Krasse Burschen - Ben Brönner - E-Book

Krasse Burschen E-Book

Ben Brönner

4,7

Beschreibung

Lukas hat gerade sein Abitur bestanden und ist im Begriff, seiner Heimatstadt Hamburg den Rücken zu kehren, um an einer traditionellen Universität sein Studium anzufangen. Durch einen Zufall wird er auf eine Studentenverbindung aufmerksam und tritt dort ein. Trotz der Skepsis seiner Freundin, beginnt er vollkommen in dem Verbindungsgedanken aufzugehen. Während er die feucht-fröhlichen Vorzüge genießt und dabei eine ganze Reihe Kuriositäten erlebt, merkt er erst ganz allmählich, auf was er sich eigentlich eingelassen hat ... Der Roman lässt den Leser die Entwicklung des Protagonisten plausibel nachvollziehen. Obwohl die Gegenwart der heutigen Jugend eher von individuell-egozentrischen Lebensentwürfen bestimmt wird, zeigt der Autor mit Feingespür, wie ein Einzelner auch heute noch der Faszination einer eingeschworenen Gemeinschaft erliegen kann. Die dargestellte fiktive Studentenverbindung steht dabei lediglich beispielhaft für ähnlich funktionierende Organisationen. Anhand dieser Jugendclique wird vorgeführt, wie von Mitgliedern ein Übermaß an Selbstaufgabe verlangt wird, wenn man Teil einer Gemeinschaft sein möchte, die sich einen bedingungslosen Zusammenhalt auf die sprichwörtliche Fahne geschrieben hat. Der unterhaltsam-humoristische Stil lässt den Leser die erlegene Begeisterung des Protagonisten live miterleben. Auch dadurch sorgen die geschilderten Episoden nicht selten für ein Schmunzeln - wenn auch auf ganz unterschiedliche Art.

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Seitenzahl: 440

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Das Buch

Lukas hat gerade sein Abitur bestanden und ist im Begriff seiner Heimatstadt Hamburg den Rücken zu kehren, um an einer traditionellen Universität sein Studium anzufangen.

Durch einen Zufall wird er auf eine Studentenverbindung aufmerksam und tritt dort ein. Trotz der Skepsis seiner Freundin, beginnt er vollkommen in dem Verbindungsgedanken aufzugehen.

Während er die feucht-fröhlichen Vorzüge genießt und dabei eine ganze Reihe Kuriositäten erlebt, merkt er erst ganz allmählich, auf was er sich eigentlich eingelassen hat…

Obwohl die Lebensvorstellung der heutigen Jugend eher von selbstbestimmten Entwürfen geprägt ist, zeigt der Autor mit Feingespür, wie man auch heute noch der Faszination einer eingeschworenen Gemeinschaft erliegen kann.

Die dargestellte fiktive Studentenverbindung steht dabei lediglich beispielhaft für andere ähnlich funktionierende (Jugend)Cliquen.

Anhand dieser Jugendclique wird vorgeführt, wie von Mitgliedern ein Übermaß an Selbstaufgabe verlangt wird, wenn man Teil einer Gemeinschaft sein möchte, die sich einen bedingungslosen Zusammenhalt auf die sprichwörtliche Fahne geschrieben hat.

Der unterhaltsam-humoristische Stil lässt den Leser die erlegene Begeisterung des Protagonisten live miterleben. Auch dadurch sorgen die geschilderten Episoden nicht selten für ein Schmunzeln - wenn auch auf ganz unterschiedliche Art.

Der Autor

Ben Brönner wuchs im Bergischen Land auf. Nach seinem Abitur studierte er in Paris Kunst- und Literaturgeschichte und begann anschließend sein Studium der Germanistik und Geografìe in Marburg. Nach seinem Grundstudium wechselte er nach Freiburg, wo er, nach einem kurzen Auslandsstudium in Schweden, sein erstes und zweites Staatsexamen mit Auszeichnung ablegte.

In Freiburg dozierte er an der Tourismusakademie Reiseverkehrsgeografie und war Reiseleiter für Fernreisen. Nach knapp vier Jahren begann er als Lehrer an einem Gymnasium im Schwarzwald. Allerdings vermisste er das Bergische Land so sehr, dass er von den Tannen zu den Eichen der Wupper zurückkehrte und an einem altsprachlichen Gymnasium seine Lehrtätigkeit fortsetzte. Aufgrund diverser unsinniger Reformen des Schulministeriums hatte er die Nase voll und ist heute im Knast.

Dort arbeitet er für den pädagogischen Dienst und bemüht sich, seine Schüler auf das Leben nach der Haft vorzubereiten. Sein größtes Anliegen ist es, ihnen den unschätzbaren Wert der Freiheit darzulegen und dafür zu sorgen, dass sie ihn auch wertzuschätzen lernen.

Sämtliche vorkommende Personen, Orte und Handlungen sind reine Fantasieprodukte und damit frei erfunden.

Sollte jemand meinen, einen Ort, eine Person oder eine Handlung wiederzuerkennen, ist dies auf reinen Zufall begründet.

Bei diesem Roman handelt es sich gattungstypisch ausschließlich um ein vollkommen fiktives Werk.

Weise erdenken neue Gedanken, und Narren verbreiten sie.

(Heinrich Heine, Corpsstudent der Guestphalia Göttingen)

Die Freiheit ist ein Luxus, den sich nicht jedermann gestatten kann.

(Otto von Bismarck, Corpsstudent der Hannovera Göttingen)

Das Schöne an Hamburg ist für manche eindeutig St.Pauli mit der Großen Freiheit. Nicht zu vergessen das Schanzenviertel und vor allem das Millerntor-Stadion.

Oder eben, für den selbst ernannten besseren Hanseaten, Blankenese und die Arena.

Und da fängt das Problem dann auch schon an, wenn man sich denn gerne Probleme macht.

Lukas Dunkenbeck machte sich diese Probleme nicht. Lukas kam aus dem vornehmen Osten Winterhudes und war eigentlich HSV-Fan. Trotzdem ging er lieber auf St. Pauli feiern. Seiner Meinung nach war dort alles ungezwungener als in den angesagten Hippster-Clubs seiner Fußballfreunde.

In Wahrheit fühlte er sich auf St.Pauli aber gerade deswegen wohl, weil er dort etwas überlegen Gönnerhaftes verkörpern konnte, ohne sich dessen wahrscheinlich selbst bewusst zu sein. Arrogant wirkte er dabei jedenfalls nicht – ganz im Gegenteil.

Finanziell ging es Lukas` Familie sehr gut, denn Friedrich Dunkenbeck, Lukas` Vater, hatte von seinem Vater, wie dieser von seinem, eine Porzellanfirma übernommen.

Die Fabrik schrieb seit Generationen schwarze Zahlen, was mit Sicherheit auch an der Dunkenbeckschen Firmenpolitik lag. Das Betriebsklima stimmte.

Lukas schätze sehr, wie sein Vater mit den Angestellten umging, deren Problemen der Senior nicht nur ein offenes Ohr bot, sondern sich auch in sie hineindenken konnte. Häufig hatte er mit ihnen gemeinsam nach einer funktionierenden Lösung für deren Engpässe gesucht und sie zur Zufriedenheit aller auch in die Tat umsetzen können.

Auch wenn Lukas nicht oft an die großen Fußstapfen dachte, die er als Einzelkind einmal füllen sollte, war ihm in manchen sentimentalen Stunden ein wenig mulmig vor dieser großen Verantwortung. Allerdings gelang es ihm in der Regel mühelos, diese eigentlich recht belastenden Fragen schnell von sich zu weisen. Schließlich entschuldigte ihn noch seine Jugend vor den irgendwann anstehenden Herausforderungen des Erwachsenenalters.

Momentan standen ohnehin andere Probleme an, denn die Abiturprüfungen ließen nicht mehr lange auf sich warten.

Lukas hatte in der Oberstufe nicht immer das Bild eines fleißigen Bildungsbürgers abgegeben. Zu häufig suchten diverse Jahrgangsstufenkameraden den freundschaftlichen oder zumindest kumpelhaften Kontakt zu ihm. Denn es galt wesentlich angenehmeren Dingen nachzugehen, als sich mit Exponentialfunktionen oder American Short Stories herumzuschlagen.

Aber in den letzten Wochen setzte Lukas die Schule an erste Stelle und war fast immer zum Unterricht erschienen. Selbst für das Fach Deutsch, welches er nur als mündliches Prüfungsfach gewählt hatte, schrieb er umfassende Textanalysen, was für ihn eine enorme Leistung war. Denn er hatte eine unfassbar große Abneigung gegen seinen Deutschlehrer Herrn Dr. Johnsen. Der Grund hierfür lag schon einige Jahre zurück:

Studienrat Johnsen war ursprünglich nicht sein Deutschsondern Religionslehrer der Mittelstufe. In der 9. Klasse sollte als Hausaufgabe ein Bild von Gott gezeichnet werden. Während seine Mitschüler und vor allem Mitschülerinnen sich in abstrakten dreidimensionalen Dreieckskuriositäten verloren oder blühende Kirschbäume und Meeresbrandungen zeichneten, hatte Lukas keine Lust oder Zeit für diesen Unfug. Denn er entdeckte mit seinen Klassenkameraden, die ähnlich pubertäre Schwerpunkte setzten, Alkopops, Joints, Mädchen und in diesem Zusammenhang das ausgesprochen vielfältige Nachtleben der Hansestadt.

