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Maelia hat die Überquerung nach Velglas überlebt, doch sie kennt nur ein Ziel: um Tashas Leben zu retten, muss sie die Krone ihres Bruders stehlen. Für diese auferlegte Pflicht ist Mae gezwungen, den Königskrieger Kieran zu hintergehen. Allerdings verbindet die zwei ein Band, das unzerstörbar ist. Die hitzigen Auseinandersetzungen bringen beide an den Rand der Verzweiflung. Maelia muss sich gleichzeitig mit ihrem tief verborgenen Geheimnis auseinandersetzen, welches sie vor endlos viele Herausforderungen stellt. Durch geschickte Manipulation gelingt es ihr, Verbündete zu gewinnen, um ihre Pläne umzusetzen. Doch wird ihr trügerisches Vorgehen am Ende auch zum Erfolg führen? Gefährlich, abenteuerlich, mit leidenschaftlichen Emotionen und einer verhängnisvollen Fügung.
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Seitenzahl: 460
Veröffentlichungsjahr: 2025
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☆ Für Stella ☆
Du bist ein Stern in meiner Dunkelheit gewesen, während alle anderen ihr Licht ausknipsten.
★How villains are made @Madelen Duke
★Vendetta @Unsecret, Krigaré
★Vigilante Shit @Taylor Swift
★Who Are You @SVRCINA
★Look What You Made Me Do @Taylor Swift
★You and I @PVRIS
★Goodbye @Ramsey
★Run Run Rebel @Hidden Citizens, ESSA
★I´m yours @Isabel LaRosa
★Up in Flames @Ruelle
★The Devil Within @Digital Daggers
★Six Feet Under @Billie Eilish
★Without You @Ursine Vulpine, Annaca
Auch in diesem Buch erwarten euch keine leichten Themen. Die Handlung enthält explizite Darstellungen von Tod, Misshandlung und Unterdrückung sowie psychischen Erkrankungen und Belästigung. Die Sprache ist teilweise ungefiltert und direkt, sexuelle Handlungen werden unverblümt thematisiert. Auch Blut und Gewalt sind Teil dieser düsteren Geschichte. Bitte nehmt diese Warnung ernst und bereitet euch mental auf die bevorstehenden Szenen vor. Mit dieser Vorwarnung beende ich die Einführung und lade euch ein, die Reise anzutreten.
Erschöpft vom ermüdend langen Weg durch die angejahrte Vardana Burg über das Schulgelände hinüber zum großen Gewächshaus erreichte die zehnjährige Maloon endlich ihr Ziel. Das Gewächshaus gab ihr etwas Schutz, Sicherheit – Ruhe vor dem, was sie in der Schule erleiden musste. Etwas Frieden zwischen all den Hasstiraden.
Schweigend blieb sie stehen und musterte den Glaskasten. Ein sanfter Duft von Rosmarin schlich sich in ihre Nase, gepaart mit dem Wohlgeruch unzähliger Frühlingsblumen. Lächelnd ging sie durch die Tür und betrat das gläserne Haus. Ein Windzug blies durch das gegenüberliegende offenstehende Fenster und spielte mit Maloons pechschwarzen Haaren. Sie genoss das sanfte Gefühl auf ihrer Haut und schloss die Augen, während sie den Geräuschen des Windes lauschte.
Maloon ging an den Hochbeeten vorbei, die neben ihr zu beiden Seiten in einer Reihe aufgestellt waren, wie eine Mauer, die vor Unheil schützen sollte.
Vorne angelangt sah sie sich einmal um, um sicherzugehen, dass sie allein war. Zu ihrer Erleichterung konnte sie niemanden entdecken. Sie war mutterseelenallein.
Leise vor sich hinsummend, ließ sich Maloon in die Hocke fallen, zeichnete kleine Kreise in den dünnen Staub auf dem Boden. In einer Ecke unter altem Laub blitzte etwas auf. Maloon beugte sich vor, betrachtete, was sich im Dunkeln verbarg. Die schuppige Haut begann zu glänzen, als sanfte Sonnenstrahlen hinter den Wolken hervorlugten und den gläsernen Raum mit Licht fluteten. Eine kleine weiße Schlange züngelte im Dickicht, kroch allmählich aus ihrem Versteck hervor.
Maloon verharrte für einen Moment, während sich Angst mit einer tiefen Faszination für das geschmeidige Tier vermischte. Die Schlange zischte leise, zwei bedrohliche Giftzähne blitzten hervor. Maloon spürte eine seltsame Verbundenheit zu der Schlange, die ebenso mutig auf das Mädchen zu schlängelte.
»Hallo«, flüsterte Maloon und streckte vorsichtig eine Hand aus. Langsam, sodass diese jederzeit zurückgezogen werden konnte.
»Du sprichst meine Sprache?«
»Ein wenig«, antwortete sie. »Aber nicht genug, um wirklich stolz darauf zu sein.«
Vor einigen Wochen hatte Maloon diese Gabe entdeckt. Es war ein Moment, der ihr Leben für immer verändern sollte. Beim Sammeln von Kräutern im dichten Nachtwald mit mehreren Klassenkameradinnen war sie auf eine verletzte Schlange gestoßen, die durch ein anderweitiges Tier stark verletzt worden war. Maloon half der verwundeten Kreatur. Gefühle von Selbstsicherheit und Stolz keimten in ihr auf, die ihr jedoch fremd waren.
Als ihre Mitschülerinnen sie dabei erwischten und bemerkten, dass Maloon mit der Schlange sprach, lachten sie sie aus und beschimpften sie anschließend. Die verletzte Schlange verschwand folgend unter Gesträuchen.
Interessiert hob die weiße Schlange den Kopf. Maloon kniete sich auf den kalten Steinboden und sah ihr in die stechend gelben Augen. Diese starrte sie ebenfalls unverwandt durch ihre schwarzen, schlitzförmigen Pupillen an. Ein Blickkontakt, bei dem Maloon ein eisiger Schauer über den Rücken lief, aus dem sie sich jedoch nicht lösen konnte. Es fühlte sich an, als würde sich ein Abgrund vor ihr auftun. Dunkel und unheilvoll. Ein Kontrast zur friedlich weißen Haut der Schlange.
Plötzlich bewegte sich etwas in den Augen des Tiers. Ein Feuer loderte in ihnen auf und Maloon konnte eine bedrohliche Macht spüren, die ihr Unbehagen bereitete.
Die Schlange streifte kaum merklich mit der Zunge Maloons Haut. Ihr Herz schlug wild vor Angst, aber sie konnte nicht anders, als fasziniert auf das Reptil zu starren.
»Sag etwas, mein Kind«, zischte die Schlange und ringelte sich wie ein Armband um Maloons Handgelenk.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, wisperte sie und schaute sich verlegen um. Zu ihrem Schreck entdeckte sie mehrere Kinder ihres Alters im Eingang des Gewächshauses. Einige kicherten, andere blickten Maloon mit einer Abwertung entgegen, die nur schwer zu ertragen war. Und das nur, weil sie anders war als der Rest. Und »anders« war nicht gewollt in einer Gesellschaft, die sich der Norm anpassen wollte. Es war schlicht kein Platz dafür.
»Schaut euch Maloon an. Sie spricht schon wieder mit Schlangen. Das Dämonenkind hat einen Gleichgesinnten gefunden. Auf dem Boden kriechend«, rief eines der vorlauten Mädchen.
Die Gruppe lachte lauthals mit.
Es versetzte Maloon ein Stich, als sie die Worte stumm wiederholte und die verächtlichen Blicke sah, an die sie sich nie gewöhnen würde.
Dämonenkind …
Peinlich berührt ließ sie den Kopf hängen und starrte zu Boden, die abwertenden Blicke lediglich im Rücken.
Die Schlange schlängelte sich an Maloons Arm hoch. Mit ihrer gespaltenen Zunge fing sie an ihrer Wange eine Träne auf. Danach rollte sich das Tier wie eine Krone auf ihrem Kopf zusammen. Eine Wärme, eine Herzlichkeit, die Maloon jeglichen negativen Gedanken gegenüber dem Tier nahmen. Eine Schlange – menschlicher als die Mitschüler des Mädchens.
Eira, Maloons Mutter erkannte bereits von weitem, in welcher Situation sich ihre Tochter erneut befand. Seufzend erreichte sie das Gewächshaus und scheuchte die lachenden Hexenkinder davon, bevor sie die Glastür hinter sich schloss. Langsam ging sie auf ihre Tochter zu, nahm ihr die Schlange vom Kopf und legte sie sachte auf den Boden zurück. Innerhalb von Sekunden verkroch sich das Tier wieder unter das Dickicht, behielt Maloon jedoch im Blick.
Liebevoll zog Eira Maloon zu sich hoch und setzte das Mädchen auf ihren Schoß, das sich sogleich in die schützenden Arme ihrer Mutter warf, um die Wärme zu spüren, die sie gerade so sehr vermisste.
