Kreativität und Hermeneutik in der Translation -  - E-Book

Kreativität und Hermeneutik in der Translation E-Book

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Beschreibung

Die Kreativität nimmt gegenwärtig eine zentrale Position in der Translationsprozessforschung ein. Die Erkenntnis, dass Kreativität nicht nur beim Übersetzen literarischer Werke benötigt wird, bildet die Grundlage für die Entwicklung neuer Modelle der translatorischen Kompetenz. Zu dieser grundlagentheoretischen Ebene gehört die Betrachtung der übersetzerischen Kreativität in Verbindung mit den (eminent hermeneutischen) Begriffen des Verstehens und Interpretierens: Die Textvorlage verstehen, sie auslegen, um sie dann angemessen kreativ in der Zielsprache wiedergeben zu können, ist ein translatorisches Grundverhalten. Der Band fokussiert den Nexus Kreativität-Verstehen-Interpretieren im Übersetzen und beleuchtet ihn aus den unterschiedlichen Perspektiven der Rhetorik, Literatur, Hermeneutik, Philosophie, Linguistik und Translatologie.

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Seitenzahl: 829

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Kreativität und Hermeneutik in der Translation

Larisa Cercel / Marco Agnetta / María Teresa Amido Lozano (Hrsg.)

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0015-1

Inhalt

Professor Alberto Gil zugeeignetKreativität – Verstehen – Interpretation. Multiperspektivische Annäherungen an einen translatorischen NexusBibliographieI. Rhetorik und LiteraturInterpretatio – imitatio – aemulatio: Die Stellung der Übersetzung (im engeren und weiteren Sinn) im Lehrgebäude der klassischen Rhetorik1 Rhetorik und Übersetzung in der Antike2 Die Stellung der Übersetzung im Kreis der freien Künste3 Der freie Umgang mit fremdsprachlichen Texten: imitatio und aemulatio4 Rückblick und AusblickBibliographieKreativität beim Literaturübersetzen. Eine Bestimmung auf rhetorischer Grundlage1 Ist translatorische Kreativität ein punktuelles Phänomen?2 Rhetorische Textproduktion und Kreativität3 Die „schriftliche Stimme“ (Novalis) als kreative Herausforderung4 Nachahmung als hermeneutischer Zwang zu rhetorischer Kreativität5 Zusammenfassung und weiterführende GedankenBibliographieInterpretation and Creativity in the Translation of Paul Celan1 The Role of Interpretation and Creativity2 Holocaust Poetics3 Translating the Poetics of Paul Celan4 The Creative Reading of the Translated Poem5 ConclusionReferencesSprachgefühl und das Übersetzen von Kinderliteratur1 Das Kinderbuch – ungeliebtes Kind der Übersetzer?2 Kategorien von Kinderliteratur3 Übersetzungstheoretisches4 Sprachgefühl5 Fazit und AusblickBibliographieUnendliche Vervielfachung. Raymond Queneaus Exercices de style und ihre deutschen Übersetzer1 Neuübersetzung als Fortschreibung2 Neuübersetzung als AktualisierungBibliographieGustave Roud, „Hinweg, hinweg – Vite, passe le pont“Bibliographie« Mesdames, messieurs, la Cour. » La traduction du langage juridique dans la littérature criminelle1 Introduction2 Présentation de l’écrivain, du corpus et de la méthode d’analyse3 Les formes et fonctions du langage juridique dans les romans4 Analyse traductologique5 Révision et appelBibliographieHaroldo de Campos: Transcriação como plagiotropiaConfronto com o impossívelBibliografiaTranslatio – traditio – veritas: Zur Spannung zwischen Texttreue und Kreativität in den antiken Übersetzungen ‚heiliger‘ TexteBibliographieWas heißt es, den (richtigen) Ton in der Übersetzung zu treffen?1 Einleitung2 Drei Redeweisen vom Textton3 Der translatorische Umgang mit dem Textton4 FazitBibliographieII. Hermeneutik und PhilosophieThe Translation Process and its Creative Facets in a Hermeneutic Perspective1 Introduction2 The Translation Process3 Creativity4 ConclusionReferencesEmpirische Fundierung einiger fundamentaler Aussagen der Übersetzungshermeneutik1 Ziel und Methode2 Textgrundlage und Versuchspersonen3 Das Datenkorpus4 Die einzelnen tentativen Übersetzungsäquivalente (TÜÄ)5 Evaluation der übersetzerischen Leistung6 Nihil ex nihilo!7 Der semantische Druck der Isotopien bei der Sinnkonstitution8 Die Kristallisation des zwischen den Isotopien virtuell „schwebenden“ Sinns9 Was haben wir aus diesem Experiment gelernt?10 Der wissenschaftliche Charakter des hermeneutischen Ansatzes11 FazitBibliographieAnhangQuellen der Kreativität beim Übersetzen1 Der Begriff Kreativität2 Übersetzen als Handeln eines Subjekts3 Vergegenwärtigung in Empathie4 Kognition ist Verstehen als Semiose5 Das Sprachgefühl als Basis für Kreativität6 Sprachliche Kreativität und Intuition7 Formulieren als Koordinierungsproblem8 Strategien im Umgang mit Texten9 Formulierungsziele des ÜbersetzersBibliographieBeyond das Gefühl des fremden “the Feeling of the Foreign”: The Hermeneutical Creativity of das Gefühl des fremden “the Feeling of the Alien” and das Gefühl des fremden “the Feeling of the Strange”1 Introduction2 The Loss of Familiarity: The Feeling of the Alien3 The Distortion of Familiarity: The Feeling of the Strange4 ConclusionReferencesLes apories de la créativitéBibliographieAspekt & Kreativität1 Zur Einführung: Analogie als Quelle der Kreativität2 Kunstfälschung vs. Translation3 Aspekt-Wahrnehmen & KreativitätBibliographie„Tanzen ohne Ketten“. Sprachspiele als Rahmen für die übersetzerische Kreativität1 Fritz Paepcke und die Hermeneutik in der Übersetzungswissenschaft2 Gadamer und die „sprachlichen Spiele“3 Fritz Paepcke und die hermeneutischen Ketten4 Metaphern und der methodische Zugang zu den „Sprachspielen“5 Abschließende BemerkungenBibliographieIII. Angewandte Sprachwissenschaft und ÜbersetzungspraxisKreativität in Translation und Translationswissenschaft: Zwei Fallbeispiele und ein Vorschlag1 Einleitung2 Kreatives Übersetzen (Kußmaul)3 Transkreation4 SchlussbemerkungenBibliographieThe Role of Understanding in Linguistic Perspectives on Translation. Some Thoughts on a Philosophical Debate about Belief and Knowledge1 Understanding and Encoding in Linguistic Perspectives2 Understanding and Translation in a Hermeneutic Perspective3 The Challenge: ‘Übersetzung / Translation’ between Religious and (Post-)Secular Discourses in Habermas4 ConclusionReferencesÜbersetzung (fast) ex nihilo: eine Spielart der translatorischen Kreativität?1 Einleitung2 Kreativität und Übersetzung ex nihilo: einige Vorüberlegungen3 Unmittelbare Nachzeitigkeit: eine kurze Bestandsaufnahme4 Übersetzungen ex nihilo im Europarl-Korpus5 FazitBibliographieModeling Routine in Translation with Entropy and Surprisal: A Comparison of Learner and Professional Translations1 Introduction2 Related work3 Method4 Case-study: measuring routine in professional vs. learner translations5 Conclusion and future workReferencesDenken in Analogien – kreatives Lösen von Verstehensproblemen im Übersetzungsprozess1 Einleitung2 Verstehensprozesse und Analogien in der Translationsprozessforschung3 Modell der Analogiebildung im Translationsprozess4 Methodischer Zugang5 Ergebnisse6 FazitBibliographieCreativity in the Translation Workplace1 Introduction2 Creativity and Cognition in the Workplace3 Defining and Modelling Creativity from a Systemic Perspective4 Case Study5 Empirical Setting6 Observations7 ConclusionsReferences

Professor Alberto Gil zugeeignet

Kreativität – Verstehen – Interpretation. Multiperspektivische Annäherungen an einen translatorischen Nexus

Larisa Cercel / Marco Agnetta / María Teresa Amido Lozano (Saarbrücken)

Die Kreativität ist in der Übersetzungswissenschaft zu einem erstrangigen Konzept avanciert. Nach den Forschungen der 1990er Jahre, die den Wert der Kreativität in der Translation aufarbeiteten und für die stellvertretend Paul Kußmauls Kreatives Übersetzen (2000) zu nennen ist, nimmt sie gegenwärtig eine zentrale Position in der Translationsprozessforschung ein. Als Schlüsselbegriff der translatorischen Kompetenz wird sie in ihr eigens gewidmeten Abhandlungen wie Gerrit Bayer-Hohenwarters Translatorische Kreativität (2012) verstärkt systematisch analysiert und empirisch gestützt. Vor dem Hintergrund einer systemischen Sichtweise und interdisziplinären Orientierung wird die Erarbeitung eines Kreativitätskonzepts angestrebt, das ein breites Spektrum kreativer übersetzerischer Leistungen erfasst. Die Erkenntnis, dass Kreativität nicht nur beim Übersetzen literarischer Werke benötigt wird, bildet die Grundlage für die Entwicklung neuer Modelle der translatorischen Kompetenz.

