlte sich klatschnass an, Schaum bildete sich vor seinem Mund.

»Einen Moment noch, Kapitän!«

Rugen streckte sich und bekam die Spritze gerade noch rechtzeitig zu fassen, bevor sie in eine Spalte im Fußboden rollte. Kaum hatte er sie gepackt, rammte er sie Habakuk in den Arm und injizierte das Serum.

Sekunden vergingen, die dem Doktor wie Stunden schienen. Dann entspannten sich die Muskeln des Kapitäns auf einmal, und er glitt hustend zu Boden. Röchelnd sog er tief die Luft ein, sein Atem glich dem eines Menschen, dem man mit voller Wucht auf den Brustkorb geschlagen hatte.

Rugen lehnte sich keuchend gegen eine Kommode und ergriff Habakuks Hand. »Alles in Ordnung, Kapitän, alles in Ordnung. Nur ein weiterer Anfall, kein Grund zur Besorgnis. Sie werden – weiß Gott – häufiger, wie ich Ihnen gesagt, hatte Ihnen anempfohlen, das Serum stets am Körper zu tragen, aber –«, er keuchte, «– aber diesen Stolz von Ihnen, ich sag’s Ihnen im Vertrauen, den hat der Teufel gesehen, nichts für ungut! Soll denn der große Kapitän Habakuk, darf er denn… kein Zeichen von Schwäche zeigen, muss er stets seinen Körper kasteien wie die Krieger aus der alten Zeit?«

Rugen verschnaufte eine Weile, um sich – selbst nicht mehr der Jüngste – eine Pause zu gönnen. Da erklang ein eigenartiges Geräusch, ein trockenes Saugen und stoßartig austretende Luft wie bei einem kaputten Ventil.

Es war Habakuk, der versuchte zu lachen.

»Ganz prächtig kümmerst du dich um mich, Rugen, alter Freund, wie eine Glucke um ihre Küken.« Er hörte auf zu lachen und hustete trocken. »Aber der, den du vor dir siehst, ist schon lange kein Küken mehr.«

»Was sagen Sie da, Kapitän?«, rief Rugen. »Mein Kapitän hat gewiss noch viele ereignisreiche Jahre vor sich, sofern«, er hob den Zeigefinger, »sofern er auf sich achtet und auf die armen Leute, denen was an ihm liegt, nicht wahr?«

Habakuk schwieg und richtete sich ächzend auf, wobei ihm Rugen behilflich war. Dann schlüpfte der Kapitän in seinen karminroten Morgenmantel, der neben ihm auf der Kommode lag. Offenbar war er gerade dabei gewesen, ihn anzuziehen, als ihn der Anfall zu Boden geschmettert hatte. Habakuk blickte gedankenverloren aus dem Fenster und war jetzt nur ein weiterer roter Schatten unter anderen roten Schatten. Draußen war zu erkennen, dass der Zug deutlich an Geschwindigkeit verlor, als er den alten Güterbahnhof ansteuerte, dessen Bauten bereits schwach am Horizont erschienen.

»Lüg nicht, Herr Doktor«, sagte er schließlich nach einer Weile.

Herr Doktor, so hatte er Rugen im Scherz früher immer genannt. Doch jetzt – jetzt war seine Stimme voller Gram und Bitterkeit, die den Doktor frösteln ließen und seine Antwort im Keim erstickten.

»Lüg nicht. Du weißt so gut wie ich, dass es zu Ende geht mit mir. Wir sind Fossilien, wir zwei. Altertümer. Betrachte doch nur die Welt um dich herum. Bald ist es aus mit den prächtigen Großzügen uns’rer Vorväter. Die Schienen, auf denen Noab einst den Kontinent bereiste, als die garstige See die Küstenstädte zerstörte, lange vor unserer Zeit sind sie schon zu Staub zerfallen. Wir sind nur die Totengräber. Jetzt sausen diese winzigen modernen Absonderlichkeiten auf ihren Spielzeuggleisen von Ort zu Ort, und die Leute bezahlen, um auf ihnen mitfahren zu können! Stell dir das nur vor, alter Freund, sie lassen sich ganz unverschämt transportieren wie eine Ladung Stroh und genießen es dabei noch!« Er verstummte und schüttelte den Kopf.

