Krank - Jack Kerley - E-Book

Krank E-Book

Jack Kerley

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Beschreibung

Carson Ryders fünfter Fall garantiert Hochspannung

Eine Frau wird in einem Teich ertränkt, ein Pfarrer qualvoll vergiftet, ein LKW-Fahrer unter seinem Truck zermalmt. Detective Carson Ryder jagt einen Serienmörder, dessen bizarre Mordlust keine Grenzen kennt. Er sieht nur einen Ausweg und bittet heimlich seinen psychopathischen Bruder Jeremy, ein Profil des Mörders zu erstellen. Doch als dieser ihm den entscheidenden Tipp gibt, ist es scheinbar zu spät – Carson wird selbst zum Gejagten.

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Der Autor

Jack Kerley arbeitete in der Werbebranche und als Lehrer, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er lebt in Newport, Kentucky, verbringt aber auch viel Zeit in Alabama, wo seine Thriller mit dem Ermittlerduo Carson Ryder und Harry Nautilus spielen. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Das Buch

Carson Ryders fünfter Fall garantiert Hochspannung.

Eine Frau wird in einem Teich ertränkt, ein Pfarrer qualvoll vergiftet, ein LKW-Fahrer unter seinem Truck zermalmt. Detective Carson Ryder jagt einen Serienmörder, dessen bizarre Mordlust keine Grenzen kennt. Er sieht nur einen Ausweg und bittet heimlich seinen psychopathischen Bruder Jeremy, ein Profil des Mörders zu erstellen. Doch als dieser ihm den entscheidenden Tipp gibt, ist es scheinbar zu spät – Carson wird selbst zum Gejagten.

Neuausgabe bei Refinery

Refinery ist ein Digitalverlag

der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Juni 2019 (1)

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage April 2012

© für die deutsche Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012

© 2010 by Jack Kerley

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Buried Alive (Harper, London)

Covergestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin

Autorenfoto: © privat

Satz und eBook-Konvertierung bei LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-96048-236-9

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Für das Nordside-Trio: Duane, Dave und dieser andere Typ

Kapitel 1

R-rrrrr.

R-rrrrr.

Ich spürte das Läuten des Telefons schon, bevor ich es hörte. Es fühlte sich an, als würde jemand versuchen, mir mit einer verrosteten Säge die Stirn aufzusägen und in mein Unterbewusstsein vorzudringen.

R-rrrrr.

Als ich die Augen einen Spaltbreit öffnete, fiel mein Blick auf Ahorndielen, Stuhlbeine und eine verknitterte Socke. Ich lag auf dem Boden – mit dem Kopf im Wohnraum und den Füßen im Schlafzimmer.

R-rrrrr.

Hinter mir entdeckte ich die Decke und das Laken, die mir wie eine verdrehte Nabelschnur folgten. Anscheinend hatte ich wieder einmal vor meinen Träumen Reißaus genommen. Ich rollte mich zum Nachttisch mit dem Telefon hinüber, ehe die Säge mich abermals terrorisierte.

»Carson Ryder«, murmelte ich, setzte mich im Schneidersitz auf den Boden und lehnte mich ans Bett. Ich sah zur Uhr hinüber: Samstagmorgen, fünf vor halb acht. Kreischende Möwen kreisten über meinem Strandhaus am Golf von Mexiko, und hundert Meter weiter vorn brachen sich die Wellen am Strand.

»Detective Ryder? Hier spricht Nancy Wainright vom Alabama Institute of Aberrational Behavior. Ich brauche Ihre Hilfe.«

Ich unterdrückte ein Gähnen, während ich vor meinem geistigen Auge eine schlanke Frau um die fünfzig mit Brille, langen braunen Haaren und klugen Augen sah, denen nichts entging.

»Was kann ich für Sie tun, Doktor?«

»Bobby Crayline ist hier … im Institut.«

Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. »Schon wieder? Wieso denn das?«

»Er soll hypnotisiert werden.«

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was sie da sagte. Kaum war der Groschen gefallen, setzte ich mich kerzengerade hin und presste den Hörer ans Ohr.

»Bobby Lee Crayline?« Im Gegensatz zu meinem Verstand arbeitete mein Herz schon auf Hochtouren. Ich spürte deutlich, wie es heftig in meiner Brust schlug. »Wer hat das angeordnet?«

»Craylines Anwälte wollen mit Hilfe einer Regression mehr über Bobby Lees Kindheit erfahren.«

»Das könnte dazu führen, dass Crayline erst recht ausrastet«, meinte ich. »Vangie verglich Crayline immer mit ­einem Eisberg, und sie hielt es für besser, die Finger von dem zu lassen, was unter der Wasseroberfläche liegt.«

Vangie war Dr. Evangeline Prowse, Psychiaterin und ehemalige Leiterin des Instituts, in dem die gefährlichsten Psycho- und Soziopathen des Landes untergebracht und analysiert wurden. Unglücklicherweise war sie vor zwei Jahren in Manhattan unter recht bizarren Umständen ums Leben gekommen. Da Nancy Wainwright die Leitung des Instituts erst vor ein paar Monaten übernommen hatte, kannte ich Vangies Nachfolgerin kaum.

»Detective, soweit ich weiß, haben Sie Bobby Lee im Gefängnis verhört, oder?«, fuhr Wainwright fort. »Da Sie den Mann ziemlich gut kennen, hatte ich gehofft, dass Sie die Hypnose eventuell verhindern könnten.«

Vor meinem geistigen Auge tauchten Bilder auf, die sich tief in mein Gedächtnis eingegraben hatten: Bobby Lee Craylines reptilienartige Augen, die mich neugierig musterten, als ich den Besucherraum vom Holman Prison betrat, seine platte Nase und von Narben überzogenen Hände, die auf dem Tisch hinter der Plexiglasscheibe wie rastlose Taranteln umherhuschten. Und ich entsann mich des unerträglichen Gestanks, den sein nervös zitternder, tätowierter Körper verströmte. Nach einem verstörenden Verhör war ich schnurstracks nach Hause gefahren und hatte meine Kleider gewaschen – nur um auf Nummer sicher zu gehen gleich zweimal.

»Craylines Anwälte werden nicht auf mich hören, Doktor«, erklärte ich. »Schließlich hatte ich kaum mit ihm zu tun und bin nur ein x-beliebiger Bulle aus Mobile.«

»Aber Sie gehören dieser Sondereinheit an, das muss doch für irgendwas gut sein.«

Mit ihrer Aussage bezog sie sich auf das PSET, das Psycho- und Soziopathologische Ermittlungsteam, das nur aus mir und Harry Nautilus, meinem Partner, bestand. Einmal abgesehen vom Police Department in Mobile wusste kaum jemand von der Existenz dieser Einheit, die von allen – mit Ausnahme von Harry und mir – nur Piss-It genannt wurde.

»Na, ich bezweifle, dass das irgendjemanden beeindruckt«, meinte ich, »egal wie offensichtlich gestört Bobby Lee ist.«

Der achtundzwanzigjährige Bobby Lee Crayline war vor sieben Monaten verhaftet worden, nachdem er einen Kollegen entführt hatte. Im Lauf seines Lebens war er immer wieder vom rechten Weg abgekommen und gewalttätig ­geworden. Zum ersten Mal fiel er auf, als er in der Highschool zwei Lehrer fast zu Tode prügelte. Einer der Päd­agogen war seitdem an den Rollstuhl gefesselt. Trotz der Schwere des Vergehens steckte man Crayline nicht ins Gefängnis, sondern beschränkte sich darauf, ihn von der Schule zu werfen, weil die beiden Lehrer – ein Trainer und ein Assistent – sich über den Sechzehnjährigen, der sich weigerte, dem Footballteam beizutreten, wiederholt lustig gemacht hatten.

Die nächsten Jahre entschied Crayline alle Toughest-Man-Amateurwettkämpfe für sich, wobei er wiederholt noch nach dem Abpfiff auf seine Gegner eindrosch. Sein Ruf, mit seiner unbeschreiblichen Gewalttätigkeit die Zuschauer in den Bann zu ziehen, ebnete ihm den Weg in die XFL, die Extreme Fighting League, eine fürs Fernsehen entwickelte Mischung aus Profi-Wrestling, Full-Contact-Karate und Kneipenschlägerei. Die beiden Gegner kämpfen in ­einem kreisrunden Käfig mit einem Durchmesser von zehn Metern, bis einer – oft blutüberströmt und mit ausgeschlagenen Zähnen – k. o. geht. Ich hatte mir irgendwann mal drei Minuten lang eine XFL-Übertragung im Fernsehen angeschaut, ehe ich ausschaltete und mich fragte, ob unsere Spezies, der homo sapiens – der einsichtsfähige, weise Mensch –, ihren Namen zu Unrecht trägt.