Zu dieser grundlagentheoretischen Ebene gehört die Betrachtung der übersetzerischen Kreativität in Verbindung mit den (eminent hermeneutischen) Begriffen des Verstehens und Interpretierens: Die Textvorlage verstehen, sie auslegen, um sie dann angemessen kreativ in der Zielsprache wiedergeben zu können, ist ein translatorisches Grundverhalten. Prägend für dieses Verhalten ist die ambivalente Bindung des Übersetzers an das Original: Sie hemmt und fordert zugleich heraus, mahnt zur Zurückhaltung und lädt zum Wagnis ein. Der vorliegende Sammelband erkundet den kreativ-interpretativen Spielraum des Übersetzers im Rahmen dieser gespannt-spannenden Beziehung und beleuchtet ihn aus den unterschiedlichen Perspektiven der Rhetorik, Literatur, Hermeneutik, Philosophie, Linguistik und Translationswissenschaft. Abgerundet wird der Band durch einen Blick auf den Berufsalltag der Übersetzer, deren Kreativität über textuelle Aspekte hinaus auch bei der Gestaltung der eigenen Tätigkeit in verschiedenen translatorischen Arbeitskontexten gefordert wird.

Die Beiträge bieten Zugänge zu unterschiedlichen Dimensionen der translatorischen Kreativität: Sie setzen sich mit begrifflichen Aspekten (Michael Schreiber, Marcelo Tápia, Marco Agnetta / Larisa Cercel) bzw. mit der Übersetzung von Begriffen (Douglas Robinson) auseinander, eruieren Quellen der translatorischen Kreativität (Radegundis Stolze, Vahram Atayan) und Methoden ihrer Förderung (John Wrae Stanley), beleuchten Mechanismen ihrer Entstehung (Gerrit Bayer-Hohenwarter, Paulo Oliveira) und ihren grundlegend aporetischen Charakter (Jean-René Ladmiral), schlagen neue Modelle für deren wissenschaftliche Erfassung (Mathilde Fontanet) sowie von routiniertem Verhalten (José Manuel Martínez Martínez / Elke Teich) vor und sorgen für die empirische Belegung theoretischer Grundsätze (Ioana Bălăcescu / Bernd Stefanink). Der fokussierte Blick auf die Literatur (Rainer Kohlmayer, Jean Boase-Beier, Wolfgang Pöckl, Irene Weber Henking, Angela Sanmann, Ursula Wienen) und die Bibel (Christoph Kugelmeier) als die Orte par excellence, in denen sich das unerschöpfliche Potential der translatorischen Kreativität am deutlichsten zeigt, sucht ebenfalls den weiteren Horizont einer disziplinären (Jörn Albrecht), gesellschaftlichen (Erich Steiner) und beruflichen (Hanna Risku / Jelena Milošević / Regina Rogl) Einbettung. In dieser multiperspektivischen Schau, die im Nexus Kreativität-Verstehen-Interpretation ihre gemeinsame Grundlage hat, wird der Facettenreichtum des Phänomens der Kreativität in der Translation offenkundig.

 

Der Band ist Prof. Dr. Alberto Gil, Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Übersetzungswissenschaft sowie Gründer und Leiter des Forschungszentrums Hermeneutik und Kreativität an der Universität des Saarlandes, zum Anlass seines 65. Geburtstags zugeeignet.

Innerhalb der Themenbereiche Sprache-Rhetorik-Translation, die die wichtigsten Wirkungsfelder von Prof. Gil in Forschung und Lehre bilden (vgl. Atayan/Wienen 2012), hat sich in den letzten Jahren die Übersetzungshermeneutik deutlich als Schwerpunkt seiner Forschungen (Gil 2007, 2009, 2012, 2014, 2015, im Druck) profiliert. Die genannten Arbeitsfelder definieren die Markenzeichen seines übersetzungshermeneutischen Programms: solide sprachwissenschaftliche Untermauerung hermeneutischer Verstehens- und Interpretationsprozesse, feines Sensorium für rhetorisch-stilistische Individualität im Original und Translat – beides vereint in einer grundlegend anthropologischen Perspektive, die das Humanum in der Translation würdigt.

Dem Phänomen der übersetzerischen Kreativität bringt Alberto Gil in seinen Studien zur Translation eine besondere Aufmerksamkeit entgegen. Aus seinen Reflexionen und den mit Feingespür durchgeführten translatologischen Analysen greifen wir einen Gedanken heraus, der das anskizzierte Bild der unterschiedlichen Zugänge zu dem hier zur Diskussion stehenden Phänomen um einen weiteren Aspekt bereichert: Kreativität als zentrale Größe in der Definierung des Verhältnisses von Original und Übersetzung. Die Beschäftigung mit dem Problem der Kreativität schärft zunächst einmal den Blick auf das Translat: Ein Übersetzer, der das Wagnis des Kreativseins eingeht, schafft in der Zielsprache ein gleichwertiges Werk, dem u. U. eine „Eigenidentität” (Gil 2015: 146) zugesprochen werden kann. Zugleich schärft die Kreativität der Übersetzung den Blick auf das Original, denn im kreativen Akt des Übersetzens können „tiefere Schichten des Originals freigelegt werden, die sonst nur im Bereich der Ausdruckspotentialität geblieben wären” (Gil 2015: 152). Die Bidirektionalität dieses Verhältnisses wertet beide Texte auf und zeichnet zugleich ein ausdifferenziertes Bild von der Translation ab.

Der Titel des Bandes, der zu einer chiastischen Betrachtung des Verhältnisses von Hermeneutik und Kreativität im Übersetzen einlädt, greift diesen Gedanken des Jubilars auf und gibt ihn an die wissenschaftliche Community zur Reflexion weiter.

Bibliographie

Atayan, Vahram / Wienen, Ursula (Hrsg.) (2012): Sprache – Rhetorik – Translation. Festschrift für Alberto Gil zu seinem 60. Geburtstag. Frankfurt a. M.: Peter Lang.

Gil, Alberto (2007): „Hermeneutik und Übersetzungskritik. Zu Jorge Luis Borges’ Pierre Menard, autor del ‚Quijote’”. In: Gil, Alberto / Wienen, Ursula (Hrsg.): Multiperspektivische Fragestellungen der Translation in der Romania. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 313–330.

Gil, Alberto (2009): „Hermeneutik der Angemessenheit. Translatorische Dimensionen des Rhetorikbegriffs decorum”. In: Cercel, Larisa (Hrsg.): Übersetzung und Hermeneutik – Traduction et herméneutique. Bukarest: Zetabooks, 317–330.

Gil, Alberto (2012): „Mimesis als rhetorisch-translatorische Größe. Ein Beitrag zur hermeneutisch orientierten Übersetzungstheorie“. In: Cercel, Larisa / Stanley, John (Hrsg.): Unterwegs zu einer hermeneutischen Übersetzungswissenschaft. Radegundis Stolze zu ihrem 60. Geburtstag. Tübingen: Narr, 153–168.

Gil, Alberto (2014): „Kreativität und Problemlöseverfahren als translatologische Größen, am Beispiel der spanischen Übersetzung von Herta Müllers Atemschaukel”. In: Kunz, Kerstin / Teich, Elke / Hansen-Schirra, Silvia / Neumann, Stella / Daut, Peggy (Hrsg.): Caught in the Middle – Language Use and Translation. A Festschrift for Erich Steiner on the Occasion of his 60th Birthday. Saarbrücken: universaar, 129–145.

Gil, Alberto (2015): „Translatologisch relevante Beziehungen zwischen Hermeneutik und Kreativität am Beispiel der Übertragungskunst von Rainer Maria Rilke”. In: Gil, Alberto / Kirstein, Robert (Hrsg.): Wissenstransfer und Translation. Zur Breite und Tiefe des Übersetzungsbegriffs. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 143–162.

Gil, Alberto (im Druck): „Übersetzen als multifunktionale Texttransformation. Ein Grundsatzreferat aus der Perspektive der Übersetzungshermeneutik”. In: Klees, Christian / Kugelmeier, Christoph (Hrsg.): Von der Erzählung zum dramatischen Spiel. Wandlungen von Sprache und Gattung von Vergil bis in die Moderne. Saarbrücken: Alma Mater.

I.Rhetorik und Literatur

Interpretatio – imitatio – aemulatio: Die Stellung der Übersetzung (im engeren und weiteren Sinn) im Lehrgebäude der klassischen Rhetorik

Jörn Albrecht (Heidelberg)

Abstract: In the course of history, rhetoric has undergone a mutation from an art of discourse that aims to improve the capability of speakers to persuade an audience to an art of literary discourse that aims to improve the capability of writers to produce aesthetically perfect texts. The article examines the role of translation in this process, especially as an auxiliary discipline in the context of the trivium, the three medieval arts of the ‘humanities’: grammar, dialectic (logic) and rhetoric. Emphasis is laid on two traditional forms of ‘free’ translation in antiquity: imitatio, an author’s conscious use of features and characteristics of an earlier work, and aemulatio, a form of translation which might surpass the original in artistic value. The first one is illustrated with the example of a poem by Giacomo Leopardi, inspired by a French model; the latter one is exemplified comparing the episode of the “three drops of blood in the snow” in Perceval by Chrétien de Troyes and Parzival by Wolfram von Eschenbach.