Rugen witterte eine Gelegenheit, seinen Kapitän wieder aufzumuntern. »Nicht so wir, Kapitän, hab’ ich nicht recht, nicht wahr? Wir gedenken der alten Bräuche, und Sie – ja Sie gehen selbstverständlich mit dem besten Beispiele voran, sind unser strahlendster Bannerträger, was sag’ ich …«

»Warum halten wir schon wieder?«

»Das … das wissen Sie doch, Kapitän, stand schon seit Tagen fest, man wird es in Ihren Kalender eintragen haben lassen, zumindest hatte ich das angenommen, Kapitän.«

In Rugen breitete sich mit einem Mal eine seltsame Traurigkeit aus, die ganz unvermutet gekommen war. Unwillkürlich furchte er die Stirn, doch Habakuk stand mit dem Rücken zu ihm und konnte es nicht sehen.

»Albricht und Johebed kehren vom Landurlaub zurück, sie waren wohl… ihre Eltern besuchen, oder zumindest sagte man mir so.« Rugens Stimme war immer leiser geworden, und jetzt verstummte er für eine Weile, bis ihm noch etwas einfiel. »Ach, und natürlich, wir nehmen zwei neue Kameradinnen an Bord, ja …«

Als Habakuk nach einer Weile immer noch nicht geantwortet hatte, machte Rugen einen Schritt nach rechts und schielte vorsichtig nach dem Gesicht des Kapitäns, um vielleicht zu erkennen, ob dieser ihn überhaupt gehört hatte. Habakuk aber starrte unbeweglich hinaus auf das sich immer langsamer nähernde titanische Geflecht aus Schienen und Signalen, das aus dem Nebel auftauchte.

»Ich mag es nicht leiden, wenn wir anhalten«, brummte er schließlich. »Jedes Mal denke ich, vielleicht ist es jetzt zu Ende, und die Maschinen werden sich nie wieder in Gang setzen. Ich habe die Bahnhöfe hassen gelernt. Jede einzelne Sekunde, die wir in einem dieser grässlichen Vorposten des Fortschritts verbringen, ist mir zuwider. Es ist, als wäre die Maschine mein eigenes schlagendes Herz, und jedes Mal, wenn sie still ist, steht auch mein Herz still und lässt mich hinterher schwächer zurück als zuvor.«

»Ich weiß nicht, Kapitän«, warf Rugen vorsichtig ein, »man kann nicht ewig so dahingleiten in diesen stählernen Kapseln, so ehrenvoll das auch ist, mit Verlaub, das sagt schon die medizinische Erfahrung, und mein Doktorvater – ein Kauz vor dem Herrn, das kann ich beschwören, aber auch ordentlich was im Köpfchen und ein Forscher von einiger Reputation! – ja, der sagte einmal zu mir im Vertrauen, Rugen, mein Lieber, hat er gesagt, Rugen, Sie übernehmen sich, sich diese Beschäftigung als Bordarzt aufzuhalsen, Sie sehen – die Wissenschaft zeigt es im Experimente – dass der dauernde Aufenthalt auf der Eisenbahn auf den Kreislauf schlägt und den Metabolismus ganz und gar zermürbt. Ich muss Ihnen daher, Kapitän, wie es auch mein ehrwürdiger Doktorvater getan, dringend empfehlen, eine Kureinrichtung aufzusuchen. Ich kann Ihnen, wenn Sie gestatten, gar nicht zusehen, wie Sie hier stehen und anscheinend entschlossen sind, Ihren Lebensodem früher auszuhauchen, als es Ihnen bestimmt ist.« Rugen hielt abrupt inne in seinem Wortschwall, der ihn selbst ganz und gar überrascht hatte, und schwieg verlegen. Woher auf einmal diese Sorge, dachte er.

»Ach, Rugen«, sagte Habakuk und lachte heiser, »sag, wie lange kennen wir uns nun schon?«

Der Doktor antwortete nicht sofort. »Hm, wie meinen? Ach, ja, hm, das muss wohl …«

»Manchmal, weißt du«, unterbrach ihn Habakuk, »manchmal wünschte ich, du könntest mich verstehen, für nur einen einzigen Augenblick, alter Freund.«

Das Tageslicht brannte kalt auf dem eingefallenen Gesicht des Kapitäns und sah ein lebloses Lächeln kommen und wieder verschwinden.

Mehr als du ahnst, dachte Rugen, und sein Blick verfinsterte sich für einen Moment. Doch dann seufzte er und schüttelte den Kopf. Was tat er nur hier?

Rugen hatte eigentlich Dorfarzt in den feuchten Wäldern an der Westküste werden wollen, wo er einige prägende Jahre seines Lebens verbracht und seine Frau kennengelernt hatte – Johebed. Vor seinen Augen sah er sich noch immer die herben Sandstrände entlanglaufen, wo die Kiefern majestätisch aufragten und der See unter einem dunklen Himmel die Stirn boten. Das Meer … wie lange hatte er es nicht mehr erblickt?

