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Für den 39. Band der Homo Schmuddel Nudeln sind Autorinnen und Autoren undercover in Krankenhäusern und Arztpraxen unterwegs gewesen. Keine Strapaze war ihnen zu groß, um Material für ihre Storys zu sammeln. Der Erlös der Anthologie geht in voller Höhe an die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz in Berlin. Alle Beteiligten haben ihre Geschichten gespendet oder ehrenamtlich gearbeitet. Tu was Gutes, hol dir den Band! Inhalt: 1. Sackratten – Sissi Kaipurgay 2. IZBMS – Weltenwanderer - Tess Noctua 3. Cosmic Misery – Geliebte Rivalen - Ann Salomon 4. Zwischen Bangen und Hoffen - Doreen Pitzler 5. Krankenbesuch wider Willen - Karo Stein 6. Nicht in diesem Outfit - Raven le Fay 7. Ein kleiner Casanova – oder Leevens erste Party – Jan Jürgenson 8. Ich lasse dich nicht sterben - Doreen Pitzler 9. Fade Cut ins Herz -Ann Salomon 10. Fieber – Lois Nabakow Warnhinweis: Nicht für Hypochonder und Lactose-Intolerante geeignet. Enthält Spuren von Kitsch.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Sackratten – Sissi Kaipurgay
1.
2.
3.
IZBMS – Weltenwanderer - Tess Noctua
Epilog - Drei Monate später
Cosmic Misery – Geliebte Rivalen - Ann Salomon
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Epilog
Zwischen Bangen und Hoffen - Doreen Pitzler
Krankenbesuch wider Willen - Karo Stein
Manuel
Ludwig
Manuel
Nicht in diesem Outfit - Raven le Fay
Ein kleiner Casanova – oder Leevens erste Party – Jan Jürgenson
Ich lasse dich nicht sterben - Doreen Pitzler
Fade Cut ins Herz -Ann Salomon
Fieber – Lois Nabakow
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EPILOG
Kränkelnde Männer
und andere Katastrophen
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Copyright Texte: bei den Autoren
Fotos: Shutterstock, Depositphotos
Cover-Design: Lars Rogmann
Korrektur: Aschure, Bernd Frielingsdorf, Sissi!
Kontakt:https://www.sissikaipurgay.de/
Sissi Kaiserlos/Kaipurgay
c/o Autorenservice Karin Rogmann
Kohlmeisenstieg 19
22399 Hamburg
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
inzwischen bestehen die Homo Schmuddel Nudeln über elf Jahre. Aus dem Projekt wurden bisher rund 57.000 Euro an gemeinnützige Organisationen gespendet. Eine großartige Summe, auf die alle Beteiligten stolz sein dürfen.
Du bist maßgeblich daran beteiligt, denn ohne dich wäre das alles gar nicht möglich. Danke, im Namen aller Autorinnen und Autoren.
Im Nudelgewand
Sissi
Nach einer Ansteckung mit Filzläusen treten in der Regel nach drei bis sechs Tagen erste Symptome auf, wie starker Juckreiz. Allerdings kann es auch sein, dass zunächst keine Symptome auftreten.
Es begann ausgerechnet in einer Sitzung mit dem Vorstand. Das überwältigende Bedürfnis, sich im Schritt zu kratzen, zu unterdrücken, trieb Marco Schweißperlen auf die Stirn. Er konnte sich kaum noch konzentrieren und hätte, wenn seine Kräfte dafür reichen würden, den Kugelschreiber, an dem er sich festhielt, zerbrochen.
Als das Meeting endlich vorbei war, stürzte er aus dem Raum und zur nächsten Toilette. Dort verschanzte er sich in einer der Kabinen, riss sich die Hose runter und brachte seine Fingernägel zum Einsatz. Vor Erleichterung entwich ihm ein Stöhnen.
Als der Juckreiz nachgelassen hatte, inspizierte er seinen Schambereich. Abgesehen von den roten Striemen, die seine Kratzarie hinterlassen hatte, entdeckte er nichts Verdächtiges. Bestimmt waren die für die Jahreszeit ungewöhnlich hohen Temperaturen schuld. Hitzestau in der Unterhose.
Er richtete seine Kleidung, verließ die Kabine und wusch sich die Hände. Winfried, der mit ihm in der Sitzung gewesen war und vor einem der anderen Waschbecken stand, bedachte ihn mit einem verschwörerischen Grinsen. Glaubte der Idiot etwa, er hätte sich auf die PowerPoint Präsentation des Vorstands einen runtergeholt? Mühsam widerstand er der Versuchung, Winfried einen Vogel zu zeigen. Das würde der Kollege als Beleidigung auffassen und sich sofort bei der Geschäftsleitung beschweren.
Marco trocknete sich die Finger mit einem Einmalhandtuch ab und ging in sein Büro. Kaum saß er hinterm Schreibtisch, juckte es erneut. Zum Glück hatte er ein Einzelbüro, so dass er sich ungehemmt in die Hose greifen und für Abhilfe sorgen konnte.
Als der Anfall vorüber war, wanderten seine Gedanken zu Tommy. Dort verweilten sie stets, wenn ihn nichts ablenkte.
Vor einigen Tagen war er von einer Geschäftsreise nach Singapur zurückgekehrt. Sein Arbeitgeber unterhielt dort eine Zweigstelle. Eigentlich war seit Corona allen bewusst, dass man nicht rund um den Globus jetten musste, um miteinander zu reden. Ab und zu passierte es trotzdem, auch, um persönliche Kontakte zu pflegen.
Jedenfalls war er spät in der Nacht nach Hause gekommen. Am nächsten Tag, als er aufwachte, war Tommy schon auf der Arbeit gewesen. Abends hatte Tommy ihn vor vollendete Tatsachen gestellt. „Ich brauche eine Auszeit“, lautete die Begründung dafür, mit zwei Koffern ihre gemeinsame Wohnung zu verlassen.
Es hatte ihn eiskalt erwischt. Nichts hatte darauf hingewiesen, dass etwas nicht stimmte. Er war immer überzeugt gewesen, dass sie eine harmonische Beziehung führten. Sechzehn Jahre – wieso warf Tommy das einfach weg? Na gut, Auszeit bedeutete nicht Trennung, klang für ihn aber so.
Er wollte Tommy nicht verlieren. Sein Schatz war seine bessere Hälfte, sanftmütig, klug, ein guter Koch und im Bett verstanden sie sich prima. Marco hingegen regte sich schnell auf, war weitaus weniger belesen und in der Küche ein ziemlicher Tölpel.
Immer wieder ließ er die Tage vor seiner Abreise Revue passieren, um rauszufinden, was sich verändert hatte. Vergeblich. Alles war wie immer gewesen. Oder lag es genau daran? War Tommy ihre Beziehung zu eintönig geworden? Warum hatte er dann nichts gesagt? Sonst sprachen sie doch auch über alles.
Abermals juckte es wie blöde in seinem Schritt. Weil er der Sache auf den Grund gehen wollte, eilte er zur Herrentoilette. Mit einem angefeuchteten Einmalhandtuch zog er sich in eine der Kabinen zurück und ließ die Hosen runter. Das kühle Tuch brachte etwas Linderung. Bei der Inspektion seiner Unterwäsche und des Schambereiches stellte er zwei Dinge fest: 1. Es befanden sich braune Sprenkel in seiner weißen Pants, und 2. blau-graue Pusteln auf seiner Haut.
Eine Recherche im Internet ergab, dass es sich vermutlich um Mitbewohner handelte, nämlich Filzläuse.
In seiner Sturm- und Drangphase war er von den Viechern verschont worden. Gehört hatte er oft von Sackratten. Nie hätte er gedacht, dass er sich in späteren Lebensjahren welche einfing. Woher kamen die Dinger? Auf jeden Fall musste er zum Arzt, damit das grässliche Jucken aufhörte.
