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Kiechende Schattengestalten ist die Geschichte von Kirsten und Lukas. Die Beiden verbindet eine Freundschaft trotz all der Abgründe ihres Lebens und das obwohl sie äusserlich nicht unterschiedlicher hätten sein können. Jeder kämpft für sich mit den eigenen Schattengestalten, die all den Lebensraum zu beanspruchen scheinen und doch schimmert immer wieder mal ein einzelner Lichtstrahl in die Dunkelheit hinein. Und manchmal ist es doch genau das was man braucht, einen Lichtschimmer, um den Mut zu finden einen neuen Weg zu gehen, abseits der alten Schatten.
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2022
Kriechende Schattengestalten
Für all die mutigen Seelen da Draussen, die sich jeden Tag aufs Neue dem Leben stellen.
Kriechende Schattengestalten
Mirjam Tirza Roth
© 2022 Mirjam Tirza Roth
Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer
ISBN Softcover: 978-3-347-53059-1 ISBN E-Book: 978-3-347-53060-7
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschliefilich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice“, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Zerbrechlich
2. Die Fremde
3. Wieder der Falsche
4. Gefängnis des Schweigens
5. Verfolgt
6. Mamas Freund
7. Schaufensterpuppe
8. Übersprudelndes Leben
9. Die Wut, die in ihm kocht
10. Erstickte Tränen
11. Eiserne Maske
12. Das erste Mal
13. Doppelte Begegnung
14. Nur um gleich wieder aus ihrem Leben zu verschwinden
15. Erloschenes Leuchten
16. Erdrückende Wahrheit
17. Tagebuch
18. Verschwinde
19. Schwarze Tinte und rote Tränen
20. Wegwaschen
21. Sich (noch) in einer perfekten Welt wähnen
22. Gentleman
23. Pass auf dich auf-
24. Ein Blick zu viel
25. Einmal mehr
26. Vaterstolz
27. Graue Mauern
28. Nicht mit mir
29. Verdammt Perfekt
30. Braune Augen
31. Gezeichnetes Leben
32. Bedeutungslose Worte
33. Begegnung mit einem Versager
34. Alleine
35. Einer, der alles versteht
36. Erloschen
37. Lückenfüller
38. Immer deutlicher
39. Wenn sich der Weg dahinzieht, ewig lange
40. Bilder mit der Macht einem bis in alle Ewigkeit zu verfolgen
41. Die schwere Last des Schweigens
42. Wertlos
43. Worte
44. Dem Licht entkommen wollen
45. Gebe dir meine Hand
46. Zusammenhangslos
47. Kühle Nachtluft
48. Bilder eines stummen Kampfes
49. Du bist gekommen
50. Lichtgestalten
51. Das Leben als Marionette in den Händen eines anderen
52. Für ein letztes Mal
53. Rot träumen
54. Vom Ende
55. Ein Schritt hinaus aufs blanke Eis
56. Die Ungewissheit, die an ihm nagt
57. Wie ein Verdurstender
58. Ruhe gefunden, für einen Moment
59. Bis man nicht mehr kann
60. Greif nach den Sternen!
61. Und dann geht alles ganz schnell
62. Wenn ich darf, …
63. Eine ausgestreckte Hand
64. Sprachlos
65. Zuhause
66. Nach vorne
Nachwort
Vorwort
Hallo du wundervoller Mensch! Ja, ich meine gerade Dich. Du, der/die dieses Buch in den Händen hält. Ich hoffe es geht dir gut und wenn nicht, bitte sei achtsam beim Lesen dieser Worte. Manche davon sind dunkei und andere noch dunkler, aber ich verspreche dir auch, dass es Lichtblicke gibt und dass jeder von uns, wenn er es möchte einen Weg finden kann. Ganz egal in wie viele Sackgassen er bereits eingebogen ist und wie viele Umwege er bereits gegangen ist. Es gibt immer einen Weg da draussen für dich, einen Weg, der ins Licht führt. Und wenn du noch nicht auf diesem Weg bist, dann wisse, dass dies mein grösster Wunsch für dich ist: dass du diesen Weg für dich entdecken magst. Er mag vielleicht manchmal auch ein wenig holprig sein, aber wenn du ganz genau hinsiehst, wirst du die kleinen Wunder sehen. Eine Blume, einen Sonnenstrahl, jemand der dir begegnet und dir ein nettes Wort oder ein Lächeln schenkt. Denn manchmal bemerkt man erst später, dass es die kleinen Dinge sind, die oft den grössten Platz in unserem Herzen einnehmen.