»Was hast du denn mit der Schlange vorgehabt, mein Schatz?«
Maloon zuckte schluchzend mit den Schultern und Eira streichelte ihrer Tochter mitfühlend durch das Haar. Erneut wehte ein starker Wind durch das offene Fenster. Die transparenten Vorhänge flatterten wild, als würden sie versuchen, dem aufkommenden Sturm zu trotzen.
»Ich bin ein Monster«, weinte Maloon und vergrub ihr Gesicht im weichen Stoff der Kleidung ihrer Mutter.
»Sag so etwas nicht. Du bist perfekt, so wie du bist«, unterbrach Eira ihre Tochter. Maloon stieß ein herzerschütterndes Wimmern aus und schüttelte den Kopf. »Monster haben doch viel größere Ohren«, erwiderte die Mutter und begann Maloon an diesen zu kitzeln. Das Mädchen versuchte ihr Lachen zu unterdrücken und den Händen an ihren Ohren auszuweichen. »Und ganz ganz große Zähne, zeig mir deine Beißerchen, die sind ja viel zu klein.« Eira wischte Maloon die letzten Tränen weg.
Auf sonderbare Weise schob sich zum selben Zeitpunkt der Mond über die Sonne. Nur ein dünner, goldener Ring leuchtete um den schwarzen Ball am Himmel. Abermals wehte ein kühler Wind, der die Kleider von Mutter und Tochter aufbauschte.
»Schwester«, hauchten zwei weibliche Stimmen.
Maloon versuchte die unbekannten Stimmen zuzuordnen, konnte jedoch niemanden erkennen. Tief in ihrem Inneren konnte sie indes spüren, dass etwas Seltsames vor sich ging, etwas, das sie nicht erklären konnte. Etwas, das den friedlichen Moment von eben erbarmungslos unterbrach.
Schlagartig ließ Eira die Arme sinken und erhob sich vollkommen regungslos. Währenddessen legten zwei Hände – die eine weiß, die andere schwarz – sich auf Maloons Schulterblätter und zogen sie von ihrer Mutter weg. Vergeblich versuchte die junge Hexe sich an der Kleidung von Eira festzukrallen. Wie Schmetterlingsflügel, gleichzeitig unnachgiebig und kraftvoll zogen die Hände Maloon bis zum Eingang des Gewächshauses. Sie wollte schreien, weglaufen, sich verstecken, aber ihre Beine waren wie gelähmt, als sie zu ihrer regungslosen Mutter blickte.
Nach Luft japsend bemerkte Maloon, dass eine Gestalt durch das Fenster hineinschwebte. Sie konnte nicht genau erkennen, wer oder was es war. Ein grelles, silbernes Licht umgab das Wesen und blendeten Maloons Augen.
»Bitte nicht«, flehte Eira währenddessen mit einer Vertrautheit in der Stimme, als wüsste sie, wer vor ihr stand.
»Dein Leben, für das deiner Tochter.« Die Stimme war kalt, hartherzig und tief. Eine Männerstimme.
»Es ist auch deine«, pressten Eiras Lippen hervor. Flehend, als wäre es das letzte, das sie tun könnte.
»Nein, Mama!«, schrie Maloon und versuchte sich von den Händen loszureißen. Vergeblich. Spitze Fingernägel bohrten sich in ihre Haut und hielten sie an Ort und Stelle fest.
»Lass mich los«, rief sie schmerzerfüllt.
Maloons Atem wurde flacher und ihr Herz begann wild zu pochen. Vor lauter Anstrengung traten Schweißperlen auf ihre Stirn. Doch das Unbekannte ließ sie nicht los. Flehentlich sah sie in die Ecke zur Schlange, die sich schutzsuchend unter dem Laub versteckt hatte.
»Hilf mir, bitte … bitte … bitte.«
Verzweifelt hielt Maloon den Atem an und blinzelte mehrmals. Dann geschah etwas Seltsames: Ungewollt nahm sie die Perspektive der Schlange ein.
Zuerst nahm sie die kargen, kalten Fliesen wahr, auf denen sie zusammengerollt lag. Danach das Laub, unter dem sie sich versteckt hielt. Ihr Blick schweifte nach oben, bis sie einen Mann entdeckte. Seine Augen funkelten wie Diamanten und seine Muskeln wirkten hart wie Stahl. Nur ein smaragdgrünes Tuch war um seine Hüften gebunden. Seine Haut glänzte golden und seine blonden Haare wehten hinter ihm. Maloon ließ nicht weiter Zeit verstreichen und nahm an Geschwindigkeit zu. Der harte Blick des Mannes fand den ihren. Ohne mit der Wimper zu zucken, öffnete der Fremde die geballte Hand. Ein Pfeil, geformt aus schwarzem Rauch, kam aus seinem linken Zeigefinger und flog direkt auf sie zu.
Es passierte alles viel zu schnell.
Als die scharfe Pfeilspitze Maloon traf, verlor das flackernde Geschoß seine ursprüngliche Form. Jeder ihrer Atemzüge war ein Kampf, jeder einzelne Gedanke brannte. Maloon konnte sich nicht mehr bewegen, denn der Körper indem sie steckte, hatte aufgehört, auf sie zu hören.
Zitternd und mit weitaufgerissenen Augen betrachtete Maloon das entsetzliche Bild vor ihr. Tränen rannen ihr unaufhörlich über die Wangen, als sie sah, dass der wabernde Pfeil zwischen den Augen der Schlange steckte. Eine kleine Blutlache umschloss das tote Tier, dunkler Rauch flackerte um den Kadaver.
Der fremde Mann wandte sich Eira zu und streichelte ihr einmal zärtlich über den Kopf. Ein Funken Hoffnung machte sich in Maloon breit. Ihre Mutter blickte zu ihr herüber. Die Augen gefüllt mit Tränen. Keine Tränen der Furcht, Tränen der Akzeptanz. Sie nickte leicht, presste die Lippen aufeinander.
Dann zerbrach Eira wie ein Spiegel in tausend Splitter. Haut wurde zu Asche, Blut wurde zu Schatten und ihre langen Haare verwandelten sich in schwarze Federn.
»Mama!«, schrie Maloon.
Jemand muss mich doch hören. Warum kommt denn niemand?
»Mama«, rief sie erneut mit tränenerstickter Stimme. »Hilfe!«
Die fremden Hände hielten Maloon weiterhin fest, während sie mitansehen musste, wie ihre Mutter in Stücke gerissen wurde.
»Aufhören, bitte«, flehte die junge Hexe.
Durch die vielen vergossenen Tränen verschwamm ihr Blick. Im Hintergrund hörte Maloon Knochen brechen. Sie presste ihre Hände fest gegen die Ohren. Doch es half nichts, die Laute drangen dennoch zu ihr hindurch, bohrten sich in die kleine Kinderseele.
Sie fühlte sich schwach, hilflos und allein.
Um Atem ringend schaute Maloon den Federn, der Asche und dem schwarzen Rauch hinterher, die mit einem Windhauch durch das Fenster schwebten und in den Himmel flogen. Sie zogen einen Frieden mit sich, der nicht existierte.
Das silberne Licht löste sich auf, die Hände an ihren Schultern verschwanden und der Mann mit ihnen. Tageslicht erhellte den Raum, als seien die Vorkommnisse lediglich ein böser Traum gewesen. Maloon sah sich schwer atmend um und starrte auf den leblosen Schlangenkörper, der ihr versicherte, dass sie sich in der Realität befand. Daneben lag als stille Zeitzeugen ihres Verschwindens Eiras Kleidung auf dem Boden.
Mühsam rappelte sich Maloon auf, stolperte über ihre Füße und rannte zum geöffneten Fenster. Heiser schrie sie nach ihrer Mutter, doch ihre Laute wurden von der Natur verschlungen.
Warme Sonnenstrahlen berührten ihre Haut, die sie nicht spüren konnte, denn Schmerz und Trauer hatten von ihr Besitz ergriffen.
Tränenverschmiert blickte Maloon zur Sonne hinauf. Sie streckte die Hände hinaus dem Himmel entgegen. Ein letzter Versuch, ihre Mutter noch einmal zu spüren, ihre Wärme, ihre Stimme zu hören. Ein Versuch, ihr in den Himmel nachzukommen. Stattdessen fiel eine schwarze Feder vom Himmel, fing Feuer und verbrannte zu Asche, noch bevor sie in den Händen des Kindes landen konnte.
Jede vergangene Minute fühlte sich wie eine Ewigkeit an, in der sie schreckensstarr aus dem Fenster sah. Irgendwann hörte sie Stimmen und mehrere Mitschüler sowie eine Lehrerin betraten das Gewächshaus. Obgleich Maloon allen die jüngsten Ereignisse schilderte und verzweifelt nach Hilfe bettelte, glaubte ihr niemand.
Die Direktorin der Schule gab Maloon die Schuld an dem Tod ihrer Mutter und behauptete, dass Eira ihrer abscheulichen Dämonenmagie zum Opfer gefallen wäre. Es dauerte nicht lange und sie wurde mit einer dünnen Decke und einem abgenutzten Ledertrinkschlauch vor das Haupttor gesetzt. Während sie allein mit kleinen, aber festen Schritten fortging, wuchs aus Trauer und Wut das Bedürfnis nach Rache in ihr heran. Mit ihrer Mutter war auch Maloon selbst zersplittert.