Sein Telefon klingelte. Der Chef fragte nach Zahlen, die er bis Feierabend liefern sollte. Er musste daher das Thema Sackratten erstmal vertagen.
Die Tabelle war erst spät fertig. Sämtliche Arztpraxen hatten bereits geschlossen. Seit der letzten Attacke herrschte Ruhe in seinem Schritt. Vielleicht irrte er sich und es war doch nur ein Hitzestau gewesen.
Bevor er in seinen Wagen stieg, versuchte er, Tommy zu erreichen. Die Mailbox ging ran, genau wie bei den letzten Malen. Entweder hatte Tommy seine Nummer gesperrt oder ließ seine Anrufe absichtlich auf die Quatschkiste laufen.
Er erwog zu Lars und Hannes, bei denen Tommy sehr wahrscheinlich untergekommen war, zu fahren. Mit den beiden war er nie richtig warm geworden. Na ja, mit Hannes schon. Der war so ruhig und intelligent wie Tommy. Lars war das krasse Gegenteil: Laut und ordinär. Der Typ drehte Pornos und hielt das für Kunst. Ach, nein, das musste er sich heute nicht antun. Dann probierte er es lieber später nochmal auf Tommys Handy.
Seine Wohnung war leer und kalt. Letzteres ließ sich ändern, indem er an den Thermostaten drehte. Ersteres war hoffentlich nur ein temporärer Zustand. Er wollte Thommy nicht verlieren.
In der Nacht wurde er bezüglich der Hitzestau-Theorie eines Besseren belehrt. Ein paarmal wachte er auf, weil das Jucken höllische Ausmaße annahm. Da er keine Unterwäsche trug, konnte es daran nicht liegen.
Am nächsten Morgen führte sein erster Weg zum Hautarzt. Die Sprechstundenhilfe wollte ihn wieder fortschicken, denn das Wartezimmer war voll, doch er blieb hartnäckig. Rund zwei Stunden musste er ausharren, bis er endlich zum Doktor durfte. Der bestätigte, was er bereits vermutet hatte.
„Es wäre sinnvoll, wenn Sie sich rasieren“, riet der Arzt. „Dann können sich die kleinen Racker nicht mehr so leicht festhalten.“
Bislang hatte er eine Intimrasur immer abgelehnt. Auch bei Thommy bevorzugte er Schamhaare, die seinen Partner als Erwachsenen auswiesen. Schließlich war er nicht pädophil.
„Genau wie bei Kopfläusen sollten Sie alles, was mit dem kontaminierten Bereich in Berührung kommt, möglichst heiß waschen. Und informieren Sie sämtliche Personen, mit denen Sie intimen Kontakt hatten oder haben.“
„Werden Filzläuse noch auf anderem Weg als Geschlechtsverkehr übertragen?“
Der Doktor nickte. „Ohne Wirt überleben die Tierchen vierundzwanzig Stunden. Man kann sich die Seuche also auch durch Kontakt mit kontaminierter Wäsche, beispielsweise Handtücher oder Bettzeug, holen.“
Hatte er die Dinger aus Singapur mitgebracht? Schwer vorstellbar. Sie hatten in einem Luxushotel residiert. Die Zimmer waren pieksauber gewesen.
Ausgestattet mit einem Rezept verließ er die Praxis. Nachdem er das Medikament in einer Apotheke besorgt hatte, informierte er seinen Arbeitgeber, dass er später kommen würde. Allein der Gedanke an die Krabbelviecher in seinem Schritt verursachte ihm Gänsehaut.
Daheim stellte er sich unter die Dusche und entfernte sorgfältig alle Haare in dem betroffenen Bereich. Anschließend benutzte er die Lotion und setzte sich auf den Klodeckel. Das Zeug musste einige Minuten einwirken.
Thommy weigerte sich weiterhin, seine Anrufe entgegenzunehmen. Er hatte es gleich nach dem Aufwachen und bevor er aufgebrochen war probiert. Nun führte kein Weg mehr daran vorbei, Lars und Hannes zu besuchen. Schließlich musste er Thommy über die Viecher informieren. Oder hatte er sich den Scheiß durch Thommy ...? In der Nacht, als er aus Singapur zurückkam, war er zu Thommy ins Bett gekrochen. Sie hatten eng aneinander gekuschelt geschlafen. Könnte es sein ...? Nein, auf gar keinen Fall. Thommy war der vorsichtigste Mensch der Welt und absolut treu.
Sollte sich Thommy wider Erwarten nicht bei Lars und Hannes aufhalten, wollte er eine Vermisstenanzeige aufgeben. Ach, lieber nicht, denn die Bullen würden ihn auslachen. Ein Erwachsener durfte sich frei bewegen. Er müsste Thommys Eltern und Geschwister abklappern. Ein Gedanke, der ihm noch weniger behagte als die Lars-Hannes-Nummer. Thommys Familie war nämlich ein bisschen distanziert – wenn man es diplomatisch ausdrückte.
Er schaute aufs Display seine Smartphones, das er auf dem Waschbeckenrand gelegt hatte. Die empfohlene Einwirkzeit war vorüber. Abermals stieg er in die Duschkabine. Er bildete sich ein, ein paar Läuse-Leichen in den Abfluss rutschen zu sehen.
Marco schlüpfte in saubere Pants, eine frisch gereinigte Anzughose und ein weißes Hemd. Während er vorm Spiegel seine Krawatte band überlegte er wieder, wo er sich die verdammten Viecher aufgehalst haben könnte. In Singapur im Schwimmbad des Hotels? Oder in dem Club, den er mit seinen Kollegen besucht hatte? Eines der hübschen Mädchen, die dort rumlungerten, hatte sich auf seinen Schoß gesetzt. Er bezweifelte aber, dass Sackratten derart scharf auf sein Blut waren, dass sie sich durch den Schlüpfer und Rock des Mädels sowie seine Hose in seine Pants schmuggelten.
Im Büro war nicht viel los. Er hatte also Zeit, sich weiter Gedanken zu machen. Ihm fiel keine Gelegenheit ein, bei der er sich den Kram hätte holen können. Er war weder fremdgegangen, noch hatte er sich in dreckigem Bettzeug gewälzt oder ebensolche Handtücher benutzt; auch keine fremde Unterwäsche angezogen. Sahen thailändische Filzläuse eigentlich anders aus als europäische? Das hätte er den Doktor fragen sollen, um die möglichen Tatorte einzugrenzen.
Um halb fünf verließ er das Büro. Lars und Hannes wohnten in Eimsbüttel. Für Autofahrer eine Herausforderung, weil Parkraum praktisch nicht vorhanden war.
Als er seinen Wagen in eine freie Lücke manövrierte, war er ein nervöses Wrack. Eine Dreiviertelstunde Suche, zusammen mit der Aussicht, ein unerfreuliches Gespräch zu führen, hatten ihn zermürbt. Würde Thommy ihm glauben, dass er nicht woanders rumgemacht hatte? Natürlich glaubt er dir. Ihr seid sechzehn Jahre zusammen, sprach er sich im Geiste Mut zu.
Auf sein Klingeln hin drang Hannes‘ Stimme aus der Gegensprechanlage: „Ja?“
„Ist Thommy bei euch?“
„Wer fragt das?“
„Marco.“
„Er will dich nicht sehen.“
„Ich muss ihn dringend sprechen. Es ist ein medizinischer Notfall.“
Der Summer ertönte. Ein Glück, dass er Hannes erwischt hatte. Lars hätte ihn garantiert länger hingehalten oder gar nicht reingelassen.
Er eilte die Stufen in den 2. Stock hoch. Sein Glück hatte sich gewandelt: Lars stand in der Wohnungstür, die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihm mit grimmiger Miene entgegen.