Er fragte sich, ob es sich wohl noch an Ort und Stelle befand, ob es überhaupt noch Wasser gab dort draußen, irgendwo weit hinter der verfluchten Steppe, oder ob es bereits gänzlich verdunstet war, zu grauen Wolken aufgestiegen, und ihnen nun jeden Tag den bedrückenden Nebel, Regen und Schnee bescherte.

Habakuk auf der anderen Seite – er hasste das Wasser, gleich in welcher Form, und er konnte den ständigen Aufenthalt in seiner Kajüte aushalten wie kein anderer, das musste Rugen halb verblüfft, halb beängstigt zugeben. Nun aber schien es, als wären sie auf ewig in dem roten Koloss gefangen, das hieß, Rugen wäre gefangen. Denn Habakuk wäre ohne seine Pflege dem Tode geweiht, und Johebed – nun, Rugen war in den letzten Jahren immer weniger schlau aus ihr geworden. Ihre Eigenarten wuchsen jeden Tag in demselben Maße, wie die Anfälle des Kapitäns zunahmen.

Die Veränderung hatte unmittelbar nach Habakuks Ernennung zum Kapitän begonnen. Von diesem Zeitpunkt an war er ein anderer gewesen, das war Rugen klar, auch wenn sich sein wissenschaftlicher Verstand dagegen sträubte. Habakuk hatte innerhalb weniger Jahre alle seine einst dichten Haare verloren, ohne dass der Doktor eine Erklärung dafür gefunden hätte. Und nun – nun war sein Körper zerrüttet, ebenso wie sein Geist, und manchmal kam es Rugen vor, als spränge diese Degeneration auf Johebed über.

Einmal hatte er sie gesehen, in einem Moment, wo sie sich wohl unbeobachtet gefühlt hatte, wie sie vor einer Kommode stand, völlig reglos, und durch die dunklen Gläser in die Leere starrte, als wäre das Leben aus ihr gewichen. Rugen erschauderte, als er daran zurückdachte.

»Geh jetzt«, sagte Habakuk auf einmal, und seine Stimme war wieder fremd geworden. »Es ist Zeit.«

Rugen wandte sich widerstrebend um. »Wie Sie meinen. Ich wünsche noch einen Guten Tag.«

Noch im Gehen dachte er über die letzten Worte des Kapitäns nach und fragte sich, was sie wohl bedeuten mochten.

Die schwere eichenholzverkleidete Stahltür schloss sich mit einem dumpfen Knall, und für eine Weile verwandelte sich die Kajüte wieder in einen Museumsraum, als wären alle Gegenstände darin nichts anderes mehr als die Exponate vergangener Epochen, einschließlich des Kapitäns selbst.

Unbeweglich hatte er die Arme in die Brüstung vor den Fenstern gestemmt und beobachtete, wie der Karlamagnus langsam aber beharrlich die Geschwindigkeit drosselte. Es herrschte Totenstille. Dann, ganz sachte, löste sich ein Schatten aus einer Nische, und unrhythmische Schritte waren zu hören, die sich Habakuk näherten und unmittelbar hinter ihm zum Stillstand kamen. Er lächelte sanft.

»Nun, endlich«, murmelte er. »Hast du alle Vorkehrungen getroffen, so wie ich dir befohlen?«

»Ja, Kapitän.«

Habakuk nickte. »Gut. Sehr gut. Jetzt lass mich allein. Sprich nicht wieder mit mir.«

Die Schritte entfernten sich wieder, leise quietschte eine verborgene Tür im Schatten.

Habakuk atmete schwer aus und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. Er war immer noch schweißnass. Der Zug war jetzt vollständig zum Stillstand gekommen, und der Kapitän betrachtete die Schneeflocken, die sich auf dem Fenster niederließen und dort zu schwerfälligen Tropfen schmolzen.

So viele Jahre, dachte Habakuk, ich habe aufgehört sie zu zählen, und seht mich jetzt an: Ich bin alt und gebrechlich wie die zahnlosen Greise, die ich immer so verachtet. Doch nicht mehr lange, nein. Nicht mehr lange.

IV

Der Zug raste durch die Ödnis wie ein wütender Gott, und ich in ihm.

Wir glauben stets, die Ungeheuer, die uns peinigen, aussperren zu können, wenn wir die Augen schließen. Dass sie uns – wir Toren! – vielleicht verlassen, wenn wir älter werden. Ich weiß es besser, weiß die Wahrheit: Sie verlassen uns niemals.