Mögest du Licht und Leichtigkeit auf deinem Weg finden. Und falls du diese Worte schon lange nicht mehr gehört hast, vergiss nie: es ist schön, dass es dich gibt.
herzlich, mirjam
1. Zerbrechlich
Wie jeden Tag schlendert Lukas entlang duzender riesiger Villen zur Strassenbahnhaltestelle am St. Martins Platz hinunter, total in seine Musik vertieft, die aus golden Kopfhörern in seine Ohren dringt. Seine Ledertasche hängt cool über seiner rechten Schulter. Bei der zweitletzten Villa auf der rechten Strassenseite wartet Kristen auf ihn. Sie lehnt mit dem Rücken an das prunkvolle, drei Meter hohe Eisentor, welches die Einfahrt zu dem wohl märchenhaftesten Anwesen des ganzen Viertels versperrt. Die Beiden besuchen dieselbe Klasse der teuersten Privatschule der Stadt. Der Richmond High School.
Lukas ist ein sehr pflichtbewusster, überaus vorbildlicher, ehrgeiziger und in den meisten Schulfächern auch erfolgreicher Schüler. Er entspricht exakt dem Bild des perfekten Kindes, welches sich Eltern nur wünschen können. Jeden Tag treffen sich die Beiden, um grösseren den kurzen Weg zur Schule zu fahren.
Kristen trägt wie immer ihre Skaterkleider. Ihre Eltern ärgern sich schrecklich darüber wie sich ihre Tochter kleidet und Kristen macht sich den grössten Sport daraus, ihre Eltern so sehr wie nur irgendwie möglich zu schockieren.
Sie ist das pure Gegenteil von Lukas, deshalb müssen sie auch immer wieder erstaunte, kritische und teils sogar verurteilende Blicke einstecken, wenn sie gemeinsam unterwegs sind. Äusserlich betrachtet, muss man wirklich zugeben, dass es ausgesprochen seltsam wirkt: Ein herausgeputzter, wohlgekleideter Junge, dem man schon von weitem ansieht, dass er aus wohlhabendem Elternhaus stammt und einem Mädchen, welches Skaterkleidung und völlig ausgelatschte Sneakers trägt. Aber niemand kann auch nur im Geringsten ahnen, wie viel diese Beiden hinter dieser äusseren Fassade verbindet.
Ihr Kleiderstil spiegelt nur ihre Art und Weise wieder, wie sie versuchen sich in dieser Gesellschaft zu behaupten und gleichzeitig gegen ihre erdrückende familiäre Situation zu rebellieren. Mancher der erfährt, dass Kristen, die Tochter des dreifachen Millionärs, die Tochter des reichsten Mannes der ganzen Stadt ist, denkt sich was dieses Mädchen doch für eine undankbare Göre ist. Selbst die Lehrer können nicht begreifen, wie ein eigentlich so intelligentes und wohlerzogenes Mädchen absichtlich dem Unterricht fernbleibt, im Unterricht mit ihren Gedanken überall ist, ausser beim Thema, welches gerade behandelt wird und deshalb auch auf ganzer Linie die Prüfungen vermasselt. An der Intelligenz liegt es bestimmt nicht. Niemandem kommt es in den Sinn, dass das Leben als Tochter solch perfekter und erfolgreicher Eltern alles andere als schön und einfach sein könnte. Im Besonderen, wenn das eigene Herz nicht nach demselben Rhythmus, wie das der Eltern schlägt. Niemand vermutete, dass die von aussen so perfekt erscheinende Fassade von innen langsam zerbröckelte. Der Name van Ganger liegt wie ein tonnenschwerer Fluch über Kristens Leben.
Schweigend sitzen die Beiden auf der hintersten Bank in der Strassenbahn, nebeneinander. Lukas wirft Kristen einen fragenden Blick zu, doch sie weicht diesem geschickt aus. Ihr Blick wandert den Sitzen vor ihnen entlang und dann aus dem Fester. Er hatte etwas sehnsüchtiges, flehendes. Ihre Arme umschlingen den an manchen Stellen bereits zerissenen Rucksack, der auf ihrem Schoss liegt.