Verloren und allein in der Dunkelheit schwor sie sich, Rache an demjenigen zu üben, der ihr ihre Mutter weggenommen und grundlos ermordet hatte. Sie würde nicht aufgeben, egal wie dunkel die Nacht und ihre eigene Seele auch sein mochte. All seine Nachfahren sollten ihren Zorn zu spüren bekommen. Erbarmungslos, wie er es gewesen war.
Die alte Vardana Burg lag malerisch inmitten eines dichten Waldes. Über die Jahrhunderte hinweg wurde das gewaltige Gebäude mehrmals erweitert und vergrößert, um den zahlreichen Heilerinnen gerecht zu werden, die dort lebten und ausgebildet wurden.
Doch mit dem plötzlichen Tod der Leiterin begann sich alles zu verändern. Die Bewohner berichteten von unheimlichen Geräuschen in den uralten Gemäuern. Schatten, die sich ohne erkennbare Quelle bewegten und eine unerklärliche Kälte, die durch die Räume strich.
Auf rätselhafte Weise wurde das Anwesen in einer eisigen Winternacht von schwarzer Magie heimgesucht. All seine Bewohner wurden bei lebendigem Leib verbrannt, bis die Burg mit kargen Mauern und eingefallenen Rundbögen als Ruine zurückblieb. Es gab keine Überlebenden.
PLAYLIST
VORWARNUNG
PROLOG
KAPITEL 1: MAELIA
KAPITEL 2: MAELIA
KAPITEL 3: NESSA
KAPITEL 4: MAELIA
KAPITEL 5: MAELIA
KAPITEL 6: NESSA
KAPITEL 7: MAELIA
KAPITEL 8: NESSA
KAPITEL 9: MAELIA
KAPITEL 10: MAELIA
KAPITEL 11: MAELIA
KAPITEL 12: NESSA
KAPITEL 13: MAELIA
KAPITEL 14: MAELIA
KAPITEL 15: MAELIA
KAPITEL 16: NESSA
KAPITEL 17: MAELIA
KAPITEL 18: MAELIA
KAPITEL 19: MAELIA
KAPITEL 20: MAELIA
KAPITEL 21: NESSA
KAPITEL 22: MAELIA
KAPITEL 23: MAELIA
KAPITEL 24: MAELIA
KAPITEL 25: MAELIA
KAPITEL 26: NESSA
KAPITEL 27: MAELIA
KAPITEL 28: MAELIA
KAPITEL 29: MAELIA
KAPITEL 30: MAELIA
KAPITEL 31: MAELIA
KAPITEL 32: NESSA
KAPITEL 33: MAELIA
KAPITEL 34: MAELIA
KAPITEL 35: NESSA
KAPITEL 36: MAELIA
KAPITEL 37: MAELIA
KAPITEL 38: MAELIA
KAPITEL 39: MAELIA
EPILOG
PERSONENVERZEICHNIS
Achtundvierzig, neunundvierzig, fünfzig.
Ich hatte die Hälfte der Strickleiter hinter mich gebracht, doch die restlichen 50 Sprossen warteten noch auf mich. Blinzelnd legte ich den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Der Himmel leuchtete in einem Rubinrot, der harmonisch mit sanften Lilatönen verschmolz.
Nach einem tiefen Atemzug kletterte ich weiter. Mich umgaben von ungeheurer Größe Mammutbäume und zahlreiche Baumhäuser, die nur durch schwindelerregend hohe Leitern erreichbar waren. Zu meinen Füßen befand sich das Camp, in welches mich der Königskrieger eingeschleust hatte und ich notgedrungen untergekommen war.
Verschwitzt trat ich auf die nächste Sprosse, dabei blies mir ein starker Windzug die Haare ins Gesicht. Im Augenwinkel blitzten dunkelblaue Flügel auf. Schnell duckte ich mich, machte mich so klein wie möglich, um nicht entdeckt zu werden. Doch ohne Erfolg. Messerscharfe Krallen griffen nach mir, legten sich um meinen Rumpf und rissen mich von der wackeligen Leiter fort. Verzweifelt versuchte ich mich an der Strickleiter festzuhalten, scheiterte jedoch kläglich. Ich schrie und zappelte, aber ein Entkommen war unmöglich.
Zunächst dachte ich, die Krallen beabsichtigten mich zu verletzen, stattdessen umgaben sie mich wie ein Kokon: schützend und doch eingesperrt.
Rasend schnell wurde ich immer höher in die Dämmerung gezogen, bis sich die Krallen des Monstrums öffneten und ich mit einem dumpfen Aufprall auf meiner Schulter landete. Ein stechender Schmerz breitete sich in meinem gesamten Körper aus. Ich versuchte, mich bei Bewusstsein zu halten. Die Umgebung verschwamm um mich herum.
Trotz eingeschränkter Sicht konnte ich erkennen, dass er mich auf der Veranda unseres Baumhauses »abgesetzt« hatte. Die Schmerzen in meinem Körper musste ich ignorieren, da sich weitaus größere Probleme um mich herum auftürmten. Das Größte stand dabei unmittelbar hinter mir.
Ohne Zögern rappelte ich mich auf und betrachtete das gewaltige Ungetüm, welches sich auf einem breiten Ast neben dem Baumhaus niedergelassen hatte. Ein dunkler Schatten, projiziert durch seinen massigen Körper, legte sich über mich. Mein Herz rutschte in die Hose, jede Faser meines Körpers spannte sich an.
Die dunkelblauen Drachenschuppen glänzten mit der goldenen Rüstung um die Wette, die den gewaltigen Rücken und seine majestätische Brust schützen sollte. Mein Blick wanderte von seinen ebenfalls goldenen Hörnern zu seinen muskulösen Schultern – ich reichte ihm gerade einmal bis zu den Knien.
Je länger ich den Drachen vor mir musterte, umso mehr beunruhigte er mich. Ich war ein Nervenbündel, konnte das jedoch mit meiner antrainierten Überheblichkeit halbwegs kaschieren. Es war ein Kampf zwischen Selbstsicherheit und Verzweiflung.
Um sicherzugehen, dass meine Macht gut versteckt war, fühlte ich in mich hinein. Hinter imaginären Stahlmauern hatte ich sie für die Außenwelt weggesperrt. Oft gelang es mir selbst nicht, sie wiederzufinden, obwohl ich wusste, dass ein Inferno in mir tobte.
Im Hintergrund verschwand die feurige Sonne langsam hinter den Baumkronen und weitere Drachen in den verschiedensten Farben flogen majestätisch am Himmel. Ich war hier das einzige Faelein, das kein Gestaltwandler war. Für die Campbewohner war ich eine Fae, die ihre Magie verloren hatte. Zumindest lies ich alle in diesem Glauben.
Ein tiefes Knurren grollte in der Brust des dunkelblauen Drachen, es ließ die Holzdielen unter mir vibrieren. Im nächsten Moment trafen meine Augen auf die durchdringend scharfen Drachenaugen. Einer seiner Mundwinkel zuckte verräterisch.
Mir war bislang nicht bewusst gewesen, dass Drachen existierten, aber nach Maloons Ungeheuern und den Syrenen überraschte mich diese Tatsache auch nicht. Aber einem Drachen so nah zu kommen, war nochmal etwas anderes. Sie waren imposant, wirkten angsteinflößend und unberechenbar.
»Hier stinkt es nach Drache«, teilte ich flapsig mit und rümpfte die Nase.
Augenblicklich verschwand sein Grinsen. Die Mimik des Drachen wurde eiskalt und furchteinflößend. Meine Muskeln wurden steinhart, ich unterdrückte ein Zittern, als sich die Form des Drachen veränderte und der Königskrieger in seiner Fae-Gestalt auftauchte. Er sprang vom Ast auf die Veranda und kam mit großen Schritten auf mich zu. Bedrohlich, fast mahnend. Ich schluckte und sah zu ihm hoch. Seine goldtürkisenen Augen, die mich augenblicklich ins Visier nahmen, verengten sich zu Schlitzen.
»Anstatt auf meine Hygiene anzuspielen, sieh lieber zu, wie du deine verlorene Macht zurückgewinnst.« Kieran verschränkte die Arme und fügte hinzu: »An deiner Stelle wäre ich vorsichtig, wie du mit mir sprichst. Du hast nichts in der Hand, mit dem du dich zur Wehr setzen könntest.«
Wenn er wüsste. Ich aber wusste, dass er mich lediglich aus der Reserve locken wollte.
Um zu verdeutlichen, dass mir lediglich Würde und Kampfgeist geblieben waren, ballte ich die Hände zu Fäusten. Insgeheim stachelte er mein Denken weiter an, brachte mich zum Grübeln, wie ich noch schneller, vor allem aber ungesehen aus dem Camp verschwinden konnte.