Dann, wenn wir einsam sind, sind sie uns stets am nächsten. Und niemand ist einsamer als die Menschen, die in der Weite leben, die Seeleute, die die unheilvolle Schleimflut befahren, die Köhler im Walde und wir, die wir den Kontinent in stählernen Vehikeln bereisen. Die Gedanken dieser Leute bringen schon seit jeher Monstren hervor. Ihr Blick schießt durch die Weite wie ein Strahl aus Rauch, und findet er nichts, woran er sich brechen kann, verwirbelt er seltsam und gebiert mit der Zeit furchteinflößende Schemen.

So mancher Geist wurde auf diese Weise aus der schmalen Linie zwischen Himmel und Erde beschwor’n und ins fleischliche Dasein gerufen. Einer davon hört auf den Namen Old Sawyer.

Ich kannte natürlich die Geschichten über den Geisterzug Krall und seinen furchteinflößenden Kapitän. Die Eisenbahner raunten sich die Erzählungen manches Nachts im Schein der Nebellampen zu, die Geschichte, wie der alte Sawyer einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, um seine Liebste von den Totenwiederzuholen. Und wie der Teufel ihn betrogen, und er nun bis zum Tage des Jüngsten Gerichtes verdammt sei, auf seinem verfluchten Zuge, dem Krall, die Weiten zu befahren. Und wehe dem braven Eisenbahner, der ihm begegnet! Denn es hieß, diejenigen, durch die der Krall körperlos wie ein Geist hindurchraste, die seien ebenfalls verdammt.

So murmelten die Alten im Lampenschein, und die Törichtesten unter ihnen glaubten die Geschichten sogar.

Und nun stand er also vor mir, Old Sawyer höchstselbst in weiblicher Gestalt. Ich war ihr Gefangener auf dem geisterhaften Krall.

Von Zeit zu Zeit frage ich mich, ob ich jemals Zweifel an der Identität meiner Kerkermeisterin gehegt hatte, oder Zweifel daran, wo ich mich befand. Hätte es nicht auch ein grausamer Scherz sein können, wäre dies nicht weitaus wahrscheinlicher gewesen als eine Begegnung mit einem Phantom? Aber warum und von wem? Wer hätte – so fragte ich mich stets – ein Interesse daran gehabt, und wer die Mittel, um so ein makabres Spektakel zu veranstalten? Wer hätte sich die Mühe gemacht, einen meilenlangen Raum zu konstruieren und auszustatten mit dem einzigen Zwecke der Irreführung eines kleinen Jungen?

Die Wahrheit jedoch ist, dass ich zu jenem Zeitpunkt nichts dergleichen dachte. Keine Gedanken an mögliche Verschwörungen oder an meine Spielkameraden, die hinter einer Ecke lauern und mich in der nächsten Sekunde mit hämischem Lachen überfallen würden, plagten mich in diesem Moment.

Ich war wie in einem Traum gefangen, und die Offenbarung, mich auf einem Geisterzug zu befinden, traf mich – wenn auch unvorbereitet – weniger stark als zu erwarten gewesen wäre. Während meine Gedanken seltsam träge dahintrieben, raste mein Herz wie nie zuvor, und ich hatte Angst, es möchte zerspringen. Ich spürte meine Seele aus meinen Gliedern weichen und sich in meinem Kopfe konzentrieren, und ich wankte zurück und ließ mich wieder auf den Berg aus Kissen fallen, wo die roten Vögel immer noch unbeirrt einherschritten.

Old Sawyer hatte den Blick in die Ferne gerichtet, doch plötzlich rollte ihr Auge und fixierte mich bohrend. Ihre Arme waren immer noch ausgebreitet, und als sie den Kopf schief legte, sah sie aus wie eine der Holzskulpturen der Heiligen, die ich als Kind in der Kirche betrachtet hatte.

»Ich habe dich auserseh’n, Habakuk«, fuhr sie mit tiefer, sanfter Stimme fort, »auserseh’n zu einer Gelegenheit und einem Geschenk, das niemandem sonst vergönnt ist auf der Welt. Doch zunächst lass mich seh’n, aus was für einem Holze du geschnitzt bist, und beantworte mir diese Frage: Was ist das höchste Gut für einen Menschen? Unermesslicher Reichtum oder ein armes Leben in Glückseligkeit?«

Selbst der schüchterne kleine Junge, der ich war und der von der Welt noch nichts begriff, hatte Verstand genug, diese Frage beantworten zu können. Hatte nicht meine Mutter mich stets gelehrt, die einfachen Freuden dem Streben nach Besitz vorzuziehen, und hatten es nicht die Priester oft genug von der Kanzel herab verkündet? Hatten sie mir nicht schreckliche Bilder in den Kopf gesetzt von geldgierigen Kaufleuten, die in der Hölle unvorstellbare Qualen erlitten und von hämischen Teufeln mit all den Münzen gefüttert wurden, die sie ihr selbstsüchtiges Leben lang angehäuft?