„Was genau verstehst du an ‚ich brauche ein bisschen Abstand‘ nicht?“, pflaumte das Arschloch ihn an.
Der Wunsch, Lars ein paar Sackratten abzugeben, war riesengroß, doch leider unerfüllbar. Dafür müsste er zum einen mit Lars kuscheln, zum anderen waren die Viecher wohl alle tot. „Ich sagte doch: es ist ein medizinischer Notfall.“
„Was für einer?“
„Das geht dich nichts an.“
„Lars!“, mischte sich Hannes ein und schob selbigen beiseite. „Das geht uns wirklich nichts an.“
Wenn Blicke töten könnten, wäre er auf der Stelle umgekippt, aber er durfte endlich in die Wohnung. Es war nicht sein erster Besuch, daher kannte er sich aus und steuerte direkt das Gästezimmer an. Er klopfte und trat, ohne eine Antwort abzuwarten, in den Raum.
Thommy saß auf dem Bett, Kopfhörer auf den Ohren, ein Notebook auf dem Schoß. Bei seinem Eintreten zuckte er zusammen und guckte ihn mit großen Augen an.
Sehnsucht schnürte Marco den Brustkorb zu. Es kam ihm vor, als hätte er Thommy seit Jahren nicht gesehen. Er wollte ihn in seine Arme nehmen und küssen, bis alles wieder gut war.
Thommy nahm die Kopfhörer ab. „Ich bin noch nicht soweit. Bitte, gib mir noch etwas Zeit.“
„Kannst du mir nicht wenigstens sagen, warum du ...“ Die Worte ‚mich verlässt‘ wollten nicht über seine Lippen. „Warum du hier bist?“
„Ich brauche ein bisschen Abstand, um mir über einiges klar zu werden.“
Er begriff, dass es keine weitere Erklärung geben würde und er sich erstmal damit abfinden musste, sofern er keinen Streit provozieren wollte. Das würde sie weiter voneinander entfernen.
„Ich hab mir Filzläuse eingefangen. Kann sein, dass ich sie auf dich übertragen habe“, platzte er heraus.
Thommys starrte ihn reglos an.
„Ich bin nicht fremdgegangen, falls du das denkst. Keine Ahnung, wo ich die herhabe“, fuhr er fort.
Schuldbewusstsein spiegelte sich auf Thommys Miene. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Eifersucht und Enttäuschung brannten wie Säure in seinem Magen.
„Du hast einen anderen!“, stieß er hervor, wobei er die Hände zu Fäusten ballte. „Von wegen Zeit für dich! Du bist nur zu feige, es mir zu sagen!“
Thommy schüttelte den Kopf, den Blick gesenkt, und flüsterte: „Es gibt keinen anderen. Ja, ich hab mit jemandem rumgemacht, aber das war ein Unfall.“
„Ach ja? Ist sein von Sackläusen befallener Schwanz zufällig in dich reingerutscht?“
Erneutes Kopfschütteln. Weiterhin guckte Thommy ihn nicht an.
Vor Zorn sah Marco rote Punkte. Mühsam unterdrückte er die bösen Worte, die aus seinem Mund wollten. Waren sie draußen, ließen sie sich nicht zurücknehmen. Weil er sich allerdings nicht zutraute, den Kampf auf Dauer zu gewinnen, wirbelte er herum, riss die Tür auf, knallte sie hinter sich zu und flüchtete aus der Wohnung.
Draußen atmete er ein paarmal tief durch. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Niemals hätte er Thommy zugetraut, ihn dermaßen zu hintergehen. Bilder, wie Thommy es mit einem Typen trieb, flimmerten durch sein Kopfkino. Vor Schmerz und Wut fühlte er sich wie betäubt. In seinem Zustand konnte er sich unmöglich hinters Steuer setzen. Seine Sicht war eingeschränkt, sein Verstand praktisch out of order.
Er setzte sich in Bewegung. Am Ende der Straße lag ein Park, in dem er Runde um Runde drehte, bis der rotglühende Zorn zu einem Häufchen Asche verbrannt war. Vernünftig denken konnte er immer noch nicht, wagte es aber, nach Hause zu fahren.
Im Flur befreite er sich von Jackett, Krawatte und Schuhen und ließ sich im Wohnzimmer auf der Couch nieder. War Thommy aus Angst vor seiner Reaktion abgehauen? Er gestand sich ein, dass die Furcht nicht unbegründet wäre. Er war ja eben kurz davor gewesen, Thommy mit Worten zu verletzen. Seine aufbrausende Art war ein eindeutiges Manko.
Reue überfiel ihn, als er an den Vorfall vor rund zehn Jahren dachte. Damals war er fremdgegangen. Er hatte es Thommy sofort gebeichtet. Sie hatten darüber geredet, geredet und geredet, bis es aus der Welt war. Na ja, nicht aus der Welt, aber zumindest aus ihrer Beziehung. Und was tat er? – sich benehmen wie die Axt im Walde. Anstatt mit Thommy darüber zu sprechen, die Ursachen zu erforschen, brüllte er rum und rannte weg.
Ein Jucken im Schritt erinnerte ihn daran, was der eigentliche Anlass für seinen Ausflug nach Eimsbüttel gewesen war. Obwohl der Arzt ihn gewarnt hatte, dass es in den ersten Tagen nach der Behandlung noch kitzeln würde, schnappte er sich eine Lupe und ging ins Bad. Eine Inspektion seines Schambereichs ergab: Keine krabbelnden Sackratten in Sicht.
Zurück auf der Couch zückte er sein Handy. Diesmal nahm Thommy den Anruf an, sagte aber nichts.
„Entschuldige, dass ich dich angefaucht habe. Das war doof von mir“, ergriff Marco das Wort.
Thommy seufzte. „Ich verstehe, dass du sauer bist.“
„Können wir darüber reden?“
„Selbst wenn wir das tun und du mir verzeihst, bleibt da immer noch ... immer noch das andere Problem.“
„Welches?“
„Mein Manuskript ist abgelehnt worden.“
Für einen Außenstehenden mochte das profan klingen, doch Marco wusste, wie viel daran hing. Seit er Thommy kannte, schrieb dieser an dem Buch. Vor einigen Monaten hatte Thommy angefangen, das Manuskript an Verlage zu schicken. Von allen, bis auf einen, waren Absagen gekommen. Er konnte sich vorstellen, wie niederschmetternd es gewesen sein musste, die letzte Hoffnung zu verlieren.
„Dann bringst du es eben selbst raus.“
Abermals drang ein Seufzer an sein Ohr. „Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass ich das nicht will.“
Das stimmte. Sie hatten etliche Male darüber diskutiert. Die Korrektur und das Lektorat würden Unsummen verschlingen. Mit dem kleinen Gehalt als Bibliotheksmitarbeiter konnte sich Thommy das nicht leisten. Für Marco wäre es kein Problem, das zu finanzieren, doch genau da lag die Crux. Thommy hatte eh schon ein schlechtes Gewissen, auf seine Kosten zu leben. Fernreisen, die Wohnung, teure Anschaffungen – all das bezahlte Marco und zwar gerne. Wozu brauchte er das Geld, wenn er es nicht mit seinem liebsten Menschen teilte?