Keywords: Rhetoric, poetics, trivium, imitatio, aemulatio.

In einem neueren französischen Roman, der sich wie ein Kriminalroman gibt, ohne wirklich einer zu sein, spielen Personen bulgarischer Staatsangehörigkeit oder Herkunft eine herausragende Rolle. Neben bewusst klischeehaft gezeichneten schnauzbärtigen Agenten, die vor nichts zurückzuschrecken scheinen, und dem Fahrer eines Lieferwagens, der mit starkem slawischen Akzent seine Unschuld an einem bedauernswerten Unfall beteuert, obwohl er den berühmten Semiologen Roland Barthes in der rue des Écoles wohl nicht rein zufällig überfahren hat, tritt auch Julia Kristeva auf den Plan. Von Intertextualität oder Polyphonie ist dabei nicht die Rede; Kristeva wird als vorbildliche Hausfrau präsentiert, die ihrem geckenhaften Gatten Philippe Sollers einen sauté de veau vorsetzt. Julenka, wie ihr Vater sie zärtlich nennt, scheint, wie einige andere auch, etwas über ein nach dem Unfall Roland Barthes’ verschwundenes Dokument zu wissen, das, wenngleich es von einer bisher selbst von Roman Jakobson noch nicht entdeckten Sprachfunktion handelt, darüber hinaus von einiger politischer Brisanz zu sein scheint. Selbst Giscard d’Estaing zeigt sich beunruhigt.

Leider kann dieser Erzählstrang hier nicht weiter verfolgt werden, denn nun tritt eine weitere Persönlichkeit bulgarischer Herkunft in Erscheinung, die uns – gerade noch rechtzeitig – dem im Titel angekündigten Thema näher bringt. Kein Geringerer als Tzvetan Todorov äußert seine Ansichten zur Rhetorik. Diese sei, so der „maigrichon à lunettes affublées d’une grosse touffe de cheveux frisés“, in ihrem Ursprung in eine lebendige Demokratie eingebettet gewesen und habe ausschließlich dazu gedient, die anderen zu überzeugen (gelegentlich auch zu überreden) und Mehrheiten für die eigene Position zu gewinnen. Das habe sich zur römischen Kaiserzeit und im europäischen Feudalismus grundlegend geändert:

On n’attendait plus du discours qu’il soit efficace mais simplement qu’il soit beau. Aux enjeux politiques se sont substitués des enjeux purement esthétiques. En d’autres termes, la rhétorique est devenue poétique. (C’est ce qu’on a appelé la seconde rhétorique.) (Binet 2015: 185f.)

Es ist schwer zu entscheiden, ob die hier erkennbare Verengung des Begriffs der Rhetorik auf die elocutio dem ‚wirklichen‘ Todorov oder nicht eher dem Autor geschuldet ist, der ihm diese Äußerung in den Mund legt. Wie dem auch sei, um diese ‚zweite‘ Rhetorik, die sich stark auf die Produktion von Texten und weit weniger auf deren Wirkung konzentriert, wird es auch hier gehen; von Pathos oder Ethos wird kaum die Rede sein. In dem Moment, in dem die Übersetzung als Hilfsdisziplin der Rhetorik auftritt, weist diese bereits eine starke Affinität zum Medium der Schrift auf; der nach allen Regeln der Kunst ausgestaltete Text ist mehr und mehr für Leser anstatt für Hörer bestimmt (vgl. Albrecht 2014: 426).

In den folgenden beiden Abschnitten muss der Übersichtlichkeit halber zunächst an einige wohlbekannte Fakten erinnert werden, bevor dann im dritten Abschnitt der Versuch unternommen werden soll, auf die freieren Formen der Übersetzung innerhalb des Lehrgebäudes der Rhetorik einzugehen.

1Rhetorik und Übersetzung in der Antike

Für den mit diesem kurzen Aufsatz verfolgten Zweck genügt es, mit der gebotenen Knappheit auf zwei römische Autoren einzugehen, die sich zu Fragen der Übersetzung mit ausdrücklichem Bezug zur Rhetorik geäußert haben, auf Cicero und Quintilian.

1.1Marcus Tullius Cicero

Es gibt kaum einen Abriss der Übersetzungsgeschichte, und sei er noch so knapp, in dem nicht Ciceros Abhandlung De optimo genere oratorum (Cicero 1976 [46 v. Chr.]) Erwähnung finden würde. Neuesten Forschungen zufolge stammt dieser Text möglicherweise gar nicht von ihm (vgl. Albrecht 2014: 426 Anm. 2). Cicero legt dort Rechenschaft ab über zwei (leider nicht überlieferte) Übersetzungen, die er von Reden des Aischines und des Demosthenes angefertigt habe, um zu zeigen, wie rhetorisch ansprechende Reden in lateinischer Sprache gestaltet werden könnten. Da Cicero bei der Schilderung seines Vorgehens versichert, er sei bei seiner Übertragung nicht wie ein Übersetzer, sondern wie ein Redner verfahren, i.e. er habe seine Vorlage mit eigenen Worten frei nachgebildet, wurden seine Ausführungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – als ein Plädoyer für die „freie Übersetzung“ generell (miss)verstanden. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Fehldeutung einzugehen (vgl. Albrecht 2010). Hier interessiert nur, dass der Meister der „goldenen Latinität“ zumindest indirekt den freien Umgang mit fremdsprachlichen Texten (vgl. infra 3) zur Förderung der eigenen Ausdrucksfähigkeit empfiehlt.

1.2Marcus Fabius Quintilianus

Bei Quintilian geschieht dies in expliziterer Form, wenn dabei auch nicht die freie Übersetzung ins Spiel kommt, zumindest nicht ausdrücklich. Durch ihn wird die Eingliederung der Übersetzung in das System der septem artes liberales, genauer gesagt in das sog. Trivium vorbereitet (vgl. Albrecht 2009: 875 und infra Abschnitt 2). Im zehnten Buch seiner Institutio oratoria weist er darauf hin, dass schon die alten römischen Redner (veteres nostri oratores) das Übersetzen aus dem Griechischen (vertere Graeca in Latinum) für eine ausgezeichnete Übung zur Schulung der eigenen Ausdruckfähigkeit erachtet hätten (Quintilian 1988: Buch X, 5, 1–4). Die Inanspruchnahme der Übersetzung in die Muttersprache zur Schulung der eigenen Ausdrucksfähigkeit (später auch zur Bereicherung der Zielsprache) sollte später zu einem Topos werden, der sich in zahlreichen Rhetoriken, Poetiken und Grammatiken findet (vgl. Albrecht 1998, Kap. 4.3). Leider ist diese frühe und über Jahrhunderte hindurch überlieferte Erkenntnis in der modernen Sprachdidaktik weitgehend verloren gegangen (vgl. Albrecht 2009: 884).

2Die Stellung der Übersetzung im Kreis der freien Künste

Übersetzungstheoretische Traktate erscheinen nicht selten als Teile umfangreicherer Arbeiten, die eine der Disziplinen des Triviums im System der freien, d.h. eines freien Mannes würdigen (vgl. Moos 2009: 800), Künste behandeln. Der katalanische Humanist Juan Luis Vives veröffentlichte seine Abhandlung „Versiones seu interpretationes“, auf die zurückzukommen sein wird, als Schlusskapitel seiner Rhetorik De ratione dicendi (Vives 1993 [1532]). Johann Christoph Gottsched, einer der letzten der deutschen Gelehrten, die sich der klassischen Rhetorik verbunden fühlte, bringt seine übersetzungstheoretischen Überlegungen ebenfalls in einem Kapitel seiner Rhetorik, der Ausführlichen Redekunst unter (Gottsched 1975 [1736]). Justus Georg Schottel[ius] behandelt jedoch die Übersetzung als Teil der Grammatik. In seiner Ausführliche[n] Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache ist ein Kapitel mit „Wie man recht verteutschen sol“ überschrieben (Schottelius 1967 [1663]). Es empfiehlt sich also, das Verhältnis zwischen der Grammatik, der Rhetorik und nicht zuletzt der Poetik, die einen Sonderstatus einnimmt, etwas genauer in den Blick zu nehmen.

Das ‚Untergeschoss‘ der sieben freien Künste, das zur Blütezeit dieses Bildungssystems keineswegs als „trivial“ angesehene Trivium, besteht aus Grammatik, Dialektik (statt Dialektik gelegentlich auch Logik) und Rhetorik. Zwar lassen sich diese Disziplinen inhaltlich nicht klar trennen, jedoch besteht zwischen ihnen eine Reihenfolgebeziehung. Ernst Robert Curtius zitiert in diesem Zusammenhang einen mittelalterlichen Merkvers, der den Aufbau des gesamten Gebäudes der freien Künste betrifft:

Gram. loquitur; Dia. vera docet; Rhe. verba ministrat;

Mus. canit; Ar. numerat; Geo. ponderat; As. colit astra.