Jedenfalls war Lukas bei der Kontrolle der Hausaufgaben nie um eine Ausrede verlegen und diesmal hatte der katholisch erzogene langjährige Messdiener auch die perfekte bibelfeste Rechtfertigung:

„Herr Dr. Johnsen, von Gott darf man sich aber kein Bild machen, nicht wahr?!“

Johnsen ließ sich auf eine Diskussion nicht ein, erteilte das Ungenügend trotzdem und gab Lukas das Gefühl, ihn bewusst in den Folgestunden zu ignorieren. Stellte Johnson eine Frage und Lukas meldete sich ebenso wie sein ebenfalls in Ungnade gefallener bester Freund Max Schönebeck, kommentierte dies der Studienrat nur mit den Worten: „Weiß es wieder keiner?“ und gab die Antwort selber.

Lukas` Vater kümmerte sich wenig um die Schule. Ernsthafte Probleme gab es auch nie. Und bei weniger ernstzunehmenden gehörte er grundsätzlich zum alten Eisen, da er sich nicht per se auf die Seite seines Sohnes schlug, wie die meisten Kampfhubschrauber-Eltern. Eltern, die permanent über den Köpfen ihrer Kinder kreisen und nach allen Seiten feuern, wenn an ihrem Sohn oder ihrer Tochter negative Kritik geübt wird.

Im Gegenteil, für Dunkenbeck Senior hatte das Wort des Lehrers in der Regel mehr Gewicht als das Wort des Jugendlichen, selbst wenn es der eigene Sohn war.

Die einzigen Ausnahmen bildeten die Fächer Mathematik und eben Religion, die nach Auffassung des Familienoberhauptes die Grundlage der Firmenideologie und auch des familiären Gesamtkonzeptes bildeten. Nach diesen erkundigte er sich regelmäßig vor dem Nachtisch beim sonntäglichen Familienessen. So auch nach dem jüngsten Vorfall:

„Wie läuft es in der Mathematik?“

„Mäßig, Dad, aber keine Versetzungsgefahr“, so die übliche Antwort, begleitet von einem typischen Lachen, welches Lukas bei neuen Bekanntschaften sofort sympathisch machte und bei bereits Bekannten viele unangenehme Situationen rettete.

Der Vater, der diese liebenswerte Eigenschaft zwar schätzte, ließ sich aber dadurch nicht beirren und fragte weiter:

„Und die zweite Säule Preußens?“

„Ja, weniger gut im Moment.“

„Mein lieber Sohn, wir haben uns schon oft darüber unterhalten, welche Traditionen in der Familie gepflegt und in der Firma besonders praktiziert werden und werden müssen. Wer den christlichen Glauben nicht verinnerlicht und sich diesen nicht auf die Flagge schreibt, hat in der modernen Welt des großen Konkurrenzkampfes wenig Chancen sein Boot im sicheren Wasser zu manövrieren. Er droht zu kentern – mit Mann und Maus!“

Dunkenbeck sah es als seine hanseatische Pflicht, zum einen Schiffsmetaphern zu bemühen und zum andern die preußischen Tugenden hoch zu halten, wo immer es ging.

Seit Ewigkeiten waren deshalb bei den Dunkenbecks die einzuschlagende Offizierslaufbahn ebenso wenig zu diskutieren gewesen, wie eine hervorragende Religionsnote. Immerhin bildeten doch beide, vom großen Kurfürst über Friedrich den Großen bis hin zum letzten Kaiser, das Fundament des preußischen Staates

Lukas` Vater war aber auch ein zukunftsorientierter Mann von Welt. Und seit der Abschaffung einer allgemeinen Wehrpflicht würde kein Familienstreit drohen, fìnge sein Sohn nach der Schule direkt mit dem Studium an. Die Religion war nichtsdestotrotz eine Diskussion mehr als wert und so hakte das Familienoberhaupt nach:

„Woran liegt es denn?“

Lukas schilderte das Vorgefallene und sah den Vater grinsend nicken. Vom Prinzip her gab er Lukas aber Recht.

„Dann sei einmal so gut, Lukas und lass mich einen Blick in dein Religionsheft werfen.“

Auch hier spielte Lukas mit seiner besten Waffe, indem er sein wohlwollendes Lachen geschickt einzusetzen versuchte. Jedoch erwiderte Dunkenbeck dies nur mit einem strengen und starren Blick. Lukas stand also auf, um seine Unterlagen zu holen. Aber seine Mutter legte ihre Hand auf die ihres Mannes und schüttelte leicht den Kopf. Woraufhin Lukas vom Vater mit einer Handbewegung und den drei Worten „nach dem Essen“ zurück auf den Stuhl beordert wurde.

Sonntags war es eine gängige Prozedur, dass sich der Vater mit einer großen Zigarre für eine halbe Stunde alleine in einen schweren Ledersessel im Erker des Esszimmers setzte. Dort sinnierte er ausgiebig über die lokale und nationale Politik. War die Zigarre aufgeraucht, widmete er sich wieder dem sonntäglichen Familienfreizeitprogramm. Dieses Mal war es allerdings anders.

Bereits seit einer Stunde saß Dunkenbeck im Sessel. Die Zigarre erst ein Viertel geraucht und erloschen in der Hand haltend und blätterte den Religionsordner von hinten bis vorne und wieder zurück durch.

Endlich brach er ab und rief mit gefasstem Ernst nach seinem Sohn. Unmittelbar eilte Lukas die Flügeltreppe der Halle hinunter.

„Über die Schlampigkeit dieses Ordners möchte ich mit dir nicht sprechen, denn du wirst bis heute Abend in Feinschrift alles noch einmal sauberst abgeschrieben haben, inklusive der zahlreichen Tabellen mit Lineal und Bleistift. Aus deinen lächerlichen Halbsätzen werden vollständige Sätze und oben und unten auf den Seiten wird, dem ordentlichen Gesamterscheinungsbild Rechnung tragend, jeweils eine Zeile Platz gelassen. Für jede verschenkte Viertelseite, geht es heute Abend eine halbe Stunde früher ins Bett – ich zähle fünf; also hast du für die Neuanfertigung exakt bis 19:30 Uhr Zeit, bevor der Sandmann kommt, mein Sohn.“

„Dad, das ist echt kindisch. Außerdem will ich noch zu Max. Der hat eben geschrieben, dass die neuen Florette da sind“.

Lukas und Max waren leidenschaftliche Sportfechter, was Herrn Dunkenbeck auch alles andere als missfiel. Doch jetzt ging es dem Familienoberhaupt um Wichtigeres. Und so reagierte Lukas` Vater auf unsachliche Einwände wie üblich mit keinem Wort. Vielmehr fuhr er in seinen Ausführungen, die erst begonnen hatten fort:

„Und sag mir Lukas, was sind das bitte für Themen, die du da ausführlichst abzuhandeln versuchst? Marx, Engels, das Kapital… Schlimm genug, dass du meinst einen Ordner statt eines Heftes nutzen zu müssen. Mit Ordnern kommst du schließlich in der Firma noch früh genug in Kontakt. Und schlimmer noch, dass in solcher Ausführlichkeit dieser bolschewistische Unsinn auf dem Geschichtslehrplan steht. Aber, mein Lieber, dass für zwei Fächer ein Order geführt wird, ist wirklich der Gipfel der Schlampigkeit!“

„Das ist alles Religion, Dad! Wir sprechen über den ganzen theoretischen Kram „Kapital“, Marx, Engels, die schlechten Zustände in Russland zur Zarenzeit, den Retter Lenin usw. schon seit Ewigkeiten.“

Im Gesicht des Vaters pochte es und er fuhr seinen Sohn an: „Was heißt >seit Ewigkeiten<? Und was zum Henker…“ seine Stimme begann sich zu überschlagen, „was zum Henker meinst du mit >Retter Lenin<?“

Völlig überrascht über den rauen Ton, entgegnete Lukas jetzt selbst aufgebracht: „Ja, was weiß ich, seit zwei, drei Monaten.“ „Was ist das für eine Aussage zwei, drei Monate … Was wäre denn, wenn ich das mal nicht so genau nähme, zwei, drei Monate. Zwei, drei Monate mal kein Taschengeld, macht für dich doch sehr wohl einen Unterschied!“

„Ja, Mann, dann guck doch in den Rand, da stehen doch überall die Daten, wann ich da was aufgeschrieben hab.“

Der Vater blickt auf die aufgeschlagene letzte Seite, dann auf die erste.