„Vorschlag: Wir fliegen nächstes Jahr nicht nach Neuseeland. Dafür bekommt dein Buch eine gründliche Überarbeitung.“
„Nein. Du freust dich total auf die Reise.“
„Wenn ich keinen glücklichen Thommy bei mir habe, kann Neuseeland mir gestohlen bleiben.“ Und wieso – verdammt nochmal! – hatte Thommy ihm nicht von der Ablehnung erzählt? „Wann hast du die Antwort vom Verlag bekommen?“
„Vor zwei Wochen.“
Also noch vor seiner Dienstreise. Nun fiel ihm ein, dass Thommy niedergeschlagen gewirkt hatte. Er war davon ausgegangen, dass seine mehrtägige Abwesenheit der Grund dafür war. Was war er doch für ein eitler Fatzke! „Und du hast mir nichts gesagt, weil ...?“
Erneut seufzte Thommy. „Ich muss mein Leben neu planen. Ich kann dir doch nicht ewig auf der Tasche liegen.“
„Doch, das kannst du!“, brauste Marco auf, riss sich zusammen und fügte ruhiger hinzu: „Kannst du bitte nach Hause kommen, damit wir darüber sprechen können?“
„Momentan kann ich dir nicht in die Augen gucken. Bitte, gib mir noch ein bisschen Zeit.“
„So viel du willst – vorausgesetzt, ich warte nicht mein Leben lang.“
„Danke“, flüsterte Thommy und legte auf.
Marco tippte aufs rote Symbol, da erinnerte er sich an die Sackratten. Kurzerhand wählte er nochmal Thommys Nummer. „Ich hab was vergessen“, legte er, sobald Thommy abgenommen hatte, los. „Du solltest zum Arzt gehen, wegen der Filzläuse.“
„Mache ich gleich morgen.“
„Ich vermisse dich.“
„Ich dich auch.“ Die Verbindung wurde beendet.
Thommys Verabschiedung verlieh ihm Mut. Ihre Beziehung war also noch zu retten. Allerdings mussten sie beide etwas dafür tun.
Er fing gleich damit an, indem er auf seinem Notebook Thommys Manuskript aufrief. Rund 5.000 Seiten umfasste die Geschichte. Thommy meinte, dass ein Lektor davon bestimmt ein Drittel wegwerfen würde. Auf Rechtschreibfehler war die Datei bereits mittels eines Programms geprüft.
Als nächstes rief Marco bei einem ehemaligen Kollegen, der in der Marketingabteilung gearbeitet hatte, an. Kenneth war Journalist und inzwischen für ein großes Tageblatt tätig.
Kurz darauf besaß er Kontaktdaten von Lektoren, die Kenneth empfohlen hatte. Allen dreien schrieb er eine E-Mail mit einigen Seiten des Manuskripts, damit sie sich ein Bild über den Umfang der Arbeit machen konnten.
Am folgenden Tag trieb ihn am späten Vormittag ein neuerlicher Juckanfall auf die Toilette. Wie es der Zufall so wollte, trieb sich wieder Winfried in der Keramikabteilung herum. Fast könnte man meinen, dass der Typ ihn stalkte.
Während er sich die Hände wusch, kämmte sich der Kollege vor dem Waschbecken neben ihm die spärlichen Haare.
„Ist schon zu dir vorgedrungen, dass ich gekündigt habe?“, fragte Winfried.
Er schnappte sich ein Einmalhandtuch. „Hast du im Lotto gewonnen?“
Winfried schüttelte den Kopf. „Ich verdiene mein Geld als Autor.“
„Was schreibst du denn so?“
Der Kollege grinste breit. „Erotische Literatur. Das Zeug läuft wie verrückt.“
„Herzlichen Glückwunsch.“
„Guck auf Amazon mal nach Winnie Wuchtbrumme“, verriet Winfried mit einem verschwörerischen Augenzwinkern und verließ den Raum.
Neugier veranlasste ihn, nach der Rückkehr in sein Büro nachzuschauen. Winnie Wuchtbrumme beherrschte die Top 100 in der Kategorie Erotik. Titel wie Die Nachbars-MILF fremdbenutzt oder Die blonde Stute verursachten bei ihm leichten Würgereiz. Die dazugehörigen Cover trugen zur Übelkeit bei. Erotik? Das Zeug war eindeutig Porno und sah billig aus, war es allerdings nicht. Zwanzig Seiten für drei Euro, außer man besaß ein Amazon-Abo. Winfried schrieb auch schwule Storys. Marco warf lieber keinen Blick in die Leseproben, sonst hätte er bestimmt gekotzt.
Nach diesem Einblick war er noch entschlossener, Thommys Buch zum Erfolg zu verhelfen. Natürlich war ihm klar, dass es sich nicht um pulitzerverdächtigen Stoff handelte, aber die Geschichte war unterhaltsam und gefiel ihm sehr.
Abends waren zwei Antworten der angefragten Lektoren eingetrudelt. Beide verlangten ungefähr den gleichen Preis. Die Summe war irre, aber ihr letzter Karibik-Urlaub hatte auch viel Geld verschlungen.
Den Auftrag ohne Rücksprache mit Thommy zu vergeben, kam nicht infrage. Er schickte den beiden also eine Nachricht, dass er sich bald melden würde.
Die Tage verstrichen, ohne dass sich Thommy meldete. Mit jedem vergehenden wuchsen Marcos Ängste, ob da nicht doch mehr im Busche war. Vielleicht hatte der One-Night-Stand größeren Eindruck hinterlassen, als Thommy behauptete.
Schließlich, an einem Freitag, rund eine Woche nach seinem Besuch bei Hannes und Lars, war’s mit seiner Geduld vorbei. Das konnte auch daran liegen, dass das Wochenende in endloser Ödnis vor ihm lag. Er fühlte sich nämlich außerstande, Verabredungen mit Freunden zu treffen oder etwas zu unternehmen.
Nach der Arbeit fuhr er nach Eimsbüttel. Diesmal hatte er Glück und musste nur zwanzig Minuten suchen, bis er eine Parklücke fand. Auf sein Läuten hin passierte allerdings nichts. Die Vöglein waren scheinbar ausgeflogen.
Daheim erwartete ihn eine Überraschung: Essensduft wehte ihm entgegen, als er die Wohnungstür aufschloss. Sein Herzschlag nahm einen schnelleren Takt auf. Leise näherte er sich der Küche und spähte hinein. Thommy stand vorm Herd und schien ihn, wegen des Dröhnens der Dunstabzugshaube, nicht gehört zu haben.
Einige Momente genoss er den Anblick. Für ihn war Thommy, mit den hellblauen Augen, blonden Locken und schlanken Statur, der schönste Mann der Welt. Vielleicht, weil wahre Schönheit von innen kam, denn er wusste schon, dass sein Schatz keinem Vergleich mit Adonis standhielt. Dafür war Thommy zu dünn und das Gesicht nicht markant genug.
„Hallo Schatz“, machte er auf sich aufmerksam.
Sichtlich erschrocken fuhr Thommy zu ihm herum.
„Wie schön, dass du wieder da bist. Oder bist du nur zu Besuch?“, redete er weiter.
Thommys Miene wirkte unsicher. „Wenn du mich noch willst, dann würde ich gerne bleiben.“
„Natürlich will ich dich noch.“ Er betrat den Raum und breitete die Arme aus.
Thommy flog hinein. Endlich wieder den vertrauten Körper an seinem zu spüren, die Nase in den seidigen Locken zu vergraben, ließ sein Herz vor Freude anschwellen. Es fühlte sich an, als wären zwei passende Puzzleteile wiedervereint.
„Unser Essen brennt an“, nuschelte Thommy an seinem Hemdkragen, befreite sich aus der Umarmung und eilte zurück an den Herd.
Es dürstete Marco nach einem Kuss, aber er fasste sich in Geduld. Darin wurde er immer besser. Übung machte bekanntermaßen den Meister.
Im Schlafzimmer tauschte er seinen Anzug gegen ausgewaschene Jeans und ein T-Shirt. Anschließend beäugte er die beiden Koffer, die vorm Bett standen. Durfte er es wagen, sie auszupacken? Oder sollte er sie verstecken, damit Thommy nicht auf die Idee kam, wieder abzuhauen? Ach, Unsinn. Das würde ihn nicht aufhalten.