Nein, die Antwort auf diese Frage fiel mir wahrhaftig nicht schwer. Dennoch zögerte ich, vermutete eine Falle oder Doppeldeutigkeit. Waren Geister und Dämonen nicht dafür berüchtigt, Sterbliche mit geschickt gestellten Fangfragen in die Irre zu locken?

»Das… das Leben in Glückseligkeit«, antwortete ich schließlich mit zitternder Stimme.

Old Sawyers Mund kräuselte sich zu einem listigen Lächeln. »Ein guter Bursche, das lob’ ich mir! Hat gute Erziehung genossen. Hat zugehört, was weise Leute ihn gelehrt. Nun gut, Habakuk«, sie ließ die Arme sinken und die Hähne, die darauf Platz genommen, flatterten gackernd auf den Boden zu den anderen, »nun gut, ich will dir ein Geschenk machen: Vier Aufgaben werde ich dir stellen, die du allesamt lösen sollst. Gelingt es dir, blüht dir das glücklichste Leben, das je ein Sterblicher geführt. Du wirst die wunderschönste und klügste Dame lieben und ehelichen, die tugendhaftesten Kinder werden dir geboren, und stets wirst du Freunde haben, die lachen und scherzen mit dir an den Festtagen und dir getreulich beistehen in Not und Fährnis. Bescheiden wird dein Einkommen sein, fehlen wird es dir dennoch an nichts. Und während all die Geizhälse um dich her einsehen werden, dass sie all ihren Reichtum nicht mitnehmen können auf ihre letzte Reise, wird es dir und deiner Familie bis ins hohe Alter an nichts gebrechen, und der Tod wird sanft und freundlich zu dir kommen.

Versagst du jedoch nur bei einer einzigen Aufgabe«, ihr einzelnes Auge funkelte, und sie hob den energisch gestreckten Zeigefinger, »kannst du nichts anderes erwarten als das Leben, das du geführt hättest, wären wir uns niemals begegnet. Ich werde dich dorthin entlassen, von wo ich dich aufgesammelt, und dein Schicksal liegt dann nicht mehr in meiner Hand.

Schaffst du es allerdings weder die erste, noch die zweite, noch die dritte, noch die vierte Aufgabe zu lösen«, und bei jeder Zahl ließ sie den Ebenholzstock krachend auf den Boden niederfahren, »so sei gewiss, du verlässt diesen Zug als reicher Mann. Die Münzen werden dir nur so zufliegen, werden auf dich einprasseln wie Hagel, wohin du auch gehst, und die Leute werden dich ehren und fürchten ob deines Vermögens. Aber«, und dabei erhob sie plötzlich die Stimme, »du wirst nimmermehr glücklich sein dein Leben lang, und eine Finsternis wird einziehen in dein Herz. Verflucht und vergiftet wird dann sein all dein Begehren, und Verdammnis kommen über jene, denen du dich zu öffnen suchst. Gebrechen ärgster Art werden dich heimsuchen, die kein Arzt zu heilen vermag, und werden dich quälen eine lange Zeit, bis dir schließlich – verlassen und vergessen von der Welt – der süße Tod gewährt wird. Das heißt«, fügte sie flüsternd hinzu, »wenn du ihn nicht vorher schon selbst gesucht hast.«

Sie verstummte und verschränkte die langen Finger wie im Gebet. Ein seliger Ausdruck trat auf ihr Gesicht, als hätte sie soeben eine fromme Predigt beendet.

Mir schwindelte. Nur langsam, ganz langsam drangen die Worte des Phantoms in mein Bewusstsein ein, als sperrten sie sich dagegen. Halb fasste ich – selbst jetzt noch – den Gedanken an Flucht und blickte den unendlichen Raum nach beiden Seiten entlang, um einen Ausgang, eine Hintertür, irgendetwas zu erspähen, das mir vorhin entgangen, doch selbstverständlichwar alles zwecklos. Ich würde, das stand fest, diesem verfluchten Zuge nicht entrinnen können, es sei denn mit dem Segen Old Sawyers.