„Unglaublich! Ihr besprecht diesen unfassbaren Unsinn seit zweieinhalb Monaten und das in Religion! Lukas, ich frag dich das nochmals und allen Ernstes: Ist das dein Religionsoder Geschichtsheft?“

„Es ist Religion, nur Religion.“

Am Montag brach Dunkenbeck Senior zum erzbischöflichen Gymnasium auf. Einen Termin mit der Schulleitung hatte er schon am frühen Morgen vereinbart.

Energisch, aber nicht eilig, ging er auf den Haupteingang zu, vor dem sich gerade eine Reihe Schüler die Zeit der 5-Minuten-Pause mehr oder weniger sinnvoll vertrieb.

Betrachtete man als Außenstehender flüchtig die Pausensituation, würde man keinen Unterschied zu anderen Schulen entdecken können. Beim näheren Hinsehen war dies jedoch anders. Denn die Zahl der Bluejeans fiel deutlich geringer aus als an gängigen Staatsschulen. Auch ärmellose Shirts suchte man vergeblich. Stattdessen sah man zahlreiche Schüler der Oberstufe im Sakko und Schülerinnen in angemessen kurzen Röcken.

Auch die Frisuren entsprachen bei den Mädchen dem seit Jahrzehnten gängigen hanseatischen Klischee des kurzen blonden Pferdeschwanzes. Nur so konnten die Perlohrringe bestmöglich zur Geltung gebracht werden. Ebenso wäre es bei den Jungen der Mühe nicht wert gewesen, die neueste Haarmode aus angesagten Musikclips zu suchen. Vielmehr war es üblich, die Haare entweder seitengescheitelt und an den Seiten sehr kurz rasiert zu tragen oder eine längere Mähne mit einer ordentlichen Portion Haarwachs dauerhaft nach hinten zu streichen. Und das traditionell seit zig Jahrzehnten.

Geraucht wurde wie an anderen Schulen auch vor dem Tor. Allerdings waren es bei einer nicht geringen Zahl keine Automatenware, sondern Marken, die man lediglich im bekannten Tabakladen am Jungfernstieg erwerben konnte. Wenn einem der Weg dorthin zu weit erschien, sortierte man jedoch zumindest den Packungsinhalt in ein ansehnliches Zigarettenetui um.

Dunkenbeck durchschritt die Menge der angehenden Firmenchefs, Rechtsanwälte und Chirurgen mit einem freundlichen Nicken zu den Mädchen und Jungen, die er durch seinen Sohn näher kannte. Sofort bildete sich wie selbstverständlich eine Gasse zum Eingang.

„Moin Max, und die neuen Florette? Zu deiner Zufriedenheit?“

„Alles zur vollsten Zufriedenheit, Herr Dunkenbeck“, entgegnete Max, während er höflich die Eingangstüren öffnete.

Das Gespräch zwischen Dunkenbeck Senior, der Schulleiterin, Dr. Johnsen und Lukas war eher eine Verdeutlichung der Dunkenbeckschen Position als ein gleichberechtigter Dialog. Letztendlich führte es zu dem historischen Ergebnis, dass Lukas als erster Schüler des privaten St. Remigius-Gymnasiums des Erzbistums Hamburg Religion abwählen durfte. Das alles unter der Voraussetzung, er bliebe bis zum Abitur Messdiener und schenkte dem Messdienerunterricht besondere Aufmerksamkeit. Da der Pfarrer der Schule den Pfarrer der Dunkenbeckschen Gemeinde gut kannte, würde er sich nach Lukas` Leistungen und Betragen erkundigen und auf diese Weise auch eine Zeugnisnote eintragen.

Lukas erschien damals die ganze Sache als ein riesiger Triumph gegenüber seinem Religionslehrer. Schließlich handelte es sich dabei ja um eine grundsätzliche Familienangelegenheit, die vollkommen im Dunkenbeckschen Sinne gewonnen worden war.

Als Lukas zwei Jahre später die Oberstufe besuchte, hatte ihm die Schulleitung allerdings diesen Johnsen als Deutschlehrer vor die Nase gesetzt. Zwar ärgerte er sich natürlich darüber, dennoch gelang es ihm, sich innerlich über diese Person hinwegzusetzen. Kleinere Anspielungen des nachtragenden Studienrates sah Lukas einfach grinsend als Rache des kleinen Mannes an. Da sein Vater diesen zu spät geborenen Alt-68er ablehnte, hatte schließlich auch Lukas` tiefe Abneigung seine Berechtigung.

Dies ging so weit, dass Lukas grundsätzlich alles verachtete, was diesen Lehrer begeisterte. Momentan wurde Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ durchgenommen. Johnsen legte dabei den Schwerpunkt auf die unmenschlichen Gesellschaftsverhältnisse im deutschen Kaiserreich unter dem Preußenkaiser Wilhelm II.

Für Lukas war zwar der Inhalt des Romans ausgesprochen interessant, allerdings wollte er selbstverständlich der Romaninterpretation Johnsens keinen Millimeter abgewinnen. Denn seit er denken konnte, hatte er die preußischen Tugenden als Grundsäulen des väterlichen Unternehmertums beigebracht bekommen. Ob der Vater dies auch wirklich so meinte oder eher metaphorisch sah, bleibt dahingestellt.

Jedenfalls wurde der Roman ausführlichst durchexerziert und Lukas war dem grundsätzlichen Romangeschehen, wie gesagt, alles andere als abgeneigt. Da er ja alles ablehnte, was Johnsen für gut befand, war es nur konsequent, dass er alles für stimmig halten musste, was dieser Lehrer verwarf.

Vollkommen untypisch für den in schulischen Angelegenheiten eher als zurückhaltend cool erscheinenden Dunkenbeck Junior, hatte er sich zum Vorlesen gemeldet. Und überraschenderweise war er auch dazu aufgefordert worden. Zuvor hatte Johnsen die mutmaßlich unbekannten Begriffe aus dem Textausschnitt in einem Tafelbild erklärt und Lukas las:

>…Fast vom ersten Tage an hatten sie ihm den moralischen und materiellen Wert einer völligen Zugehörigkeit zur Verbindung Neuteutonia1 geschildert; allmählich gingen sie aber immer unverblümter darauf aus, ihn zu keilen2. Vergebens berief sich Diederich auf seine anerkannte Stellung als Konkneipant3, in die er sich eingelebt hatte und die ihn befriedige. Sie entgegneten, dass der Zweck des studentischen Zusammenschlusses, nämlich die Erziehung zu Mannhaftigkeit und zum Idealismus durch das Kneipen4 allein, soviel es auch dazu beitrage, noch nicht ganz erfüllt werde.

Diederich zitterte; nur zu gut erkannte er, worauf dieses hinauslief Er sollte pauken5! Schon immer hatte es ihn unheimlich angeweht, wenn sie mit ihren Stöcken in der Luft ihm die Schläge vorgeführt hatten, die sie einander beigebracht haben wollten; oder wenn einer von ihnen eine schwarze Mütze6 um den Kopf hatte und nach Jodoform7 roch. Jetzt dachte er gepresst: „Warum bin ich dabeigeblieben und Konkneipant geworden! Nun muss ich ran.“

Er musste. Aber gleich die ersten Erfahrungen beruhigten ihn. Er war so sorgsam eingewickelt und bebrillt8 worden, dass ihm unmöglich viel geschehen konnte. Da er keinen Grund hatte, den Kommandos nicht gerade so willig und gelehrig nachzukommen wie in der Kneipe, lernte er fechten. Schneller als andere. Beim ersten Durchzieher9 ward ihm schwach: über die Wangen fühlte er es (= das Blut) rinnen. Als er dann genäht war, hätte er am liebsten getanzt vor Glück… <

Hier unterbrach Johnsen:

„Wenn ich dich noch ein paar Abschnitte weiterlesen lasse, Lukas, müssen wir uns bald alle die Ohren zuhalten.“ Auch Max war die zunehmende Lautstärke, in der Lukas die Passage vortrug, nicht entgangen und er flüsterte seinem Banknachbarn zu: „Alter, was geht denn mit dir ab?“

„Was denn, Mann, spinnst du jetzt?!“

Und Johnsen weiter: „Es handelt sich hier um einen ganz markanter Abschnitt in dem Roman. Denn das, was der Protagonist hier tut, zeichnet seinen ganzen Charakter nach. Seinen ganzen Charakter als den Typus Mensch aus der gehobenen Gesellschaftsschicht des deutschen Kaiserreichs. Diederich wird bald die Firma seines Vaters übernehmen und sie profitbringend weiterführen können. In seiner Neuteutonia wird er nämlich zu einem obrigkeitshörigen feigen Mitläufer ohne Zivilcourage.