Während seiner XFL-Karriere nahm Bobby Lee Crayline an zweiundzwanzig Wettkämpfen teil. Normalerweise verwundete er seine Gegner bereits in einer der ersten Runden und machte sich dann einen Spaß daraus, ihnen Beleidigungen entgegenzuschleudern und sie zu traktieren, bis sie zusammenbrachen. Zwei seiner Gegner verließen zutiefst gedemütigt die Liga. Craylines berüchtigtster Kampf endete mit einer Hirnblutung seines Gegners, infolge deren der Opponent kurze Zeit später verstarb. Aufgrund der Unerbittlichkeit und Brutalität, mit der Bobby Lee seine Attacke ausgeführt hatte – er musste nach dem Läuten der Glocke von seinem Gegner heruntergezogen werden –, wurde Crayline wegen fahrlässiger Tötung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Er saß kaum eine Woche hinter Gittern, als ich ihn im Rahmen einer laufenden Ermittlung verhörte. Ich verbrachte gerade mal zehn Minuten in der Gesellschaft dieses furchteinflößenden und unkooperativen Monsters, ehe ich mich – innerlich aufatmend – verabschiedete.

Einen Monat später setzte ein gerissener Anwalt Bobby Lees Verlegung ins Alabama Institute for Aberrational Behavior durch. Dort musste er nur zwei Monate ausharren, bis er dank juristischer Winkelzüge freikam und in die XFL zurückkehren konnte.

Wieder gewann Crayline alle Kämpfe – mit Ausnahme des letzten, bei dem er in der dritten Runde von einem imposanten und erfahrenen Kämpfer namens Jessie Mad Dog Stone besiegt wurde. Noch in der gleichen Nacht verschwand Bobby Lee Crayline von der Bildfläche, ohne jemandem zu erzählen, wo er steckte und warum er abgehauen war. Ein Sportjournalist vertrat die originelle These, dass Bobby Lee vom Teufel in die Zentrale abkommandiert worden war.

Craylines nächster öffentlicher Auftritt fand acht Monate später vor Gericht statt. Er war auf einer abgelegenen Farm in den Tallageda Mountains im Norden von Alabama verhaftet worden. Man bezichtigte ihn der Entführung, nachdem die Polizei in einer tiefen Grube in einem Schuppen hinter Craylines Haus Jessie Stone gefunden hatte. Angekettet, von Fliegen und Schrunden übersät, lag der einzige Gegner, der Bobby Lee jemals besiegt hatte, in seinen eigenen Exkrementen.

Innerhalb von einem Monat nach Craylines Verhaftung wurden drei von Kugeln durchsiebte Leichen in der Gegend gefunden, in der er als Teenager gelebt hatte. Laut Aussage des Gerichtsmediziners waren die Morde zwei Jahre zuvor verübt worden. Die Untersuchung dieser Verbrechen lief noch, und man verdächtigte Crayline. Doch konnte man ihm die Täterschaft nicht eindeutig nachweisen, obwohl er sich zur Tatzeit in der Nähe aufgehalten hatte.

Letztendlich führte Stones Entführung jedoch zum gewünschten Ergebnis: Bobby Lee wurde zu dreißig Jahren Gefängnis verurteilt und hatte seine Haftstrafe vor drei Monaten angetreten.

»Wann soll die Hypnose stattfinden?«, fragte ich Dr. Wainwright und versuchte die Erinnerung an Bobby Lee Crayline abzuschütteln.

»Heute um elf Uhr.«

»Schieben Sie den Anwälten einen Riegel vor, Doktor«, sagte ich. »Reden Sie Tacheles. Bobby Lee Crayline ist wie die Büchse der Pandora, von der man besser die Finger lässt.«

»Können Sie mir helfen, die Anwälte davon zu überzeugen, dass die Hypnose für ihren Klienten gefährlich ist?«

»Sie überschätzen mich, Doktor. Ich kann doch nicht einfach …«

»Wenn Sie hierherkommen und mir helfen, können Sie von mir verlangen, was Sie wollen«, versprach sie.

Das Institut lag westlich von Montgomery. Die Fahrt dorthin dauerte knapp drei Stunden. Seufzend registrierte ich den hungrigen Blick von Mr. Mix-up, meinem Hund, der mit dem Futternapf im Maul in der Tür stand und mit dem Schwanz wedelte. Er konnte es kaum erwarten, dass ich ihn fütterte und mit ihm Gassi ging.

»Ich komme nur unter der Bedingung, dass ich meinen Hund mitbringen kann, Doc.«

»Geht in Ordnung, tun Sie das.«

Ich legte auf und warf einen Blick in meinen fast leeren Kleiderschrank. Eigentlich hatte ich vorgehabt, heute endlich mal die Wäsche zu waschen. Ich fischte das Hemd vom vergangenen Tag aus dem Korb und machte den Geruchstest: Der Mief stieg mir schon in die Nase, ehe ich an dem Stoff roch. In Ermangelung einer Alternative entschied ich mich also für ein zwangloses Outfit: geflickte Jeans und ­eines von den Hemden, die Harry mir vererbt hatte. Das Muster bestand aus Martini schlürfenden Pinguinen mit Sonnenbrille. Harry war es zu konservativ gewesen. Mir war es zwei Nummern zu groß, doch dafür bequem. Da ich auch keine frischen Socken finden konnte, schlüpfte ich barfuß in meine abgetretenen Laufschuhe.

Ein Blick in den Spiegel brachte mich zu der Überzeugung, dass meine Harre zu lang waren. Wieso merkte ich das erst jetzt? Der Mann, der mir entgegenblickte, hatte große Ähnlichkeit mit einem sechsunddreißigjährigen Kerl, der gerade von einem Jimmy-Buffett-Konzert kam.

Ich fütterte Mr. Mix-up und verfrachtete ihn in meinen alten Pick-up, den ich mit einer Schaumstoffwalze grau angestrichen hatte. Dann atmete ich tief durch, startete den Motor und fuhr Richtung Norden zum Institut in der Hoffnung, die Umsetzung einer der dümmsten Ideen, die mir seit langem zu ­Ohren gekommen waren, zu vereiteln.

Kapitel 2

Auf dem Parkplatz des Instituts standen zwei Fahrzeuge auf den für Besucher reservierten Stellplätzen: ein großes, burgunderfarbenes Mercedes-Schlachtschiff, das aussah, als könnte man es nicht von der Stelle bewegen, und eine silbern funkelnde Corvette jüngeren Datums. Die beiden Autos hatten in etwa so viel Ähnlichkeit wie ein filigran gearbeiteter Stöckelschuh mit einem Kohlebrikett.

Ganz in der Nähe wartete ein brauner Gefängnistransporter vom Holman Prison mit einem schwer gesicherten Käfig im Laderaum. Da es Anfang Januar war und gerade mal neun Grad herrschten, liefen Motor und Heizung. Wenn man im Süden von Alabama aufwächst und an neun Monate Sommer gewöhnt ist, wird man zwangsläufig zu einem Weichei. Sobald die Temperatur unter vier Grad fällt, nehmen wir heiße Bäder und halten bis zur Magno­lienblüte Winterschlaf.

Vorn im Wagen saßen zwei gelangweilt wirkende Wärter und rauchten. Ich trottete zu ihnen hinüber, hielt meine Marke hoch und bat sie mit einer Handbewegung darum, das Fenster herunterzukurbeln.

»Aus welchem Grund sind Sie hier?«, fragte ich.