(Zit. n. Curtius 21954: 47)

Dabei wird die Reihenfolge nicht selten als eine Rangordnung interpretiert, die sich den jeweils verfolgten Zwecken unterordnen lässt: Im Hinblick auf dignitas steht die Rhetorik, im Hinblick auf necessitas jedoch die Grammatik an oberster Stelle (vgl. Albrecht 2009: 876). Im praktischen Lehrbetrieb entwickelt sich eine Tradition, die sich – in späteren Jahrhunderten völlig losgelöst von ihren Ursprüngen im Trivium – in der Sprachdidaktik bis ins 20. Jahrhundert behauptet hat: Die Übersetzung in die Fremdsprache (frz. thème) steht im Dienst der Grammatik, der ars recte loquendi; die Übersetzung in die ‚eigene‘ Sprache (frz. version) in dem der Rhetorik, der ars bene dicendi (vgl. Albrecht 2014: 428f.), die schon früh zu einer ars copiose et ornate scribendi geworden war (Albrecht 2007: 1080). Dabei spielen, wie noch zu zeigen sein wird, neben der interpretatioim engeren Sinn freiere Formen wie die imitatio und die aemulatio eine große Rolle.

2.1Die Rhetorik als Lehrmeisterin der Übersetzung: Texttypologie und Übersetzungsstrategie

Die Überzeugung, dass die beim Übersetzen anzuwendende Strategie vom Typ des zu übersetzenden Textes abhängt, gilt gemeinhin als Erkenntnis der neueren Übersetzungswissenschaft; sie gehörte jedoch bereits in der Antike zum festen Inventar rhetorischer Lehrmeinungen. Zugrunde lag eine nicht ganz leicht nachzuvollziehende Unterscheidung von res und verba, die sich in derjenigen zwischen figurae elocutionis und figurae sententiae widerspiegelt (vgl. Lausberg 1963: 81–154). Die einen sind dem Bereich der elocutio, die anderen dem der inventio zuzuordnen, doch müssen auch die „Gedankenfiguren“ im Rahmen der elocutio behandelt werden, da sie ebenfalls durch Wörter ausgedrückt werden. Der Unterscheidung zwischen res und verba entspricht derjenigen von unterschiedlichen Texttypen (materiae oder auctores), die besonders klar von Pierre-Daniel Huet (1630–1721) ausgearbeitet wurde. Er korreliert die auctores mit den drei ersten Produktionsstadien der Rede: Die historici berichten über tatsächlich vorgefallene Ereignisse, bei ihnen hat der Übersetzer die inventio und die dispositio zu bewahren, bei der elocutio hat er freie Hand. Bei den rhetores und den poetae geht es in erster Linie um den sprachlichen Ausdruck; er muss im Rahmen der elocutio unter Beachtung der Angemessenheit (aptum) besonders sorgfältig übertragen werden (vgl. Rener 1989: 182–257; Schneiders 1995: 55). Ein gutes Jahrhundert früher hatte Juan Luis Vives eine auf den gleichen Prinzipien beruhende, jedoch subtilere Typologie vorgeschlagen. Er unterscheidet (im Hinblick auf die Übersetzung):

Texte, bei denen es nur auf den allgemeinen Inhalt ankommt ([ubi] solus spectatur sensus);

Texte, bei denen es vor allem auf die Formulierung ankommt (sola phrasis et dictio);

Texte, bei denen es auf beides ankommt (ubi res et verba ponderantur).

(Vgl. Vives 1993 [1532]: 232; Coseriu 1971: 573).

Selbstverständlich spielt die „Dreistillehre“ (genera elocutionis oder dicendi) auch bei der Behandlung der Übersetzung innerhalb der Rhetorik eine Rolle. Der Übersetzer hatte darauf zu achten, in welchem genus (humile, medium oder sublime) sein Text abgefasst war und dementsprechend zu verfahren. Dabei wurde manchmal die Grenze der Einzelsprachen überschritten: Im Zeitalter des „vertikalen“ Übersetzens wurde ein descensus, z. B. eine Übersetzung vom Lateinischen ins Deutsche, als Gattungswechsel betrachtet; der deutsche Text gehörte notwendigerweise dem genus humile an (vgl. Albrecht 2011: 2596).

2.2Rhetorik und Poetik

Für Aristoteles war die Poetik im Gegensatz zur Rhetorik eine ausschließlich den sprachlichen Ausdruck betreffende Disziplin. Wo immer Denkinhalte innerhalb der Poetik berührt wurden, galt die Rhetorik als zuständig:

Über alles andere ist damit gehandelt, es bleibt nur noch zu reden über Sprache und Denkweise. Die Denkweise soll in den Büchern über die Redekunst niedergelegt sein, da sie ihrem Verfahren viel näher liegt. (Aristoteles 1959: 85 = Poetik 19 1456a)

Nun hat sich, wie wir in der Einführung aus dem Munde des fiktiven Tzvetan Todorov erfahren haben, in der Geschichte der Rhetorik der Schwerpunkt des Interesses von den res (oder besser rebus) auf die verba verlagert. Rem tene, verba sequentur soll Cato gesagt haben, wie der Verfasser einer Rhetorik aus dem 4. Jahrhundert berichtet. Zu dieser Zeit fand eine solche Devise noch uneingeschränkte Zustimmung. Mit der Annäherung der Rhetorik an die Poetik, an die „seconde rhétorique“, wie sie unser Pseudo-Todorov nennt, gerät sie zumindest außerhalb der schöngeistigen Milieus zunehmend in Misskredit, wie der abschätzige Ausdruck „reine Rhetorik“ bezeugt. Andererseits entwickelt sich die Übersetzung im Zuge dieser Entwicklung von einem wenig geschätzten Handwerk (Cicero spricht immer einmal wieder abschätzig von den interpretes indiserti) zu einer Kunstform. Nicht nur die Übersetzung im engeren Sinn, die interpretatio, sondern auch die freieren Formen wie imitatio und aemulatio geraten in den Umkreis jener „zweiten Rhetorik“:

Dichten wird als gelehrte Auseinandersetzung (imitatio/aemulatio) mit den Texten vorbildhafter Dichter (vor allem der Antike) verstanden. Im Ideal des poeta doctus vereinigen sich umfassende Kenntnis der Sachen (Wissenschaften) und der poetischen und rhetorischen Theorie, wie es die römischen Rhetoriker auch vom Redner fordern (Till 2005: 145; vgl. ebenfalls Till 2003: 1305f.).

3Der freie Umgang mit fremdsprachlichen Texten: imitatio und aemulatio

Bei dem freien Umgang mit Textvorlagen, von denen nun die Rede sein soll, ist es im Grunde unerheblich, ob damit ein Sprachwechsel verbunden ist oder nicht. Gérard Genette, der in dem Roman, der uns in unser Thema eingeführt hat, beim Begräbnis von Roland Barthes als vergleichsweise seriöser Gelehrter an der Seite Todorovs in Erscheinung tritt, spricht in diesem Fall von Transtextualität (Genette 1982: 7). Alle drei Formen des Umgangs mit fremdsprachlichen Texten kommen auch ohne Sprachwechsel vor: die interpretatio als „Interpretation“ im modernen Verständnis bzw. als intralinguale Übersetzung im Sinne Roman Jakobsons (1959); die imitatio als „Nachdichtung“ oder „Bearbeitung“ im herkömmlichen Sinn, die aemulatio als „augmentative Bearbeitung“, mit der die Vorlage übertroffen werden soll (vgl. Schreiber 1993: 263ff.). In den folgenden Abschnitten sollen die beiden freien, mit Sprachwechsel verbundenen Formen des Umgangs mit einer Textvorlage jeweils anhand eines einzigen Beispiels illustriert und kommentiert werden.

3.1Giacomo Leopardi

Das folgende Gedicht figuriert seit der Werkausgabe von 1835 als Nummer XXXV in Leopardis Canti:

Imitazione

Lungi dal proprio ramo,

povera foglia frale,

dove vai tu? – Dal faggio

là dov’io nacqui, mi divise il vento.

Esso, tornando, a volo

dal bosco alla campagna,

dalla valle mi porta alla montagna.

Seco perpetuamente

vo pellegrina, e tutto l’altro ignoro.

Vo dove ogni altra cosa,

Dove naturalmente

Va la foglia di rosa,

E la foglia d’alloro.

Es handelt sich um die Nachdichtung – als poeta doctus hat Leopardi den Titel Imitazione sicher bewusst gewählt – einer „Fabel“ des heute fast völlig vergessenen Lyrikers, Dramatikers und (vor allem) Politikers Antoine-Vincent Arnault (1766–1834):

La Feuille

De la tige détachée,

pauvre feuille desséchée,

où vas-tu ? – Je n’en sais rien.

L’orage a brisé le chêne

qui seul était mon soutien.

De son inconstante haleine,

le zéphir ou l’aquilon

depuis ce jour me promène

de la forêt à la plaine,

de la montagne au vallon ;

je vais où le vent me mène

sans me plaindre ou m’effrayer ;

je vais où va toute chose,

où va la feuille de rose

et la feuille de laurier.

Leopardi soll diesen Text im Jahre 1818 in einer Zeitschrift gelesen und angeblich nichts über den Verfasser gewusst haben. So geriet er gar nicht erst in Versuchung, die für zeitgenössische französische Leser unmittelbar zu entschlüsselnden biographischen Anspielungen auch in seiner Nachdichtung erkennbar zu machen: Bei der geborstenen Eiche handelt es sich um Napoleon, nach dessen Sturz sich der Dichter für einige Zeit ins Exil begeben musste.