Jetzt wurde es Lukas zu viel und er platze angriffslustig heraus:

„Es geht doch hier ums Fechten. Erst will er nicht, dann merkt er, wie geil das ist und dann ficht er eben. Er bekommt einen drüber und ist anschließend scheiße glücklich. Was soll denn das Gelaber hier von wegen feige und Mitläufer und der ganze Quatsch?“

Johnson blieb einigermaßen ruhig: „Lukas, es fällt hier zwar das Stichwort >Fechten< und wir alle hier wissen, was dir dieser Elitesport bedeutet, aber darum geht es hier mitnichten.“

„Ach, mitnichten? Darum geht es mitnichten? Er ficht also nicht und er merkt nicht das dieses… dieses… Kneipen, also Saufen ihm nicht reicht? Und er macht dann in diesem Neuteudingens da keinen Sport und das macht ihm dann nicht mega Spaß und glücklich?“

„Nein, darum geht es sicher nicht. Ihm reicht ja das Saufen. Das Fechten ist ihm sehr unangenehm, weil er große Bedenken hat, er könne dabei verletzt werden. Denn darum geht es bei diesen Fechtduellen: verletzt zu werden! Und dann diese Narbe stolz in seinem Gesicht zu tragen. Damit auch wirklich jeder sieht, dass man sich für diese unreale Größe eines Verbindungsnamens mal ordentlich hat einen drüber ziehen lassen. Mal seine Mannesehre endlich so richtig unter Beweis gestellt zu haben!“

Jetzt begann auch Johnsen sich ein wenig in Rage zu reden und so fuhr er fort:

„Dazu hat er nämlich keine Lust, was ja erst mal ganz und gar nicht gegen ihn spricht. Aber er macht es trotzdem, weil er eben ein feiger Mitläufer ist, Dinge tut, die er eigentlich nicht will und dabei Verletzungen in Kauf nimmt. Verletzungen, die ihn das ganze Leben entstellen können. Das alles nur, um zu diesem künstlichen Konstrukt eines unpersönlichen und unnatürlichen Ganzen Neuteudings dazuzugehören. Hinter dem rein gar nichts steckt! Außer dass dort Menschen zu Untertanen erzogen werden, die nach oben buckeln und nach unten treten. Und im gleichen Stil werden dann später auch ihre Abteilungen, Firmen und was weiß ich geleitet. So werden stupide menschenverachtende Vollidioten herangezogen. Vor hundert Jahren genauso wie heute!“

Lukas wollte die ganze Zeit den Redefluss Johnsens mit Einwänden unterbrechen; lediglich das johnsensche Redetempo ließ ihm dazu keine Möglichkeit. Doch jetzt waren drei Worte gefallen, die ihn alle seine Einwände und den ohnehin ja in seinen Augen nicht ganz richtig tickenden Religions- und Deutschlehrer vergessen ließ: >genauso wie heute<!

Und so blieb für Lukas nur noch das Interesse an diesen letzten drei Worten übrig:

„Wie meinen Sie das, Herr Johnsen >genauso wie heute?<“

„So wie ich es sage. Diese Verbindungen gibt es heute dummerweise immer noch und erschreckenderweise gar nicht wenige.“

„Is klar, wo denn bitte?“, entgegnete Lukas mehr erwartungsvoll als ungläubig und sah es wohl als angebracht, wieder sein typisches Lachen einzusetzen.

„Überall Lukas. Hier in Hamburg, vor allem an der Außenalster und an jeder älteren Universitätsstadt gibt es Dutzende.“

Johnsen merkte, dass er gerade das Gegenteil von dem erreichte, was eigentlich seine Absicht war und schob deswegen eilig nach:

„Ich hör da aber jetzt nicht wirklich Interesse, Lukas? Hör zu: Diese Studentenverbindungen haben es wirklich in sich, die sind nicht ohne. Das ist vollkommen überholter und unsinniger Elitekult, Lukas.“

Doch es war wohl zu spät. Lukas blickte seinen Lehrer gar nicht mehr an, sondern starrte geistesabwesend zum rechten Fenster hinaus.

„Lukas…hör mir zu!“ Doch nicht die Aufforderung Johnsens, sondern der Gong zum Stundenende holte Lukas wieder in die Realität.

„Unsinniger Elitekult, ich hab verstanden, Herr Johnsen. Schönes Wochenende dann.“

Lukas stellte in einer Bewegung seinen Stuhl aufs Pult, warf seine Tasche über die Schulter und eilte zum Schultor.

Es war üblich, dass sich die Dunkenbecksche Clique nach dem Unterricht noch auf eine Zigarette am Schultor traf und den bisherigen Tag Revue passieren ließ. Freitags wurden zudem die Pläne für das Wochenende verabredet.

Heute ging es aber für Lukas, nur den Deutschunterricht im Kopf, auschließlich um Ersteres.

„Ich weiß nicht, ob du so deine Somi-Note wirklich verbessern kannst, Junge. Als Johnsen dir gesagt hat, du solltest mal öfter deinen Mund aufmachen, hat er das sicher nicht so gemeint“, empfing ihn sein langjähriger Klassenkamerad Hauke. Doch Lukas schien den Kommentar gar nicht wahrzunehmen, sondern platzte heraus:

„Was ist das da mit den Verbindungen? Fechten, saufen, Mannesehre und was weiß ich - wie geil ist das denn bitte??“

„Komm mal runter, Mann - das war nen Buch, Junge – nen olles BUCH!“

„Ne, das war kein olles Buch– hörst du dem Alten nicht zu oder was? Ich dachte ich bin der Deutschspast nicht du? Die gibt`s heute noch und zwar wie Sand am Meer, hier, überall Mann!“

„Ja schön für die… Was geht jetzt heute Abend? Erst Treffen bei Max und dann zum Alsterfest oder direkt zu den Landungsbrücken, guten Bühnenplatz abklären?“

In dem Moment kam Hendrik aufs Schultor zu. Hendrik war einer der wenigen Exoten der Schule. Das bekam man nicht nur durch seine autonomen Ansichten zu hören, sondern, begab man sich am 1. Mai ins Schanzenviertel, auch zu spüren. Zumindest wenn es darauf ankam. Doch selbst ohne mit seinen inneren Ansichten näher konfrontiert zu werden, erkannte man seinen Sonderstatus an der traditionsreichen Hanseatenschule schon von weitem. Denn Hendrik dokumentierte seine inneren Ansichten auch äußerlich durch eine Armeehose, seine verwaschene >Ton Steine Scherben-< oder >Ärzte-Shirts<, verfilzte schulterlange Haare und die überdimensional großen Tunnel in beiden Ohrlappen.

„Bis heute Abend dann“, sprach er im Vorbeigehen Lukas an.

„Jo, bis dann“, entgegnete dieser.

„Wie, bis heute Abend?“, Hauke war doch sehr verwundert.

„Ja, ich helf dem beim Umzug heute“.

„Wie du hilfst dem beim Umzug? Wie kommst du denn zu der beschissenen Ehre?“

„Weil der mich gefragt hat und von seinen Antifakumpels scheinbar doch keiner eine wirklich soziale Ader hat, deshalb.“

„Na dann viel Spaß, Mutter Theresa.“

„Jo, wird super“, lachte Lukas. „Schreib mir dann, wo ihr seid. Ich komm vielleicht nach. Kann mir heute aber sowieso keinen Absturz leisten. Morgen Fechtturnier in Pinneberg.“

„Die Pinnemongos schaffst auch volltrunken.“

„Sowieso“, grinste Lukas.

„Und… kommst jetzt noch mit auf nen Feierabendbierchen?“, fragte der mittlerweile dazugestoßene Max, der die Antwort aber schon ahnte.

„Ne, ich bin gleich noch mit Julia verabredet und jetzt werd ich erst mal heimwärts, in aller Ruhe was googeln. Die Herren, bis später vielleicht.“

„Seit drei Jahren immer das Gleiche: Erst die holde Dauerfreundin Julia, dann irgendwas, und erst dann… erst dann, mein Bester, deine Kumpel! So wirste bald ganz alleine dastehen!“, rief Max augenzwinkernd Lukas nach, der bereits losgezogen war. Denn das Verbindungsthema ließ ihm keine Ruhe und wenn er noch ungestört recherchieren wollte, musste er sich beeilen. Schon in drei Stunden war er mit Julia verabredet, die er beim Hosenkauf unterstützen sollte. Julia hatte er beim letzten Date schon eine halbe Stunde warten lassen. Das wollte er sich kein zweites Mal leisten. Denn auch wenn Julia vieles sehr tolerant sah, in drei Dingen war sie wenig kompromissbereit: So verlangte sie von Lukas unbedingte Treue, keine Machosprüche in ihrem Beisein und eine akzeptable Pünktlichkeit.

Lukas fand eine ganze Menge Informationsmaterial, allerdings war selten etwas neutral Geschriebenes dabei. Das meiste lieferte ihm, wie bei so manchem Schulreferat, Wikipedia, allerdings verwirrten ihn die vielen Fakten gleichermaßen, wie sie seine Begeisterung für das noch sehr Unbekannte schürten. Homepages der Verbindungen selber gab es massenhaft. Er merkte, dass es doch einige Unterschiede unter den Verbindungen bzw. Korporationen, wie sie sich selber bevorzugt zu nennen schienen, gab, vertagte aber eine genauere Beschäftigung auf den Sonntag.