Der Fahrer, ein alter harter Hund mit Hasenzähnen, ­Lidern auf Halbmast und Doppelkinn, schob seinen Hut in den Nacken. »Wir haben Bobby Lee Crayline vom Holman hierher verfrachtet. Meiner Einschätzung nach müsste er jeden Moment rauskommen.«

»Wissen Sie, dass er hier ist, um hypnotisiert zu werden?«

Der harte Hund verzog den Mund zu einem höh­nischen Lächeln. »Ist doch nur so ein hinterfotziger juristischer Kniff, damit er in eine gemütliche Irrenanstalt kommt. Wenn’s nach mir ginge, könnten sie Crayline so lange hypnotisieren, dass er sich einbildet, er wäre ein Lagerfeuer.«

»Wieso das denn?«

»Dann können wir Erde auf ihn raufschaufeln und in ­aller Seelenruhe abwarten, bis ihm die Luft ausgeht.«

Ich lief zu meinem Truck zurück und öffnete die Tür, woraufhin Mr. Mix-up wie ein Torpedo herausgeschossen kam, neben meinen Füßen auf und ab sprang und im Kreis um mich herum lief. Mix-up war, was den Hundegenpool betraf, reich beschenkt worden. Sein Rumpf war dick, der Brustumfang beträchtlich, das Fell kurz und glatt und nur an Schwanz und Hinterbeinen mit flauschigen Büscheln verziert. Mix-ups Pfoten erinnerten an Topflappen, seine Schädelform deutete auf einen Bernhardiner hin, und seine Ohren baumelten so lang von seinem Kopf herunter wie die eines Bassets. Seine riesigen Augen funkelten neugierig. Sein mächtiger Körper war schwarz-weiß-braun gefleckt, die Hinterbeine rostrot eingefärbt. Als ich Mix-up das erste Mal gesehen hatte, hielt ich ihn für eine zum Leben erwachte Figur aus einem Dr.-Seuss-Roman.

»He, Detective, was für eine Hunderasse ist das?«, rief einer der Wärter aus dem Fenster.

»Meiner Meinung nach steckt da ein bisschen von allem drin«, sagte ich.

»Und vermutlich noch eine Portion Pferd und Vogel Strauß«, meinte der Wärter und schüttelte verwundert den Kopf.

Ich passierte die Sicherheitsschleuse, warf einen Blick auf das Formular auf dem Klemmbrett, in das sich jeder Besucher eintragen musste, und überflog die drei heutigen Einträge. Zwei Unterschriften stammten von den Mitarbeitern einer Kanzlei namens Dunham, Krull & Slezak. Die in Memphis ansässige Anwaltsfirma verfügte über hochkarätiges Personal und niedrige moralische Standards und verteidigte jeden, der genügend Geld oder Publicity bot. Bobby Lee Crayline fiel in keine der beiden Kategorien, doch was das anging, hatte ich mich schon des Öfteren getäuscht.

»Wer nimmt an dem Meeting teil?«, fragte ich Theotis Burns, der mir entgegenkam. Er kümmerte sich im In­stitut um alle administrativen Aufgaben. Der Mann war dreiundvierzig, von zierlicher Statur und trug vorzugsweise dunkle Anzüge aus fließendem Stoff. Er erinnerte mich immer an den Rapper-Unternehmer Puff Daddy oder P. Diddy, obwohl dieser natürlich nie an einem Ort arbeiten würde, an dem es Flure mit roten Alarmknöpfen gibt.

»Dr. Wainwright und drei Herren«, verkündete Theotis. »Einer von denen sieht aus, als wäre er lieber Schauspieler. Voller weißer Haarschopf, noch weißere Zähne. Trägt Anzüge aus reiner Seide, die mindestens zweitausend Dollar kosten. Der andere ist ein korpulenter Typ in einem Anzug von der Stange. Er scheint ein Faible für diese Intellektuellenbrillen mit runden Gläsern zu haben, für graue Socken und Scheiß-Hush-Puppies. Verströmt Seelenklempnerfreundlichkeit aus jeder Pore, muss also der Hypnotiseur sein.«

»Und wer ist der Dritte?«

»Hart wirkender Bursche, großgewachsen, musste draußen seine Glock 17 abgeben, was ihn nicht sonderlich gefreut hat.«

»Was halten Sie von dieser Nummer?«, fragte ich, wohl wissend, dass Theo nichts entging.

»Carson, ist Ihnen bekannt, dass Bobby Lee Crayline vor zwei Jahren für ein paar Monate bei uns war? Nachdem er den Typen im Ring umgebracht hat?«

Ich nickte. »Vangie hat ihn eingehend studiert.«

»Crayline zieht Menschen an wie das Licht die Motten. Er verdreht den Leuten den Kopf und verursacht andauernd Probleme. Es war von Anfang an klar, dass er nicht auf Dauer bei uns bleibt. Irgendwann hat Dr. Prowse ihn zurück ins Gefängnis geschickt. Crayline legte Berufung ein und wurde vom Richter auf freien Fuß gesetzt.«

»Ich war immer davon überzeugt, dass er irgendwann wieder einfährt«, sagte ich. »Es hat zwar eine Weile gedauert, bis man ihn wegen Menschenraubes drangekriegt und verurteilt hat, aber immerhin. Und vielleicht lässt sich ja noch beweisen, dass er die in Alabama gefundenen Leichen zu verantworten hat.«

»Als Bobby Lee damals bei uns war, hat Dr. Prowse immer wieder überlegt, ob sie ihn hypnotisieren soll, sich am Ende jedoch dagegen entschieden. Hat Sie Ihnen mal Ihre Beweggründe dargelegt, Carson?«

Ich nickte. »Vangie fürchtete, dass er dekompensiert, und ihn die Rückführung in die Vergangenheit in einen Zustand versetzt, der ihn noch gefährlicher macht.«

»Er hat ja auch so schon genug Probleme, sich zusammenzureißen.«

»Wenn er auf andere eindrischt, lässt er Dampf ab, Theo. Für ihn ist das eine Art Ventil.«

Theotis schüttelte den Kopf und entfernte sich. Ich brachte Mix-up in einen kleinen Besprechungsraum und warf einen Hundekeks auf den Boden. Während er sich, wie es so seine Angewohnheit war, sofort auf den Keks stürzte, schloss ich schnell die Tür, machte mich auf die Suche nach dem Konferenzraum und klopfte an.

Ohne eine Antwort abzuwarten, steckte ich den Kopf durch den Türspalt in einen spärlich möblierten Raum mit indirekter Beleuchtung. In der kühlen Luft hing ein künstlicher Zitronenduft. Zwei Männer saßen am Tisch. Der eine von ihnen – er hatte eine üppige weiße Haarmähne und ­einen triefäugigen Blick – erinnerte an den Countrysänger Porter Wagoner. Er ging auf die sechzig zu und legte sich anscheinend häufig auf die Sonnenbank. Was sein Outfit anbelangte, hatte Theotis richtiggelegen. Während Wagoner am liebsten schwer mit Pailletten bestickte Anzüge trug, schien dieser Typ Seidenzwirn in gedecktem Grau zu bevorzugen, der locker dreitausend Dollar kostete.

Neben ihm saß ein großgewachsener, breitschultriger Mann Mitte dreißig mit tiefliegenden Augen und buschigen Brauen, die mich an einen Neandertaler auf Steroiden denken ließen. Sein schwarzer Anzug saß recht locker, damit er problemlos seine Glock ziehen konnte – die man ihm am Eingang abgenommen hatte.

An der Stirnseite des Tisches hockte ein Mann mit der Figur eines Pinguins, auf dessen Schoß eine Aktentasche lag. Bis auf ein paar spärliche Haarsträhnen war er kahl. Er trug ein Menjoubärtchen, einen schlecht sitzenden Anzug und hatte sanfte blaue Augen, die hinter seinen dicken Brillengläsern kaum zu erkennen waren. Er war schätzungsweise Anfang sechzig und musste der Seelenklempner sein.

»Wo ist Dr. Wainwright?«, fragte ich.

»Auf der Toilette«, antwortete der Neandertaler und ­beäugte mich, als wäre ich ein Penner, der ungebeten auf einer Hochzeit auftaucht. »Warten Sie draußen. Dann verpassen Sie sie nicht.«

»Ich werde hier drinnen warten«, verkündete ich und trat ein.

»Dieses Treffen ist nicht öffentlich.« Mr. Urzeit erhob sich und versuchte, mich mit ausgestreckter Hand zurückzuweisen. Der Kerl bewegte sich wie ein Türsteher, und ich hatte Türsteher noch nie leiden können.

»Ich stehe auf der Gästeliste«, meinte ich.

»Und ich sagte, dass dieses Treffen nicht öffentlich ist.«

Als ich auf einen Stuhl zuhielt, bohrte mir der Neandertaler seinen Finger ins Brustbein. Typisch Türsteher! Ich presste mein Bein gegen seins, packte sein Handgelenk und drehte mich wie ein Schlittschuhläufer bei einer Sitzpirouette. Der Neandertaler stolperte über den Boden und warf dabei zwei Stühle um. In Windeseile fand er sein Gleich­gewicht wieder, ballte die Fäuste und bombardierte mich mit wütenden Blicken. Ich fischte meine Brieftasche heraus und zeigte ihm meine Marke.

»Kriegen Sie sich wieder ein«, sagte ich.

»Was geht hier vor?« Doc Wainwright erschien im Türrahmen und schaute zwischen den umgeworfenen Stühlen und meiner Marke hin und her.