Er begann, im Flur aufzuräumen. Das war überflüssig, aber er wollte Thommy den Fluchtweg versperren.
Das Brummen der Dunstabzugshaube erstarb. „Essen ist fertig!“, rief Thommy.
Appetit hatte er nicht, auch wenn ihm durch Thommy Rückkehr ein Stein vom Herzen gefallen war. Einer von vielen Steinen, denn da lagen noch mehr.
Der Tisch war mit besonderer Sorgfalt gedeckt: Farblich zur Tischdecke passende Sets sowie Servietten, Kristallgläser und die guten Teller mit Goldrand. Die hatten sie von Marcos geliebter Großmutter geerbt.
„Kriege ich einen Kuss?“, fragte er, weil er ohne bestimmt kaum einen Bissen runterbekam.
Thommy, der gerade Nudeln auf den Tellern verteilte, stellte den Topf auf den Herd und wandte sich ihm mit gespitzten Lippen zu. Das keusche Küsschen reichte nicht, um Marcos Sehnsucht auch nur annähernd zu befriedigen. Es besaß trotzdem beruhigende Wirkung.
Sie nahmen einander gegenüber Platz. Zu den Nudeln gab es Putenstreifen und Gemüse. Thommy achtete auf preiswerte und gesunde Ernährung. In den vergangenen Tagen hatte Marco vorwiegend Fertiggerichte gegessen. Ja, Thommy war wirklich in jeder Hinsicht die bessere Hälfte.
„Wie läuft es bei Hannes und Lars?“, schnitt Marco ein unverfängliches Thema an.
„Durchwachsen. Hannes ist echt ein Engel, dass er Lars‘ Launen erträgt. Momentan ist im Filmbusiness Flaute. Lars ist dauernd mies drauf.“
Wann war der Typ mal nicht mies drauf? „Dreht er immer noch Pornos?“
Thommy bedachte ihn mit einem strafenden Blick. „Naturfilme, keine Pornos.“
Klar. Naturfilme, in denen haufenweise Schwänze vorkamen. „Und wovon leben die beiden, wenn da nichts läuft?“
„Hannes hat einen Job beim Studio Hamburg ergattert. Das ist wie ein Sechser im Lotto.“ Thommy spießte eine Nudel auf. „Übrigens: Ich habe Hannes mein Manuskript gezeigt. Er hat reingelesen und meinte, ich soll es so raushauen. Er hat auch ein Cover für mich gestaltet. Ich muss den Text jetzt nur noch anständig formatieren.“
„Wie kommt er zu der Einschätzung?“, wunderte sich Marco.
„Er hat mir ein Buch gezeigt, das als Bestseller gilt. Ein Blick in die Leseprobe hat mir gereicht. Wenn derart uninspirierter, langweiliger Mist gehypt wird, dann muss ich mich mit meiner Story nicht verstecken.“
„Was ist das für ein Buch?“
„Fifty Shades of Grey. Die Autorin hat es als Fanfiktion auf Biss zum Abendessen oder so – hab den genauen Titel vergessen – geschrieben. Es liest sich, als hätte der Verlag es ohne jede Überarbeitung rausgejaucht.“
Es sah so aus, als ob Thommy hinsichtlich der Veröffentlichung positiv gestimmt war. Ob es auch ein Erfolg wurde, stand natürlich in den Sternen. Egal. Hauptsache, sein Schatz war wieder optimistisch drauf.
„Hannes sagt, ich muss vor der Veröffentlichung die Werbetrommel rühren. Lars hat vorgeschlagen, einen Clip zu drehen, in dem ich mein Werk vorstelle“, fuhr Thommy fort und steckte sich die Nudel in den Mund.
„Sollst du nackig in der Natur stehen und dein Buch in die Kamera halten?“
„Nicht ganz nackt, aber ein bisschen Haut hält Lars marketingtechnisch für dringend notwendig. Sex sells, sagt er.“
„Und? Wirst du das machen?“
„Ich denke noch darüber nach, aber ich glaube, daraus wird nichts. Schließlich enthält meine Geschichte keine ausufernden Sexszenen. Die Leser wären enttäuscht.“
„Du könntest noch welche rein basteln.“
Thommy winkte ab. „Das passt nicht zu der Story.“
Marco hatte seine Munition an unverfänglichen Themen verschossen. Anscheinend fiel auch Thommy nichts mehr ein. Großen Appetit schien er ebenfalls nicht zu haben, denn er stocherte, genau wie Marco, überwiegend in dem Essen herum.
Ein Weilchen herrschte Stille, dann seufzte Thommy, legte das Besteck beiseite und fragte: „Isst du auch nichts mehr?“
Er nickte. „Tut mir leid. Es ist sehr lecker, aber ... vielleicht später ...“
Thommy verfrachtete ihre halbvollen Teller auf die Arbeitsfläche, schenkte Wasser in ihre Gläser und ließ sich wieder ihm gegenüber nieder. „Wie ich dir schon erzählt habe: Die Sache mit Yoannis war nur einmaliges Rumgemache. Wäre ich nicht betrunken gewesen, hätte es gar nicht stattgefunden.“
Nun hatte der Unbekannte also einen Namen bekommen. Marco gefiel das nicht, weil er an den Kerl lieber als der beschisseneTyp dachte. Am liebsten dachte er überhaupt nicht an das Arschloch. „Warst du in einem Club?“
Thommy schüttelte den Kopf. „Hannes hat eine Fete wegen seines neuen Jobs veranstaltet. Es waren etliche Leute von der Filmfirma, mit der Lars oft arbeitet, da.“
„Pornodarsteller“, konstatierte Marco trocken.
„Na ja … viele sahen wirklich so aus. Jedenfalls hat Yoannis mich angeflirtet. Ich war total schlecht drauf und hab mich minderwertig gefühlt, wegen der Absage und so.“ Thommy senkte die Wimpern, griff nach dem Glas und drehte es in den Händen. „Im Gästezimmer haben wir rumgeknutscht und gefummelt. Er wollte, dass ich ihn vögele, aber ich wollte das nicht, also haben wir uns gegenseitig einen runtergeholt.“
Galt es als machohaft erleichtert zu sein, weil es bei Handgreiflichkeiten geblieben war?
„Danach ist Yoannis abgehauen, genau wie viele andere der Crew. Ich hab noch mehr gesoffen und bin am nächsten Morgen im Gästebett aufgewacht, ohne zu wissen, wie ich dorthin gekommen bin.“
Ihm fiel nichts ein, was er dazu sagen konnte, also hielt er den Mund.
„Ich dachte, weil ja kaum was passiert ist ... keine Ahnung, was ich gedacht habe. Als du wieder da warst, hab ich mich beschmutzt und noch minderwertiger gefühlt. Ich hab keinen anderen Ausweg gesehen, als erstmal auf Abstand zu gehen und zu mir selbst zu finden.“
Weiterhin fehlten ihm die Worte.
„Übrigens hat mir der Doktor, obwohl ich keine Symptome habe, vorsichtshalber eine Salbe gegen die Filzläuse verschrieben. Und mir geraten, mich zu rasieren.“ Thommy spähte kurz zu ihm rüber. „Nun bin ich untenrum kahl.“
„Da sind wir ja schon zwei.“
Erneut schaute Thommy hoch. „Verzeihst du mir das mit Yoannis?“
Wie könnte er das nicht? Er liebte Thommy und begriff, in welcher Ausnahmesituation es passiert war. „Vergeben und vergessen.“
Eindringlich musterte Thommy sein Gesicht, so, als ob er am Wahrheitsgehalt seiner Worte zweifelte.
„Zugegeben: Ich bin immer noch eifersüchtig, aber das ist doch normal, oder?“, gestand er. Es würde dauern, die Bilder von Thommy mit diesem Yoannis aus seinem Kopf zu vertreiben.