Der Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er exakt in dieser Minute hätte bei Julia aufschlagen sollen. Da er aber schon ahnte, wie sich der Einkauf gestalten würde, bei dem er lange Zeit ohne Netzempfang vor irgendeiner Untergeschosskabine warten müsste, druckte er sich einige Seiten aus und steckte sie in die hintere Hosentasche. Eilig sprang er die Treppe zur Eingangshalle hinunter, indem er mindestens zwei Stufen auf einmal nahm und stieß fast seine Mutter um, die gerade mit einem großen Blumengesteck zur Bibliothek wollte. Entschuldigend drückte er ihr einen Kuss auf die Wange, ließ wie üblich die schwere Eingangstür knallend ins Schloss fallen, sparte es sich die Türe seines Z4 zu öffnen, sondern sprang über die Fahrertür direkt in den Fond. Laut heulte der Motor auf und Lukas fuhr mit leicht durchdrehenden Rädern die knirschende Kieseinfahrt in Richtung eiserner Ausfahrtspforte des Dunckenbeckschen Anwesens.

Nach zwanzig Minuten war er, dank eines schnell gefundenen Parkplatzes, bei Julia in Eppendorf angekommen und klingelte keine dreißig Sekunden später in der dritten Etage des weißen Gründerzeithauses. Doch statt des Summens hörte er Julia nur durch die Gegensprechanlage:

„Mein Schatz, es ist sehr, sehr spät und was hasse ich sehr, sehr?“

„Ja, Zuspätkommen, aber ich erkläre es dir, wirklich, also, ich mein es ist kacke von mir… aber, ach Mann, jetzt mach auf bitte.“

„Oh nein mein Lieber!“, hörte er bevor das leise Klicken ihm deutlich machte, dass Julia den Hörer der Sprechanlage eingehängt hatte.

„Na ganz groß“, dachte er und als er überlegte, ein zweites Mal zu klingeln, um seine Erklärung etwas sachlicher auf den Punkt zu bringen, ging die Eingangstüre auf. Julia flog ihm um den Hals und begrüßte ihn mit einer Kopfnuss, gefolgt vom schnellen Haarerubbeln an Lukas` Hinterkopf, welches aber nicht ohne Liebenswürdigkeit war.

„So mein Schatz und genau das magst du nicht ganz so gerne, nicht wahr? Jetzt sind wir quitt und können sofort los, bevor du oben noch nen Kaffee willst, aufs Klo musst oder mir wieder die Sender im TV logischer ordnen möchtest.“

Lukas fiel ein kleiner Stein vom Herzen, wusste er zwar, dass eine Zwanzig-Minuten-Verspätung kein Trennungsgrund war, aber eben zu Julias No-Go-Liste gehörte.

Julia hatte sich noch nicht angeschnallt, da legte Lukas ohne Umschweife mit seinen neuen Interneterkundungen los:

„Wenn ich studiere, dann mach ich das in einer Studentenverbindung – einer Korporation. Na, wie findest du das?“ „In einer was?“

Und Lukas erklärte, führte aus und versuchte die Zwischenfragen Julias bestmöglich zu beantworten.

Julia selbst studierte nicht. Sie hatte auch keinen Sinn darin gesehen, das Abitur zu machen. Nachdem sie die Mittlere Reife mit sehr guten Noten erreicht hatte, verließ sie die gemeinsame Klasse und fing eine Ausbildung in einer Werbeagentur an, um die sie sich frühzeitig bemüht hatte. Aufgrund ihrer kreativen und vor allem machbaren Ideen war sie bereits zur Art Byer Assistance aufgestiegen und organisierte Fotoshootings, wählte die Locations aus und besprach die Casting-Vorschläge mit den Kunden. Das ganze universitäre „Zippund Zapp“, wie sie es nannte, war ihr demnach völlig fremd. Allerdings hörte sie Lukas mit keinem vorgespielten Interesse zu. So ganz klar war ihr allerdings nicht, was es mit diesen Korporationen auf sich hatte, aber das war ja bei Lukas noch nicht wirklich anders.

Am bevorzugten Mainstream-Modekaufhaus angekommen bat Julia ihren Lukas, sich allerdings einen Moment auf den eigentlichen Grund des Treffens zu besinnen.

„Nicht wahr mein Lukas, jetzt geht es Mal eine kurze Zeit um mich, mich“, betonte sie auf ihre eigentümlich liebenswerte Art, indem sie den entscheidenden Ausdruck immer einmal wiederholte.

„Nur Hosen, hast du gesagt, oder? Von wegen kurze Zeit…“, fragte Lukas nach. Aber er wusste eigentlich, dass es dabei nicht bleiben würde, was Julia auch sofort eindeutig andeutete:

„Ja Hosen, so als, als… Grundlage, mein Lieblingslukas.“

Lukas erwiderte außer einem kurzen Lachen nichts weiter, war er sich doch bewusst, dass er durch sein Zuspätkommen jetzt nicht darauf pochen konnte, wenig Zeit zu haben.

Diese Einkaufsprozedur kannte er schon zu genüge: Julia suchte aus, nach einem recht willkürlichen Prinzip, und packte alles auf Lukas Arme. Heute ließ er es ohne Beschwerde über sich ergehen. Zumindest bis er in die Größenschilder sah. „Och Mann, Julia, guck da doch mal genauer hin, das ist alles ne Nummer zu klein, alles 36!“

„Mein lieber Nörgelkorporationsstudent, vielleicht hat die Julia ja abgenommen?“

„Oh Mann, ja vielleicht hat sie das. Willst du nicht trotzdem mal eins anprobieren, nur mal so, um zu gucken… Vielleicht brauchst du ja auch noch kleiner“, zog er sie grinsend ein wenig auf.

„Sicher, anprobieren klingt sehr gut… später.“

Lukas Einwand war allerdings berechtigt. Seine Aufgabe war es nun, nachdem Julia tatsächlich in einer im Untergeschoss befindlichen Umkleide verschwunden war, die grob geschätzten dreißig Teile eine Nummer größer zu suchen. Dafür hatte sie ihn ja mitgenommen. Um ein bisschen zu helfen.

Immerhin blieb Lukas nach seinem Umtauschmarathon viel Zeit sich seinen Ausdrucken zu widmen. Auch Julias kurze Kabinenfluchten, um sich ihm und vor allem dem wesentlich größeren Spiegel im Kabinenvorraum zu präsentieren, musste er nur mit den Worten „toll“, „steht dir gut“ oder „ganz hervorragend“ kommentieren. Aufzublicken brauchte er dabei kaum. Er wusste, dass Julia seine Meinung in diesen Modedingen nicht wirklich interessierte und das war auch ganz in Ordnung so. Julia reichten seine Kommentare als Anwesenheitsbekundung vollkommen aus.

Als Lukas sich durch den Großteil seiner Ausdrucke durchgearbeitet und Julia an der wieder einmal einzigen geöffneten Kasse im Erdgeschoss bezahlt hatte, klingelte ihr Handy. Ihre Agentur rief an und bat sie, am Abend mit auf eine Charityveranstaltung zu kommen. Es wären wichtige Kunden anwesend.

„Kommst du mit?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Ich würde wirklich gerne, aber ich hab Hendrik versprochen, ihm beim Umzug zu helfen.“

„Wer ist Hendrik, bitteschön? Du hast noch nie von einem Hendrik gesprochen.“

„Den kennst du nicht, der ist erst in der Oberstufe zu uns auf die Schule gekommen.“

„Und du hilfst dem, obwohl er weder Freund noch Kumpel ist? Versteh ich nicht“, sagte Julia, ohne dass es vorwurfsvoll klang.

„Ich hab`s ihm halt versprochen, dem hilft sonst keiner außer der Burak“

„Der Assiburak aus der B?“

„Ja, der Assiburak, der aber eigentlich gar kein Assi ist. Ich kann das nicht absagen, Max ist auch schon total angepisst deswegen, weil heute doch Alsterfest ist. Wir sind ohnehin nur zu dritt. Sei bitte nicht sauer!“

„Man merkt deine erzbischöfliche Gesinnung, St. Lukas von St. Remigius. Ne, is kein Problem, wir hätten da sowieso wenig Zeit für einander. Ich muss ja vor allem arbeiten. Wär nur schön gewesen, wenn noch ein normaler Mensch dabei gewesen wäre, der nicht nur von Karriere und wie am besten >nach oben hinauf und dann erst recht< geredet hätte.“

„Ich garantiere dir, es gibt eine Prosecco-Bar als Fluchtpunkt für alle bescheidenen Kreativen und es wird ein ganz fantastischer Abend.“

„Genau so seh ich das auch.“ Julia grinste fast vollkommen überzeugt.

Mit der sehr überschaubaren Einkaufstüte, in der lediglich ein Gürtel und ein Halstuch eine kurze Zeit miteinander verbrachten, bevor sie in Julias Fünf-Meter-Schrank ganz neuen Partnern vorgestellt wurden, fuhr Lukas Julia nach Hause.