»Wir sind gerade dabei, uns kennenzulernen, Doc«, erklärte ich.

»Setz dich, Bridges«, befahl eine Stimme hinter mir leise, aber mit Nachdruck. Der gebräunte Kerl mit der weißen Tolle musterte mich interessiert und hielt mir mit ­spitzen Fingern eine Visitenkarte hin, als wollte er einem Pagen ein Trinkgeld geben.

»Was steht da drauf?«, fragte ich.

»Ich bin Arthur Slezak von Dunham, Krull & Slezak. Robert Craylines Rechtsbeistand. Die restlichen Anwesenden sind Charles Bridges, den Sie ja … ähm … gerade kennengelernt haben, und Dr. Walter Neddles, Psychiater und ausgebildeter Hypnotiseur. Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen?«

Slezak setzte eine Lesebrille auf und überflog meine Personalien, während ich seine rosigen Hände und die perfekt manikürten Nägel studierte. Sein linkes Handgelenk zierte eine Rolex, die mehr kostete, als ich im halben Jahr verdiente. Mir fiel auf, dass er die Stirn runzelte, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern.

»Mobile?«, meinte er schließlich. »Haben Sie sich da nicht ein bisschen weit aus Ihrem Zuständigkeitsbereich herausgewagt?«

»Ich habe ihn um seine Anwesenheit gebeten«, erklärte Wainwright und ließ sich auf dem Stuhl am Kopfende des Tisches nieder, gegenüber dem Pinguin.

»Und aus welchem Grund, Doktor?«

»Detective Ryder kennt die Gefahr, die Crayline darstellt, und auch er warnt eindringlich vor einer Hypnose.«

Neddles räusperte sich. »Ich versichere Ihnen, Dr. Wainwright, dass ich schon mehrere gefährliche Personen hypnotisiert habe. Terrence Crump, Ernesto Vasquez, Rhonda Sue Bolz …«

»Die sind mir durch die Bank bekannt«, schnitt ich ihm das Wort ab. »Crump, der über ältere Damen hergefallen ist, habe ich selbst gejagt und zur Strecke gebracht. Bolz hat im Krankenhaus Menschen vergiftet, Vasquez Trinker und Obdachlose getötet. Haben Sie sich mit Bobby Lee Crayline beschäftigt, Doktor? Seine Gewaltbereitschaft ist von einem ganz anderen Kaliber.«

Slezak gab ein zuckersüßes Lächeln zum Besten. »Falls sich herausstellt, dass man Mr. Crayline nicht hypnotisieren kann, packen wir sofort ein, aber einen Versuch ist es wert.«

»Was hoffen Sie zu erfahren?«

»Nichts, was für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Ich würde gern herausfinden, ob Mr. Crayline Dinge weiß, deren er sich gar nicht bewusst ist.«

»Das klingt ziemlich vage«, sagte ich. »Werden Sie Bobby Lee zu den drei Leichen befragen, die in seiner Heimatstadt gefunden wurden?«

»Das ist absolut nebensächlich«, winkte Slezak ab. »Dafür, dass Mr. Crayline mit diesen Morden etwas zu tun haben soll, gibt es keinen einzigen Anhaltspunkt.«

»Bis jetzt noch nicht«, sagte ich.

»Ich habe entschieden, dass eine Hypnose zu gefährlich ist«, unterbrach uns Wainwright mit entschlossener Miene. »Es tut mir leid, dass Sie sich solche Umstände gemacht haben, aber ich muss Ihnen leider meine Zustimmung verweigern.«

Slezak zog ein Schreiben aus der Aktentasche, die neben seinen Füßen stand, schob seine Brille hoch und tippte auf die Seiten. »Ist Ihnen klar, Dr. Wainwright, dass der Staat den Grund und Boden, auf dem dieses Gebäude steht, dem Institut für einen Dollar pro Jahr überlässt? Und dass es da eine Klausel gibt, die besagt, dass diese Vereinbarung hinfällig wird, falls das Institut das Wohlergehen der hiesigen Bürger gefährdet?«

»Wir gefährden überhaupt niemanden«, entgegnete Wainwright.

Slezak mimte Konfusion. »Ist nicht vor zwei Jahren ein Patient aus diesem Institut geflohen? Ein Mann, der seinen Vater und fünf Frauen auf dem Gewissen hat? Und war er nicht der Hauptverdächtige im Fall Evangeline Prowse, die vor ihrer Ermordung dieses Institut leitete?«

»Jeremy Ridgecliff«, sagte Wainwright gepresst und lehnte sich vor. »Der Mann hat sich nie hier in der Gegend herumgetrieben. Und niemand weiß, was nach seiner Flucht passiert ist. Aber sicherlich ist Ihnen zu Ohren gekommen, welche Rolle Ridgecliff bei der Hotelexplosion gespielt haben soll, bei der …«

Slezak fiel ihr ins Wort, schnippte mit den Fingern und wandte sich an mich.

»Jetzt weiß ich wieder, wieso mir der Name Ryder bekannt vorkam. Sie waren doch der Polizist, der nach New York geschickt wurde, um Ridgecliff dingfest zu machen. Und erzählen Sie mir jetzt bitte nicht, dass dieser Mann kein bestialischer Mörder ist.« Slezak hob eine weiße ­Augenbraue, als wäre Ridgecliffs Schuld in Stein gemeißelt und jeder, der in diesem Punkt eine andere Ansicht vertrat, zwangsläufig debil.

»Ich stelle Ridgecliffs Schuld tatsächlich in Frage. Würden wir jetzt noch mal die Morde an den Frauen unter­suchen, kämen wir womöglich zu einer anderen Einschätzung.«

»Aber Ridgecliff versteckt sich noch immer, oder?«, konterte Slezak. »Macht er Anstalten, seine Unschuld zu beweisen? Hat er jemals zu irgendjemandem Kontakt aufgenommen?«

Ich lief rot an und wandte den Blick ab, denn ich hatte erst vor einer Woche mit Jeremy Ridgecliff gesprochen. Seit seiner Flucht hatten wir uns bereits siebzehnmal miteinander unterhalten. Tatsächlich redete ich regelmäßig mit ihm, auch wenn ich nie wusste, von wo aus er mich anrief.

Es heißt, dass jeder Mensch ein großes Geheimnis hat, und dies ist meines: Jeremy Ridgecliff ist mein Bruder. Mit Hilfe einer Namensänderung und anderen Vertuschungsaktionen ist es mir gelungen, unsere Verwandtschaft geheim zu halten. Die Personen, die Bescheid wissen, lassen sich an einer Hand abzählen. Obwohl ich Jahre darauf verwendet habe, meine Beziehung zu Jeremy und unsere gemeinsam verbrachte Kindheit zu vertuschen, bin ich zu ­guter Letzt in New York auf ihn gestoßen und habe mich ungewollt als Werkzeug für seine Flucht benutzen lassen. Ich hatte zwar nicht den geringsten Schimmer, wo er gerade steckte, aber ich wusste, dass er klug genug war, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, um einer Festnahme auch weiterhin zu entgehen.

»Detective Ryder?«, drängte Slezak. »Sie beantworten meine Frage nicht. Ist Ridgecliff auf der Flucht vor den Gesetzeshütern?«

»Ja.« Mehr brachte ich nicht über die Lippen.

Slezak warf mir ein bösartiges Lächeln zu und richtete das Wort an Wainwright. »Ein geistesgestörter Mörder auf der Flucht, Doktor? Was wird Ihrer Meinung nach passieren, wenn das die Bürger erfahren, brave Steuerzahler, die Ihnen erstklassigen Grund und Boden für einen lächer­lichen Betrag überlassen? Das könnte sich durchaus negativ auf Ihre Finanzlage auswirken.«

»Das, was wir hier tun, ist wichtig«, verteidigte sich Wainwright. »Sie können doch nicht unsere Arbeit gefährden, nur um …«

Alle blickten zu mir hinüber, als ich mich erhob und Nancy Wainwright mit dem Finger heranwinkte.

»Doc? Können wir kurz draußen im Flur sprechen?«

Sie folgte mir, und ich schloss die Tür.

»Der blufft nur«, meinte sie. »Das macht dieser Schleimer nie und nimmer.«

»Vielleicht doch, nur um Ihnen zu demonstrieren, wozu er fähig ist«, warnte ich sie. Im Lauf meines Lebens war ich vielen Typen wie Slezak begegnet.