„Wenn die Sackratten nicht gewesen wären, hätte ich dir vielleicht nie davon erzählt.“
Ehrlichkeit war gut und schön, aber manchmal auch schmerzhaft. „Warum?“
„Weil es dich verletzt.“
„Aber wir sind Partner. Wir müssen einander vertrauen.“
„Ich weiß“, murmelte Thommy mit beschämter Miene.
Marco trank einen Schluck Wasser. „Hast du denn zu dir selbst gefunden?“, hakte er vorsichtig, weil ihm die Antwort vielleicht nicht gefallen würde, nach.
„Ich werde mich beruflich verändern. Sollten wir uns irgendwann trennen, könnte ich mir nur eine winzige Wohnung und sonst nichts mehr leisten.“
Den Einwand, dass sie bis ans Lebensende zusammenbleiben würden, verkniff sich Marco. Im Grunde hatte Thommy recht. Man wusste nicht, was die Zukunft brachte. Es konnte sein, dass der nächste Yoannis Thommys Herz berührte und schwupps!, schon war alles anders.
„Und was schwebt dir vor?“
„Ich möchte wieder zur Uni gehen. Ich hab übermorgen einen Termin für ein Beratungsgespräch.“
Thommy hatte Germanistik studiert. Darauf ließ sich doch bestimmt aufbauen. „Das hört sich nach einem Plan an.“
„Nebenher kann ich meinen alten Job in Teilzeit machen. Allerdings hab ich dann noch weniger Geld.“
„Kein Problem. Außerdem werden bald die Einnahmen für dein Buch fließen.“ Marco hielt die Distanz nicht mehr aus, sprang auf, zog Thommy vom Stuhl und in seine Arme. „Ich bin immer für dich da.“
Den vertrauten Pfirsichshampoo-Duft wieder zu riechen, entlockte ihm einen genüsslichen Seufzer. Letzte Woche hatte er diese Sorte Shampoo besorgt, um daran zu schnuppern. Es besaß nicht den gleichen Effekt wie den, wenn Thommys Haar danach duftete.
„Können wir, statt nach Neuseeland zu jetten, nächstes Jahr an der Nordsee campen?“, erkundigte sich Thommy leise.
„Alles, was du willst, nur kein Camping. Tut es auch ein günstiges Appartement?“
Thommy seufzte. „Okay. Aber sobald ich richtig Geld verdiene, zahle ich alle Urlaube.“
„Abgemacht.“
Endlich bekam er einen richtigen Kuss. In seinem Brustkorb breitete sich Wärme aus und die Last, die auf seinem Herzen gelegen hatte, schmolz.
„Es tut mir so leid“, flüsterte Thommy in seine Halsbeuge.
„Am Schlimmsten war, dass ich nicht wusste, wieso du mich verlassen hast.“
Thommy hauchte ein Küsschen auf sein Kinn.
Sie zogen auf die Couch im Wohnzimmer um. Händchenhalten, Thommy ganz nahe sein und Küsse brauchte Marco momentan dringender als alles andere.
Erst als sich wieder Vertrautheit eingestellt hatte, erwachte das Verlangen nach mehr. Im Schlafzimmer verspotteten sie sich gegenseitig, wegen ihrer vom Kahlschlag betroffenen Schambereiche. Ihrer Lust taten die fehlenden Haare keinen Abbruch. Marco fand, dass ihr Sex noch nie so schön gewesen war.
Thommys Buch wurde kein Kassenschlager, brachte aber genug Geld für einen luxuriösen Urlaub auf Sylt ein. Außerdem waren noch zwei goldene Ringe drin. Der Besuch beim Standesamt kostete im Vergleich fast nichts. Obwohl sie ihr Vorhaben geheim gehalten hatten, empfing sie anschließend eine große Gruppe vor den Pforten des Amtsgebäudes, bewarf sie mit Reis und ließ Sektkorken knallen. Lars filmte das Ganze und – oh Wunder! – es kam kein einziger Schwanz in dem Streifen vor.
ENDE
Blamore schritt den endlos wirkenden Krankenhausgang entlang. Pflegepersonal eilte geschäftig umher und der typische Geruch von Desinfektionsmittel stach in seiner Nase. Als der Stationsstützpunkt in Sicht kam, strich er über das Revers seines schwarzen Anzugs und trat näher.
„Entschuldigung …“
Die junge Frau, die bisher die Tastatur ihres Computers malträtiert hatte, sah auf und schenkte ihm ein freundliches Lächeln. Es verrutschte leicht, als sie den Blick über sein Gesicht schweifen ließ, doch er musste ihr zugutehalten, dass sie sich schnell wieder unter Kontrolle hatte.
Er wusste sehr gut, dass er keine Augenweide war. Das vernarbte Gewebe, das sich von einer Seite seines Halses, über seine Wange, bis hinauf zu seinem Haaransatz zog, sorgte dafür, dass sich sein linker Mundwinkel in der dauerhaften Karikatur eines Grinsens nach oben bog. Hinzu kam die ungewöhnlich helle, silbergraue Färbung seiner Iriden, durch die sich viele Menschen bereits vor seinem Unfall unwohl in seiner Gegenwart gefühlt hatten.
„Ja?“, fragte die Frau.
„In welchem Zimmer finde ich Alvic Lips? Ich würde ihn gerne sehen.“
„Oh, nun …“ Die Augenbrauen der Frau zogen sich zusammen. „Darf ich fragen, in welchem Verhältnis Sie zu ihm stehen?“
Blamore versuchte sich an einem Lächeln und schielte auf das Namensschild an ihrem Kittel. Er würde ihr kaum den wirklichen Grund seines Besuchs verraten.
„Natürlich, bitte verzeihen Sie, Frau Beyer. Um ehrlich zu sein …“ Er ließ ein Seufzen einfließen und senkte kurz den Blick. „Alvic ist mein Bruder … Halbbruder“, ergänzte er in Anbetracht ihrer gerunzelten Stirn und verfluchte einmal mehr die dürftigen Informationen, die er für diesen Auftrag erhalten hatte. „Wir hatten eine Zeit lang nicht das beste Verhältnis und … Ich fürchte, das war meine Schuld.“ Er ließ die Schultern hängen. „Tatsächlich habe ich erst gestern erfahren, dass er hier ist.“
Mit dem letzten Teil hielt er sich ausnahmsweise an die Wahrheit. Seiner Meinung nach ginge all das viel unkomplizierter, wenn er Magie anwenden dürfte. Doch die Statuten des Internationalen Zusammenschlusses zur Bekämpfung magischer Straftaten, kurz IZBMS, für den er arbeitete, verboten das. Nur wenn es absolut keine andere Möglichkeit gab oder das Leben eines Unwissenden in Gefahr war, wurde es geduldet.
„Ihnen ist bewusst, in welchem Zustand er sich befindet?“, hakte Frau Beyer vorsichtig nach.
Blamore verzog das Gesicht. „Selbst wenn ich nicht mit ihm sprechen kann … Ich würde ihn einfach gerne sehen.“
„Also schön, möglicherweise tut es ihm gut. Er bekommt leider kaum Besuch. Sie finden ihn in Zimmer 3B. Soll ich kurz mit Ihnen kommen …“ Sie machte Anstalten, sich zu erheben.
Blamore unterbrach sie schnell. „Alles gut. Ich werde damit zurechtkommen“, versprach er.
Zögerlich nickte sie und deutete in die Richtung, in die er sich wenden sollte. „Wenn Sie irgendetwas brauchen …“
Mit einem zustimmenden Brummen quittierte er ihr Angebot, beeilte sich dann, zu dem angegebenen Zimmer zu kommen. Vor der Tür hielt er kurz inne, fokussierte seine Sinne. Erst danach drückte er die Klinke herunter und trat ein.