»Hören Sie, Ma’am«, begann ich mit stockender Stimme, »bitte, können Sie mich nicht einfach gehen lassen? Ich … ich möchte gar nicht das glückseligste Leben führen und die wunderschönste Frau heiraten und was Sie alles noch versprochen! Ich möchte nur leben, so wie ich es vorher getan, das verstehen Sie doch? Möchte mein Glück selbst machen in der Welt und mich freuen, wenn Fortuna mir lacht, und die Zähne fest zusammenbeißen, wenn sie mich verlässt, so wie mein Vater es mich immer gelehrt. Der Schneid eines Kaufmanns findet sich nicht ab mit sogenannten Schicksalsschlägen, und auch nicht mit geschenktem Reichtum, so sagte er stets.

Darum haben Sie, Madame, mit Verlaub, wohl den Falschen erwählt, und Sie müssen sich gar keine Umstände machen, mich zu prüfen, noch daran denken, wie meine Zukunft zu beeinflussen sei. Tun Sie sich selbst einen Gefallen und lassen Sie mich doch, wo Sie mich gefunden, und halten meinetwegen Ausschau nach einem Unglücklicheren. Da gibt es zur Genüge arme Tröpfe, die in der Lage sind, alles zu tun für ein paar Münzen oder ein Tröpflein aus Fortunas Horn.« So sprach ich, und meine eigenen Worte machten mich selbst erstaunen, wie sie so aus mir flossen, sicherlich hatte die Überlebensangst sie mir eingegeben.

Für wenige Augenblicke schien es, als würde Old Sawyer meinen hastigen Argumenten Gehör schenken. Doch als ich geendet, lachte sie, und ihr Lachen war glockenhell und fürchterlich. Der Speichel glitzerte widerwärtig auf den verfaulten Zähnen und den blutroten Lippen, und ihr Hahnengefolge gackerte und stimmte mit ein in ihre Belustigung.

»Gesprochen wie ein rechter Kaufmannssohn, das muss ich dir lassen!«, rief sie amüsiert. »Aber meine Hähne hier, die mir das fehlende Auge ersetzen, blicken tief in deine Seele und offenbaren mir die Wahrheit. Nichts von deines Vaters Weisheit schlummert in dir, vielmehr sind es nur gelernte Sprüche, wie trockenes Brot, das auf einer dünnen Suppe obenauf schwimmt. Ich erkenne dich, Habakuk, ich weiß, wer du in Wahrheit bist.«

Sie schmunzelte listig, als spielte sie auf ein Geheimnis an, das wir beide teilten. Dann wurde ihre Miene schlagartig finster und unerbittlich. »Dein Schicksal ist unausweichlich. Bereite dich auf die erste Aufgabe vor, Junge, und versage nicht!«

Ich erkannte in diesem Moment, dass alle meine Versuche, den Dämon umzustimmen, vergebens sein würden.

»Gut«, begann ich stockend, »dann sagen Sie mir, was ich tun soll. Wann werde ich die erste Aufgabe antreten?«

Old Sawyer lächelte schelmisch. »Sie hat bereits begonnen.«

V

Hanna erinnerte sich an den ersten Tag, an dem sie einen Zug bestiegen hatte. Sie mochte um die sieben gewesen sein, Flic war schon vierzehn gewesen, aber immer noch übermütig wie ein kleines Kind.

Es war September gewesen. Das wusste Hanna so genau, weil die Familie in jedem folgenden Jahr auch stets im September die Großeltern besucht hatte, die draußen auf dem Land wohnten. Dort, wo Hanna, Flic und ihre Eltern gewohnt hatten, war es im September seit jeher regnerisch und kalt gewesen, aber in Hannas Erinnerung malte sie sich diesen Tag immer warm und sonnig aus, und dass sie beide dabei das eigentümliche Glücksgefühl genossen hatten, das einen überkommt, wenn die Herbstsonne alles wunderbar erwärmt, die Luft aber frisch und angenehm kühl ist.

Sie waren zusammen zum Bahnhof gegangen. Beide Bahnsteige zusammen waren nicht halb so lang gewesen wie der düstere Steg, an dem sie sich jetzt befanden. Der Bahnhof war ein schönes, recht neues Gebäude aus rotem Backstein gewesen, mit einem grünen Dach und weiß getünchten Holzbalken, die den Bahnsteig überspannten. Flic hatte aufgeregt herumgealbert, obwohl es schon nicht mehr ihre erste Bahnfahrt war. Ehrlich gesagt konnte sich Hanna an keinen Zeitpunkt in ihrem Leben erinnern, in dem ihre große Schwester nicht immer voller Übermut gewesen war.

»Pass ja auf den Fahrschein auf«, hatte Flic sie geneckt, »Wenn der Schaffner kommt, und du zeigst ihm den nicht gleich, sperren die dich in den allerletzten Waggon und den koppeln sie ab vom Zug, und du kannst zu Fuß dann zu Oma und Opa gehen!«

Hanna hatte dann große Angst gehabt und den Fahrschein ganz fest umklammert, sodass er fast zerriss.