»Wenn ich das Institut jetzt auch noch gegenüber der Öffentlichkeit verteidigen muss, kostet mich das den letzten Nerv«, seufzte Wainwright, lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das wird die Mitarbeiter beunruhigen und die Forschung in Gefahr bringen. Der Mistkerl hat mich in der Hand.«

»Slezak tut sein ganzes Leben nichts anderes, als die Schwächen von anderen auszunutzen, Doc.« Ich legte ihr die Hand auf die Schulter. »Da man davon ausgehen sollte, dass sie Crayline auf jeden Fall hypnotisieren, wäre es vielleicht besser, wenn das hier und unter Ihrer Aufsicht stattfindet, oder?«

Sie streckte die Hand aus und fuhr mit dem Finger vorsichtig über einen der roten, in die Wand eingelassenen Alarmknöpfe.

»Wollen wir hoffen, dass es das wert ist«, seufzte sie.

Kapitel 3

Wir gingen in den angrenzenden Raum mit dem Einwegspiegel, um von dort aus Craylines Hypnose zu beobachten. Die Lautsprecher in dem kleinen, dunklen Kabuff erlaubten es uns, das Gespräch mitzuhören. Der Lautsprecherschalter befand sich neben dem Spiegel. Die ganze Ausstattung erinnerte an ein Aufnahmestudio aus vergangenen Zeiten.

Slezak, Wainwright und ich ließen uns auf Stühlen nieder und spähten in das andere Zimmer, in dem sich Dr. Needles und Bridges aufhielten. Der Raum war in sanften, neutralen Tönen gehalten, die offenbar beruhigend wirken und von den am Betonboden fixierten Stahlringen ablenken sollten. Das Mobiliar bestand aus zwei Stühlen, einem Tisch und einem Sofa, das vor der gegenüberliegenden Wand stand.

»Ich bestehe darauf, dass bei der Hypnose ein Pfleger anwesend ist«, forderte Wainwright.

»Mr. Bridges war früher Soldat«, erklärte Slezak. »Er ist durchaus in der Lage, einzuschreiten, falls die Situation es erfordert.«

Als hätte er die Worte gehört, drückte Bridges den Rücken durch, schob das Kinn vor und mimte den harten Burschen. Wainwright warf mir einen fragenden Blick zu. Da Bridges als freier Mitarbeiter bei Dunham, Krull & Slezak arbeitete, die häufig Leibwächter, Zwangsvollstrecker und Kopfgeldjäger beschäftigten, musste er knallhart, fies und niederträchtig sein, wenn er auch in Zukunft auf der Gehaltsliste stehen wollte.

»Das geht in Ordnung«, sagte ich.

Wainwright griff nach dem Telefon auf dem Tisch neben ihr. »Ich werde jetzt veranlassen, dass Bobby Lee hereingebracht wird.«

Eine Minute später schlurfte Crayline nonchalant und mit einem Grinsen auf den Lippen herein, als hätte er das Treffen einberufen. Der Mann war knapp einen Meter neunzig groß, hundert Kilo schwer und hatte die breiten Schultern und schmalen Hüften eines Schwimmers. Sein kahlrasierter Schädel war mit zahllosen Narben überzogen, von denen manche aussahen, als trüge er sie schon seit frühster Jugend. Ich überlegte, wann und wie sie ihm wohl zugefügt worden waren. Unter der Anstaltskleidung, die Crayline trug, zeichneten sich seine überdimensionierten Muskeln deutlich ab. Dieser Typ war solch eine Urgewalt, dass bei seinem Eintreten selbst ein Blinder in Habachtstellung gegangen wäre.

Mit seinen strahlend grünen Augen nahm Crayline seine Umgebung unter die Lupe, als müsse er überprüfen, ob der Raum und die Anwesenden seinen Ansprüchen genügten. Sein Verhalten legte nahe, dass er über den Besuch seines Anwalts und sein Recht auf die bevorstehende Hypnose in Kenntnis gesetzt worden war und er dieser Maßnahme zugestimmt hatte, wenn auch nur, um einer Weile der Monotonie des Gefängnisalltags zu entkommen.

»Nehmen Sie Platz, Crayline«, forderte Bridges ihn auf.

Crayline drehte sich so abrupt zu Bridges um, als würde er ihn erst jetzt bemerken. »Sie sind wohl ’ne harte Nummer, was?«

»Hart genug, Großmaul«, erwiderte Bridges mit herausforderndem Blick und legte die Hand auf die Stuhllehne. »Setzen.«

Crayline wandte sich ab und flüsterte ein paar Worte.

»Was war das?«, fragte Bridges und beugte sich vor. »Was hast du gesagt?«

Crayline drehte blitzschnell den Kopf herum und fletschte die Zähne wie ein Pitbull, der über ein Stück Fleisch herfällt. Bridges wich zurück und stieß mit voller Wucht gegen den Tisch, der über den Teppich rutschte. Crayline grinste. Bridges, dem die Schamesröte ins Gesicht stieg, rückte den Tisch wieder an Ort und Stelle.

»Setzen«, wiederholte er erbost.

Crayline schlenderte zum Tisch hinüber, stellte sich vor den Stuhl und beugte die Knie. Erst als Bridges ihm den Stuhl unter den Hintern schob, ließ er sich nieder. Bridges spielte Craylines Butler, ohne es zu bemerken. Die Aktion demonstrierte eindrücklich, wie der Hase hier lief.

Bridges befestigte Craylines Fußkette am Eisenring unter dem Tisch und baute sich vor der Wand auf. Dr. Needles öffnete seine Aktenmappe, legte sie auf den Tisch und nahm gegenüber von Crayline Platz. Offensichtlich litt der Gefangene an einem Schnupfen, denn gelber Schnodder lief ihm aus der Nase. Needles reichte ihm ein Papier­taschentuch.

»Würden Sie bitte Ihre Nase putzen, Mr. Crayline?«

Bobby Crayline schob die Unterlippe über die Oberlippe, saugte das Nasensekret ein und schob es zwischen den Backen hin und her, als koste er einen alten Wein.

»Schmeckt wie frische Austern«, befand er grinsend, zwinkerte seinem Gegenüber zu und schluckte. »Wie’s aussieht, hab’ ich mein eigenes Fischlokal.«

Slezak, der neben mir saß, verzog das Gesicht und murmelte: »Jesus.«

Craylines sah zum Spiegel hinüber, als erblicke er ihn zum ersten Mal. Mir kam es vor, als starre er mich direkt an. Und dann, ich weiß nicht, wie er das anstellte, veränderte sich urplötzlich sein Blick.

Für den Bruchteil einer Sekunde wirkten seine Augen wie die eines tollwütigen Wolfs.

Ich blinzelte, und als ich wieder hinschaute, war Cray­lines Blick normal, doch mein Herz schlug deutlich schneller. Bridges verzog sich in eine Zimmerecke, während Needles eine Triangel und einen kleinen Stahlstab hervorholte. »Beim ersten Ton begeben Sie sich auf eine musikalische Reise, Mr. Crayline. Und jeder weitere Ton wird Ihnen helfen, in Trance zu verfallen.«

»Und was, wenn ich kein Trance-Typ bin, Doc?«

»Sie haben doch versprochen, dass wir es versuchen, Bobby«, flötete Needles. »Schließen Sie die Augen, denken Sie an gar nichts, konzentrieren Sie sich nur auf diesen ­einen Ton …«

Kaum hatte Crayline die Augen geschlossen, schlug der Psychologe zweimal mit dem kleinen Stab gegen die Triangel.

Pling, pling.

»Entspannen Sie sich, Bobby Lee. Atmen Sie ruhig und gleichmäßig. Ein und aus. Wie die Wellen des Meeres …«

Pling. »… Die Brandung umspült Ihre Beine …«

Mit dem rhythmischen Schlagen der Triangel leitete Needles die Hypnose ein mit dem Ziel, Crayline in einen veränderten Bewusstseinszustand zu versetzen. Nach mehreren Minuten ließ Crayline den Kopf hängen, seine Züge entspannten sich, seine Augen blieben geschlossen.

»Mein Gott«, entfuhr es Dr. Wainwright. »Ich glaube, es funktioniert.«

Needles legte die Triangel beiseite, griff in seine Tasche und zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus, auf dem eine Reihe Fragen standen. So wie es aussah, hatte Crayline sein persönliches Höchstmaß an Ausgeglichenheit erreicht. Über die Lautsprecher hörten wir seine ruhigen und gleichmäßigen Atemzüge. Ich wartete schon gespannt auf das bevorstehende Spektakel, doch dann stand Slezak auf, trat vor den Spiegel und schaltete die Lautsprecher aus. Mit einem Schlag war es mucksmäuschenstill im Raum.