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und als erstes nahm er die bitzelnde Magie wahr, die den Raum füllte. Wie Kohlensäure nur auf seiner Haut statt in seiner Kehle. Zumindest war damit schon einmal bewiesen, dass er nicht umsonst hier war.
Er wandte sich dem Bett zu … und erstarrte.
Er kannte den jungen Mann, der dort lag. Nun ja, kennen war wohl zu viel gesagt. Er hatte ihn des Öfteren in seinem Lieblingsclub gesehen. Hatte ihn beim Tanzen beobachtet, irgendwann sogar aktiv nach ihm Ausschau gehalten. Seit einigen Wochen allerdings vergeblich. Doch er hatte sich nie auch nur in seine Nähe gewagt. Sein Magen rumorte alleine beim Gedanken daran, wie der tanzende Gott, Alvic, korrigierte er sich selbst, wohl auf sein Aussehen reagiert hätte.
Bisher gab es kein Anzeichen dafür, dass Alvic sein Eintreten bemerkt hatte, obwohl er mit offenen Augen an die Decke starrte. Langsam schritt Blamore näher, schickte mit einer Handbewegung bläuliches Licht durch den Raum. Er prüfte die Umgebung auf magische Fallen, konnte nichts finden. Direkt neben dem Bett blieb er stehen.
„Hallo Alvic“, begrüßte er den Mann, als würden sie sich tatsächlich kennen, erhielt aber keine Reaktion.
Laut seinen Informationen waren sie ungefähr im selben Alter, Anfang dreißig. Aber Alvic wirkte älter, er sah ausgemergelt aus. Die dunkelbraunen Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Seine Haut war fahl, dunkle Ringe zierten seine Augen. Und sein Blick …
Blamore hatte bereits Magier getroffen, die sich so tief in Trance versetzt hatten, dass sie nicht ansprechbar waren. Jegliche Reize aus ihrer Umwelt, sogar Schmerz, nahmen sie nicht mehr wahr. Doch in ihren Augen war immer eine Art Funken zurückgeblieben, eine Präsenz. Bei Alvic war es anders. Die Farbe seiner graublauen Iriden wirkte stumpf und leblos. Man bekam den Eindruck, in einen leeren, dunklen Raum zu starren. Blamore konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Es war erschreckend, in welchem Zustand er sich befand.
Unvermittelt klatschte er direkt neben Alvics Ohr in die Hände. Nichts. Genauso gut könnte eine Schaufensterpuppe vor ihm liegen.
In der Akte, die er erhalten hatte, stand, dass man Alvics Zustand zuerst für ein Wachkoma gehalten hatte. Doch es gab wohl häufig Episoden, in denen er seine Umwelt wahrnehmen und mit ihr interagieren konnte, wie es beschrieben wurde. Er schien in solchen Phasen zwar Schwierigkeiten zu haben, sich zu orientieren, war nicht in der Lage, klar auf Fragen zu antworten, doch er aß und trank selbstständig, was man ihm vorsetzte. Offenbar faselte er dann etwas davon, dass er weiter tanzen müsse, erzählte von rauschenden Bällen und fragte, ob niemand die Stimme hören könne, die ihn zu sich rief.
Scheinbar gingen die Ärzte mittlerweile davon aus, dass Alvic unter Halluzinationen litt, die so stark ausgeprägt waren, dass er nicht nur den Bezug zur Realität verlor, sondern seine Umwelt deshalb zeitweise überhaupt nicht mehr wahrnahm. Eine Theorie, die etliche Lücken aufwies, aber wie sollte es anders sein, wenn die Ursache offenbar magische Wurzeln hatte?
Seufzend ging Blamore zurück zur Tür, zeichnete mit den Fingerspitzen eine Sigille auf das Holz. Sobald der letzte Strich gesetzt war, glühte das bis dahin unsichtbare Zeichen für einige Sekunden orangerot auf, bevor es im Türblatt versank. Der Zauber würde das Pflegepersonal für eine Weile davon abhalten, das Zimmer zu betreten.
Wieder beim Bett angekommen, streckte er beide Hände aus, ließ sie ein paar Zentimeter über Alvics Kopf schweben und kanalisierte die Magie in seinem Inneren, bis sie als warmes Prickeln seine Handflächen flutete. Er war zwar kein Arzt, aber Verletzungen, grundlegende Veränderungen in der Physiologie oder das Anhaften eines Fluches würde er feststellen können. Es … schien alles in Ordnung zu sein.
Blamore runzelte die Stirn und schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Erneut versuchte er etwas zu finden, was nicht da sein sollte. Im Normalfall fühlte es sich an wie Tintenschlieren in klarem Wasser. Aber da war rein gar nichts. Wie war das möglich, wo er doch immer noch ganz genau das Prickeln der fremden Magie im Raum wahrnehmen konnte?
Irritiert ließ er die Arme sinken, betrachtete Alvic. Vielleicht musste er es anders angehen. Er zog einen Stuhl zum Bett, ließ sich darauf nieder und griff nach Alvics Hand, die auf der Bettdecke lag. Ihre Haut berührte sich und …
Die Welt kippte, überschlug sich. Blamore stolperte nach vorne, fiel auf die Knie und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Als sich die Schraubzwinge um seinen Magen endlich lockerte, wischte er den Mund an seinem Ärmel ab und hob den Kopf.
Keuchend kam er auf die Füße.
Er befand sich nicht länger im Krankenhaus. Stattdessen waren um ihn herum Bäume, deren Laub zwischen Lila und Maigrün changierte. Die gewaltigen Stämme beherbergten nicht selten krumme Türen, während die weit ausladenden Wurzeln sich hie und da aus der Erde erhoben und zu kunstvollen Bänken und Tischen verwoben. Scheinbar stand er in einer Art Garten, denn es gab Wege aus glitzernden Kristallen und Rabatten mit Blumen, die er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Eines davon hatte er bei seiner Ankunft zerstört.
Wo auch immer er gelandet war, es war keine einfache Illusion. Er konnte die leichte Brise, die die Blätter zum Wispern brachte, auf seiner Haut fühlen. Nahm den Duft der Blüten wahr, der sich mit dem säuerlichen Geruch seines eigenen Erbrochenen vermischte. Von irgendwoher vernahm er Stimmengewirr und die Klänge einer seltsamen Melodie. Es war unmöglich, dass jemand genug Macht besaß, um all das hier länger als einen Wimpernschlag aufrechtzuerhalten.
Er griff auf seine eigene Magie zu, wollte sie aussenden, um die Umgebung auf fremde Präsenzen zu überprüfen …
Blamore zog die Augenbrauen zusammen, versuchte es erneut, aber da, in der Mitte seiner Brust, wo er normalerweise das vertraute, warme Summen seiner Kraft spüren konnte, war nichts. Ein Anflug von Panik überkam ihn, flutete wie Eiswasser seinen Magen. Bis er sich an seine Ausbildung erinnerte, an den wichtigsten Grundsatz, der ihnen eingetrichtert worden war. Wer kopflos agierte, verlor seinen Kopf.
Ein paar Mal atmete er tief ein und aus, sondierte seine Lage.
Er war ziemlich sicher, dass er nicht mit einem Zauber belegt worden war, der verhinderte, dass er auf seine Magie zugreifen konnte. Was konnte also die Ursache sein? Seine Reise war jedenfalls dadurch ausgelöst worden, dass er Alvics Hand berührt hatte. Alvic, der immer wieder so abwesend war, als befände er sich in einer anderen Welt … Wenn das hier der Ort war, an den Alvics Bewusstsein verschwand, war er vermutlich ganz in der Nähe.