Ein gewissenhafter Vergleich der beiden Texte ist im Rahmen eines kurzen Aufsatzes nicht möglich; einige generische Hinweise müssen genügen: Einer metrisch relativ strengen Vorlage mit einem ziemlich komplizierten Reimschema, bei dem die Alternanzen zwischen männlichem und weiblichem Reim viel zur Wirkung beitragen, steht eine um zwei Verse verkürzte ‚freie‘ Strophe gegenüber, in die sich endecasillabi (Verse 4, 7, 9) ähnlich wie unregelmäßig auftretende Reime gewissermaßen ‚beiläufig einschleichen‘. Der Wechsel von der martialischen Eiche zu der mit weniger Konnotationen behafteten Buche trägt mit dazu bei, der imitatio einen im Vergleich zur Vorlage nüchterneren und intimeren Charakter zu verleihen.

Das muss zur Charakterisierung genügen. Wichtiger sind in dem Zusammenhang, um den es hier geht, die äußeren Umstände. In der Literatur zu Leopardi wird der Titel imitazione öfter mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Warum hat er nicht einfach von ‚Übersetzung‘ gesprochen? Das scheint darauf hinzudeuten, dass zumindest den späteren Kritikern der rhetorisch-poetische Fachausdruck nicht mehr geläufig war. Hätte Leopardi sein Gedicht unter dem Titel traduzione in die Ausgabe seiner Canti aufnehmen können? Wohl kaum. Es musste schon im Titel darauf hingewiesen werden, dass es sich um einen Text handelt, der als eigenständiges Werk des Verfassers gelten darf. Noch heute gibt es in der Rechtsprechung eine klar ausgeprägte Tendenz, nur ‚freie‘ Übersetzungen als schutzwürdiges geistiges Eigentum anzuerkennen (vgl. Körkel 2016). In einer Ausgabe ausgewählter Werke von Leopardi in deutscher Übersetzung findet sich auch die Imitazione unter dem Titel Nachahmung (Leopardi 1978: unpaginiert = 262–263). Die französische Vorlage wurde immerhin mit abgedruckt. Hätte die „Übersetzung einer Übersetzung“ dort Platz finden können?

3.2Wolfram von Eschenbach und die drei Blutstropfen im Schnee

Bei den Nachdichtungen französischer romans courtois durch deutsche Autoren im Mittelalter hat man davon auszugehen, dass ein großer Teil des Publikums, das dem mündlichen Vortrag der Versromane lauschte, die französischen Vorlagen kannte. Stieß der deutsche Dichter auf einen Passus, der in der französischen Vorlage besonders gut gelungen schien, begnügte er sich oft mit einer knappen Zusammenfassung. Sein ganzer Ehrgeiz galt den Passagen, die in der Vorlage nur wenig ausgearbeitet waren. Hier konnte er den kundigen Zuhörern zeigen, wozu er selbst im Stande war. Huby spricht in diesem Zusammenhang von einer règle de compétition (vgl. Huby 1968: 205; Werdermann 1998: 99). Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese Form der aemulatio hat Wolfram von Eschenbach mit seiner Ausarbeitung der Episode von den drei Blutstropfen im Schnee geliefert.

Bei Chrétien handelt es sich um einen schlichten, nur von knappen Kommentaren durchsetzten Bericht, der vor allem dadurch authentisch wirkt, dass er den Eindruck erweckt, man müsse so etwas selbst erlebt haben, dergleichen könne man sich nicht ausdenken: Eines Morgens fand sich der umherirrende Perceval auf einer Wiese am Rand eines Waldes wieder. Es lag Schnee, denn er befand sich in einem kalten Landstrich (Que froide estoit molt la contrée; V. 4097). Er sieht eine Schar von Wildgänsen, vom Schnee geblendet, die von einem Falken verfolgt wurden. Dieser stürzte sich auf eine der Gänse, die sich ein wenig von den anderen entfernt hatte und schlug sie zu Boden, ließ jedoch gleich wieder von ihr ab. Sie war am Hals verletzt und verlor drei Tropfen Blut, die in den Schnee fielen (la gente fu navree el col/Si saigna III goutes de sang/Qui espandirent sor lo blanc,/Si senbla naturel color; V. 4120–4123). Die Gans war jedoch nicht ernsthaft verletzt und konnte weiterfliegen. Erst jetzt tritt der allwissende Erzähler in Erscheinung, der weiß, was in seinem Helden vorgeht. Perceval betrachtet auf seine Lanze gestützt die Blutstropfen im Schnee und wird durch das Farbenspiel an seine ferne Geliebte erinnert (V. 4141–4144).

Bei Wolfram wird aus dieser Episode ein um etwa zwanzig Verse vermehrtes raffiniertes Gemisch aus Bericht und Kommentaren des Erzählers. Schon der Schnee wird nicht knapp auf das rauhe Klima der Gegend zurückgeführt, sondern als ungewöhnliches Ereignis dargestellt. Dabei bringt der Autor die bei Chrétien nie in Frage gestellte Authentizitätsfiktion ins Wanken, indem er sich selbst als Erzähler ins Spiel bringt (ez enwas iedoch niht snêwes zît, istz als ichz vernomen hân; 281, 14f.), und er lässt seine Hörer/Leser auch nicht darüber im Zweifel, dass es sich hier nicht um einen nüchternen Bericht, sondern um eine ziemlich absonderliche Geschichte handelt (diz mǣre ist hie vast undersniten/ez pariert sich [„mischt sich“] mit snêwes siten; 281, 21f.). Und auch mit der schlichten Erwähnung eines Falken gibt sich Wolfram nicht zufrieden. Bei ihm gehört der Falke zu König Artus’ und seinen Rittern, die sich in der Nähe aufhielten (was Parzival nicht weiß) und war abends nicht heimgekehrt, weil er zu viel zu fressen bekommen hatte (von überkrüphe daz geschah; 281, 29). Hier wendet sich ein in der Falknerei bewanderter Erzähler augenzwinkernd an ein fachkundiges Publikum. Die wenigen Verse, mit denen Chrétien schildert, wie die roten Farbflecke im weißen Schnee für Perceval das Bild seiner Geliebten evozieren, wird schließlich bei Wolfram zu einer längeren ‚polyphonen‘ Meditation ausgestaltet, bei der die Stimme des Erzählers mit der seines Protagonisten verschmilzt.

Wolfram folgt an dieser Stelle, sicherlich ohne es zu wissen, einer Aufforderung, die Horaz in seiner sog. ars poetica (Epistula ad Pisones) an die Dichter gerichtet hat. Es handelt sich dabei nicht, wie bis heute immer wieder irrtümlich behauptet wird, um ein Plädoyer für die ‚freie Übersetzung‘, sondern um eine Ermunterung zur aemulatio:

Publica materies privati iuris erit, si

Non circa vilem patulumque moraberis orbem

Nec verbum verbo curabis fidus

Interpres nec desilies imitator in artum,

unde pedem proferre pudor vetet aut operis lex …

(Horaz 1967: 238)

In freier Paraphrase unter Berücksichtigung des hier nicht wiedergegebenen Kontexts: Für den Dichter, der das Publikum von seinen Fähigkeiten überzeugen will, ist es oft wirkungsvoller, sich nicht mit einem selbst erfundenen, sondern mit einem allgemein bekannten Stoff vorzustellen. Dabei darf er sich allerdings nicht genau an seine Vorlage halten, wie ein gewissenhafter Übersetzer, und auch als Nachahmer darf er keine Scheu vor eigenwilligen Abweichungen zeigen.

4Rückblick und Ausblick

Kehren wir nochmals zu Todorovs seconde rhétorique zurück, die eng mit dem Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit verbunden ist. Unser Jubilar hat sich Gedanken dazu gemacht. Er stellt einen Bezug zur Übersetzung her, der bisher noch nicht behandelt wurde:

Die rhetorische Leistung der öffentlichen Rede erfährt durch ihre schriftliche Ausformulierung eine weitere künstlerische Verarbeitung, der die Intention zugrunde liegen dürfte, mit den Mitteln der Schrift die mündliche Wirkung zu evozieren und sogar zu erhöhen. Diese doppelte Steigerung des Künstlerischen stellt den translatorischen Prozess vor besondere Zwänge, die vornehmlich mit der Wiedergabe ausgefeilter rhetorischer Mittel in einer anderen Sprachkultur zu tun haben. Insbesondere interessiert also die Frage, welche sprachlichen Kunstgriffe sich eher übertragen lassen, weil sie als allgemein rhetorisch einzustufen sind, und welche translatorische Barrieren bilden, die es zu überwinden gilt. (Gil 2012: 153f.)

Hier geht es weder um die Übersetzung im Dienste der Rhetorik noch um die Rhetorik als Lehrmeisterin der Übersetzung, sondern um den rhetorisch ausgefeilten Text als Gegenstand der Übersetzung, als Übersetzungsproblem. Alberto Gil interessiert sich weniger für die Fälle, in denen aufgrund einer langen gemeinsamen Tradition unter dem Dach der Latinität zumindest in den meisten europäischen Sprachen Äquivalente gewissermaßen gebrauchsfertig zur Hand sind, sondern für diejenigen, in denen „translatorische Barrieren“ auf einer höheren Ebene der Äquivalenz als der rein sprachlich-textlichen zu überwinden sind. Dieser Frage kann hier nicht weiter nachgegangen werden; sie gibt jedoch Anlass, zum Beginn dieses kurzen Beitrags zurückzufinden.