»Ich muss hören, was da gesprochen wird«, protestierte Wainwright mit finsterer Miene.

»Diese Informationen sind vertraulich«, entgegnete Slezak. »Darauf muss ich im Namen meines Mandanten bestehen.«

»Was halten Sie davon, wenn ich den Raum verlasse, Slezak?«, schlug ich vor. »Dann sind nur der Doc und Sie anwesend. Können Sie damit leben?«

»Nein, ich muss Sie beide bitten, nach draußen zu gehen und dort zu warten, bis wir fertig sind.«

Wainwright warf einen Blick in den angrenzenden Raum und vergewisserte sich, dass dort alles seine Ordnung hatte. »Wir warten vor der Tür.« Ihre Stimme vi­brierte vor Missbilligung.

»Ganz wie es Ihnen beliebt«, erwiderte Slezak. Wainwright und ich traten in den Flur.

»Glauben Sie, er ist wirklich weggetreten?«, fragte ich. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass Crayline unter Hypnose steht.«

»Manchmal braucht es gerade bei den Personen, denen man es am wenigsten zutraut, nur ein Fingerschnippen. Wer dazu prädestiniert ist, erfährt man erst, wenn man das Pendel schwingt.«

»Ich vermute mal, Slezak hat Ihnen nicht erzählt, in wessen Auftrag er handelt«, sagte ich.

»Zwischen den Zeilen hat er angedeutet, Bobby Lee selbst sei an ihn herangetreten.«

»Woher soll ein Kerl wie Bobby Lee jemanden wie Slezak kennen?«, überlegte ich. »Es muss jemand anders dahinterstecken.«

Ich setzte mich hin und blätterte eine drei Tage alte Zeitung durch, die ich im Aufenthaltsraum der Mitarbeiter gefunden hatte. Doc Wainwright vertrieb sich das Warten mit dem Studium von Patientenakten. Ein Geräusch drang aus dem Hypnoseraum. Ich spitzte die Ohren, hörte aber nichts mehr und konzentrierte mich wieder auf meine Zeitung.

Fünfundzwanzig Minuten später legte ich das Nachrichtenblatt weg. Wieder drang ein Geräusch aus dem Zimmer, das sich für mich wie ein Quieken anhörte. Und dann stöhnte jemand ganz deutlich. Ich blickte zu Wainwright hinüber.

»Scheiß auf die Vertraulichkeit«, sagte sie und drehte sich zu dem Beobachtungsraum um. »Irgendetwas läuft da aus dem Ruder.«

Gemeinsam stürmten wir in das Zimmer hinter dem Spiegel. Slezak sprang auf und funkelte uns wütend an. »Ich möchte, dass Sie sofort wieder verschwinden!«

Ohne auf ihn einzugehen, liefen wir zu dem Spiegel. Wie ferngesteuert schwenkte Bobby Lee Crayline den Kopf hin und her und riss den Mund auf, als wollte er einen Schrei ausstoßen, doch die dicke Glasscheibe ließ kein Geräusch durch.

»Dr. Needles hat etwas ausgelöst, das sehr schmerzhaft ist«, konstatierte Wainwright.

»Wenn Sie nicht sofort den Raum verlassen, zerre ich Sie vor den Kadi«, brüllte der Anwalt. »Ich werde dafür sorgen, dass Sie …«

Slezak verstummte, als Crayline so laut aufheulte, dass wir es auch ohne angeschaltetes Mikrophon hörten. Sein Körper zuckte unkontrolliert. Er ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. »Die Hypnose ist viel zu tief«, warnte Wainwright. »Keiner weiß, was Crayline gerade durchmacht.«

Als Bobby Lee abermals aufschrie, vibrierte die Glasscheibe, und ich schaltete die Lautsprecher ein.

»ICH HABE SIE IRRTÜMLICH GETÖTET«, schrie Bobby Lee wie von Sinnen. »JETZT STECKEN SIE FÜR ­IMMER DORT FEST!«

Needles schaute völlig verdutzt aus der Wäsche. Die Worte ergaben keinen Sinn. Bobby Lee begann auf und ab zu springen, als wollte er mit dem Kopf die Decke berühren. Immer wieder hüpfte er nach oben und heulte dabei, als brenne der Boden unter seinen Füßen. Er ging in die Knie, sprang, ging in die Knie und sprang wieder. Bridges rannte zu Crayline hinüber und versuchte, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen.

Crayline riss einen Arm in die Höhe. Die Sicherungskette peitschte durch die Luft. Mir wurde eiskalt ums Herz. Offenbar war es Crayline gelungen, ungeahnte Kraftreserven zu mobilisieren und den Eisenring aus dem Beton­boden zu reißen.

»Er hat sich befreit«, rief ich.

Voller Entsetzen verfolgte ich, wie der Wahnsinnige mit seinem Schädel gegen Needles’ Kopf schlug, woraufhin der Hypnotiseur gleich einem Ballon, aus dem die Luft entweicht, in sich zusammenfiel. Bridges versuchte, Crayline mit einem Tritt in die Eier schachmatt zu setzen, traf allerdings nur dessen Schenkel. Der Irre duckte sich, rammte Bridges mit der Schulter, drückte ihn zuerst gegen die Wand und dann zu Boden. Anschließend drehte Bobby Lee sich um und stierte in den Spiegel. Da war er wieder, dieser Blick eines tollwütigen Wolfes, der mir schon vorhin auf­gefallen war.

Nun beugte Crayline Kopf und Oberkörper nach unten wie ein schnaubender Bulle, der jeden Moment angreift.

»Gütiger Gott«, flüsterte Wainwright. Es gelang mir gerade noch, sie wegzuziehen, bevor Crayline wie eine in der Hölle gezündete Rakete durch den Spiegel gesprungen kam. Ich warf mich auf ihn und versuchte, einen Arm um seinen dicken Hals zu schlingen. Doc Wainwright rief aus voller Kehle nach dem Wachpersonal. Gleich einem Hengst beim Rodeo bäumte sich Crayline auf und schleuderte mich quer durch den Raum. Bis ich wieder auf die Beine kam, hatte Crayline Slezak im Schwitzkasten und machte sich ­daran, dem Anwalt das Genick zu brechen. Ohne zu über­legen, umklammerte ich Craylines muskelbepackte Arme, die sich hart wie Kanonenkugeln anfühlten.

Alarm wurde ausgelöst. Wachen stürmten durch die Tür. Elektroschockpistolen kamen zum Einsatz. Wie ein Kind, das in einen tiefen Brunnen fällt, stieß der Irre einen letzten hohen Schrei aus, der mir durch Mark und Bein ging.

Und damit war die Hypnose von Bobby Lee Crayline beendet.

Kapitel 4

Wainwright und ich warteten in der warmen Sonne Alabamas, bis der ruhiggestellte Crayline – man hatte ihn auf eine Rollbahre gelegt und mit Hand- und Fußfesseln an den Seitenstangen fixiert – in den Gefängnistransporter verfrachtet wurde. Ich hatte Mix-up an die Leine genommen und ihm befohlen, mir nicht von der Seite zu weichen.

Ein Stück weiter drüben stand Bridges, schwer gede­mütigt von dem Mann, den er im Zaum hätte halten sollen. Dr. Needles hatte sich aller Wahrscheinlichkeit nach eine Gehirnerschütterung zugezogen, konnte sich jedoch artikulieren, was darauf hindeutete, dass er sich von der Attacke bald erholen würde. Sanitäter legten Slezak eine Halskrause um. Sein Gesicht war so blutleer, als hätte er eben in ein Grab geschaut und begriffen, dass es für ihn bestimmt war.

»Wir kommen jetzt raus«, rief einer der jüngeren Wachmänner und schob Bobby Lee Crayline zum Transporter hinüber. Crayline griente wieder und tat so, als wäre die Rollbahre eine Sänfte, auf der er durch jubelnde Massen getragen wurde. Mix-up machte einen Satz auf Crayline zu, als verströme der Mann den Geruch von rohem Fleisch. Ich zog den Hund zu mir heran und sah, wie Bridges’ Knöchel weiß anliefen, als Crayline näher kam. Der Neander­taler hielt auf den gefesselten Crayline zu, senkte den Blick und starrte ihn an. Oh-oh, dachte ich und erstarrte.

Bridges räusperte sich, spuckte Crayline ins Gesicht und sagte: »Jetzt kannst du mal von meinen Austern kosten, Schwuchtel.«

»Treten Sie zurück, und zwar sofort«, knurrte der Wachmann, drückte Bridges mit der Schulter zur Seite und schob die Bahre weiter Richtung Transporter.

