Krasnitz' Entscheidung - Hans Graf von der Goltz - E-Book

Krasnitz' Entscheidung E-Book

Hans Graf von der Goltz

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Beschreibung

Deutschland, 1984: Heinrich von Krasnitz kann auf ein erfolgreiches Berufsleben zurückblicken. Seit 23 Jahren sitzt er dem Aufsichtsrat der Electronic AG und dem Vorstand der Badischen Industrie- und Handelsgesellschaft vor. Von Mitarbeitern und Kollegen wird er als besonnen und uneitel geschätzt - doch das Ideal des „ehrbaren Kaufmanns" gilt längst nicht mehr. Stattdessen entdeckt die neue Managergeneration die fiktiven Werte: Eine Fondsgesellschaft versucht, die Aktienmehrheit an der Badischen zu übernehmen, nur um sie kurz darauf gewinnbringend weiterzuverkaufen. Der Bankier Dr. Karl Grotefuß hat bereits Bedarf angemeldet - seine Bank braucht dringend Geld, nur so kann er sie vor dem Ruin retten. Krasnitz steht vor einer maßgeblichen Entscheidung: Soll er von seinen Positionen zurücktreten? Oder kämpfen? Doch damit würde er den Verkauf wohl kaum verhindern können, denn die Fondsgesellschaft und die Mehrheit der Großaktionäre machen gemeinsame Sache - und dort spekuliert man bereits auf seinen Rücktritt. In seinem neuen Roman nimmt Goltz die 1980er Jahre ins Visier und skizziert den Generationswechsel in den Chefetagen großer Wirtschaftsunternehmen. Mit literarischem Feingefühl und eindrucksvoller Sachkenntnis dringt er damit zu den Wurzeln der Finanzkrise vor - und zeigt, wie wir aus aktuellen Diskussionen neue Schlüsse ziehen können.

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Veröffentlichungsjahr: 2012

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© 2009 BV Berlin Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Erscheinungstermin dieser eBook-Ausgabe: Oktober 2009

Datenkonvertierung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Produced in Germany

ISBN 978-3-8270-7028-9

www.berlinverlage.de

www.greifswalder207.de

www.grafvondergoltz.de

Zu diesem Buch

Ein Buch zur Krise?

Als Roman, der 1984 spielt? Müssen uns die achtziger Jahre heute interessieren? In einer Zeit, in der Finanzkrisen, Bankenkrisen, Wirtschaftskrisen uns in eine Weltkatastrophe hineinzureißen drohen?

Verständlicher Einwand – die heutigen Analysen der Krisenmechanismen sind wichtig. Für die Fragen aber: wohin treiben wir und was hält die Zukunft für uns bereit, greifen die Analysen zu kurz. Wer nicht versucht, zu den Wurzeln unserer Epidemien vorzudringen, wird sie nicht verstehen. Und ohne dieses Verständnis werden unsere Therapien auch dann nicht anschlagen, wenn wir die Dosis um ein Vielfaches erhöhen. Im Gegenteil, man kann auch an seinen Heilmitteln zugrunde gehen.

*

Versuchen wir also einen Rückblick:

Am 14.05.1990 schrieb der Spiegel (20/1990) unter anderem:

»Größter Finanzskandal der US-Geschichte:

Bis zu 500 Milliarden Dollar wird die Sanierung der US-Sparkassen kosten.

… die von skrupellosen und unfähigen Managern verschleuderten Spareinlagen waren vom Staat versichert.

Mindestens 1000 Sparinstitute sind faktisch pleite …

Es war eine schöne Zeremonie im Garten des Weißen Hauses. Hiermit unterzeichne er ›das wichtigste Gesetz der letzten 50 Jahre für das amerikanische Finanzwesen‹, verkündete Ronald Reagan den 200 geladenen Gästen im Oktober 1982.

›Ich glaube, wir alle haben einen Volltreffer gelandet‹, lächelte der Präsident und unterschrieb das Gesetz. Mit einem Federstrich war das amerikanische Sparkassenwesen von staatlichen Fesseln und Auflagen befreit worden; fortan sollten ungezügelte Marktkräfte dem ehrwürdigen Gewerbe eine goldene Zukunft bescheren.