Er atmete schnaufend aus, dabei lief mir ein leichter Schauer über den Rücken. Warum sah er mich so intensiv an?
Bevor ich etwas sagen konnte, drehte er sich um und ging zum Ende der Veranda. Unser nettes Gespräch war scheinbar beendet. Er streckte die Arme zu beiden Seiten aus und ließ sich in die Tiefe fallen. Augenblicke später hörte ich donnergrollende Flügelschläge und ein gigantischer blauer Drache flog gen Himmel. Ich schaute ihm für einige Sekunden hinterher.
Missmutig blies ich die Luft aus und ging auf die Eingangstür des Baumhauses zu. Ursprünglich gehörte es Kieran, doch seit meiner Ankunft teilten wir und das kleine Holzrefugium. Auf dem dunklen Holz prangte ein Drache, darunter stand sein Familienname: Kaldor.
Unsicherheit und Bedenken machten sich in mir breit. Es würde schwer werden, ihm einen Riegel vorzuschieben, aber ich musste es schaffen, allen voran für Tasha. Ich brauchte diese Krone und Lians Kopf, am besten sofort. Ich schloss die Augen und fühlte erneut in mich hinein. Es dauerte seine Zeit, bis ich alle Mauern zum Einsturz gebracht hatte und meine Macht erspähte, aber da war sie. Ein tobendes Gewitter, das mit wilden Flammen konkurrierte. Unweigerlich musste ich an meinen Ausbruch vor zwei Wochen denken.
Nachdem Kieran die Wahrheit über mich erfahren hatte, machte er mir einen Vorschlag. Es blieb mir in diesem Moment nichts anderes übrig, als in den Handel einzuschlagen. Er hatte mich vor die Wahl gestellt.
Wenn ich meine Macht beherrsche und kontrollieren kann, dann bringt er mich höchstpersönlich zu Lian. Wenn nicht, dann würde er mich zurück in die Menschenwelt fliegen.
Zum damaligen Zeitpunkt war ich zu erschöpft und abgekämpft, um einen besseren Deal auszuhandeln. Ich war ihm ausgeliefert gewesen, zumindest mental. Das Versprechen an Tasha schenkte mir jedoch den letzten Tropfen Kraft, meine Macht tief in mir zu verstecken.
Nachdem ich eingewilligt hatte, verwandelte er sich das erste Mal vor meinen Augen. Anschließend flog er mich Richtung Norden in das Ausbildungslager für junge Drachen, die dort ihre Verwandlungskünste trainierten und perfektionierten. Sie wurden als Drachenwachen für die Iron Hills und für die königliche Garde in Arrendyll ausgebildet.
Von den Mentoren wurden sie Novizen genannt. Insgesamt gab es zwölf Gruppen, die je aus vierzehn Novizen bestand. Jeden Monat kamen neue Schüler dazu und nach einem Jahr verließ die älteste Gruppe nach bestandener Abschlussprüfung das Camp. Zudem gab es nach jedem abgeschlossenen Monat eine Zwischenprüfung, um in den nächsten Abschnitt zu gelangen. Wer scheiterte, musste den Monat wiederholen und die Gruppe wechseln.
Der Leiter des Camps war ein älterer Fae namens Kardas. Er ließ sich aufgrund seines fortgeschrittenen Alters selten blicken. Sein Sohn Nox, der eine gewisse Arroganz mit sich brachte und stets erfolgshungrig war, gab alles, um das Camp bald selbst zu leiten. Zudem stand er mit Kieran auf Kriegsfuß.
Die beiden Männer nahmen sich in ihrer Drachenform kaum etwas an Größe und Masse. Mir waren beide unsympathisch.
Ich drückte die Türklinke nach unten und betrat das Baumhaus. Der Geruch von frischem Holz und etwas, das an alte Bücher erinnerte, erfüllte den Raum.
Die erste Woche im Ausbildungslager hatte ich aufgrund meiner Erschöpfung im Bett verbracht. Kieran versorgte mich zwar mit dem Nötigsten, ließ mich ansonsten mit meinen Gedanken allein. Am ersten Abend hatte er mir mitgeteilt, dass er ab sofort hier bei mir im Camp bleiben würde, bis ich mich wieder unter »Kontrolle« hätte. Zum Groll von Nox, denn der sah sich als Anführer des Camps. Gegen Kierans Entscheidung war er jedoch machtlos. Jeder Drache huldigte und vergötterte den Königskrieger.
Meine Meinung spielte für beide keine Rolle.
Immer wenn ich mit Kieran an anderen Campbewohnern vorbeiging, neigten diese aus Respekt gegenüber ihm die Köpfe. Mir warfen sie nur grimmige Blicke zu und runzelten die Stirn. Die Missbilligung war in jeder Pore meines Körpers spürbar.
MAELIA´S LISTE
ÜBERHEBLICHKEIT IST DIE EINTRITTSKARTE IN DIE DRACHENWELT. GANZ EGAL, OB DU EIN VOLLIDIOT BIST ODER NICHT.
Die zweite Woche war unfassbar anstrengend und erinnerte mich an mein früheres Leben bei Kasio. Ein Leben, das ich gerne längst vergessen hätte, so entfernt war es mir.
Frühmorgens um sechs Uhr läutete eine große alte Glocke, die unmittelbar neben der Speisehalle angebracht war. Danach mussten wir Novizen uns fertigmachen und antreten, damit die Stärke der Gruppe festgestellt werden konnte.
Da ich keine Flügel besaß, musste ich die lange Leiter hinabsteigen. Während alle anderen sich diese Kraft bereits sparen konnten.
MAELIA´S LISTE
PÜNKTLICHKEIT IST AUCH HIER EINE TUGEND, DIE JEDER
NOVIZE BEHERZIGT. EIN WAHRHAFTES DESASTER.
Das anschließende Frühstück fiel eher spartanisch aus. Ich hatte schnell bemerkt, dass ich mit der frühen Kost sparsam umgehen musste, denn spätestens nach zwei Stunden kam während des Trainings alles wieder hoch.
Es gab einen Plan, auf dem schriftlich festgehalten wurde, welche Gruppe zu welcher Tageszeit, an welchem Ort trainiert werden sollte. Die Selbstverteidigung fand im Dojo statt. Ich dachte, ich wäre gut im Kämpfen. Doch unter den Drachenfae wirkte ich wie eine blutige Anfängerin. Sie waren stärker, größer und nutzten ihre Drachenexpertise. Attribute, die ich nicht vorweisen konnte.
Im Anschluss ging es meist zum Kletterpark. Dort mussten wir in einer angemessenen Drachenhöhe Balken und Seile überqueren, an Wänden hochklettern oder uns an Schlaufen entlanghangeln. Schlussendlich ging es an einem Hochseil zurück ins Camp. Weder waren wir bei den Übungen gesichert, noch war der Metallgriff am Seil sonderlich stabil. Wer abstürzte, musste sich augenblicklich verwandeln oder ‒ wie in meinem Fall ‒ darauf hoffen, aufgefangen zu werden. Meistens waren es Kieran oder Nox, die mich aus der Luft griffen und anschließend unsanft auf den Boden fallen ließen.
Abends zog sich jeder ausgelaugt in das eigene Baumhaus zurück.
MAELIA´S LISTE
VERSTAND, KRAFT UND SCHNELLIGKEIT ZU KOMBINIEREN
IST DAS A UND O, UM EIN GEHORSAMER DRACHE
ZU WERDEN.
Ich blickte mich um und betrachtete den Wohnraum des Baumhauses. Ein schwarzes Sofa stand mittig vor dem Fenster. Links von mir befand sich ein Regal, das mit den unterschiedlichsten Büchern befüllt war:
➙
Ein Kochbuch für abenteuerliche Gaumen
➙
Die Drachenchroniken: Aufstieg der Schatten
➙
Stahlherz: Aufzeichnungen eines Kriegers
➙
Ein visueller Atlas von Velglas
➙
Das Zauber-Grimoire von Merlin
Über dem Sofa befand sich ein rundes Fenster, das in die Decke eingebaut wurde. Nachts konnte dadurch der prachtvolle Sternenhimmel bewundert werden. Außerdem gab es im Baumhaus ein kleines Bad, ein Schlafzimmer und eine schmale Küchenzeile.
Der Einrichtungsstil war eher lieblos und pragmatisch. An jedem freien Platz lag eine Waffe. Eine beachtliche Sammlung aus Dolchen, Messern und Schwertern, allesamt mit weißen Mondlichtklingen. Ich hatte herausgefunden, dass dieses Material Fae verletzen konnte und die Selbstheilung deutlich verlangsamte.
Obwohl wir uns das Baumhaus miteinander teilten, war Kieran die meiste Zeit nicht anwesend. Ich wusste nicht, ob er mir Privatsphäre schenken oder mich nicht sehen wollte. Einen Gefallen tat er mir damit in jedem Fall. Es war genug, dass er mich den ganzen Tag über beäugte.