»Wie viel Unzucht braucht es, um so was wie dich zu produzieren, Crayline?«, rief Bridges dem Gefangenen hinterher. »Wie viele Generationen von zurückgebliebenen Brüdern müssen da ihre degenerierten Schwestern ficken?«

Wainwright marschierte auf Bridges zu und packte ihn am Arm. »Bridges! Das reicht!«

Aber Bridges war noch nicht fertig. »Wie war deine Kindheit, Crayline?«, wütete er. »Ich würde eine Stange Geld wetten, dass dich alle männlichen Familienmitglieder vernascht haben. Hast wahrscheinlich Lippenstift aufgelegt und nach mehr verlangt.«

Craylines Grinsen verblasste, bis seine Miene nicht mehr zu entziffern war. Er riss den Kopf herum, während er über den Asphalt geschoben wurde, und seine Stimme klang nicht mehr fröhlich, sondern war nur mehr ein heiseres Kratzen, das sich anhörte, als würde ein Henker seine Axt schleifen.

»Ich würde dir raten, auf einen anderen Planeten um­zusiedeln, Mäuschen«, zischte er. »Denn Bobby Lee wird deine Eingeweide rösten und verspeisen.«

»Fick dich, du genetisch degenerierter Trottel«, knurrte Bridges, stapfte in großen Schritten zu seiner Corvette und fuhr davon. Needles und Slezak humpelten zu dem Benz und folgten ihm. Eine Minute später rollte der Transporter mit Crayline vom Parkplatz.

Wainwright und ich beobachteten, wie das Fahrzeug die Kontrollstellen passierte und auf die Straße bog, die sich eine halbe Meile weiter hinten inmitten grüner Wiesen verlor. Wainwright kramte in ihrer Handtasche her­um, zog eine verknitterte Zigarettenpackung heraus und zündete sich einen Glimmstängel an.

»Hätte nicht gedacht, dass Sie rauchen, Doc«, meinte ich.

»Ich genehmige mir pro Woche zwei Zigaretten, Detective. Und jetzt rauche ich gleich beide.«

»Kann ich nachvollziehen«, sagte ich.

»Dafür, dass Sie hier hochgekommen sind, stehe ich in Ihrer Schuld.« Wainwright blies blauen Dunst in die Luft. »Mir fällt spontan nichts ein, was ich für Sie tun könnte, aber falls sich irgendwann mal die Gelegenheit bietet …«

Ich winkte ab, und wir standen ein paar Minuten schweigend da und beobachteten, wie ein Flugzeug auf dem Weg von Westen nach Osten einen Kondensstreifen an den Himmel malte. Wainwright, die ihre zweite Zigarette an der ersten anzündete, kniff die Augen zusammen, spähte über meine Schulter und runzelte die Stirn. Ich drehte den Kopf. In einer Entfernung von etwa fünf Meilen stiegen schwarze Rauchwolken auf. Meines Wissens gab es dort nur Baumwollfelder und Weideland.

»Was könnte das wohl bedeuten?«, fragte Doc Wainwright.

»Nichts Gutes.« Ich bat sie, die hiesige Polizei zu verständigen, und sprintete mit meinem Hund zum Wagen.

*

Schon von weitem wurde mir flau im Magen bei dem Anblick, dem ich mich näherte. Der Holman-Transporter war umgekippt und in einen Graben geschlittert. Aus den Fenstern quollen orangefarbene Flammen und schwarze Rauchwolken. Mitten auf der Straße stand ein grüner Traktor, und ich fragte mich, ob die beiden Fahrzeuge kollidiert waren.

Ich hielt am Straßenrand, sprang aus dem Auto und hörte in der Ferne Sirenen. Mix-up folgte mir, ohne das Feuer aus den Augen zu lassen. Der Traktor war ein John-Deere-Modell mit Anhänger, auf dem sich Strohballen auftürmten. Ein Farmer in blauem Overall und Arbeitshemd kniete neben dem jungen Wachmann, der schwere Verbrennungen erlitten hatte und dessen Kleidung vor sich hin glimmte. Sein Gesicht war von Schrotkugeln durchsiebt.

Der Farmer wandte sich mit entgeisterter Miene zu mir um. »Ich war draußen auf dem Feld, hab’ den Rauch bemerkt und bin mit dem Traktor hierhergefahren. Diesen Mann hier konnte ich aus dem Transporter ziehen, aber da drinnen ist noch einer, hinterm Steuer. Wegen der Flammen konnte ich nichts ausrichten …«

Ich spähte in den brennenden Transporter. Zu spät. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie Mix-up mit der Schnauze an dem Heu auf dem Anhänger schnüffelte. Der Farmer streckte die Hand nach dem Wärter aus, um ihn zu trösten, doch er brachte es nicht übers Herz, den sterbenden Mann zu berühren. Hilflos schaute er mich an und versuchte, Tränen zurückzuhalten.

»Was sollen wir nur tun?«

»Hilfe ist schon unterwegs«, rief ich über die lauter werdenden Sirenen hinweg.

Kapitel 5

Monate vergingen. Bis auf die Aussage des Farmers, er habe bei seinem Eintreffen am Unfallort in der Ferne ein Motorrad gehört, ergaben sich keine neuen Erkenntnisse in Bezug auf Craylines Flucht. Es wurde spekuliert, dass ein Motorradfahrer an dem Holman-Transporter vorbei­gefahren war und mit einer Waffe auf das Fenster gezielt hatte. Die Geschwindigkeitsbegrenzung auf diesem Straßenabschnitt betrug 35 Meilen pro Stunde. Obwohl sich nicht mit Sicherheit bestimmen ließ, was mit dem Transporter passiert war, nachdem der Fahrer die Kontrolle über das Fahrzeug verlor, lag die Vermutung nahe, dass der an die Rollbahre gekettete Bobby Lee kaum mehr als einen Kratzer abbekommen hatte. Ich stellte mir vor, dass er vor Vergnügen gelacht hatte, als sein Befreier ihn aus dem ­beschädigten Fahrzeug zog, wie ein Teenager nach einer Achterbahnfahrt.

Den ausgeklügelten Fluchtplan hatte Crayline aller Wahrscheinlichkeit bereits ausgeheckt, kaum dass er von seiner temporären Verlegung in das Institut erfuhr. Es war allgemein bekannt, dass Bruderschaften von Ex-Knackis existierten, und jemand mit einem so diabolischen Charisma wie Bobby Lee Crayline verfügte garantiert über Verbindungen nach draußen und kannte Männer, die ihr Leben riskierten, um später damit prahlen zu können, dass sie ihn bei seiner Flucht unterstützt hatten.

In der Zwischenzeit wurden in Mobile Menschen niedergeschlagen, erstochen, vergiftet, erschossen und – dieser Fall erregte besonders viel Aufsehen – mit Hilfe eines Staubsaugers getötet. Nicht selten ermittelten Harry und ich achtzehn Stunden pro Tag. Und dann gab es überraschenderweise mal gute Nachrichten. Entgegen unserer Erwartung wurden zusätzliche Finanzmittel freigegeben und kamen dem unterbesetzten Police Department von Mobile zugute. Auf einmal konnte eine Handvoll kompetenter Polizisten und Polizistinnen zum Detective befördert werden, woraufhin sich die Arbeitslast deutlich verringerte.

Ich dachte gerade über Ferien nach, als mein Vorgesetzter, Lieutenant Tom Mason, sich vor meinem Schreibtisch aufbaute. Seit Jahren versuchte Tom, mich zu einem längeren Urlaub zu überreden. Ich war schon mehrmals kurz davor gewesen, meine Koffer zu packen, doch dann stieg die Kriminalitätsräte jedes Mal abrupt an, und ich begnügte mich mit einem Kurztrip über ein verlängertes Wochenende. So legte ich mir das wenigstens zurecht, während mein Partner immer wieder monierte, ich wäre ein unverbesserliches Arbeitstier, das insgeheim fürchtete, etwas zu verpassen.

In Wahrheit fühlte ich mich jedoch zunehmend schlapper. Die Fälle, die mir zugeteilt wurden, gaben mir keinen Kick mehr, sondern laugten mich mehr und mehr aus. Nun, da der Druck nachließ, fand ich, dass doch einmal die Zeit gekommen war, freizunehmen und die Batterien aufzutanken.