Blamore straffte sich, ließ den Blick noch einmal über seine Umgebung schweifen. Bisher schien ihn niemand bemerkt zu haben und das blieb besser so. Also tastete er nach der Kette, die er um den Hals trug, zog den Anhänger unter seinem Hemd hervor. Das Melong-Amulett war aus Messing gefertigt und die polierte, leicht gebogene Oberfläche reflektierte das Sonnenlicht. Er ließ die konkave Seite auf seiner Brust ruhen. Mit Daumen und Zeigefinger beider Hände berührte er die drei Kreise, die jeweils oben, unten, rechts und links angeordnet waren, betete, dass es funktionierte. Als sich ein leichtes Glühen über seine Haut zog, atmete er erleichtert aus. Die Magie des Amuletts war also nicht betroffen.
Er betrat einen der funkelnden Pfade, entschloss sich, in Richtung der Stimmen zu gehen, die er hören konnte. Nach einigen Metern kam eine Art Pavillon in Sicht, der in seinen Ausmaßen jedoch eher einem Mehrfamilienhaus glich. Das dunkle Holz schimmerte wie blank poliert. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass es sich bei den verschlungenen Mustern der Torbögen nicht um Schnitzereien handelte, sondern dass dieses Gebäude offenbar ebenso wie die Bänke aus den Wurzeln der Bäume gewachsen war. Geschützt von einem dichten Blätterdach tummelten sich im Inneren schätzungsweise mehrere Dutzend Personen.
Bevor der knirschende Kristallpfad seine Anwesenheit verraten konnte, verließ er ihn und bahnte sich einen Weg vorbei an den Blumenbeeten und zwischen Hecken hindurch, deren Blätter perlmuttern schimmerten.
Je näher er kam, desto mehr runzelte sich seine Stirn. Die Menschen waren ätherisch schön, trugen luftige Ballkleider und exzentrische Anzüge. Doch nicht selten wurden die Frisuren von edelsteinbehängten Hörnern gekrönt, krallenbewehrte Finger hielten Weingläser oder es kamen bei einer ausgelassenen Drehung Hufe zum Vorschein. Es gab nur eine Erklärung dafür …
Das Musikstück mit den ungewohnten und teils fast disharmonischen Klängen endete und die Menge applaudierte. Blamore nutzte den Moment, um sich noch näher heranzuschleichen. Bis er die spitz zulaufenden Ohrmuscheln erkennen konnte und sein Magen sich verkrampfte. Wie zum Teufel war er im Faereich gelandet, nur indem er Alvics Hand berührt hatte?
„Vielen Dank!“, hörte er jemanden sagen. „Vielen Dank!“
Durch eine Lücke in der Menge konnte er den Sprecher erkennen, einen Fae mit schmalem Goldreif in den wachsblonden Haaren.
„Wollen wir unserem Vögelchen eine Pause gönnen“, fuhr er fort, „oder …“
Die umstehenden Fae stießen missmutige Laute aus.
„Er soll tanzen!“, riefen einige.
Eine weibliche Fae grinste mit zu spitzen Zähnen. „Ja, lass das Vögelchen hüpfen, Baralas!“
„Also gut, also gut!“ Der Fae-Mann, der zuerst gesprochen hatte und offenbar den Namen Baralas trug, grinste sardonisch. „Du hast dein Publikum gehört.“ Er legte jemandem die Hand auf die Schulter. „Tanz!“, rief er im selben Moment, in dem die Musik wieder einsetzte und schubste denjenigen in Richtung der johlenden Menge.
Blamore verschluckte sein Keuchen, als Alvic in sein Blickfeld stolperte. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, sein Haar war zerzaust und die dunkelbraunen Strähnen klebten an seiner Stirn. Ein fiebriger Glanz lag in seinen Augen. Für einen Moment stand er still, bevor er sich im Takt der Musik zu wiegen begann. Seine ersten Bewegungen waren vorsichtig, beinahe scheu. Schon bald jedoch verlor er sich in den Klängen.
Blamore kannte den Anblick nur zu gut. Jedes Mal im Club hatte er nach Alvic Ausschau gehalten. Hatte es geliebt, ihm zuzusehen, wenn er sich so selbstvergessen in einem Song verlor. Beim Tanzen blühte er auf, verlor die Zurückhaltung, die sein Auftreten sonst prägte. Doch das hier … Das war einfach nur falsch.
Hatten die arglistigen Wesen Alvic in ihren Bann gezogen? Aber wie zum Teufel war er selbst hierhergekommen, wenn er doch nur Alvics Hand berührt hatte? Außerdem betrat man das Faereich normalerweise nicht nur in seiner Geistform. Alvics Körper dürfte nicht immer noch im Krankenhaus der Menschenwelt liegen.
Die Frage, was mit ihm selbst war, verschob er auf ein andermal. Wenn sein Körper nun ebenso teilnahmslos auf dem Besucherstuhl zusammengesunken war, konnte er nur hoffen, dass der Zauber, der die Pfleger vom Betreten des Zimmers abhalten sollte, noch eine Weile wirkte.
Ein pochender Schmerz breitete sich in seinen Schläfen aus. Das widersprach allem, was er über die Gesetze der Magie wusste! Aber zumindest erklärte es, warum er nicht auf seine Kraft zugreifen konnte. Vor Jahrhunderten war ein Pakt geschlossen worden, der dafür sorgte, dass die Fae in der Menschenwelt weniger Macht besaßen, da ihr Schabernack überhandgenommen hatte. Im Gegenzug galt dasselbe für die Menschen im Faereich. Es gab jedoch Möglichkeiten, es zu umgehen, zum Beispiel, wenn die Magie in einem Objekt wie seinem Amulett gespeichert war.
In einer Drehung gaben Alvics Knie beinahe nach, wodurch er stolperte. Die Fae zischten unzufrieden.
Blamore konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, vorzustürmen, die verfluchten Wesen beiseitezuschieben und Alvic da rauszuholen. Aber sie würden sie kaum einfach so gehen lassen. Selbst wenn er auf seine Magie hätte zugreifen können, bezweifelte er, dass er in der Lage dazu wäre, ein Tor zurück in die Menschenwelt zu öffnen. Es gab Stellen in der Barriere, die alles voneinander trennte, die dünner und leichter zu zerbrechen war. Zuhause hätte er gewusst, wo sie zu finden waren, doch hier, in der Welt der Fae hatte er keine Ahnung. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als zu versuchen, herauszufinden, wie er hierhergekommen war. In der Hoffnung, so auch einen Rückweg für sie beide zu entdecken.
Er musste sich von Alvic abwenden, um einen Funken Konzentration aufbringen zu können. Was wusste er? Menschen waren für die Fae nichts weiter als Spielzeuge, ein Zeitvertreib von flüchtigem Interesse. Wenn sie den Menschen den Kopf verdrehten, sie in ihr Reich lockten, schenkten sie ihnen ein Schmuckstück. Halsreife oder Armbänder waren am beliebtesten, in seltenen Fällen auch Ringe oder Ohrschmuck. Nahmen die Menschen an, war der Bann besiegelt. Der Schmuck diente gleichzeitig als Anker für den Zauber und als Zeichen des Besitzanspruchs gegenüber anderen Fae. Mit ihm konnten sie die Menschen jederzeit in ihr Reich rufen.
Hatte er in seinen Unterlagen nicht gelesen, dass Alvic angeblich von Stimmen gesprochen hatte, die niemand sonst gehört hatte? Aber selbst wenn er außer Acht ließ, dass er nur in seiner Geistform hierher reiste, war ihm bei Alvic kein Schmuckstück aufgefallen. Und er wusste aus seiner Akte, dass im Krankenhaus die verschiedensten Untersuchungen durchgeführt worden waren, darunter Röntgenaufnahmen und ein MRT des Gehirns. Wäre dann nicht jeglicher Schmuck entfernt worden? Wenn ja, hätte das den Fae-Bann eigentlich auflösen müssen.
Hinzu kam, dass jede Magie eine ganz eigene Art von Spur hinterließ.