Ein Problem war, dass das Baumhaus nur über ein Bett verfügte. Kieran hatte sich von Beginn an dazu bereit erklärt, auf dem Sofa zu schlafen. Er kam meist kurz vor Mitternacht nach Hause. Um diese Uhrzeit lag ich bereits im Bett und gab vor, zu schlafen. Ich wollte auf keinen Fall, das er Verdacht schöpfte und mich fragte, warum ich noch wach war. Somit verhinderte ich jedes Gespräch und verstrickte mich nicht in noch mehr Lügen. Manchmal öffnete er die Schlafzimmertür und sah nach mir, vermutlich um zu überprüfen, ob ich noch da war. Es gab mir irgendwie das Gefühl von Sicherheit, wenn ich auch nicht ganz einverstanden damit war, dass er ohne meine Erlaubnis ins Schlafzimmer kam, während ich »schlief«.
In der unbeaufsichtigten Zeit schlich ich mich oft in den angrenzenden Wald. Von Kierans Veranda führte ein Hochseil direkt dort hinein. Ich nutzte regelmäßig die Abenddämmerung im Wald, um meine versteckten Fähigkeiten im Geheimen zu trainieren und gleichzeitig unentdeckt zu bleiben. Meine Macht zu kontrollieren war schwerer als gedacht. Schlimmer noch.
Bei meinem Ausbruch hatte ich einen so großen Krater in meinem Inneren hinterlassen, dass sie sogar täglich wuchs. Ich würde sie als eine Art Vulkan beschreiben, bei der die geringste falsche Bewegung zu einem Ausbruch führen konnte. Die Mauern in meinem Inneren mussten somit immer dicker werden. Das Verstärken meines Schutzwalls schwächte mich wiederum so sehr, dass ich tagsüber meine Bestleistung nicht abrufen konnte. Glücklicherweise interessierte mich das nicht. Ich war schließlich nicht hier, um eine brave Drachenwache zu werden.
Meine Hände wanderten zu meinem dunkelbraunen Gürtel, während ich Richtung Schlafzimmer ging. Ich zog mir meine enge, beige Stoffhose aus und öffnete das braune Lederkorsagentop. Darunter trug ich ein jagdgrünes Hemd, welches ebenfalls auf dem Boden landete. Mit dem Fuß kickte ich alles zusammen und schob es beiseite.
Aus Kierans Kommode zog ich eines seiner frischen Hemden. Ich besaß keine eigene Kleidung, und er hatte mir auch keine neue besorgt. Also trug ich in meiner Freizeit seine übergroßen Sachen – was ich einerseits ziemlich lächerlich fand, andererseits aber auch ein wenig beruhigend. Der Duft von Kieran haftete noch daran. Eine Mischung aus seinem Parfüm und frisch gewaschener Wäsche. Ich mochte den Geruch.
Leichtfüßig tappte ich aus dem Zimmer und ging hinüber ins Bad. Direkt neben der Tür hing ein Spiegel an der Wand. Angespannt blickte mir mein verschmutztes Gesicht entgegen. Meine Stirn war mit einem braunen Lederband bedeckt, das in der Mitte spitz nach unten verlief und mein Mal verdeckte.
Wieder einmal musste ich mich verstecken!
Nachdem die Novizen und Mentoren von Kieran erfahren hatten, dass ich keinerlei Magie besaß und lediglich Pflichtbewusstsein erlernen sollte, war ich nicht mehr von Interesse.
MAELIA´S LISTE
EINE AUSNAHME ZU SEIN BRINGT DICH NICHT WEITER.
ODER ETWA DOCH?
Tief Luft holend öffnete ich den Zopf und ein Wirrwarr aus Haaren kam zum Vorschein. Ich hatte es schon lange aufgegeben, die Mähne zu bändigen. Stattdessen goss ich kaltes Wasser in die tiefe Wanne, um mich zu waschen. Anschließend schlüpfte ich in das weiße viel zu große Hemd. Der Saum fiel mir bis zur Mitte meiner Oberschenkel.
Als ich fertig war, wärmte ich mir an der kleinen Feuerstelle Milch in einem Topf auf, bis die Türklinke nach unten gedrückt wurde. Hastig griff ich zu einem Dolch, der neben mir auf der Theke lag. Es war noch lang nicht Mitternacht, der Königskrieger würde erst später kommen. Also wer war der Eindringling?
Kein Eindringling, Kieran betrat das Baumhaus. Doch zu spät. Der Dolch flog bereits auf sein makelloses Gesicht zu. Seine dunkelbraunen Haare hingen offen an ihm herab und seine Stirn war in Falten gelegt, als schien er tief in Gedanken versunken zu sein. Doch so schnell ich schoss, so schnell waren seine Reflexe. Im letzten Moment duckte er sich blitzartig und konnte dem Dolch so entgehen. Es wäre eine Schande für sein Gesicht gewesen. Kieran starrte die Waffe an, die kerzengerade im Türrahmen steckte. Gereizt schaute er zu mir hinüber, bis sein Blick an mir herab wanderte und er mich amüsiert angrinste.
»Ist ein wenig zu groß für dich, was?«
Sein Lachen war kurz und schallend, bevor es leise verklang.
»Ich habe nichts anderes zum Anziehen und das weißt du genau.«
Ich verdrehte die Augen und widmete mich wieder meiner Milch. Als sie blubberte, goss ich sie vorsichtig in eine Tasse, in die ich zuvor einen guten Löffel Honig hineingegeben hatte.
Kieran zog sich die Stiefel aus und hing seinen Umhang an den Haken.
»Nett, dass du mein Baumhaus so bewachst«, murmelte er, als er den Dolch in einem Ruck herauszog und ihn harsch neben mir auf die Theke platzierte. »Pass in Zukunft besser auf, dass du mich dabei nicht gleich umbringst.«
»Ich helfe, wo ich nur kann«, erwiderte ich, hielt meine Stimme so ruhig wie möglich. Er schnaubte verächtlich, die Muskeln in seinem Gesicht entspannten sich kaum.
»Helfen? Mit einem dolchförmigen Geschenk?«
Er beugte sich ein kleines Stück herab, dabei überragte er mich immer noch um gute zwanzig Zentimeter.
»Wird nicht wieder vorkommen«, gab ich nach und versuchte dem Gespräch zu entfliehen. Doch er sah mich weiterhin mit verengten Augen an. »Ist noch was?«, fragte ich daher.
»Hast du heute deine Macht gespürt? Ist sie wieder aufgetaucht?«
Ich schüttelte den Kopf, während er die Hände in den Nacken legte und sich streckte.
»Das glaub` ich dir nicht. Niemand verliert einfach so seine Magie. Auch nicht, wenn man einen Ausbruch hatte. Ganz egal welche Ausmaße.«
»Sie ist aber weg«, log ich. »Falls du sie wieder herzaubern kannst, nur zu Merlin.« Schmunzelnd blickte ich zum Bücherregal. Dann nahm ich einen großen Schluck und leckte mir anschließend über die milchverklebte Oberlippe.
»Wir haben einen Deal. Schon vergessen, Maelia?« Er entriss mir die Tasse und trank die Milch in einem Zug leer.
»Das war meine Milch!«, warf ich ihm an den Kopf und stapfte davon. Genervt riss ich die Tür zum Schlafzimmer auf, ging hinein und ließ sie anschließend zuknallen. Erschöpft fiel ich auf das Bett und starrte in den klaren Nachthimmel. Eigentlich musste ich Kieran unbedingt fragen, warum die fünf Königskrieger inklusive Lian nicht bei dem Massaker vor dreizehn Jahren gewesen waren. Aber die aktuelle Situation zwischen uns war zu angespannt. Statt mich weiter damit zu beschäftigen, konzentrierte ich mich auf meine Flucht aus dem Camp sowie auf den Diebstahl der Königskrone.
Der laute Schall der Glocke weckte mich am nächsten Morgen. Ich nahm das Kopfkissen und presste es mir über den Hinterkopf und die Ohren, um den Schall etwas zu dämpfen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte sie endlich auf zu läuten. Doch kaum stoppte der eine Lärm, riss mich ein nächster aus meiner Trance. Ein Klopfen erklang an der Schlafzimmertür.
»Beeil dich, du bist spät dran heute.«
Danach stapfte Kieran aus der Eingangstür hinaus. Im nächsten Moment wurde es unmerklich still im Baumhaus. Ich drehte mich auf den Rücken und sah zum Dachfenster hinauf. Weiße Wolken schmückten den morgendlichen Himmel.
Erneut erklang die Glocke und ich rappelte mich missmutig auf. Ich gähnte und streckte mich, bevor ich gelangweilt die Einheitsuniform anzog. Nachdem ich mir mehrere Zöpfe geflochten und das Lederstirnband umgebunden hatte, verließ auch ich das Baumhaus.
Der Morgen war frisch und klar, während die Sonne sanft hinter einer Reihe weißer Wolken hervorlugte. Die Sicht war atemberaubend. Am Horizont türmten sich die gigantischen Iron Hills. Zu meiner Rechten konnte ich über die Baumkronen hinwegblicken. Dort, tief im Wald, lag die Grenze zu Velora.