Es war aber der Anfang vom Ende. Die Tinte auf dem Papier sei ›noch nicht trocken gewesen‹, da hätten ›risikofreudige Investoren, Schwindler und Mafiosi schon angestanden, um die Sparkassen zu plündern‹, schrieb sieben Jahre danach der Journalist Steve Pizzo in einem Buch über den, so Pizzo, ›größten Raub der Geschichte …‹«

Wohin die Milliarden aus den geplünderten Sparkonten im Einzelnen flossen und was sie für Unheil anrichteten, blieb den Sparkassen selbst wohl weitgehend verborgen. Die Täter saßen woanders. Die Wellen dieses »Geld-Tsunamis« trafen auch ferne Küsten – selbst den Mond, mit dem Erwerb des Rechtes, dort einst als Erster eine Filiale eröffnen zu dürfen!

Zum Glück dauerte der Spuk keine zehn Jahre! Das Feuer wurde von den Verursachern bald ausgetreten.

*

Für uns hätte es das bleiben können, was es für die Umwelt erschien: eine sehr teure Groteske – hätte sich nicht in Deutschland in jenen Jahren in den Führungsetagen von Wirtschaft und Gesellschaft ein Wandel vollzogen, der verharmlosend als »Generationswechsel« angesprochen worden war.

Erst in den späten achtziger, frühen neunziger Jahren war allmählich offenbar geworden, daß dieser Wandel Einschnitte von historischer Dimension mit sich bringen würde.

Die »Wiederaufbau-Generation« mit ihren tradierten Grundwerten, ihren Idealen, in deren Mitte der Mensch, mit seinen Rechten, seiner Würde, gestanden hatte, war weitgehend abgetreten.

Von den Einen als »Befreiung« begrüßt, von Anderen mit wachsender Sorge beobachtet, veränderten sich unter der neuen Führungsschicht Werte, Einstellungen zum Gemeinwesen und persönliches Verhalten und mit ihnen die Fundamente der Gesellschaft.

Aus den bewundernden Reaktionen von Teilen der neuen Führungsgeneration auf den kurzen Auftritt des amerikanischen Freibeutertums – von einigen gar als Offenbarung gefeiert – lassen sich Elemente einer Initialzündung ablesen. Diese ersten Zeichen machten Schule und so trat das Bild des Wandels immer klarer hervor: Geld wanderte in den Mittelpunkt allen Handelns und Strebens. Seine Mehrung wurde Selbstzweck und alleiniges Ziel. Der Mensch wurde zur Hilfskraft und verschwand in den Kulissen der Bühne.

Die neue »Generation Geld« entwickelte eine staunenswerte Kreativität bei der Erfindung immer neuer Mittel zur schnellen Produktion des angestrebten Reichtums.

Bis zu der genialen Entdeckung des Nichts: der fiktiven Werte, des fiktiven Geldes, das sich in »Nicht-Geschwindigkeit« um den Globus schießen läßt – bis es platzt …

*

1984?

Es könnte ein Ursprung unserer Katastrophe gewesen sein –. Sicher nicht der einzige. Aber es lohnt hinzugucken. Es könnten sich zwischen den Wurzeln vielleicht auch andere Keime finden lassen: Spuren einer heranwachsenden »Generation Vernunft« zum Beispiel …

Personen

Badische Industrie- und Handels-Gesellschaft AG (BIH), Baden-Baden:

Heinrich von Krasnitz, Vorstandsvorsitzender

Max Orgas, Finanzvorstand

Professor Nader, Aufsichtsratsvorsitzender (aus dem Hause der Mittelständischen Finanzkredit Bank)

Peter Schulte, Betriebsrat und Aufsichtsrat

Dr. Freye, Mitglied des Aufsichtsrats

Dr. Taler, Mitglied des Aufsichtsrats

3 Großaktionäre der BIH (je 15 %):

Allgemeine Handelsbank (Vorstandsvorsitzender: Dr. Martin Bauer)

Mittelständische Finanzkredit Bank (Vorstandsvorsitzender: Dr. Karl Grotefuß)

Rheinische Metallwerke AG (Vorstandsvorsitzender: Philipp Schöner)