„Sehen wir uns spät noch an den Landungsbrücken?“, fragte Julia schon mit einem Fuß auf dem Bürgersteig.

„Heute echt nicht, ich hab doch Morgen Turnier und werd nach dem Kisten- und Sofaschleppen direkt ins Bett. Morgen Abend nur wir zwei?“

„Check! Und viel Erfolg für Morgen. Drei, vier Medaillen hält dein Regal ja noch aus, bevor es zusammenkracht – ich denk an dich!“

„Viel Spaß heute Abend und Hände weg von den Art Directors!“, ermahnte Lukas sie lachend.

„Ich schwöre!“

Ein Kuss und weg war sie, nachdem sie sich an der Haustüre noch einmal umgedreht hatte, um Lukas weitere Liebesbeweise hinterherzuwerfen.

Lukas war tatsächlich nicht mehr auf dem Alsterfest. Auch wenn er in zahlreichen Nachrichten dazu aufgefordert worden war und dreimal eine Einladung zur extra gebildeten WhatsApp-Gruppe >nordisch bei nature< erhalten hatte.

Der Umzug dauerte bis in die Nacht und Hendrik hatte zum krönenden Abschluss seine Bong rausgeholt.

Für Lukas gab es im Grunde genommen auch im benebelten Zustand nur das Thema seiner neuen studentischen Zukunftspläne. Hendrik, der sich durch seine Antifaaktivitäten in dem Metier einigermaßen auskannte, wenn auch nur sehr eindimensional, sah es als seine autonome Pflicht, Lukas von seinem Vorhaben abzubringen.

Vor allem, da er doch eigentlich ganz okay sei. Allerdings war dies ein vergebliches Unterfangen, denn wenn ein Dunkenbeck sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, wurde es auch angegangen. Als Hendrik die Verbindungen abfällig als „die ewig Gestrigen“ bezeichnete, verließ Lukas die bedröhnte Runde, da ihm die Diskussion nun begann absurd zu erscheinen; schließlich lief Hendrik ja ständig mit uralten >Ton Steine Scherben-< oder >Ärzte-Shirts< rum.

Am nächsten Morgen war Lukas, im Gegensatz zu Max, auch vollkommen fit. So war es für ihn eine Selbstverständlichkeit, dass er Max zum Turnier abholte. Er traf bereits eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit bei ihm ein. Sicherlich auch, weil Max sich wieder einmal sportwaffentechnisch auf den aktuellsten Stand gebracht hatte. Die neuen Florette wollte Lukas unbedingt noch ausprobieren.

„Willst` die heute schon einsetzen? Die Klingen sind ja noch verdammt hart?“, wollte Lukas etwas skeptisch wissen.

„Ja, meins is eben immer härter als deine Lusche - hart is geil, mein Freund!“

„Da spricht der Megastecher, ne?!“, konterte Lukas lachend, „Wie hart war`s denn gestern?“

„Meega, Junge … ne, eigentlich hast du nix verpasst. Die >Fetten Brote< waren cool, aber wenn schon die Leude aus Südelbien „nordish by nature“ mitgrölen… bidde, was is das für nen shit Mainstream? Nix mehr für uns wahre Jungs aus Hamborch, näch?“, Max versuchte das norddeutsche Platt nachzuahmen, was ihm aber nur mäßig gelang.

„Hamborch is eben mega in, da kannsu nix machen“, griff Lukas Max` dialektalen Versuch auf, gab ihm die High Five und mahnte zum Aufbruch:

„Lass mal los jetzt, will vorher noch was auf die Hand“.

„Fischbrötchen heißt das Spiel“, gab Max mit einem gewissen Grad an Begeisterung zu verstehen.

„Boah, Alter, komm mal runter von deinem nordisch Trip -ne Currywurst tut`s auch!“

„Is` auch nordisch, min Jung!“, versuchte Max sich zu rechtfertigen.

Dementsprechend gestärkt kam man überpünktlich in Pinneberg an. Nach dem üblichen gegenseitigen Aufziehen und wenig sportlicher Einschüchterungsversuche vor der Halle, hatten sich alle schnell umgezogen. Das Turnier konnte zum festgelegten Zeitpunkt beginnen.

Lukas schlug sich wie üblich sehr gut, während Max, wohl bedingt durch seine unvernünftigen nächtlichen Eskapaden, bereits bei der zweiten Partie ausgeschieden war. Dunkenbeck Junior hatte die K.o.-Runden problemlos durchlaufen. Im Viertelfinale war er sogar derart selbstsicher, dass er es mit einem der neuen Florette seines Freundes ausfechten wollte.

„So lohnt sich der Neukauf vielleicht doch noch“, zog er Max ein wenig auf. Durch seine gekonnten Kombinationen von zwei Vorwärtssprüngen und Ausfallschritt mit einer angetäuschten sowie einer schnell folgenden echten Parade, hatte er sowohl das Viertel- als auch, nur in Kleinigkeiten variiert, das Halbfinale gemeistert. Hinzu kam Lukas` Talent für geschicktes Ausweichen, durch exakt eingesetzte Drehung des Oberkörpers zur richtigen Zeit.

Für Max waren selbstredend mindestens achtzig Prozent rein auf das Konto seiner neuen Waffe zurückzuführen.

Insgesamt ließen die Hamburger die von ihnen abschätzig als Vorortspacken bezeichneten Provinzler alt aussehen. Dennoch stand auch ein Pinneberger neben Lukas im Finale.

Wie jeder traditionsbewusste Verein hatte auch der FC Pinneberg seine eigenen Gewohnheiten, die die Hamburger aus diversen Turnieren zuvor schon kannten. Eine dieser Eigenarten wurde sogar für derart fair befunden, dass man auf der Hamburger Vorstandssitzung überlegt hatte, sie zu übernehmen. Allerdings wurde letztendlich doch nichts daraus, da man seine eigenen Traditionen nicht zugunsten der provinziellen Sitten aufzugeben bereit war.

Jedenfalls war man heute in Pinneberg zu Gast und so wurden nach den heimischen Traditionen vor dem üblichen Begrüßungsritual der beiden Fechter sowie Obmänner10 die Waffen beider Kontrahenten getauscht.

Das Kommando „Allez“ war von rechts zu hören und die beiden Finalisten begannen sich erst vorsichtig zu belauern. Dann, durch leichtes Berühren der gegnerischen Waffe, reizte man jeweils den Kontrahenten und deutete dabei erste Angriffe vorläufig nur an, um sie dann in die Tat umzusetzen. Vorerst führte dies jedoch lediglich zu Unterbrechungen wegen Bahnüberschreitungen oder ungültig gesetzter Treffer.

Weil er schließlich Lukas als zu überlegen einschätzte, kam es dem gastgebende Fechter in den Sinn, eine ausgesprochen hinterhältige, aber bei Fechtern nicht seltene List anzuwenden:

Durch einen Ausfallschritt nach vorne, begleitet von einem zeitgleich blitzschnellen Schlagen der Spitze auf den Boden der Kupferbahn, so schnell, dass die bloßen Augen der Obmänner die Bewegung nicht erkennen können, kann ein elektronisch angezeigter Treffer vorgegaukelt werden.

Diese Unsportlichkeit wurde auf offiziellen Wettkämpfen unmöglich gemacht, da man die bis dahin gängigen Kupferbahnen durch andere Materialien ersetzt hatte, die diese Treffer nicht anzeigten. Bei diversen Fechtvereinen sind die Kupferbahnen, auch aus Kostengründen, jedoch bis heute in Betrieb geblieben – so auch in Pinneberg.

Lukas` Gegner setzte also zu dieser Täuschung an und schlug die Spitze auf den Boden. Wahrscheinlich war die Bahn vorher nicht vom Schweiß der vorherigen Fechter gesäubert worden oder es kam zu der unfairen Absicht auch noch eine besondere Ungeschicklichkeit hinzu.

Jedenfalls rutschte Lukas` Gegner im nächsten Moment mit seinem Standbein aus, kippte nach Vorne und fing gerade noch seinen Sturz mit der Klinge ab. Da diese jedoch neu und wenig elastisch war, zerbrach diese mit klirrendem Geräusch in zwei Teile. Aus dem Gleichgewicht gebracht, stürzte der Pinneberger Finalist nach vorne und Lukas konnte, nur durch sein Talent in einem Sekundenbruchteil ein entscheidendes Ausweichmanöver einzuleiten, Schlimmes verhindern.

So war er einer ausgesprochen unangenehmen Verletzung entgangen, denn die abgebrochene Klinge wäre, wenn Lukas in seiner verteidigenden Position verharrt wäre, mindestens in Höhe seines Oberschenkel geschnellt und dort sehr wahrscheinlich steckengeblieben.