Ich trat auf die Veranda und ging zur Leiter. Für einen kurzen Augenblick genoss ich die frische Luft, die mir um die Ohren wehte. Von hier oben konnte ich das gesamte Trainingslager betrachten. Das Camp war mit einem Antreteplatz, einer großen Speisehalle, einem Dojo sowie einem Kampfplatz ausgestattet. Einige Baumhäuser waren rund, andere waren eckig gebaut. Vereinzelt waren die Dächer mit Gras bewachsen. Mein Blick fiel nach unten und ich sah zahlreiche Fae, die auf dem Antreteplatz im Unterarmstütz verharrten.
Verdammt.
Kieran und Nox hatten meine Gruppe für mein Zuspätkommen bestraft. Ich konnte den Zorn meiner Mitstreiter von hier oben aus riechen.
MAELIA´S LISTE
BESTRAFUNG IST DISZIPLIN. DISZIPLIN IST ERFOLG.
UND ERFOLG IST DER GUTE ALTE GEHORSAM.
So schnell ich konnte, kletterte ich die Strickleiter hinunter. Dabei hörte ich, wie sich die Fae aus meiner Gruppe über mich aufregten, sogar Morddrohungen aussprachen.
Heute würde ein lustiger Tag werden.
Unten angelangt, rannte ich schnurstracks Richtung Antreteplatz. Dafür musste ich noch den Trampelpfad und die anschließende Brücke überqueren. Durch das Camp floss ein Bach, der so klar war, dass er silbern schimmerte. Frösche hüpften eilig zur Seite, Vögel flogen hastig davon, während ich sprintete. Schnaufend kam ich endlich am Antreteplatz an. In einer U-Form standen dort alle zwölf Gruppen und sahen meiner Gruppe zu, wie sie ihren Unterarmstütz gehorsam hielten. Hastig nahm ich ebenfalls dieselbe Position ein und bemühte mich, meinen Atem zur Ruhe zu bringen. Während die Fae aus den anderen Gruppen leise zu kichern begannen, rappelten sich die Mitglieder meiner Gruppe auf. Als ich ebenfalls wieder aufrecht stand, trafen mich vierzehn zornige Blicke.
»Wo warst du?«, fragte Brenton vollkommen außer sich.
Er hatte kurz geschorene Haare und die warmen, bernsteinfarbenen Augen funkelten mich verärgert an. Brenton war der Sprecher unserer Gruppe, unglaublich talentiert und für einen Drachenjüngling bereits sehr besonnen. Doch jetzt war er kurz davor seine ausbalancierte Innere Mitte aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Ich ließ den Blick zum gegenüberliegenden Holzpodest schweifen und sah zu Kieran und Nox, die dort standen und erzürnt zu mir herüberschauten. Die anderen Novizen begannen zu tuscheln und freuten sich ungemein auf meine bevorstehende Bestrafung. Wie auf Knopfdruck grinste ich verschmitzt, weil mir eine besonders gute Ausrede eingefallen war.
MAELIA´S LISTE
TÄUSCHUNG IST DIE HÖCHSTE STUFE DES KÖNNENS –
GLAUBEN DEINE SCHWÄCHSTE.
Kieran bemerkte, dass ich einen Plan ausheckte und sprang vom Podest. Zu spät. Ich lieferte ihn ans Messer. Mein Grinsen wurde breiter, Brenton bekam seine Antwort.
»Kieran besetzt morgens stundenlang das Bad, sodass mir kaum Zeit bleibt, mich selbst fertig zu machen.«
Ich zwinkerte ihm einmal zu.
Entgeisterte Gesichter betrachteten mich, bis einige der Älteren anfingen zu lachen. Vor mir hielt der Königskrieger an und die Novizen schauten uns gespannt zu. Er sah auf mich herunter, während ich auf seine Brustpanzerung starrte und mir reuevoll auf die Unterlippe biss.
Ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut. Langsam hob ich den Kopf und sah in Kierans Augen, die jetzt beinahe golden funkelten. Wir standen so nah voreinander wie noch nie zuvor. Nur wenige Zentimeter zwischen seinen Lippen und meinen. Eine Illusion. Denn zwischen uns war lediglich Hass.
»Das Antreten ist vorbei«, rief er.
»Du lässt sie damit unbestraft davonkommen?«, fragte Aelurion, der aufgebracht neben Brenton stand.
Kierans Mimik blieb eiskalt.
»Maelia wird ihre gerechte Strafe erhalten, das hast aber nicht du als Drachenjüngling zu entscheiden, sondern ich«, antwortete der Königskrieger bestimmt, dabei hatte er den Blickkontakt zu mir nicht aufgegeben. Ebenso wenig, wie ich.
Im Augenwinkel sah ich, wie Aleurions Gesicht puderrosa wurde. Er fügte sich Kierans Befehl und neigte den Kopf leicht Richtung Füße.
Nox schritt die Treppenstufen vom Podest herunter und stellte sich neben uns. Er war fast so groß wie Kieran, seine Haut war aber im Gegensatz zum Königskrieger schneeweiß. Seine langen, glatten Haare waren pechschwarz und seine Augen erstrahlten in einem Stahlgrau. Er hatte ein hartes, markantes Gesicht und eine spitze Nase. Seine Augen zogen sich misstrauisch zu Schlitzen zusammen und schwarzer Rauch waberte um seinen Körper. Kieran stellte mit seiner gebräunten Haut, den schulterlangen braunen Haaren und den goldtürkisenen Augen das genaue Gegenteil zu Nox dar.
Sie waren wie Tag und Nacht und ich war in diesem Augenblick die Sonne, um die beide rangen oder die beide loswerden wollten. Wohl eher Letzteres.
»Und jetzt Maelia ‒ auf den Boden in den Unterarmstütz!«
Kierans Autorität stellte keiner infrage; niemand widersprach ihm.
»Redest du mit mir?«, fragte ich belustigt.
»Treib es nicht zu weit«, erwiderte er zischend.
»Du lässt sie so mit dir reden? Was ist mit dir passiert, Kieran? Etwa weich geworden?«, fragte Nox amüsiert und fuhr sich durchs pechschwarze Haar.
MAELIAS´S LISTE
SCHWÄCHE IST ETWAS FÜR WEICHEIER,
NICHTS FÜR DRACHEN.
Nox übernahm das Ruder und trat an mich heran. Aus seiner Hand züngelte schwarzer Rauch, der mich unweigerlich zu Boden zwang. Der Druck auf meinen Schultern wurde zunehmend stärker. Ich spürte wallende Hitze in mir aufsteigen und meine unausgesprochenen Worte füllten meinen Mund wie feurige Pfeile. Meine körperliche Kraft reichte nicht aus, um gegen Nox‘ Macht anzukämpfen. Ich fiel auf die Knie.
Verbissen sah ich zu Nox hoch, doch mein Blick verschwamm durch den Rauch.
Meine eigene Macht begann, jede einzelne Mauer in mir einzureißen. Beinahe war sie an der Oberfläche, es fehlte nur noch ein Funke und ich würde wie ein Pulverfass explodieren. Ich atmete tief ein und dachte an mein Versprechen, an Elias, an alles, was ich verloren hatte. Im nächsten Moment lächelte ich die beiden Männer mit der Restwürde, die mir geblieben war an und ging in den Unterarmstütz.
Meine Gedanken flogen zu Elias, zu unseren Verabredungen am Nachtsee. Sie gaben mir so viel Kraft und Hoffnung, wie seine grünen Augen es immer getan hatten. Die Erinnerungen an seine Umarmungen und an seine beruhigende Stimme würden mich alles überstehen lassen.
Auch Nox‘ Machtkampf.
Ich versank in einer tiefen Stille und machte genau das, was von mir verlangt wurde. Nox befähigte seiner Macht noch stärker auf mich einzuwirken. Er übte einen so gewaltigen Druck auf mich aus, dass ich kurz davor war zusammenzubrechen. Als meine Arme unaufhörlich zitterten, mischte sich Kieran ein. Eine kühle Eisschicht umhüllte meinen vor Anstrengung lodernden Körper und schirmte mich vor Nox‘ Macht ab, der ich kurz davor war zu unterliegen.
»Wenn du sie noch einmal mit deinem Nachtschatten berührst, war‘s das mit dir.«
»Interessant«, bemerkte Nox mit einem verächtlichen Seitenblick auf mich.
Augenblicklich zog sich der schwarze Rauch von mir zurück und schmiegte sich wie eine zweite Haut an seinen athletischen Körper. Offenbar war die Dunkelheit sein Freund und die Nacht sein Zuhause. Er ging einige Schritte zurück und Sekunden später stand ein schwarzer Drache mit silbernen Hörnern vor uns. Seine Nüstern blähten sich auf. Nox erhob sich eindrucksvoll in den Himmel und brüllte laut. Der dadurch entstandene Atemstoß ließ die Bäume erzittern.
MAELIA´S LISTE
STÄRKE ZU ZEIGEN IST EIN TRIUMPH,
DEN NIEMAND SO SCHNELL VERGISST.