Waltraud Hase, langjährige Sekretärin von Krasnitz

Ingeborg Schneider, Sekretärin von Orgas

Franziska Liebenow, neue Mitarbeiterin der Kommunikations-Abteilung

Electronic AG, Karlsruhe

(Beteiligungsgesellschaft der BIH (Anteil: 15 %)):

Mehrheitsaktionär (neu):

Snake Fonds

Aufsichtsrat:

Heinrich von Krasnitz, Vorsitzender

Wolfgang Schade, stv. Vorsitzender, Betriebsratsvorsitzender

Max Orgas

Dr. Otto Jahn, Vorsitzender der Geschäftsführung des Snake Fonds

Paul Knute, Finanzgeschäftsführer des Snake Fonds

Vorstand:

Dr. Hartmut Esen, Vorsitzender

Dr. Hans Gärtner, Finanzvorstand

Rittergut Krasnitz:

Harald von Krasnitz, Herr auf Krasnitz

Elke, seine Frau

Friedrich, älterer Sohn

Heinrich, jüngerer Sohn

Gertrud, Heinrichs Frau

Peter Roggenbuk, Oberförster

Berta, seine Frau

Brita, deren Tochter, verheiratet mit Franz Liebenow

Franziska, deren Tochter

1984

1.

Eingeübte Freundlichkeit. Der gewohnte Rahmen: Blumen in weißen Bodenvasen, über den Raum verteilt, der große Speisesaal mit den wandhohen Fenstern, davor sorgfältig geordnete Frühlingsfarben, eingetaucht in das milde Licht des Aprilnachmittags. Hinter Hecken das ferne Blau der Schwarzwaldhöhen. Gut abgestimmt, hatte er gedacht. Er war als letzter gekommen, zehn Minuten nach fünf. Sie standen im Halbrund, alle fünfundsechzig Mitarbeiter, blickten ihm entgegen, hatten Orgas in ihre Mitte genommen, den Finanzvorstand, wie zufällig nach Diensträngen geordnet. Orgas war der Anlaß, sein 50. Geburtstag.

Krasnitz war mit raschen Schritten auf Orgas zugegangen, als könne er es kaum erwarten, den alten Freund zu begrüßen. Alles wie immer, hatte er dabei gedacht. Bei runden Geburtstagen wurden keine Unterschiede gemacht. Wie viele mochten es sein im Jahr? Drei? Vier?

Er hatte Orgas lange die Hand geschüttelt, hatte mit anerzogener Herzlichkeit Glückwünsche ausgesprochen, laut genug, so daß die Umstehenden ihn hören konnten. Auch ihnen hatte er die Hand gegeben, so wie es gerade kam, ohne sich lange aufzuhalten. Der Empfang sollte beginnen.

Er war ein paar Schritte zurückgetreten, hatte seine Blicke in der Runde schweifen lassen, nur ein, zwei Minuten vielleicht, lächelnd, mit kurzem Nicken hier oder da, um dann nur noch Orgas anzusehen. Er war sich seiner Wirkung bewußt, nahm sie mit gleichgültiger Gelassenheit hin. Als »charismatisch« hatte die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« ihn neulich bezeichnet.

Die Geburtstagsrede dauerte etwa zehn Minuten. Wie gewohnt hatte er frei gesprochen, in elegant formulierten Sätzen, freundschaftlich, fast familiär. Man merkte ihnen die Routine nicht an und auch nicht die Meinungsverschiedenheiten, die erst kurz zuvor zwischen Orgas und ihm in ungewohnter Schärfe, wenn auch nur für wenige Minuten, zum Ausbruch gekommen waren. Sie blieben hinter der Tür seines Büros, unerledigt, aber für diese Stunde verdeckt. Eine lange Zeit. Er wäre gern gleich in sein Büro zurückgegangen. Es gab noch so viel zu tun – obwohl er gut vorbereitet war. Die Papiere lagen wohlgeordnet auf seinem Schreibtisch. Morgen früh um 9 Uhr würden die Vorbesprechungen in Karlsruhe beginnen. Um 10 Uhr die Aufsichtsratssitzung. Sie würde schwierig werden, die schwierigste vielleicht in seiner Laufbahn. Es gab Hürden, Fallen, hinter eisig-zynischer Höflichkeit aufgestellt. Es gab diese Leute, die er noch nicht gut kannte. Wollten sie Unterwerfung oder seinen Kopf? Vermutlich Geld, vor allem. Und Orgas? Ein Überläufer? Keine Hilfe jedenfalls.