»Sie und Harry haben ein hartes Jahr hinter sich«, meinte Tom. »Er hat ordentlich was abgekriegt, und Sie haben während des Sandhill-Falls achtzig Stunden pro Woche gearbeitet. Ganz zu schweigen von dem Wahnsinn, mit dem wir uns momentan herumschlagen.«

»Worauf wollen Sie hinaus, Tom?«

»Das Department schuldet Ihnen dreiundvierzig Tage Urlaub, Carson. Tja, ich kann Ihnen nicht befehlen frei­zumachen, aber ich hielte es trotzdem für eine gute Idee, darüber nachzudenken und …«

»Ich mach’s«, rief ich und klatschte in die Hände.

»Was machen Sie?«

»Ich beherzige Ihren Vorschlag und fahre in Urlaub. Großartige Idee!«

Tom reagierte verblüfft. »Ehrlich? Einfach so?«

»Echt klasse, Tom.« Ich stand auf und führte ein kleines Freudentänzchen auf. »Ich fange sofort an, Pläne zu schmieden.«

Tom, dem es offenbar die Sprache verschlagen hatte, nickte und kehrte in sein Eckbüro zurück. Mir war klar, dass er sich schon eine kleine Rede mit dem Titel Warum Carson Ryder Ferien machen sollte zurechtgelegt hatte. Er hielt in der Tür inne, trommelte mit den Fingern gegen den Rahmen und drehte sich noch einmal um.

»Ryder, Sie hatten schon entschieden, Urlaub zu nehmen. Oder täusche ich mich?«

Ich tat so, als wüsste ich überhaupt nicht, was er meinte. Mein perplexer Vorgesetzter winkte ab und verschwand mit langem Gesicht im seinem Büro.

*

All dies erklärt – wenn auch etwas ausschweifend –, wie es dazu kam, dass ich in Eastern Kentucky an einer Bergwand hing und mich von einem Zwerg anschreien ließ.

Kapitel 6

»He, Carson!«, rief eine Stimme unter meinen Füßen. »Träumst du schon wieder? Hallo, Erde an Carson Ryder.«

»Ich höre dich, Gary«, rief ich über die Schulter. Über mir ragten siebzig Meter Sandstein auf, den das Hochwasser hier im Lauf von Jahrtausenden angeschwemmt hatte. Ich kletterte am verkitteten Grund eines ehemaligen Sees, der während des Paläozoikums vor 400 Millionen Jahren entstanden war. In luftiger Höhe klammerte ich mich an kleinen Felsvorsprüngen fest und zwängte meine Zehen in winzige Spalten.

»Die anderen warten, dass sie endlich drankommen, Kumpel. Steig jetzt runter.«

Ich stieß mich von der Felswand ab und rauschte dreißig Zentimeter nach unten, bis die Seilsicherung mich auffing und ich zehn Meter abgelassen wurde. Gary, mein winziger, fünfundzwanzigjähriger Kletterlehrer, der halb Bergziege, halb Gnom war, grinste, als meine Füße den Boden berührten. Pete Tinker, der andere Lehrer von Compass Point Outfitters, schnappte sich das Sicherungsseil und zog die nächste Kandidatin die Felswand nach oben. Gary klopfte mir anerkennend auf den Rücken.

»Hatte den Eindruck, du hast da oben kurz den Durchblick verloren, Carson. Wie war’s?«

»Ich schwitze wie in einer Dampfsauna«, meinte ich und zog mein durchgeweichtes T-Shirt aus, damit Luft an meine Haut kam. »Meine Muskeln zittern. Mein Finger tun weh, aber ich würde sofort wieder raufgehen.«

»Das wundert mich nicht. Viele Leute haben nicht die richtige Kondition, die Kraft und Beweglichkeit fürs Klettern. Bei dir ist das anders. Und außerdem verfügst du über die entsprechende Intuition. Du machst keine überflüssigen Bewegungen.«

»Das zu hören, überrascht mich. Ich komme mir wie ein tollpatschiges Kleinkind vor.«

Gary verzog das Gesicht, als sein Blick auf die junge Frau fiel, die gerade hochgezogen worden war. Sie hatte den Halt verloren und drehte sich am Seil hängend um die eigene Achse, während Tinker sie sicherte und lauthals instruierte.

»Solche Leute sind wie Kleinkinder, Carson. Vier Tage Unterricht, und trotzdem muss man ihnen dauernd zu Hilfe eilen. Du bist schon mal geklettert, oder?«

Ich grinste. »Vor ein paar Jahren war ich mit einer Frau zusammen, die kletterte. Sie hat mir die Grundlagen beigebracht.«

»Das hat sie gut gemacht, aber du bist inzwischen über das Anfangsstadium hinaus. Du machst doch weiter, hm?«

»Darauf kannst du Gift nehmen.«

Zusammen mit den anderen acht Kletternovizen packte ich unter Garys und Petes wachsamem Blick meine geliehene Kletterausrüstung zusammen und wickelte Seile auf, bis wir ein lautes Motorengeräusch hörten und uns umdrehten. Ein Geländewagen näherte sich auf dem alten Forstweg, der von der Hauptstraße zu unserer Kletterwand führte. Auf den Türen prangte das Logo vom US Forest Service, der für den Daniel Boone National Forest und die Red River Gorge zuständig war, an der wir uns gerade befanden.

Aus dem höhergelegten Fahrzeug, das mit knirschenden Reifen zum Stehen kam, stiegen zwei Männer. Einer davon war ein großer, massiger County-Cop, den ich auf mein Alter – fünfunddreißig – schätzte. Er hatte ein breites, nichtssagendes Gesicht und eine winzige Stupsnase, die aussah, als hätte man eine ursprünglich normal große Nase operativ entfernt und nur ihre Spitze wieder angenäht. Seine Augen waren hellgrau und seine Lippen so dünn, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie sie ein Lächeln formen sollten. Sein stattlicher Bauch quoll über den breiten Polizeigürtel, an dem allerlei Gerätschaften hingen. Er trug Alligator-Cowboystiefel, eine großkalibrige Pistole mit langem Lauf, wie sie früher im Wilden Westen gebräuchlich gewesen war, und eine Uniform, die dringend hätte gebügelt werden müssen.

Sein Begleiter war das optische Gegenteil: ein schlanker, großer Mann älteren Semesters in einer grünen Uniform, die aussah, als hätte er sie erst vor zehn Minuten aus der Reinigung geholt. Es dauerte eine Sekunde, bis ich schnallte, dass es sich um einen Forest Ranger handelte. Ein verträumtes Lächeln umspielte seine Lippen, sein sonnengebräuntes Gesicht war zerfurcht und grob. Er beugte sich zurück, um die Wirbelsäule zu strecken, doch ich bemerkte, wie er mit auf Halbmast gesenkten Lidern die Umgebung musterte. Sehr interessant.

Der Cop ging zu Pete und Gary, um mit ihnen zu reden. Ich machte mich wieder daran, die Seile aufzuwickeln, und beobachtete alles aus den Augenwinkeln. Der Ranger nickte den beiden Lehrern zu, ehe er sich an den Stamm einer Hemlocktanne lehnte, vor sich hin pfiff und den sandigen Boden studierte.

Als ich meinen Blick hob, merkte ich, dass mich der Sheriff kalt und abschätzig musterte, als fände er mein Verhalten unverschämt. Ich tat so, als wäre mir nichts aufgefallen, und verstaute mein Seil im Wagen. Beim Umdrehen beobachtete ich, wie der Ranger mit der Beiläufigkeit eines geübten Müllsammlers einen Streifen Aluminium aufhob, ihn in die Tasche steckte, noch einmal zu Boden sah und schließlich zu seinem Geländewagen zurückkehrte.

Ich wusste, was er da eben getan hatte, und dass es nichts mit der Rettung der Natur zu tun hatte.

»Sheriff Beale«, rief der Ranger.

Der Cop drehte sich um und schob den Hut in den Nacken. »Was?«

»Wir sind hier fertig.«

Der große Sheriff warf mir einen weiteren kritischen Blick zu, nickte und folgte dem Ranger. Sie stiegen in das Fahrzeug, der Ranger setzte sich hinters Steuer und fuhr an. Als die beiden Männer an mir vorbeirollten, lächelte ich dem Fahrer zu.

»Zu dumm, dass Sie keine Schuhabdrücke gefunden haben, was?«

Zwei Sekunden lang blickten wir uns in die Augen, dann gab er Gas, und der SUV rumpelte davon. Ich warf ein anderes Seil in den Kombi zu der Ausrüstung der restlichen Kletterschüler. Sie fuhren mit den Lehrern ins sechs Meilen entfernte Pine Ridge zurück, wo sich die Zentrale der Kletterschule befand. Da meine Unterkunft nicht weit von unserem Übungshang lag, war ich mit meinem eigenen Fahrzeug gekommen.