In dem Moment, in dem die Rhetorik Gegenstand der Übersetzung wird, ist sie endgültig in der Poetik aufgegangen und zur Stilistik mutiert. Der Verfasser des Romans, der die Einleitung ins Thema geliefert hat, trägt diesem Umstand spielerisch Rechnung, vermutlich ohne damit eine gezielte Absicht zu verfolgen. Die „erste Rhetorik“, bei der es tatsächlich um etwas geht, bei der die Rede in erster Linie überzeugend zu sein hat, spielt dort eine große Rolle, aber nur noch als eine Art von Spiel, genauer, eine Art von sadistischem Gesellschaftsspiel. In einem geheimnisvollen Logos Club, der ähnlich wie die Freimaurerlogen über ganz Europa verteilt ist, disputieren zwei Kontrahenten über ein vorgegebenes Thema. Dabei geht es unter anderem auch, im Rahmen von Platons Schriftkritik, um Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit (cf. Binet 2015: 195–200). Der Gewinner erntet Ruhm und Ansehen, der Unterlegene verliert augenblicklich coram publico einen Finger. Nur dem, der es wagt, gegen den Grand Protagoras anzutreten, hinter dessen venezianischer Maske sich kein Geringerer als Umberto Eco verbirgt, und der dabei den Kürzeren zieht, nur dem widerfährt Schlimmeres: „Alors là, c’est plus cher“ bemerkt ein Eingeweihter sarkastisch (cf. Binet 2015: 439).

Alberto Gil hätte im Logos Club sicherlich eine glänzende Figur abgegeben und wäre mühelos als Nachfolger Ecos in den Rang des Grand Protagoras aufgestiegen; doch dürfen wir alle froh darüber sein, dass er sich längst von der agonalen Kunst der Überredung ab- und der friedlichen Kunst des Verstehens zugewandt hat. Wer in seinen zahlreichen Arbeiten blättert wird feststellen, dass es da noch viel weiterzuführen und auszuarbeiten gibt.

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Kreativität beim Literaturübersetzen. Eine Bestimmung auf rhetorischer Grundlage

Rainer Kohlmayer (Mainz-Germersheim)

Abstract: The type of translational creativity identified in think-aloud-protocols of students is only of minor interest for literary translators. Creativity in literary translation has never been limited to the discovery of intelligent solutions for individual linguistic problems. The essay tries to widen the perspective by referring to the rhetorical method of producing oral or written texts. Rhetorically speaking, the translator’s task starts only at the third stage of text production (elocutio) whereas fully-fledged creative writers start out with finding a plot (inventio) and deciding on its structure (dispositio). On the other hand, the stage of elocutio (or style as it is called most of the time) may be considered to be the creative synthesis of any literary work, integrating not only the two preceding stages but also predetermining, or, at least, trying to influence the way a text is to be read aloud or performed silently in the future reader’s mind (pronuntiatio/actio). The German poet-philosopher Novalis (Friedrich von Hardenberg), a close friend of Friedrich and August Wilhelm Schlegel, considered style to be the rhetorical declamation inscribed into the text (“die schriftliche Stimme”), thus linking the traditional rhetorical approach with the modern age of anonymous readers. In the mainstream German tradition, starting with Herder, literary translators have consistently tried to imitate the “voice” of a text, combining a considerable amount of philological research with the creative art of coherent mental mimicry. The practical side of this approach is illustrated by examples taken from the well-known German translator Hans Wollschläger (1935–2007). Unfortunately, this great rhetorical tradition of literary translation has been ignored by most schools of modern translation theory, whether they were of structuralist, functionalist, or cognitivist origins. Small wonder, then, that literary translators often deny the usefulness of theory. There are, however, clear signs of a new and mutual learning process.

Keywords: Literary translation, creativity, rhetoric, written voice, mimesis.

1Ist translatorische Kreativität ein punktuelles Phänomen?

Die Selbstverständlichkeit, mit der in der Gegenwart Kreativität angeboten und nachgefragt wird, hat etwas Diffuses, denn schließlich erlangte der Begriff erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ausgehend von den USA, seine unwiderstehliche Popularität.1 Unter dem Stichwort ‚Kreativität‘ findet man im Historischen Wörterbuch der Philosophie von 1976 noch folgende Merkmalbeschreibung:

Relative Übereinstimmung besteht, daß folgenreiche Produkte, die bezüglich des Erwartungssystems der sie auswertenden Gruppe neu sind und dieses Erwartungssystem modifizieren, Anspruch auf den Titel „kreativ“ haben. (Ritter/Gründer 1976, Bd. 4: 1194f.)

Aus der anspruchsvollen Merkmalliste – folgenreich, neu, systemverändernd – ist im heutigen Alltagsverständnis nur noch das Merkmal neu erforderlich, und zwar im Sinne einer Fähigkeit oder eines Produkts, auf einem x-beliebigen Gebiet Neues bzw. Innovatives zu bieten. Die schöpferische Kraft, die seit der Renaissance das ‚Genie‘ der großen Künstler und genialen Erfinder auszeichnete (und bis heute im nichtssagenden Klischee der ‚kongenialen‘ Übersetzung weiterlebt), ist – in kleiner Münze – zu einem festen Bestandteil unseres demokratischen Menschenbildes in der kapitalistischen Marktwirtschaft geworden. Habe den Mut, kreativ zu sein ist auch in der jungen Übersetzungswissenschaft zum Motto der Ausbilder geworden. Die bisherigen Wertmaßstäbe (Treue, Äquivalenz, Adäquatheit, Kompetenz usw.) wurden inzwischen vom pfiffigeren Leitbegriff Kreativität überholt. Hätte man in der obigen Merkmalbeschreibung von 1976 an Stelle von ‚Produkte‘ das Wort ‚Übersetzungen‘ eingefügt, wären höchstens ein Dutzend großer deutscher Übersetzungsleistungen in den Genuss des Prädikats ‚kreativ‘ gekommen, aber sicher keine schlauen Lösungen von Übersetzungsproblemen in Zeitungs- oder Fachübersetzungen, wie das heute (mit einem gewissen Recht) reklamiert wird. In seinem beliebten Ratgeberbuch Kreatives Übersetzen schreibt Kußmaul, die übersetzerische Kreativität, die er als besonderes Qualitätsmerkmal (und als Gegenbegriff zur bloßen Routine) versteht, zeige sich bereits dort, wo aufgrund der Sprachverschiedenheiten eine nicht-wörtliche Wiedergabe gewählt würde (Kußmaul 22007: 13); folglich sei das Übersetzen eine „höchst kreative Tätigkeit“ (Kußmaul 22007: 16). Kußmaul hat jedoch eine ausgesprochen punktuelle Vorstellung von übersetzerischer Kreativität.2 So zitiert er August Wilhelm Schlegels Übersetzung jener Stelle des Hamlet-Monologs, wo „sicklied o’er“ mit der Wortschöpfung „angekränkelt“ wiedergegeben wird, was ihm besonders kreativ vorkommt und den „Kern“ seiner Vorstellung von einer „kreativen Übersetzung“ betreffe (Kußmaul 22007: 30f.). Aber hat Schlegel gerade hier nicht besonders wörtlich übersetzt?3 Wie Shakespeare die Wortbildungsmöglichkeiten des Englischen ausreizt, so beutet Schlegel die Wortbildungsmittel des Deutschen aus und kreiert analog zum Wortbildungsmuster von angegilbt, angeglichen, angegraut, angeheitert, angewärmt usw. sein „von des Gedankens Blässe angekränkelt“. Wird aber wirklich der „Kern“ der literatur-übersetzerischen Kreativität erfasst, wenn der Übersetzer punktuell eine analoge Wortbildung wählt? Hätte Schlegel eine andere lexikalische Lösung gewählt oder kreiert (infiziert, angesteckt, angeschminkt, angebleicht, angeschwächelt usw.), wäre dann seine Hamlet-Übersetzung weniger kreativ?

Die Literaturübersetzer gehen mit dem positiven Prädikat ‚kreativ‘ (bisher) etwas zurückhaltender um. Symptomatisch ist da vielleicht der untertreibende Buchtitel Gutes Übersetzen. Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Literaturübersetzens, hrsg. von Albrecht Buschmann (2015).4 Dass gutes/kreatives Übersetzen von Literatur keinesfalls nur mit einzelnen schwierigen Stellen und punktuellen Lösungen, wie Kußmaul sie in unermüdlicher Genauigkeit bespricht und Bayer-Hohenwarter sie in aufwendigen Verfahren misst und sortiert, gleichzusetzen ist, kommt mir als Literaturübersetzer und Übersetzungstheoretiker offensichtlich vor. Kreatives Literaturübersetzen hat auch mit lebendiger Mündlichkeit, mit Performanz, mit Einfühlungsvermögen, mit ästhetischer Kompetenz, mit Mimesis, mit Kunst zu tun, mit Gesichtspunkten jedenfalls, die bei Kußmaul und Bayer-Hohenwarter, die sich ja auf die Auswertung von Think-aloud-Protokollen ihrer Studierenden beschränkten, gar nicht vorkommen können.5 Im Folgenden soll daher über die kreativen Spielräume beim Literaturübersetzen weniger punktuell nachgedacht werden, wobei wir uns von der Rhetorik leiten lassen.