Lukas, der sich seinem Naturell entsprechend, schnell wieder vom ersten Schreck erholt hatte, wurde die Siegermedaille überreicht. Pinneberg hatte man durch diese fatale Aktion disqualifiziert und Lukas` Gegner angekündigt den nächsten Turnieren von der Bank beiwohnen zu müssen.

Begleitet wurde die Medaillenverleihung von aufrichtigen Entschuldigungen der anwesenden Vertreter des Vorstandes.

Zwar war Lukas ein solcher Sieg nicht genauso viel wert, wie ein ehrlich und fair erkämpfter, dennoch freute er sich über sein Glück im Unglück. Schließlich hatte er den Sieg ja in erster Linie durch sein Können errungen.

Julia wurde über das Gröbste per Messenger in Kenntnis gesetzt und für den Abend ein Zweiertreffen mit genauester Detailschilderung versprochen. Nachdem es Lukas einige Anstrengungen gekostet hatte, Max davon abzuhalten, ebenfalls durch wenig sportliche Mittel den Pinnebergen klar zu machen, Hamburger Jungs seien zwar hart im Nehmen aber ebenso hart im Austeilen, fuhr man doch in ausgelassener Stimmung nach Hause.

Mit Stolz zeigte Lukas seinen Eltern die Medaille und bat seinen Vater zu einem Gespräch. Lukas war auf der Heimfahrt in den Sinn gekommen, dass dieser Sieg doch eine passende Gelegenheit wäre, die gute Stimmung auszunutzen und seinen Vater über seine Korporationsabsichten in Kenntnis zu setzen. Die Umstände könnten besser nicht sein, so dass er nicht wie üblich zahlreiche Einwände gegen die eigenmächtigen Entscheidungen seines Sohnes vorbringen würde. Doch wider Erwarten kam der Senior dem Junior zuvor:

„Olympiasieger der Zukunft“, eröffnete er seinerseits das eigentlich von Lukas geplante Gespräch, „ich sehe du trägst dich mit dem Gedanken, deine universitäre Zeit in männerbündische Bahnen zu lenken?“ Er zeigte Lukas ein paar der Blätter, die er am gestrigen Tag ausgedruckt hatte. Lukas fragte seinen Vater ein wenig ärgerlich:

„Sind die Zeiten nicht vorbei, Dad, in denen du in meinem Zimmer schnüffelst?“

„Ich habe nur in der Halle unten geschnüffelt und das auch nur aus reiner Ordnungsliebe. Denn diese Blätter lagen verstreut am Treppenabsatz, nicht wahr?“

Lukas hatte sich schon gestern gewundert, dass einige seiner Ausdrucke nicht in dem Stapel loser Blätter zu finden waren. Diese mussten gestern bei der stürmischen Verabschiedung seiner Mutter aus der Hosentasche gerutscht sein.

„Sei es drum, Lukas. Ich finde deine Idee wahrlich nicht die schlechteste. Mir war es damals leider nicht möglich zu studieren. Die Firma hatte eine schwere Zeit zu überwinden, drängten doch die Meißner Konkurrenten zunehmend auf den Markt. Und auch die Konkurrenz aus China begann in rasendem Tempo in Europa Fuß zu fassen. Dein Großvater brauchte dringend Unterstützung in der Firma, ohne sich einen fremden Juniorpartner leisten zu können. Die Geschichten kennst du ja ein wenig. Jedenfalls, lange Rede kurzer Sinn, hätte ich studiert, ich hätte mich auch mit dem Gedanken getragen.“

„Ganz ehrlich, Senior, mir fällt da echt nen Stein vom Herzen. Ich hab gedacht, das gäb jetzt mal wieder so eine Ewigdiskussion.“

Dunkenbeck lachte wohlwollend und klopfte seinem Sohn freundlich auf die Schulter.

„Nur Dad, da ist fast nicht durchzublicken. Es gibt so viele unterschiedliche Burschenschaften, ich weiß gar nicht, wie man da zu ner Entscheidung kommen soll…“

Lukas erzählte, was er bis dato in Erfahrung bringen konnte. Sein Vater merkte aber, dass Lukas Kenntnisse noch recht spärlich waren und so schlug er vor, auch wegen der recht wirren und kindischen Ausführungen, die den Geschäftsmann aufgrund fehlender Sachkenntnisse nervten:

„Pass auf Lukas, das Beste ist, du redest mal mit Leuten, die davon eine Ahnung haben. Ich selbst bin da, so leid es mir tut, nicht der richtige Gesprächspartner. Heute Abend will ich ohnehin noch in den Club und ich weiß, dass es dort einige Mitglieder gibt, die in einer Burschenschaft waren oder sind. Denn, soviel weiß ich Lukas, und das muss dir klar sein: So eine Verbindung ist kein Fechtverein, auch wenn dort in der Regel wohl auch gefochten wird. Das sind Lebensbünde so wie die Freimaurer und Logen. Da kannst du nicht mal eben ein- und dann wieder austreten, wenn es schwierig wird…“

„Na aber, wenn deine Clubbuddys da auch noch drin sind, kann es ja so schwer nicht sein, das durchzuhalten“, entgegnete Lukas etwas herausfordernd.

„Meine was?“, der Senior schmunzelte unwissend.

„Ja, buddys, homies, Freunde, Kumpels.“

„Dann sprich eben heute Abend mit einem meiner Buddys. Der alte Falkenberg ist auch so einer. Mit dem verstehst du dich doch so prächtig. Zumindest ist mein bester Whisky immer fast ausgetrunken, wenn du dich mit ihm am zweiten Weihnachtstag nach nebenan an den Kamin verziehst.“

Einen besseren Ansprechpartner hätte sein Vater Lukas nicht nennen können. Lukas kam auch dunkel in den Sinn, dass Falkenberg ihm schon einmal etwas Lustiges über seine Verbindungszeit erzählt hatte. Richtig erinnern konnte er sich aber nicht mehr.

Jedenfalls war Baron Friedhelm von Falkenberg ihm einer der liebsten Freunde seines Vaters. Er war ihm in manchen Gesprächen durch seine Offenheit und väterliche Art des Öfteren als eine Art Vaterersatz erschienen, wenn sein wahrer Vater wieder so viel zu erledigen hatte – und das seit seiner Kindheit bis heute.

Falkenberg war schon seit Jahren in Pension und seither noch mehr die Gemütlichkeit in Person als ohnehin schon zuvor. Lukas freute sich also in doppelter Hinsicht auf den Abend. Zum einen, weil man mit dem Baron sehr gut „chillen“ konnte. Falkenberg war für Lukas der einzige weit über der Volljährigkeit, der das Chillen verstanden hatte. Nutzte man diesen Ausdruck auch sonst nur für Gleichaltrige – Falkenberg war definitiv der Meister darin.

Zum anderen, weil er gerade für das Thema ein Fachmann war, welches Lukas momentan vollkommen in den Bann schlug.

Der Club war in erster Linie ein Treffpunkt für die hanseatische Wirtschafts- und Universitätsprominenz, die keinen Wert darauf legte in diversen Boulevardmagazinen aufzutauchen. Es fanden sich keine neureichen Emporkömmlinge oder, wie Dunkenbeck sagen würde „Parvenüs“, in den ehrwürdigen Reihen. Darauf wurde genauestens geachtet. Weniger Wert legte man jedoch auf die aktive Repräsentation des eigentlichen Clubnamens, dem >Hanseatischen Segel- und Ruderclub e.V.< Denn aktiv segelten oder ruderten die allerwenigsten. Dies war jedoch das einzig Traditionslose, was man in den dunkel getäfelten Räumlichkeiten an der Binnenalster bemerken konnte.

Der Club war, typisch für einen Samstagabend, sehr gut gefüllt. Vor allem das Herzstück, ein Restaurant mit regionaler Küche, freilich nicht frei von Einflüssen der Haute Cuisine, war bis auf den letzten Platz besetzt.

Dunkenbeck Senior und Junior gaben ihren Mantel bzw. Jacke an der Garderobe ab und bogen vor dem Restauranteingang nach rechts in die kleineren Clubräumlichkeiten. Diese bestanden aus drei Zimmern.

Der Hauptraum hatte von seiner Größe etwas Saalähnliches und war ausschließlich mit dunkelbraunen und -grünen Ledersofas sowie Sesseln im französischen und, wie von den Hanseaten bevorzugt, englischen Stil eingerichtet.

Der zweite und dritte Raum waren wesentlich kleiner und gingen vom Hauptraum ab. Wurde der eine vornehmlich als Spielraum für Billard und Doppelkopf genutzt, befanden sich in dem anderen eine Bar und kleinere Sesselgruppen. Überall standen Pokale und hingen Bildern von Segel- und Ruderregatten an den Wänden und zeugten vom langen maritimen Erbe des ersten Clubs der Hansestadt.