Lukas kramt in der Hosentasche seiner schwarzen, schmall geschnittenen Markenjeans nach seinem iPhone. Lustlos tippt er darauf herum, bis er schliesslich den passenden Song findet. Die Fahrt dauert nur knappe zehn Minuten, doch an diesem Tag kommt es ihm so vor, als wären sie Stunden unterwegs gewesen als die Strassenbahn endlich an der Haltestelle Richmond hält. Stumm gehen sie die Querstrasse hinauf bis zur Richmond High School. Manche Dinge versteht man auch ganz ohne Worte.
Zur ersten Stunde steht Physik auf dem Stundenplan. Der bärtige, etwas betagte Lehrer versucht die Schulklasse für die Wärmelehre zu begeistern. Lukas kommt es so vor als gäbe es für Herr Wiesner nichts weltbewegenderes als die Berechnung der Mischtemperatur. Die Temperatur, die man erhält, wenn man zwei Flüssigkeiten unter- schiedlicher Temperatur zusammenmischt. Etwas wirklich Weltbe- wegendes. Gelangweilt versucht er dem Lehrer zu folgen, der die ganze Wandtafel mit seinen Formeln und Berechnungen vollkritzelt. Lukas empfindet immer wieder Bewunderung dafür, wie sich seine Lehrer so enthusiastisch einer völlig irrelevanten Sache widmen können. Ihm selbst gelingt es nur mit Müh und Not sich auf den Unterricht zu konzentrieren, denn seine Gedanken drohen immer wieder zu Kristen abzuschweifen, die am Pult vor ihm sitzt, den Kopf auf den Händen gestützt. Als schliesslich das erlösende Klingeln der Pausenglocke ertönt, stopft Lukas schnell den Laptop in seine Tasche und eilt zur Toilette. Mit zitternden Fingern spritzt er sich kaltes Wasser ins Gesicht. Langsam werden seine Gedanken wieder klarer. Nur nicht einschlafen! Als er sich auf den Weg zur nächsten Lektion macht, spürt er, dass da noch etwas anderes ist als nur die Müdigkeit, die an seiner Aufmerksamkeit nagt. Seine Hände sind seit der ersten Stunde zu Fäusten geballt. Eine Wut, die in ihm kocht und von der er nicht genau weiss, woher sie kommt.
In der Mittagspause, stellt er sich zusammen mit Kristen an der Kantine an, doch sie nimmt nur eine Flasche Wasser. Gemeinsam setzen sie sich an einen leeren Tisch an der Wand. Still schweigend sitzen sie da. Nur das klappern des Geschirrs lässt sie nicht vollständig vergessen, dass sie sich in der Schule befinden und nicht irgendwo auf einem fernen Planeten. Lukas macht es Angst, dass Kristen seit Wochen beinahe nichts isst. Unter ihren weiten Klamotten sieht man gar nicht wie dünn sie in Wirklichkeit ist. Nur Lukas ahnt es. Aber er traut sich nicht sie darauf anzusprechen, obwohl er weiss, dass er vermutlich der Einzige ist auf den Kristen hören würde. Aber er möchte sie nicht verletzen. Es ist als wäre da ein Faden zwischen ihnen, der sie verbindet und beide wissen, dass dieser Faden leicht zerreissen kann. Deshalb wagt sich keiner das schwer auf ihnen lastende Schweigen zu brechen, denn jedes Wort ist wiegt und hat die Macht den Faden womöglich zum Zerreissen zu bringen. Es macht Lukas richtig fertig, dass er ihr nicht helfen kann, dabei weiss er eigentlich genau, dass Kristen am dringendsten jemanden braucht, der an ihrer Seite steht und das tut er bereits. Doch aus seiner Sicht ist das einfach nicht genug.
Inneres Gefühl von Zerrissenheit.
Nicht wissen in welche Richtung steuern. Die Vergangenheit, ein schweres Tor, verriegelt. Versperrt den Weg zur Zukunft. Vom Weg abgekommen, um überhaupt noch weiter zu kommen. Die Spuren verlieren sich im Sand, laufen im Kreis. Ausweichen und wieder in einer Sackgasse landen. Warten auf Hilfe, von irgendwo. Stundenlang in den hellgrauen Nebel starren und sich dabei vorstellen wie es dahinter aussieht. In der Vorstellung taumeln, weil sie zu unreal scheint. Abgekommen vom ursprünglichen Ziel, daran vorbei gegangen, weil es keinen Sinn mehr ergab. Ziele verblassen, sinken auf den Meeresgrund, geraten in Vergessenheit. An ihre Stelle tritt die Ungewissheit.