Dass Rhetorik und Übersetzen seit Ciceros „ut orator“ enge Verwandte sind, ist allgemein bekannt;6 aber der Begriff ‚Kreativität‘ oder ‚Originalität‘ spielt in der Rhetorik keine Rolle; das Stichwort fehlt daher auch im zwölfbändigen Historischen Wörterbuch der Rhetorik. In der deutschen Literatur der Neuzeit wurde die Rhetorik niemals mit Originalität und Innovation assoziiert, eher mit dem Gegenteil, also mit klischeehaften und einengenden Vorschriften, die man bei der Herstellung einer Rede oder eines Textes zu beachten hätte. Die Schubladen und Schemata der rhetorischen Mittel und Techniken schienen die kreativen Einfälle eher abzuschrecken als aufzuwecken. Man braucht nur an die Rebellion des Sturm-und-Drang zu denken, als in einer antirhetorischen Kulturrevolution der traditionelle lateinische Rhetorikunterricht kulturpatriotisch abgewertet wurde, und zwar unter Berufung auf Natürlichkeit und Originalität (wie man dies in der gefälschten Ursprünglichkeit des Ossian zu erkennen glaubte). Dass der damals als naturwüchsiger Barde gepriesene Shakespeare schon bald als Rhetorikexperte entdeckt wurde, zeigt jedoch, dass Rhetorik und Originalität keine Gegenbegriffe sind. Die kurze antirhetorische Rebellion des 18. Jahrhunderts beruhte auf einem gravierenden Missverständnis. Man deutete das rhetorische System als einengendes System von Vorschriften, woran in vielen Fällen die Drill-Methoden des damaligen lateinischen Rhetorikunterrichts schuld gewesen sein könnten. Fragen wir also, wo im Rahmen der gegenwärtigen Rhetorik die damals geforderte ‚Originalität‘ bzw. die heute erforderliche ‚Kreativität‘ angesiedelt sein könnte, wobei es uns letztlich um die spezifische Kreativität beim Literaturübersetzen geht. Wo liegen die Möglichkeiten der Übersetzer‚ ‚Innovatives‘, ‚Neues‘, ‚Kreatives‘ zu produzieren?7

2Rhetorische Textproduktion und Kreativität

Die Rhetorik ist vor allem ein System von Textproduktions-Möglichkeiten. Dass die Rhetorik Türe und Wege nicht verschließt, sondern Spielräume öffnet und offeriert, sieht man am leichtesten bei der Lehre von den fünf Stufen der Redeherstellung: inventio, dispositio, elocutio, memoria, actio/pronuntiatio. Auf jeder Stufe sind spezifische Möglichkeiten für Kreativität (im Sinne der Herstellung von ‚Neuem‘) gegeben. Freilich ist zu beachten, dass diese ‚Stufen‘ keineswegs dem zeitlichen Verlauf des Textproduktionsprozesses entsprechen müssen. Es sind vielmehr didaktisch-analytische Abstraktionen, die das ‚Bauen‘ eines Textes als räumliches Modell darstellen, das für den Textproduzenten in jedem Augenblick die Gleichzeitigkeit eines flexiblen Bauplans hat. Die tatsächliche zeitliche Ausarbeitung wird dem räumlichen Nacheinander niemals genau entsprechen, wie jeder erlebt, der einen wissenschaftlichen oder literarischen Text produziert. Selbst bei der Herstellung von Kriminalromanen weiß der Autor oft erst nach dem Schreiben mehrerer Kapitel, wem er das Verbrechen letzten Endes anlasten soll.1 Obwohl Vorüberlegungen über das Speichermedium und die geplante Performanz (Stufen 4 und 5) schon auf den ersten drei Stufen der Produktion eine enorme Rolle spielen können (z. B. bei Fragen wie: Vers oder Prosa, episch oder dramatisch, mono- oder dialogisch usw.), gehe ich bei der Suche nach den Spielräumen der Kreativität jetzt nur die ersten drei Stufen etwas genauer durch.

2.1Inventio

Bei der ‚kreativen‘ (Er-)Findung des Stoffes entsteht ein neuer Plot mit neuen Figuren und neuen Situationen. Die Suchformeln der Rhetorik können als Aufforderungen zur kreativen Erfindung benutzt werden. Denn man braucht ja die Fragen „quis“ oder „quid“ usw. nur auf die eigene Person oder Gegenwart oder auf eine Zeitungsmeldung zu beziehen1 – und schon hat man den ersten Schritt zur Erfindung nie zuvor literarisierter Personen und Ereignisse getan. Beispiele für besonders neue und folgenreiche Plots sind etwa Goethes Werther oder Wedekinds Frühlings Erwachen. Dass sich Werther aus Liebe ausgerechnet an Weihnachten (dem Fest der Liebe) selbst tötet, war eine ungeheure literarische Tat – etwas radikal Neues, wozu Goethe anscheinend durch den Selbstmord eines juristischen Kollegen und seine eigene Liebe zu Lotte, deren Namen er sogar unverschlüsselt stehenließ, angeregt wurde. Wedekinds Frühlings Erwachen präsentierte sexuell erwachende Kinder als Opfer einer verknöcherten Gesellschaft, was als schockierend empfunden wurde; auch Wedekind verarbeitete unter anderem einen Selbstmord aus seiner Schulzeit.

Die (Er-)Findung einer Geschichte, von Figuren und Situationen gehört zweifellos zum kreativen Kerngeschäft der Schriftsteller. Wer Literatur produzieren will, muss in einem ganz einfachen Sinn etwas Neues zu bieten haben, auch wenn das Muster der Fabel (Ödipus, Odyssee usw.) als Palimpsest mehr oder weniger deutlich erkennbar ist.2 Dass dabei selbst in der radikalsten Innovation immer auch Konventionelles und Traditionelles beibehalten und weitergegeben wird, ist selbstverständlich. Nicht alles kann neu sein, sondern nur bestimmte Züge des Werkes. Goethes Werther bleibt im konventionellen Rahmen des Briefromans; ebenso bleibt Wedekinds Kinder-Tragödie in mancherlei Hinsicht ein konventionell gebautes Drama. Man darf behaupten, dass man vom typischen Schriftsteller Innovatives auf der Ebene der inventio (Thematik, Plot, Raum, Zeit, Personen) erwartet. Vom typischen Übersetzer dagegen nicht. Das unterscheidet ihn vom Schriftsteller und vom Bearbeiter. Der Übersetzer braucht auch – trotz aller Empathie – nicht die Konflikte und Strapazen zu erleiden, die den biografischen Hinter- oder Untergrund vieler literarischer Werke bilden. Der Autor ‚übersetzt‘ Erlebtes und Erfundenes in Sprache, der Übersetzer übersetzt Gelesenes einfühlsam in eine andere Sprache.

2.2Dispositio

Als kreativ würde man hier die Innovation der üblichen Gliederung/Struktur/Reihenfolge bezeichnen. Die erwartbare zeitliche Abfolge eines Genres oder eines Texttyps wird vom ‚kreativen‘ Innovator nicht befolgt, sondern die Reihenfolge wird auf überraschende Weise neu gestaltet. Ein gutes Beispiel für dispositorische Innovation ist Laurence Sternes Tristram Shandy. Der Ich-Erzähler ist als sympathischer, exzentrisch zerstreuter Plauderer angelegt, der die Reihenfolge der Zeit willkürlich und unwillkürlich durcheinanderwirbelt. Er schreibt angeblich eine Autobiografie, die aber nicht einmal über die früheste Kindheit des Helden hinauskommt. Oder Goethes Roman Wahlverwandtschaften: eine chemische Formel, über die am Anfang gesprochen wird, wird zum geheimen Bauplan der Schicksale der beteiligten Personen. Man kann auch hier getrost verallgemeinern: zur typischen literarischen Kreativität kann auch ein gewisses Maß an Innovation auf der Ebene der dispositio gehören. Vom typischen Übersetzer dagegen erwartet man die lineare Einhaltung der Reihenfolge des Originals. Auch darin unterscheidet er sich vom Schriftsteller und vom Bearbeiter.