Dunkenbeck schlug vor, dass es sich beide erst einmal gemütlich machten, entdeckte aber am Panoramafenster einen alten Freund, den er seit Tagen vergeblich versuchte zu kontaktieren:

„Lukas, du musst mich kurz entschuldigen, ich will eben mit Hanström sprechen. Hol dir doch schon mal etwas an der Bar, zur Feier des Tages kannst du es auf mich aufschreiben lassen. Ich seh gleich nach, wo sich Falkenberg versteckt und komm dann zu dir.“

„Kein Ding, Dad – ich glaub ich hab hinten Christian und Torben gesehen und werd` mal eben Tach sagen. Der Drink ist aber fast schon bestellt“, gab er lachend zu verstehen.

Christian und Torben waren Clubbekanntschaften in Lukas` Alter und sie hatten schon auf einigen Veranstaltungen in den gediegenen Räumlichkeiten gemeinsam feucht-fröhlich viel Spaß gehabt. Zu viel, wie manche der älteren Mitglieder meinten.

Nachdem Lukas mit seinen beiden Bekanntschaften zwei Billardrunden durchgespielt und Dunkenbeck das Geschäftliche geklärt hatte, kam letzterer mit Falkenberg auf ihn zu.

„Lukas, ich höre gerade zwei ganz vortreffliche Neuigkeiten von deinem Vater. Also erst einmal Glückwunsch zum erneuten Sieg. Das andere klären wir vielleicht nebenan? Du hast da wohl einige Fragen“, begrüßte Falkenberg den jungen Dunkenbeck mit Freude.

„Ich danke, und das gleich doppelt. Es ist für mich…“ Lukas wurde von einem unüberhörbaren Dreiklang aus seiner Hosentasche unterbrochen. Dunkenbeck Senior war davon wenig begeistert und gab dies seinem Sohn auch unmissverständlich zu verstehen:

„Du kennst die Regeln, Lukas. Dein Handy machst du hier bitte aus. Schlimm genug, wenn das Ding zu Hause ständig auf sich aufmerksam macht und du permanent wie ein Irrer drauf rumtippen musst.“

Lukas kannte die Regeln des Clubs, die erwarteten, dass die Handys grundsätzlich aus- oder zumindest auf stumm geschaltet wurden. Ein Schild an der Garderobe wies sogar ausdrücklich darauf hin, dass hier „Flugmodus“ galt.

Lukas blickte erst seinen Vater, dann Falkenberg entschuldigend an. Der schlug Lukas freundschaftlich auf die Schulter und drehte ihn schnell in Richtung einer Sitzgruppe im benachbarten Raum.

Dort standen bereits zwei Whiskygläser bereit.

Dunkenbeck Senior entschuldigte sich und ging auf zwei alte Bekannte zu, was Lukas im Grunde genommen ganz recht war. So konnte er mit dem Baron ungestört die brennenden Fragen klären.

„Du hast früher schon mal von deiner Verbindungszeit erzählt. Ich erinner mich ganz dunkel. Verstanden hab ich`s damals nicht wirklich - aber viel gelacht. Das weiß ich zumindest noch“, begann Lukas das Gespräch.

„Ja, gelacht wird da auch eine ganze Menge“, grinste Falkenberg, „aber es ist vor allem eine ziemlich ernstzunehmende Sache. Leg einfach mal los mit deinen Fragen.“

Kurz nachdem Lukas angefangen hatte zu schildern, was er bereits in Erfahrung gebracht hatte, dabei Begriffe wie Burschenschaften, Studentenverbindungen, Landsmannschaften, Korporationen und Corps als Synonyme verwendete, unterbrach ihn Falkenberg abrupt:

„Ich muss dich einmal unterbrechen, Lukas. Fangen wir besser einmal ganz von vorne an.“

Lukas nahm sein Glas und lehnte sich zurück, denn er wusste, dass jetzt eine wohl längere monologische Ausführung zu erwarten war.

„Versuchen wir einmal etwas Struktur in das ganze Durcheinander zu bringen“, setzte Falkenberg an. „Du verwendest hier Begriffe von verschiedenen Studentenverbindungen, als wären sie alle das gleiche. Dem ist aber nicht so und wenn du in eine Verbindung eintreten möchtest, sollten dir vorher die Unterschiede einigermaßen bekannt sein. Die Verbindungen freuen sich alle über Nachwuchs, denn im Trend liegen die Korporationen momentan nicht gerade. Wenn du dir einzelne Verbindungshäuser ansiehst, und das solltest du, werden dir die Unterschiede nicht auffallen. Denn auf den ersten Blick scheinen sie auch wirklich alle gleich zu sein. Die Mitglieder heißen Burschen, also wundere dich nicht, wenn ich im Folgenden eben nicht von Mitgliedern, sondern Burschen spreche.“

Lukas nickte aufmerksam.

„Die Burschen werden dir also ihre eigene Verbindung in den schönsten Farben vorstellen und auf gewisse Unterschiede gar nicht eingehen. Zumindest nicht, bis du deinen Eintritt erklärt hast. Erst nach und nach wird dir dann vielleicht auffallen, dass vielleicht ein anderer Dachverband für dich passender gewesen wäre; also wähle mit Bedacht.“

Dieses Mal unterbrach Lukas mit fragendem Blick: „Ein Dachverband?“

„Ja, entschuldige, Lukas. Ich erkläre es dir sofort. Die einzelnen Studentenverbindungen gehören verschiedenen Dachverbänden an. Eine Verbindung ist also kein individueller Club, der nur sich selbst verantwortlich ist. Jede gehört mit vielen anderen Verbindungen in Deutschland und Österreich einem gemeinsamen Dachverband an. Viele bezeichnen Studentenverbindungen ganz allgemein auch als Burschenschaften. Das ist aber falsch. Es gibt Studentenverbindungen, die Burschenschaften sind und demnach demselben Dachverband angehören, andere sind Landsmannschaften, Sängerschaften, Turnerschaften und Corps. Nahezu alle mit ihrem eigenen Dachverband. Eine Burschenschaft ist demnach einem Corps nicht gleichzusetzen, außer, dass es eben beides Studentenverbindungen sind.“

Lukas blickte erneut fragend: „Sängerschaften?“

„Ja, Sängerschaften. Was ist damit?“, stellte Falkenberg als Gegenfrage.

Lukas wiederholte skeptisch: „Sängerschaften?“

Falkenberg winkte ab, aber Lukas meinte auch in der Geste des väterlichen Freundes ein wenig Abschätzigkeit erkannt zu haben.

Lukas verlor somit an Zurückhaltung: „Sängerschaften klingt ein bisschen schwul, find ich.“

„Wenn du das einem Sängerschaftler sagst, wäre das allerdings keine gute Idee – doch das wirst du noch früh genug merken.“

„In welcher Verbindung bist du denn jetzt eigentlich, Landsmannschaft, Corps, Burschensch…“

Falkenberg setzte sich etwas aufrechter hin und antwortete, bevor Lukas seinen Satz beendet hatte: „Ich bin Alter Herr im Freiburger Corps Franconia.“

Lukas legte sein markantes Grinsen auf: „Naja, Alter ist ja irgendwie relativ.“

Jetzt musste Falkenberg lachen: „Wegen >Alter Herr< meinst du? Nein, nein, das ist auch nur ein Begriff aus der Verbindungssprache und hat mit dem wahren Alter eigentlich nichts zu tun.“

Er hielt kurz inne, fuhr aber dann fort: „Eigentlich ein blöde Bezeichnung, da muss ich dir recht geben, Lukas. Vor allem, weil du Alter Herr wirst, wenn du dein Studium beendet hast. Wenn du also fleißig bist, kannst du mit Ende zwanzig schon ein Alter Herr sein.

Doch kommen wir mal zu den verschiedenen Verbindungen zurück, denn das ist, wie gesagt, die erste Entscheidung, die du zu treffen hast.“

„Wenn du in einem Corps bist, muss das ja dann schon einige Vorzüge haben“, Lukas war sich sicher seiner Entscheidung etwas näher gekommen zu sein.

„Die Frage hat sich für mich eigentlich nicht gestellt, denn ich bin ein Alt-Herren-Sohn, das heißt mein Vater und mein Großvater waren auch schon in dieser Verbindung. Zudem, und das ist etwas Eigentümliches an den Frankonen in Freiburg, nehmen die nur Adelige auf.“

„Also wäre das für mich ja schon mal unmöglich, außer du adoptierst mich“, spaßte Lukas.

„Ich denke, du bist bei den Dunkenbecks goldrichtig“, konterte der Baron, „aber in ein Corps kannst du schon eintreten, nur eben nicht bei den Freiburger Frankonen.“ Falkenberg ergriff sein Whiskyglas und leerte es. Lukas tat es ihm gleich und der Baron bestellte auch zur Freude des Juniors zwei weitere.

Falkenberg setzte erneut an: „Also fangen wir einmal mit den Corps an: „Was dich sicherlich begeistern wird ist, dass in den Corps gefochten wird und das nicht zu knapp.“

Lukas beugte sich nach vorne und stütze sich mit den Unterarmen auf seinen Oberschenkeln ab, um dem nun Folgenden auch körperlich so nahe wie möglich zu sein.