Irgendwie weitermachen, unwissend, um nicht stehen zu bleiben. Hoffen auf eine Zukunft. Warten auf sie, wie man am Bahnhof auf einen Zug wartet. In Bewegung bleiben wollen um bereit zum aufspringen zu sein, falls er jemals kommen würde. Warten auf irgendetwas und dabei wissen, dass man vergebens warten wird. Sich fühlen wie der unnötige Ballast eines Schiffes, welcher in einem Sturm einfach achtlos über Bord geworfen wird, damit er nicht alles mit sich nach unten zieht.
Nach der Schule gehen sie wieder gemeinsam nach Hause. Es ist ebenfalls eine schweigsame Fahrt.
Lukas räuspert sich: „Also wenn du denkst, dass ich dir irgendwie helfen könnte, sag es mir bitte.“ Mit einem unscheinbaren Nicken gibt Kristen zu verstehen, dass sie verstanden hat.
Lukas legt zum Abschied seine Hand auf Kristens Schulter. Als er sie zurückzieht um zu gehen, spürt er wie sie leicht zusammenzuckt. Ihr Blick sitzt in seinem Nacken als er weiter läuft. Verzweiflung, blanke, kalte Verzweiflung steht in ihren Augen. Jede Faser ihres Körpers sträubt sich davor durch dieses Eisentor zu gehen. Jedes Mal, wenn sie unter dem Tor hindurch schreitet, ist es, als würden sich Eisenketten um ihr Herz schliessen. Eisenketten genau so schön verschnörkelt wie das Tor vor dem riesigen Anwesen der van Gangers, ihrer Eltern. Lukas weiss es, denn sobald sie durch dieses Tor schreitet, läuft sie noch etwas gebückter, wirken ihre Schritte noch etwas schwerer. Doch er weiss nicht, wie er ihr diese Last abnehmen könnte.
Schnell wechselt er die Strassenseite und eilt davon, kein Blick mehr zurück. Er weiss, dass er sonst zögern würde. Mit aller Kraft versucht er Kristens Blick aus seinen Gedanken zu verbannen. Nun muss er sich erst einmal um seine eigenen Schwierigkeiten kümmern die zu Hause auf ihn warten. Seine Mutter ist schon seit Tagen wieder nur noch zu Hause. Lukas mag gar nicht daran denken.
Den Glauben an die Freiheit verloren.
Die Ketten haben sich um den eigenen Körper gelegt. Man hat vergessen sich dagegen zu wehren. Schon zu oft ist man nicht erfolgreich gewesen. Ein Traum fällt, eine Kette schliesst. Der Druck ist zu gross, die Last zu schwer. Die Angst ist grösser als der Mut. Gefesselt am Boden der ernüchternden Tatsachen liegen. Gitterstäbe versperren die Sicht. Das Schloss hat zugeschnappt. Widerstand zwecklos. Schreien, weinen, gegen die Enge ankämpfen wollen. Doch die Gefühle sind geknebelt und gefesselt, weggesperrt hinter der eigenen Maske. Verdammt am Boden zu bleiben, nicht einmal in Gedanken kann man noch fliegen.
2. Die Fremde
Kristen tippt den zehnstelligen Code ein, dann öffnet sie die Türe. Vor ihr liegt die grosse Eingangshalle, weisse Marmorplatten, langstielige, lavendelfarbene Rosen in riesigen Kristallvasen, meterhohe Glasskulpturen auf hüfthohen Marmorsockeln. Als Kind hatte Kristen Stunden damit verbracht die Skulpturen zu betrachten. Das sich darin brechende Licht zu bestaunen. Niemals hatte sie eine berührt, niemals war sie ihnen näher als bis auf zwei Meter Distanz gekommen. Bis heute hat sie sich noch nicht an diese Halle gewöhnt, sich als Bewohnerin, als Teil dieser Villa gefühlt. Immer überkommt sie das Gefühl ein Fremdkörper in diesen vier Wänden zu sein. Auf der rechten Seite des Eingangs gibt es einen begehbaren Schrank, die Garderobe.