Endlich kam der Zug, den eine grasgrüne Dampflokomotive zog, die Waggons aber waren kobaltblau. Hanna kam der Zug riesengroß vor, wie einem üblicherweise alles riesig vorkommt, wenn man jünger ist. Das mächtige Pfeifen, Dampfen und Zischen erschreckte sie zuerst zu Tode.

Hanna hatte noch nie zuvor in ihrem Leben eine Maschine gesehen, die größer oder stärker war als ein Traktor, und sie war ganz und gar überwältigt vom Anblick der Lok, die schneidig in den Bahnhof einfuhr. Und erst das Innere des Waggons! Es war wie ein Zimmer in einem Haus, aber langgestreckt und mit seltsamen Fenstern und Bänken. Hannas Augenwurden groß, und auf einmal war auch alle Scheu vor dem seltsamen Gefährt verschwunden. Den Rest der Fahrt tollte sie im Waggon herum und presste ihr Gesicht an die Fensterscheiben, weil sie gar nicht genug bekommen konnte von der Herbstlandschaft, die draußen mit überwältigendem Tempo vorbeibrauste.

Doch dann, nach etwa einem Drittel der Strecke, bemerkten die Eltern entsetzt, dass Flic ein Buch aus der Bahnhofsbuchhandlung gestohlen hatte, während sie damit beschäftigt gewesen waren, Fahrkarten zu kaufen. Erbost hatten sie beschlossen, an der nächsten Station auszusteigen und zurückzufahren, um den Händler zu entschädigen, denn ihr Vater, der einen Ruf zu verlieren hatte, hatte eine Anzeige befürchtet.

So war es stets mit Flic gewesen, dachte Hanna düster. Immer musste sie sich mit Gewalt in den Mittelpunkt drängen, die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen bedeuteten ihr nichts – und immer brachte sie es fertig, das Glück anderer zu zerstören und damit davonzukommen.

Die Rückfahrt und die anschließend erneute Fahrt zu den Großeltern, die sich über viele Stunden hingezogen hatte, war für Hanna weitaus weniger fröhlich und spannend verlaufen. Es war wohl das Zurückfahren an sich gewesen, das Aufholen von etwas Versäumtem (noch dazu durch die Schuld eines anderen!), das, wie Hanna fand, ihr die Freude am Zugfahren ganz grundsätzlich vergällt hatte, denn der Sinn des Ganzen war es doch, vorwärts zu kommen, nach vorn zu preschen und nicht zurückzuschauen.

Wie auch immer, diese Zeiten waren längst vorüber. Die Großeltern waren seit Jahren tot, mit dem Zug war Hanna schon lange nicht mehr gefahren, und auch sonst hatte sich alles zum Schlimmsten gewandt.

Doch eigenartig, dachte sie, alles kommt auf einmal wieder, nur in ganz und gar entstellter Form, ihre Kindheit holte sie mit grässlichen Fratzen wieder ein: Da war Flic, ihre Schwester, die sie ewig – wie lange war es nochmal? – nicht mehr gesehen hatte, die plötzlich in ihre Wohnung geplatzt war, um sie, wie sie es ausdrückte, »auf ein Abenteuer« mitzunehmen. Dieselbe alte Leier, Flic musste wieder einmal Leute für ihre ach so brillanten fixen Ideen einspannen. Und dann war da noch der Zug. Doch das, was da aus dem sich lichtenden Nebel vor Hanna und Flic auftauchte, hatte nichts mehr gemein mit der bunten Lokomotive von damals.

Das Erste, was Hanna beim Anblick des Karlamagnus dachte, war: Wie zum Teufel kann ein Ding wie dieses existieren in einer Welt, in der es auch Blumen, Wasserhähne und einen festen Erdboden unter den Füßen gibt?

Es war ein Bild aus einem Alptraum. Riesenhaft wie ein Palast, aber länger, so entsetzlich viel länger! Kaum zu unterscheiden waren Waggons und Lok – oder besser Loks, denn der Karlamagnus hatte wie alle Großzüge gleich mehrere davon, um die schiere Masse des Kolosses überhaupt von der Stelle bewegen zu können. Keine Harmonie, keine Proportion war zu erkennen im undurchdringlichen Gewirr von Kabeln, Rohren, Lüftungsschlitzen, Antennen, Federungen, Wartungsklappen, Gittern und Fenstern, die einen titanischen Berg ohne Anfang und Ende formten. Lediglich die Frontscheinwerfer, ein jeder im Durchmesser so groß wie das Zifferblatt einer Turmuhr, markierten einen Teil des Zuges als dessen Beginn.