»Steh auf, Maelia«, befahl Kieran und erlangte somit meine Aufmerksamkeit zurück.
Ich tat, was er von mir verlangte und nahm erneut Blickkontakt zu ihm auf. Er hatte mich vor Nox beschützt, obgleich ich seine Autorität infrage gestellt hatte. Kieran drehte sich zu meiner Gruppe um, die noch als einzige auf dem Antreteplatz stand und auf mich wartete.
»Verwandelt euch und folgt Nox in den Wald. Ihr fangt heute sofort mit dem Parkour an. Das Frühstück fällt für euch aus.«
Ein genervtes Brummen ertönte, aber nacheinander verwandelten sich die Novizen in ihre Drachengestalt. Zuerst erschien ein roter Feuerdrache, der mit seinen vier massigen Füßen auf der Erde aufkam. Es folgten die unterschiedlichsten Drachenarten: ein silberner Eisdrache, ein grüner Giftdrache, ein hellblauer Luftdrache, ein weißer Lichtdrache, um nur einige zu benennen. Sie erhoben sich nacheinander in die Luft und folgten Nox in den Wald.
»Wieso rennst du nicht?«
Ich hatte nicht vor, mich von Kieran einschüchtern zu lassen, das lag mir nicht im Blut. Und wenn er wüsste, dass Kasio mich großgezogen und zu einer Shadowfallkämpferin ausgebildet hatte, würde er das vielleicht sogar verstehen.
»Ich werde nicht rennen, Drache. Du weißt, dass ich meine Macht verloren habe. Du hast keinen Grund, mich hier weiter festzuhalten. Ich werde deinen König schon nicht mit meinem Feuer zu Asche verbrennen oder ihn mit einem Blitz erschlagen.« Genervt rollte ich mit den Augen.
Kieran stand immer noch wie ein Eisklotz vor mir, unbeeindruckt von meinen Worten. Seine Augen fixierten mich regungslos.
»In zwei Wochen ist deine erste Prüfung. Besteh den Kletter-Parkour ohne herunterzufallen und ich fliege dich nach Arrendyll. Es ist notwendig, wenn du auf mir fliegen willst. Auf einem Drachen zu reiten, verlangt viel von einem ab und du musst mit Flugmanövern rechnen«, erklärte er unbeirrt. »Haben wir einen Deal?« Eine kühle Gelassenheit schwang in seinen Worten mit.
»Zwei Wochen und nicht länger«, erwiderte ich frustriert.
Ich konnte spüren, wie sich mein altbekannter Zorn in mir aufstaute. Wir schauten uns an und ich bemerkte, wie eine Hand an meiner innersten Mauer kratzte. Kierans Schultern entspannten sich leicht und ein Hauch von Interesse blitzte in seinen Augen auf. Die Hand versuchte meine Mauer einzureißen, bis Kälte meinen Körper lähmte und der erste Schutzwall zu Eis gefror. Daraufhin fiel er in sich zusammen, wie ein Gletscher, der ins Meer rutschte. Ich machte einen Schritt zurück und verstand nicht ganz, wie das passieren konnte.
»Wie hast du ‒ « Abrupt hörte ich auf zu sprechen, ich wollte nicht zu viel verraten. Wenn er weiter graben würde, würde er mein Versteck finden. Kieran machte zwei Schritte auf mich zu, verringerte unseren Abstand und sah mit hochgezogenen Brauen auf mich herab.
»Benimm dich in Zukunft vor den anderen Novizen, wenn du mit mir sprichst. Sonst überlasse ich dich Nox und seinen fragwürdigen Machenschaften.«
»Wie ihr wünscht, Hoheit«, antwortete ich kurz angebunden. Ohne auf eine Reaktion zu warten, drehte ich mich um und rannte Richtung Wald. Ich musste so schnell wie möglich von Kieran weg, denn ein Kontrollverlust bahnte sich an, den ich keinesfalls wollte. Er wusste, dass ich etwas vor ihm versteckte. So ein Fehler durfte mir nicht noch einmal passieren.
Ich errichtete eine noch stärkere Mauer und stoppte abrupt ab, als ich mitten im Wald stand. Verzweifelt ließ ich mich auf den weichen Waldboden fallen und schlug mit meinen Fäusten auf die Erde ein. Dabei begann der Boden zu beben. Flammen krochen aus meinem Mund und überzogen meine Haut. Elektrische Impulse pochten in meinen Handflächen.
Eins, zwei, drei, vier … zehn.
Meine Atmung stabilisierte sich allmählich. Ich zwang meine Macht tief in mein Inneres zurück, drückte sie weiter hinunter, bis ich sie nicht mehr spüren konnte. Nachdem ich mich beruhigt hatte, richtete ich mich auf, und beeilte mich, zu meiner Gruppe zu kommen. Ich durfte nicht noch einmal zu spät kommen.
Die Novizen verharrten gelangweilt auf einem Holzstand, der um einen Baumstamm führte. Nox befand sich bereits auf dem zweiten Stand und sah mich von oben herab an. Durch seinen großspurigen Blick löste er altbekannte, tiefe, ablehnende Gefühle in mir aus. Er erinnerte mich ein wenig an Maxim mit seiner arroganten Art.
MAELIA´S LISTE
EGAL OB MENSCH ODER DRACHE,
ALLE BEIDE SIND PRAHLENDE GROẞMÄULER.
Kieran kreiste als Drache über den Baumwipfeln und ich wusste, dass er jede Bewegung von mir beobachtete. Als ich die Metallhaken am Mammutbaum hochkraxelte, begann der Erste aus meiner Gruppe, den Parkour zu absolvieren. Nachdem ich oben angekommen war, waren alle anderen bereits bei der nächsten Übung. Keiner der Anwesenden sah zu mir oder schenkte mir Beachtung. Nicht einmal Nox hatte mich noch im Blick und der blaue Drache am Himmel war ebenfalls verschwunden. So unsichtbar hatte ich mich selten gefühlt, so zweitrangig. Oder eher: So 15-rangig.
Das erste Hindernis bestand aus zwei gespannten Seilen, zwischen denen in gewissen Abständen schmale Bretter angebracht waren. Es gab nach wie vor keine Sicherung für uns Novizen. Je länger ich wartete, umso mehr schritt meine Gruppe voran. Manchmal fiel einer herunter, aber das war für die Drachen selbstverständlich kein Problem. Nachdem ich das erste Holzbrett betrat, sprang ich auch schon auf das zweite.
Ich versuchte mich auf die Bretter und den nächsten Holzstand zu konzentrieren. Als ich das letzte Brett erreichte, begann es auch noch zu regnen. Die Novizen rutschten auf der nassen Oberfläche aus und fielen wie abgebrochene, morsche Äste nach unten. Eindrucksvoll verwandelten sie sich im Flug in Drachen, retteten sich so vor einem fatalen Fall.
Nach einem tiefen Atemzug sprang ich zum Holzstand und umarmte den Baum. Der Regen machte den Kletterpark für mich unpassierbar. Und da weder Nox noch Kieran mich im Auge hatten, durfte ich mir keine Fehler erlauben. Herunterzufallen und womöglich in den Tod zu stürzen, stand nicht auf meiner Tagesplanung. Aber ich wollte mich auch nicht wie ein hoffnungsloser Fall durch den Parkour quälen. Nicht mehr.
Ein Gedanke reichte aus und meine Haut lud sich elektrisch auf. Mein Blick ging in den bewölkten Himmel und die Regentropfen reduzierten sich. Ich schloss die Augen und genoss die sanften Sonnenstrahlen, die durch die Baumwipfel auf mich herabfielen. Es wurde immer heißer, bis die Tropfen auf meiner Kleidung verdunsteten und sich als Wasserdampf zurück in den Himmel verzogen.
»Was ist denn jetzt los?«, brüllte Tatsuya, die sich einige Meter vor mir befand und sich statt Regentropfen den Schweiß von der Stirn strich. Die anderen begannen zu quengeln, als die Hitze ihnen alles abverlangte; die Luft schien so schwer und stickig, dass jeder Atemzug zur Herausforderung wurde. Dann wurde es angenehm kühl und ich betrat das nächste Hindernis.
Ich hüpfte auf das erste Fass und fühlte mich wie auf einer Schaukel. Zügig sprang ich auf das zweite Fass und wieder wackelte das ganze Konstrukt. Der Abstand zwischen den sechs Fässern wurde zunehmend größer. Die Höhe versuchte ich zu ignorieren.
Jetzt Angst zu haben, war fehl am Platz.
Nachdem ich auch das Hindernis bewältigt hatte, kam bereits das nächste. Eine Holzwand war zwischen zwei Bäumen befestigt. In der Wand befanden sich runde, handgroße Holzstöpsel, an denen ich mich entlang hangeln musste, um zur anderen Seite zu gelangen. Etwa in der Mitte war ein Stöpsel lose und ich verlor den Halt. Mit aller Kraft versuchte ich mich hochzuziehen, allerdings waberte um meine Finger schwarzer Rauch. Die Berührung fühlte sich an, als würden rasiermesserscharfe Klingen meine Haut zerschneiden.