2.3Elocutio

Kreativität wird hier gesehen als Innovation der Sprech- oder Erzählweise. Dies ist wohl die wichtigste Baustelle der schriftstellerischen Kreativität. Erst durch die stilistisch gute oder innovative Schreibweise wird der Plot und seine jeweilige Struktur zu einem starken Text. Der eigene, womöglich unverwechselbare Stil ist nicht nur eine der Besonderheiten der großen Schriftsteller, sondern auch das Wunschziel aller literarisch Schreibenden. Dieser eigene Ton des Erzählers oder die präzise herausgearbeiteten Stimmen der Roman- oder Dramen-Figuren sind die Synthese des gesamten kreativen Schreibprozesses, weil hier auch schon die letzte Stufe des rhetorischen Produktionsprozesses – die actio und pronuntiatio des Lesens – möglichst vorauskalkuliert wird.1 Auf dieser Stufe der Ausarbeitung wird die eigentliche literarische Arbeit geleistet. Ein Plot ist relativ leicht zu finden; kann doch bereits ein aufwühlendes Ereignis oder eine Zeitungsnachricht die wichtigsten Anhaltspunkte liefern (wie oben bei Goethe, Wedekind, Dörrie angemerkt). Die Innovation der genretypischen Gliederung kommt vermutlich seltener vor, da die Gattungen hier oft recht starre Muster vorschreiben. Am schwersten ist es sicher, auf der synthetischen Stufe der elocutio den Erzähler oder die Figuren lebendig und unverwechselbar, d. h. auf dem literarischen Markt als neu erscheinen zu lassen, wie man aus Stoßseufzern von Schriftstellern weiß (siehe z. B. „nerve-wracking“ in Fußnote 8). Die Mühsal des Formulierens ist die Stufe, wo sich der eigentliche kreative Anspruch des Schriftstellers bewähren muss. Und hier ist auch die Stufe erreicht, wo man von übersetzerischer Kreativität sprechen kann, darf oder gar muss.

Dagegen lassen sich mindestens zwei Einwände erheben. Einmal ist jede Übersetzung in einem trivial-materiellen Sinn ein neues Produkt, und absolut jeder Übersetzungsvorgang ist ein Beweis für die sprachliche Kreativität des Menschen.2 Ich bezweifle aber, dass man schon für jede sprachliche Transferleistung den Begriff ‚kreativ’ als positives Qualitätsmerkmal (als Werturteil im Sinne von gut/originell usw.) verwenden sollte, weil der Begriff damit auch auf banalste Routineformeln zuträfe, z. B. auf die Ersetzung von „Bonjour“ durch „Guten Tag“. Es gibt sogar literarische Übersetzungen, die so weit hinter dem ästhetischen Anspruch des Originals zurückbleiben, dass man ihnen keine Kreativität zuerkennen sollte, auch wenn darin einzelne Übersetzungsprobleme durchaus kreativ gelöst wurden; wie es umgekehrt vorkommt, dass eine Übersetzung insgesamt ästhetisch gelungen ist, auch wenn sie einzelne Fehler und Mängel enthält. Hier liegt einer der Stolpersteine einer relevanten literarischen Übersetzungskritik.3 Kurzgesagt: Es kommt beim Literaturübersetzen gerade nicht nur auf die Lösung punktueller Schwierigkeiten an, sondern auf das Konzept des Ganzen. Literaturübersetzen ist, auch wenn es anscheinend nur die lineare Abfolge der elocutio-Stufe betrifft, eine synthetisch-ganzheitliche Tätigkeit.

Der zweite Einwand könnte von Fachübersetzern vorgebracht werden: Die Arbeit der Sach- und Dokumenten-Übersetzer beginnt nicht erst auf der Stufe der elocutio. Führerscheine, Gebrauchsanweisungen, Geschäftsbriefe, Zeugnisse, Kochrezepte usw. haben oft in der Ausgangs- und in der Zielsprache ein unterschiedliches Format. Sie sind bereits auf der Ebene der dispositio, womöglich auch schon auf der der Fakten (Topik) anders zu übersetzen, als der Blick auf das Originaldokument suggeriert. Hier liegen oft fach- oder kulturspezifische Text-Muster vor, die zu erfüllen sind. Aber diese unterschiedlichen Textsortenerfordernisse (Änderungen des Briefkopfes, der Reihenfolge der Informationen usw.) würde ich auch nicht als kreative Herausforderung bezeichnen, da es ja nur um die intelligente Erfüllung normativer Textmuster geht. Wenn der Zweck oder die Angemessenheitskriterien routinemäßig vorgegeben sind, bleibt meines Erachtens nur genau jener punktuelle Spielraum für kreative Lösungen, wie Kußmaul und Bayer-Hohenwarter sie aus ihren Ton-Dokumenten herausdestillieren und analysieren.

Die literarischen Übersetzer erfinden keine neuen Geschichten, keine neuen Figuren, Situationen oder Gliederungen: Sie übernehmen die fertigen Texte samt ihrer Gliederung als Übersetzungsauftrag. Ihre kreative Arbeit beginnt und endet in der Regel (also abgesehen von präzisen Änderungswünschen des Verlags) auf der Ebene der elocutio.4 Gregory Rabassa formuliert das etwas drastischer:

The translator, we should know, is a writer too. As a matter of fact he could be called the ideal writer because all he has to do is write; plot, theme, character, and all the other essentials have already been provided, so he can just sit down and write his ass off. (Hier zitiert nach Wright 2016: 53)

Jeder Literaturübersetzer weiß jedoch, dass der tatsächliche Übersetzungsprozess weder mit dem Drauflosschreiben beginnt noch darin besteht.

3Die „schriftliche Stimme“ (Novalis) als kreative Herausforderung

Die spezifische Kreativität des Literaturübersetzens erstreckt sich auf die Stufe der elocutio, was aber – auch wenn man ‚Stil‘ dafür sagt – immer noch eine ziemlich abstrakte, tautologische Beschreibung wäre. Die Vorstellung, dass Literaturübersetzen lediglich im Lösen punktueller stilistischer Text-Schwierigkeiten (wie bei Metaphern, Wortspielen, Stilebenen) besteht, was natürlich auch zur Arbeit der Literaturübersetzung gehört, greift zu kurz und deckt sich nicht mit den Erfahrungsberichten von gestandenen LiteraturübersetzerInnen (Kohlmayer 2002). Oben wurden bereits einige holistische Konzepte wie Mimesis, Performanz, Empathie, Mündlichkeit, Haltung usw. aufgezählt, die in den Selbstaussagen von Literaturübersetzern eine wichtige Rolle spielen. Lassen sich diese holistischen Perspektiven praxisrelevant bündeln und theoretisch auf einen synthetischen Begriff bringen? Genauer gefragt: wie lässt sich auf der Stufe der elocutio das Kernproblem des Literaturübersetzens so formulieren,

dass es nicht zur Reihenfolge kreativer Lösungen stilistischer Einzelprobleme schrumpft;

dass es mit den holistischen Selbstaussagen von Literaturübersetzern kompatibel ist;

dass es nicht zu abstrakten Prinzipien verdunstet, die mit der Praxis der literarischen Übersetzung „wenig zu tun“ haben (Kopetzki 2015: 77).1

Die Antwort auf diese Frage besteht darin, dass die elocutio als vorweggenommene Performanz betrachtet wird: der literarische Textproduzent ist gleichzeitig der kritische Leser seines eigenen Textes, der seinen Text stilistisch bearbeitet, damit er die Art der Lektüre und des Verstehens in seinem Sinne optimal zu steuern oder zumindest zu beeinflussen hoffen darf. Er versucht, im lauten oder leisen oder imaginierten Ausprobieren des Geschriebenen die Stufe der actio und pronuntiatio seines Textes möglichst mit zu bestimmen (wer immer die Leser sein mögen!). Und für das Resultat dieser rhetorisch-hermeneutischen Textarbeit hat Novalis, der ja mit den Brüdern Schlegel jahrelang befreundet und mit deren Übersetzungstheorie und ‑praxis eng vertraut war, Anfang 1799 den ausgezeichneten Begriff „die schriftliche Stimme“ geprägt.

Wie die Stimme mannichfaltige Modificationen in Ansehung des Umfangs – der Geschmeidigkeit – der Stärke – der Art (Mannichfaltigkeit) – des Wolklangs – der Schnelligkeit – der Praecision oder Schärfe hat – so ist auch die schriftliche Stimme oder der Styl auf eine ähnliche Weise unter mannichfachen Gesichtspunkten zu beurtheilen. Die Stylistik hat ungemein viel Aehnlichkeit mit der Declamationslehre – oder der Redekunst im strengern Sinne.

Rhetorik ist schon ein Theil der angewandten Rede und Schreibekunst. Außerdem gebraucht sie die angewandte geistige, oder psychologische Dynamik – und die angewandte, specielle Menschenlehre überhaupt mit in sich. (Novalis 1976: 64; Hervorhebungen im Original)2

Novalis verdichtet die rhetorische Vorstellung, dass die elocutio eine bestimmte akustische Performanz suggeriert, in dem hybriden Ausdruck „die schriftliche Stimme“. Dieses Oxymoron, das eigentlich eine logische Unmöglichkeit bezeichnet, ähnlich wie ein „mündliches Buch“, wie Novalis anderswo schreibt (Novalis 1957: 340), hat die Wirkung jedes guten Oxymorons: Es zwingt den Leser zur Reflexion und zu dem Gedanken, dass die Zeichen auf dem Papier die Spuren einer lebendigen menschlichen Stimme sind, die zum Leser sprechen und gehört werden kann.

Dies entspricht August Wilhelm Schlegels eigener Vorstellung davon, was beim literarischen Text zu übersetzen bzw. dem Leser zu vermitteln sei: der einfühlsame Leser wiederholt und erneuert beim Lesen die vermutete (!) rhetorische Textarbeit des Autors oder auch des Übersetzers: „Sobald aber diese Zeichen wieder durch die Stimme belebt werden sollen, so muß der Leser den Ausdruck hinzubringen, mit welchem er vermuten kann, daß der Urheber eines Gedankens ihn ausgesprochen hätte“ (Schlegel 1962: 153).3