Aber schrecklicher noch als die bloße Form des Karlamagnus war seine Farbe. Alles, wirklich alles, was sich dem Auge darbot, schrie in allen blutigen Schattierungen eines brutalen Scharlachrot hinaus in die Weite. Ein roter, roter Schrei ohne Sinn und Verstand, Farbe gewordener Hass, schrill und unüberhörbar. Viele der Myriaden Bauteile des Zuges waren bis zur Unkenntlichkeit verrostet und beschädigt, doch nichtsdestotrotz klebte die rote Farbe an ihnen wie die blutverschmierte Uniform an einem kampfesmüden Soldaten.

Von allen Seiten dampfte und zischte es. Motoren ratterten und quietschten, Getriebe heulten und schrien. Dicker Qualm drang beißend in Hannas Augen und Nase, sodass sie heftig keuchte und hustete. Während die vorderste Lok quälend langsam an ihnen vorbeikroch, bemerkte Hanna ein gewaltiges, meterhohes K in einer kruden Type, das in Schwarz auf die Flanke des Zuges gepinselt worden war. Erst nach einer Weile begriff sie, dass dies nichts anderes war als der erste Buchstabe des Wortes Karlamagnus. Die anderen zehn, schätzte sie, mussten irgendwo in der Ferne sein, angebracht auf die gesamte titanische Länge des Kolosses.

Sie sah zu ihrer Schwester hinüber. Etwas in ihr wollte wissen, was in Flic in diesem Augenblick vor sich ging. Doch sie wurde enttäuscht. Falls überhaupt etwas Sinnvolles aus Flics Blick zu lesen war, war es nur der alte kindliche Eifer, der ohnehin immer aus ihren Augen blitzte.

Auch Albrichts Gesichtszüge blieben unlesbar. Still blickte er mit zusammengepressten Lippen zu dem stählernen Ungetüm auf wie zu einer frommen Statue. Dann hüllte ihn eine Dampfschwade ein und verwandelte ihn selbst in einen bloßen Schemen.

Einzig Johebeds Gesicht zeigte Regungen. War das etwa Ehrfurcht, die Hanna dort zu erblicken glaubte? Der Mund der schwarzen Dame öffnete sich einen Spaltbreit–wie zum Gebet – und waren das nicht Tränen, die in ihren Augen glänzten?

Hanna sog die rauchgeschwängerte kalte Luft ein, schlang die Arme um den dick eingepackten Körper und starrte auf den nackten Steinboden, als könnte sie den Alptraum verscheuchen. Für eine Weile stellte sie sich vor, der Zug wäre einfach verschwunden, sobald sie aufblickte. Doch das geschah natürlich nicht. Als sie den Kopf wieder nach oben neigte, war da noch immer das höllische Unding, das endlich dampfend, keuchend und ächzend wie eine ganze Schar Verdammter zum Stillstand kam.

Johebed und Albricht drehten sich beide zugleich, wie auf ein verabredetes Zeichen hin, zu den Schwestern um.

»Es ist Zeit«, sprach Johebed feierlich. »Willkommen an Bord des Karlamagnus.«

Ein schrilles metallisches Krachen ertönte und Hanna zuckte zusammen. Eine stählerne Leiter kam scheppernd aus einer Öffnung über ihnen herabgeschossen, die Hanna vorher gar nicht aufgefallen war.

Albricht machte sich zuerst an den Aufstieg, danach folgte Johebed, dann Flic und schließlich – zögernd und widerwillig – Hanna. Die Oberfläche der Leiter fühlte sich scharfkantig und schmierig an, als wäre der blutrote Lack erst wenige Stunden alt. Sie stiegen gute sechs Meter, bevor sie die Öffnung erreichten. Diese war nicht mehr als eine vorspringende Nase aus angeschweißtem Stahlblech. Das Loch, durch das sie senkrecht nach oben krochen, maß kaum einen Meter im Durchmesser. Kaum hatte Hanna es passiert, als die Leiter bereits wieder scheppernd eingezogen wurde. Hinter ihr schloss sich die Luke mit einem Knall, der etwas Endgültiges hatte, und Hanna wurde von absoluter Dunkelheit umfangen.

Erst nach einer Weile gewöhnten sich ihre Augen an die veränderten Lichtverhältnisse. Das Erste, was sie erkannte, war das schemenhafte Licht einer roten Lampe, dann hörte sie Schritte, die sich schnell näherten, und laute, freudige Rufe.