Er konnte noch nicht gehen. Er mußte lächeln, Orgas zulächeln. Den beiden anderen Rednern Beifall klatschen, Orgas’ Vertreter und dem Betriebsratsvorsitzenden. Sie hatten ihre Reden abgelesen. Und er hatte ein Glas Champagner zu nehmen, Orgas zuzuprosten, anderen zuzuprosten, mit dem halbgeleerten Glas von Grüppchen zu Grüppchen zu wandern, scherzend, plaudernd, lächelnd, aufmunternd dem fröhlichen Gedränge am Büffet zuzusehen.

Er durfte nicht einmal auf die Uhr sehen. Noch nicht. Eine Stunde mußte er ausharren, mußte er die Papiere auf seinem Schreibtisch vergessen.

Rechts von ihm stand Herr Otto, der Personalchef, mit seinem schief herabgezogenen Lächeln. Links wippte Herr Kron, der technische Vorstand, auf seinen glänzenden, schwarzen Stiefeletten. Kron erzählte Jagdgeschichten, er hatte vor drei Jahren seine Jägerprüfung gemacht und glaubte in Krasnitz, seinem Chef, ein dankbares Publikum zu haben. Der aber ließ, von Zeit zu Zeit mit dem Kopf nickend, seine Blicke durch den Saal schweifen, dachte nur für einen Moment, früher, in Pommern, seien die Jagdgeschichten anders gewesen. Bescheidener vielleicht, selbstverständlicher.

Fünf Schritte vor ihm stand das »Kleeblatt«. So nannte man die vier Chefsekretärinnen des Hauses. Bei diesen Gelegenheiten standen sie immer zusammen, in fröhlicher Eintracht, die die vereinzelten Sticheleien, Besserwissereien vorerst vergessen ließ. Er hatte sie begrüßt, gleich nach Orgas, mit dem gleichmäßig verteilten, verschwörerischen Augenzwinkern, das ihrem Rang entsprach.

Als nun Otto eben sagte, soviel wie Herr Kron habe er nicht zu erzählen, er sei leider nur Golfspieler, näherte sich eine Dame dem »Kleeblatt«, ruhig, selbstbewußt und ihrer Umgangsformen gewiß. Eine »Neue«? Sie war etwas kleiner als die vier Sekretärinnen, schlichter angezogen, aber nicht weniger elegant, in einem grauen Kostüm, das ihr blondes Haar gut zur Geltung brachte. Sie sagte etwas, stellte sich wohl vor. Da öffnete sich der Kreis. Der erste Anflug von Hochmut auf den Gesichtern der vier wich einer fröhlichen Neugier, als freuten sie sich über die Abwechslung in der vom Alltag geprägten Gesprächsroutine.

Er folgte der Szene mit wachsendem Amüsement, das ihn für den Augenblick seinen Schreibtisch vergessen ließ. Auf einmal hatte er Zeit. Noch hatte er ihr Gesicht nicht gesehen. Man schien über ihn zu reden. Bald würde sie sich umdrehen.

»Wer ist die Dame?« fragte er den Personalchef, ohne sich von der Gruppe abzuwenden. Eilfertig folgte Otto seinem Blick.

»Ach die! Die ist neu.«

»Das denke ich mir.«

»Wir brauchten dringend Verstärkung in unserer Kommunikationsabteilung. Sie ist …«

»Ihren Namen will ich wissen!«

»Liebenow.«

»Liebenow? Mit w am Ende?«

»Franziska Liebenow. Ich glaube, ja, mit w am Ende.«

Der Personalchef sprach schnell, verhaspelte sich zweimal. Sein bis zur Mitte kahler Kopf glänzte.

»Ja«, wiederholte er, »Franziska Liebenow. Mit einem w am Ende. Fachfrau für …«

»Liebenow …«, unterbrach er den Personalchef. »Wie alt?«

»Geboren 1941, glaube ich.« Otto sprach, als gelte es, Versäumtes nachzuholen. »1941, ja – 43 Jahre alt also. Ein bißchen alt, ich weiß, aber …«

»Unsinn!« winkte er ab. Er wollte noch etwas hinzufügen, in diesem Moment sah er ihr Gesicht. Franziska Liebenow? Wäre das möglich?