Kristen zieht ihre Jacke und ihre Sneakers hier jedoch nie aus. Sie passen nicht in die endlose Reihe der High Heels und grazilen Fussbekleidungen ihrer Mutter, denn Schuhe wären ein viel zu klobiger Begriff für diese Dinger. Auch passen die Sneakers nicht zu den unzähligen schwarzen Lackschuhen ihres Vaters, die man kaum voneinander unterscheiden kann. Das Einzige was Kristen über den Schuhkult ihrer Eltern sagen kann, ist dass einer teurer als der andere zu sein hat und dass die Sammlung immerzu anzuwachsen hat. Sobald auch nur die kleinste Verletzung an dem erstklassigen Leder auftritt, muss der Schuh mindestens dreifach ersetzt werden. Kristen konnte das noch nie begreifen. Ihrer Ansicht nach gewinnen Schuhe an Wert je älter, je schmutziger und ausgelatschter sie sind. Für Kristen ist ein Schuh an sich nichts weltbewegendes, nichts wofür man so viel Geld ausgeben sollte, wie dies ihre Eltern tun. Je öfter man einen Schuh trägt, desto mehr passt er sich an den Träger an, wird beinahe zu einem Teil von ihm, gehört zu ihm. Ein solcher Schuh verleiht Sicherheit und das Gefühl von Beständigkeit.
Anscheinend sehen ihre Eltern das anders, wie so vieles andere auch.
3. Wieder der Falsche
Lukas fasst mit einem tiefen Seufzer nach der Türklinke. Er schliesst die Augen für einen Moment, bevor er sie hinunterdrückt und aufstösst. Wie er vermutet hatte, steht seine Mutter mit Tränen unterlaufenen Augen im Flur, seine Ankunft erwartend. Lukas erstarrt. Seine Beine verweigern ihm jeden weiteren Schritt. Der dunkelblaue Lidschatten und die Mascara haben sich aufgelöst, und haben dunkle Spuren auf ihrem, von Leid gezeichneten Gesicht hinterlassen.
Wieso immer sie? Wieso schon wieder? Ist es nicht irgendwann genug, muss immer noch etwas darauf gelegt werden? Wie bei einem schlechten Witz, bei dem man den Höhepunkt schon weiss, bevor er erzählt wird. Seine Hände ballen sich zu eisernen Fäusten, vor Hass bebend. Livia, seine Mutter macht einen zögernden Schritt auf ihn zu. Ihre Beine zittern. Die Erstarrung löst sich und Lukas läuft seiner Mutter entgegen. Er fängt sie auf, schliesst sie in seine Arme. Sie halten sich gegenseitig fest.
„Mum?“, nur dieses eine Wort. Es kostet ihn unglaubliche Überwindung, es auszusprechen. Es ist nicht einfach nur ein Wort. Lange Zeit ist es her, dass er seine Mutter so genannt hatte, dass er überhaupt mit ihr gesprochen hatte.
Livia drückt ihren 16-jährigen Sohn fest an sich. Ein Seufzer, aus der Tiefe ihrer verletzten Seele, entfährt ihr. Ein Seufzer, der sich wie Feuer durch Lukas Körper brennt und das eiserne Schloss um sein Herz erwärmt. Sein ganzer Körper bebt, aber keine einzige Träne kommt. Er hält seine Mutter fest, umklammert sie. Ihr laufen ganze Bäche von Tränen über die Wangen und durchnässen Lukas T-shirt. Ihre Beine zittern noch immer, drohen ihren Dienst aufzugeben. Lukas hält sie fest, stützt sie und drückt sie fest an sich. Livia klammert sich an seinem T-shirt fest. Die Tränen laufen unaufhörlich, von tiefen Schluchzern begleitet. Minuten verstreichen, ziehen davon, immer weiter. Lukas weiss es, dass die Zeit so funktioniert, doch in diesem Raum steht gerade die Zeit still, entgegen der Zeit. Dann ballt Livia ihre Hände und hämmert mit ihren Fäusten auf die Brust ihres Sohnes ein, gefangen in ihrer Trauer, taumelnd vor seelischem Schmerz. Hämmert auf ihn ein, wie auf einen Boxsack. Er lässt sie machen, hält sie einfach nur fest, selbst nicht wirklich realisierend was da gerade geschieht. Sie schlägt und weint, bis ihre Kraft sie verlässt und sie leise wimmernd in sich zusammensinkt. Lukas packt sie unter den Achseln, trägt sie ins Wohnzimmer und legt sie mit grösster Behutsamkeit auf das Sitzpolster. Aus dem Schlafzimmer im ersten Stock holt er eine Wolldecke und wickelt seine vor Erschöpfung bereits eingeschlafene Mutter, wie ein kleines Kind, darin ein.