Nox, dieser Mistkerl.
Ich hatte keine Chance. Ich verlor den Halt. Mit einem grellen Schrei stürzte ich hinab in die Tiefe.
Oh Götter, ich würde sterben. Nein, ich durfte noch nicht sterben. Doch das war unausweichlich, wenn ich den Aufprall auf den Waldboden nicht verhinderte. Ein mürber Ast kreuzte meinen Weg und verhinderte für einen flüchtigen Moment meinen Sturz. Doch durch mein Gewicht, gab der Ast nach und brach in kürzester Zeit. So stürzte ich erneut.
Kieran, bitte.
Kieran, bitte, hilf mir.
Die harte Realität vermischte sich mit Angst, der ich versuchte zu trotzen. Adrenalin schoss durch meinen Körper, als ich kurz davor war den Waldboden zu küssen. Panisch schloss ich die Augen und griff nach meiner Macht, womöglich würde sie mich retten. Sicher war ich mir jedoch nicht.
Zeitgleich hörte ich ein Rascheln, dann blitzte ein Schatten in meinem rechten Augenwinkel auf. Ein Drache flog rasend schnell durch das Gestrüpp und fing mich im letzten Moment auf. Er warf mich mit einer Klaue in die Luft. Ich landete auf seinem goldenen Panzer. Kieran flog zu den Wolken hinauf. Der Wind peitschte mir ins Gesicht, während ich mich an der Rüstung festkrallte.
»Hinsetzen, Maelia.« Er klang sicher. Im Gegensatz zu mir.
»Du hast ziemlich lange gebraucht«, murmelte ich schnaufend und hielt mich notgedrungen an einer Ausbuchtung seiner Panzerung fest.
Einen Moment hielt ich inne. Hatte ich gerade Kieran als Drache in meinem Kopf sprechen hören?
»Du hast deine Mauer fallen lassen. Wieso? Hoch damit.« Wieder hörte ich seine Stimme in meinem Kopf.
Eilig zog ich sie hoch und verdrängte Kieran aus meinen Gedanken. Mit aller Kraft versuchte ich mich an seiner goldenen Rüstung festzuhalten, doch der eisige Wind ließ meine Finger taub werden und ich verlor den Halt. Kieran hob geschickt seinen Flügel an und warf mich mühelos zurück auf seinen Rücken.
Schwarze Drachenschuppen blitzten unter Kierans Körper auf. Wir flogen noch immer gen Sonne und durchbrachen gerade die dichte Wolkendecke. Ich versuchte erneut, mich an seinem Panzer festzuklammern, doch die Kälte ließ das nicht zu. Im nächsten Moment tanzte Nox' Schatten um mich herum und legte sich wie ein Seil um meine Hände. Dadurch band er mich an Kierans Panzer und ich konnte endlich wieder normal atmen.
Die Todesangst schwand und hinterließ lediglich einen kleinen Schatten ihrer Selbst in Form eines Unwohlseins. Doch ich hatte mich zu früh gefreut, schlagartig nahmen beide Drachen an Geschwindigkeit zu und flogen um die Wette. Wie zwei kleine Jungen bekriegten sich die beiden und nahmen sich mit ihren gewaltigen Flügen gegenseitig die Sicht. Es war ein Kopfan-Kopf-Rennen, während ich nur versuchte den Halt nicht zu verlieren.
Heilige Drachenscheiße.
Kieran gewann den Zweikampf und Nox ließ sich zurückfallen, nachdem er einen weiteren Flügelschlag von Kieran ins Gesicht bekommen hatte. Selbstgefällig drosselte Kieran das Tempo und ich schaffte es, mich aufzurichten.
Mir war speiübel.
Nox war aus meinem Sichtfeld verschwunden, der schwarze Rauch blieb jedoch wie feste Griffe um meine Hände. Plötzlich starrte ich fassungslos Richtung Boden, als sich eine kilometerweite Landschaft aus Asche unter uns auftat. Die Stille war bedrückend, die Luft roch verbrannt, alles schien erstarrt zu sein. Das Bild unter mir ließ mich erschaudern. Es war weit und breit kein Leben in Sicht. Die gesamte Umgebung war grau, karg und tot.
Kieran flog herunter und landete auf der staubtrockenen Erde. Nox gesellte sich zu uns und verwandelte sich noch im Flug. Ich sprang von Kierans Rücken herunter und eine Wolke aus Asche nahm mir die Sicht.
»Was ist hier passiert?«, fragte Nox überrascht.
Einen Augenblick später stand Kieran als Fae wie eine unüberwindbare Mauer neben mir. Erneut ließ ich den Blick über das verdorrte Land schweifen.
»Lebten hier nicht die Schreckenswidersacher? Sind vermutlich alle tot, so wie es aussieht«, bemerkte Nox beiläufig.
Kieran sog scharf die Luft ein und bewegte sich nicht. Meine Gedanken kreisten wild in meinem Kopf und nach kurzem Überlegen überkam mich eine erschreckende Erkenntnis. Das war die Stelle, an der ich vor zwei Wochen alles zu Schutt und Asche verbrannt hatte.
»Weiß jeder Fae, dass sich hier die Söldner versteckten?«
Nox sah irritiert zu mir hinüber. »Natürlich. Den Bereich meiden wir«, beantwortete er meine Frage. »Das ist jetzt aber nicht mehr von Belang. Sie sind ja alle tot.«
Natürlich war es von Belang. Warum lebten hier Maloons Soldaten? Warum ließ der Fae-König das zu? Wieso hatten sie das Recht, in Velglas zu sein?
Um Noxˋ nicht auf meine Unwissenheit aufmerksam zu machen, behielt ich meine Fragen für mich. Ich sah auf den versengten Boden, bis mein Blick zu Kieran wanderte. Er hatte mich töten lassen wollen! Und er hatte nicht einmal den Mumm dazu gehabt, es selbst zu tun. Ich biss die Zähne zusammen. Er sah mir in die Augen und der aufkommende Sturm zwischen uns war nervenzerreißend.
Auf keinen Fall durfte Nox etwas davon erfahren. Allerdings kochte meine Wut bereits in mir hoch und es wurde immer anstrengender, sie zu kontrollieren.
MAELIA´S LISTE
DEN TODESSTOẞ SELBST AUSZUFÜHREN IST FÜR DRACHEN
OFFENBAR UNMÖGLICH. SELBST FÜR KÖNIGSKRIEGER.
Rasch wandte ich mich von den beiden ab und ging ein paar Schritte, um Abstand zu gewinnen. Die Stille um mich herum war erdrückend. Lediglich das leise Knistern der Asche unter meinen Füßen war zu hören. Ich spürte einen kalten Windzug auf meiner Haut, der mich einen Moment lang erschaudern ließ. Trotzdem ging ich unbeirrt weiter. Die Erinnerungen an das, was hier geschehen war, drängten sich in meinen Kopf und sorgten für Chaos.
Kieran wollte mich ermorden lassen!
»Weißt du, wer das war?«, fragte Nox den Königskrieger.
»Nein.« Die Antwort von Kieran kam vorschnell und reflexartig. Nox zog die Brauen nach oben, ließ das Gespräch jedoch fallen.
»Ich will wieder zurück«, bemerkte ich leise. »Mir ist kalt.«
»Wir haben Spätsommer und die Sonne scheint«, entgegnete Nox verwirrt.
Tatsächlich war mir nicht warm, mir war auch nicht kalt. Es war eine Überforderung, die mich einnahm, der ich lediglich entfliehen wollte. Wie auf Kommando nahmen grauschwarze Wolken den Himmel ein. Es begann zu regnen, eine kühle Brise zog auf.
Nachdem sich das Wetter dafür entschieden hatte, zu einem Gewitter mit Starkregen zu werden, traten wir drei den Heimweg an. Es wurde auf dem Heimflug kein Wort gesprochen, als hätten die Tropfen jeden einzelnen zum Schweigen verdonnert. Kieran setzte mich auf unserer Veranda ab und verwandelte sich zurück, während sich Nox in sein eigenes Baumhaus verkroch. Im strömenden Regen standen Kieran und ich uns gegenüber. Unsere Kleidung war durchnässt; unsere Blicke waren fest und entschlossen.
»Du wolltest mich opfern. Du hast mich mit Absicht an den Waldrand geführt. Dein Plan war es, dass mich die Schreckenswidersacher finden und töten. Besser gesagt, du wolltest mich dir entledigen, ohne dir dabei die königlichen Hände schmutzig zu machen!«
»Das war, bevor ich erfahren hatte, wer und was du bist.« Kierans Stimme klang rau, kleinlaut.
Ein empörtes Lachen entstieg mir. »Spielt das eine Rolle? Es ist doch egal, wer oder was ich bin. Wenn du mich so sehr hasst, dass du mich loswerden willst, dann erledige es in Zukunft wenigstens selbst.«
»Bist du jetzt etwa wütend auf mich? Du wolltest mich doch als Erstes töten? Denk daran, dass du mich bestohlen, verletzt und entführt hast.«