Sie ging auf ihn zu.

»Franziska Liebenow« sagte sie, mit einem kaum hörbaren Akzent.

Niederbayern, dachte er, oder Franken?

»Krasnitz« sagte er, mit einer nur angedeuteten Verbeugung, und gab ihr die Hand. Ihre Hand war kühl und fest.

»Guten Tag, Herr Dr. von Krasnitz, ich bin neu in der Firma. Dies ist mein erster Tag.«

»Herzlich Willkommen! Sie werden sich bestimmt wohlfühlen bei uns.«

Er wollte noch mehr sagen. Liebenow? Er hätte sie gern gefragt. Etwas hielt ihn zurück.

Die Damen des »Kleeblattes« blickten ihn an, lächelten.

Herr Otto hob die rechte Hand, als wollte er Frau Liebenow ein Zeichen geben. Sie trat zwei Schritte zurück, ohne sich von Krasnitz abzuwenden. Er sah auf seine Uhr, nickte ihr zu. Zeit zu gehen!

2.

Er zog die Akten zu sich heran. Drei Ordner mit der Aufschrift »Aufsichtsrat, Electronic AG«.

Er schlug die Deckel auf, überflog die ersten Seiten, nickte.

Etwas … Er versuchte sich die Szene ins Gedächtnis zurückzurufen, ganz genau, diese zwei, drei Minuten. Ihre Stimme, ihre ruhigen Bewegungen. Die Gesichtszüge. Es gelang ihm nicht. Mund, Nase, Kinn? Er zuckte mit den Schultern.

Dabei wußte er doch, was es war: der Blick, die Augen. Doch wenn er sie beschreiben sollte – die Farbe zum Beispiel. Er schüttelte den Kopf. Die Form, schon eher. Das Spiel fing an, ihm Spaß zu machen. Beschreib ihre Augen mit einem Begriff! Er dachte nach, wehrte sich gegen die Worte: Augen aus einem anderen Zeitalter. Seltsam vertraut. Ihre Geschichte?

Er zog die Akten näher zu sich heran.

Warum wehrte er sich eigentlich? Objektiv betrachtet war gegen die Pläne der Investoren nichts einzuwenden. Er blätterte. Nichts Neues. Die Tagesordnung: Routine.

Bis auf Punkt 2:

»Verkauf der Electronic AG«.

Er überflog noch einmal die Stichworte seiner Ausführungen.

Als Vorsitzer des Aufsichtsrats hatte er die Sitzung zu eröffnen, hatte – nach dem Abspulen der Formalien – den Anschein von Objektivität zu wahren, die Tagesordnungspunkte emotionslos und neutral vorzutragen, seinen Gegnern für ihre Argumentation den Vortritt zu lassen.

Auch für diesen Punkt 2.

Er könnte es dabei belassen, bräuchte nur zu nicken, bei der Abstimmung die Hand zu heben – und seinen einzigen Verbündeten, den Betriebsratsvorsitzenden Wolfgang Schade, seinen Stellvertreter im Vorsitz des Aufsichtsrats, im Stich zu lassen? Nach Jahren vertrauensvoller Zusammenarbeit?

»Wir kämpfen mit Ihnen!« hatte Schade gesagt. Dann hatten sie einander die Hand geschüttelt. Drei Tage war das her.

Kämpfen? Das sagte sich so leicht. Mit welchen Waffen? Die einzige Waffe war die Mehrheit in der Hauptversammlung. Die hatten sie verloren. Viele Jahre lang hatten 36 Prozent genügt, um die Electronic AG unangefochten zu lenken. Mehr als 50 Prozent waren in früheren Hauptversammlungen selten vertreten. Und nun? Der Fonds verfügte über 48 Prozent!

Er schob die Akten fort. Sollte er sein Mandat gleich niederlegen? Der richtige Augenblick war verpaßt. Die Entscheidung war gefallen, als sie die Aufkäufe an der Börse wahrgenommen hatten.