Völlig erschöpft und verstört läuft Lukas die Treppe nach oben in sein Zimmer. Wie oft noch? Wie oft würden sie dies noch durchmachen müssen? Hatte nicht schon das erste Mal gereicht? Musste dann noch ein zweites und ein drittes Mal folgen?
Es ist immer dasselbe und jedes Mal ahnt Lukas es schon zu Beginn und doch verliert auch er sich wieder in der Hoffnung, dass es dieses Mal anders sein würde, dass er sich irrt und dieser Mann anders ist. Nur hat ihn bis jetzt seine Vorahnung noch nie getäuscht und jedes Mal schwört er sich aufs Neue, dass er beim nächsten Mal reagieren würde, dass er eingreifen würde, bevor es wieder zu spät ist. Dass er den Kerl zur Hölle jagt, bevor er das Herz seiner Mutter in Stücke reisst und auch sein eigenes wieder bricht.
Ein Teil in Lukas hasst seine Mutter dafür, dass sie sich immer die falschen Männer angelt und ein anderer Teil versteht sie, versteht ihre unstillbare Hoffnung auf ein besseres Ende. Livias Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit, nach ihrem Märchenprinzen ist so gross, dass es sie manchmal beinahe um den Verstand bringt. So gross, dass sie ihr klarer Blick zu oft verlässt und sie dazu neigt in jedem männlichen Wesen, welches nur ein klein wenig Interesse an ihr zeigt, ihn, ihren Märchenprinzen zu sehen. Leider irrt sie sich. Jedes Mal.
Manche der Beziehungen halten ein Jahr, mache nur ein paar Monate, oder noch weniger. Die Kürzeste von allen dauerte nur ein paar Wochen und diese ist Lukas noch so präsent, als wäre es gestern gewesen, auch wenn sie bereits einige Jahre zurück liegt. Es war ein vielversprechender Beginn gewesen, als seine Mutter Deric mit nach Hause gebracht hatte. Deric war ein gut aussehender, braungebrannter und freundlich wirkender 30-jähriger Südländer. Alles ging gut, bis zu dem Tag, an dem…
Wenn sie wieder gebrochen und einer schmerzlichen Enttäuschung reicher ist, dann ist es wieder Lukas, der sie auffängt und auf die Beine stellt. Ist sie dann wieder soweit stabil, dass sie aus dem Haus gehen kann, beginnt die verzweifelte Suche von neuem. Meist vergeht kein Monat, bevor sie wieder einen neuen Typen mit nach Hause bringt, voller Hoffnung, dass er endlich der Richtige ist. Ein zerstörerischer Kreislauf. Immer schneller. Immer schneller im Kreis herum.
Livia bemerkt nicht wie ihr Sohn, dessen Augen eigentlich noch gar nicht dazu bestimmt sind all das zu sehen, sich immer mehr zurückzieht. Wie er immer stärker versucht ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, sich selbst verstellt und dabei inständig hofft endlich wieder von ihr wahrgenommen zu werden, als Sohn, als Kind, das ihre Unterstützung bräuchte.
Livia hat längst vergessen, dass ihr Sohn erst 16 Jahre alt ist und dass auch er Bedürfnisse hat, dass auch er Liebe und Aufmerksamkeit braucht, aber allem voran Schutz.
4. Gefängnis des Schweigens
Es wird dunkel und sie sitzt immer noch da. Keinen Millimeter weit hat sie sich bewegt. Das Geschichtsbuch liegt noch genau gleich unberührt auf dem Pult vor ihr, wie zwei Stunden zuvor. Sie merkt nicht wie die Zeit verstreicht. Auch hat sie nicht bemerkt, dass ihre Eltern in der Zwischenzeit nach Hause gekommen sind. Äusserlich ist sie erstarrt, hat alles um sich herum verdrängt. Zu lange haben diese Dinge sie regiert. Nun möchte sie nichts mehr. Nichts mehr hören, spüren, oder sehen. Nichts. Nichts mehr. Sie ist fertig mit all dem.
Kristen ist so müde, unendlich erschöpft.
Ihre Mutter ist vor fünf Minuten ins Zimmer gekommen, hat geglaubt, Kristen sei eingeschlafen, doch es hat sie nicht gekümmert. Es hat sie noch nie gekümmert. Ihre Tochter ist ihr gleichgültig. Schon immer. Alles was für sie zählt ist ihre Karriere und ihr Image. Die einzige Forderung, die sie an Kristen je gehabt hat, ist sie darin nicht zu behindern. Ihr keine Schande zu bereiten. Eine Forderung, der Kristen in jedem erdenklichen Masse nicht gerecht wurde. In den Augen ihrer Mutter ist sie eine einzige Enttäuschung. Seitdem sich Kristen dies bewusst ist, versucht sie es nicht einmal mehr. Sie rebelliert gegen die Werte ihrer Mutter, kleidet sich wie ihr grösster Albtraum.
Wenn sie sich begegnen, wechseln sie manchmal ein paar Worte. Kalt. Distanziert. Gleichgültig.
„Wie geht es dir?“, fängt Natalie meist an.
„Gut, und dir?“, kontert Kristen
„Gut. Wie läuft es in der Schule?“, spielt Natalie das Spiel weiter
„Gut.“, antwortet Kristen und das Gespräch ist beendet.
Mehr gibt es nicht zu sagen. Gut ist zu einem Codewort geworden. Niemand von beiden will mehr vom anderen wissen. Gut, als Bestätigung für Kristens Mutter, dass es beiden „gut“ geht. Gut. Keine Ahnung was das heisst, doch es spielt auch keine Rolle. Dieser kurze Wortwechsel befriedigt ihre Mutter, beruhigt ihr manchmal aufflammendes schlechtes Gewissen gegenüber ihrer einzigen Tochter, das sie immer unterdrückte, das sie hinter die Fassade der perfekt laufenden Karriere und Familie rückt. Gut, ist ein sprengstoffgeladenes Wort. Ein Wort, vor dem Natalie Angst hat, denn ihr „Gut“ kann jederzeit explodieren. Nichts davon lässt sie sich jedoch anmerken. Sie hat ihre Entscheidung vor Jahren getroffen. Lange bevor Kristen da war. Ihre Entscheidung ist klar gewesen. Unabweichlich. Ihre Karriere. Der Schein nach Aussen.
Appetitlos stochert Kristen in ihrem Teller herum. Ihr Blick schweift in der Kantine umher, als würde sie etwas suchen, ohne zu wissen was, getrieben davon es finden zu müssen. Lukas Blick fixiert sie, versucht ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. „Hm.“, räuspert er sich. Kristen wendet sich ihm zu. Mit seinem Blick deutet er auf ihren Teller. „Bitte.“‚ eine flehende Spur liegt in diesem einen Wort. Rasch schaufelt sich Kristen etwas Reis auf ihre Gabel und führt sie zum Mund. Im Zeitlupentempo kaut sie darauf herum und schluckt. Dann hebt sie ihren Blick wieder. Lukas schenkt ihr ein dankbares Lächeln.
„Du, Luk …“, Kristen sucht nach Worten. Es sind heute ihre ersten Worte. Lukas weiss, dass er ihr Zeit lassen musst, aber er ist froh, dass sie endlich in der Realität angekommen ist und nicht mehr irgendwo im Raum der absoluten Gleichgültigkeit hängt. „Entschuldige, dass ich heute so neben mir stehe.“, findet sie schliesslich die passenden Worte. „Das macht doch
nichts, das kenne ich doch nur zu gut von mir selbst. “‚ erwidert Lukas und zaubert ein Lächeln auf seine Lippen. Das Lächeln, welches er nur Kristen zeigt. Das Lächeln, das Kristen so sehr mag. „Schon, aber du sagst morgends wenigstens noch „Hallo“. Ich sage kein einziges Wort. Du hast es ja auch nicht leicht.“, beschämt senkt Kristen den Blick. Schon oft hat sie versucht ihr Verhalten zu ändern, doch wenn sie irgendwo in ihren Gedanken schwebt, kann sie nicht ausbrechen. Ihre Umgebung nimmt sie dann nur noch durch einen Schleier wahr, unfähig darauf zu reagieren.