Krisenkinder - Silke Fokken - E-Book

Krisenkinder E-Book

Silke Fokken

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie die Pandemie Kinder und Jugendliche belastet – und was wir jetzt für sie tun müssen

Schulen geschlossen, Spielplätze abgesperrt, Treffen mit Freunden und Besuche bei den Großeltern kaum möglich: Nach zwei Jahren Pandemie beginnt sich abzuzeichnen, welche Folgen der lange Ausnahmezustand für Kinder und Jugendliche hat. Hier erzählen sie selbst, wo sie sich allein gelassen und abgehängt fühlen, aber auch, welche Chancen sich für sie ergeben haben. Untermauert mit zahlreichen aktuellen Studien, Expertenaussagen und Best-Practice-Beispielen ist dieses Buch ein Wegweiser für Eltern, Erzieher und Lehrer, wie wir unsere Kinder unterstützen können, und zugleich ein Appell an die Politik, ihre Haltung zu Kindern grundsätzlich zu überdenken.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 472

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Schulen geschlossen, Spielplätze abgesperrt, Treffen mit Freunden und Besuche bei den Großeltern kaum möglich: Nach zwei Jahren Pandemie beginnt sich abzuzeichnen, welche Folgen der lange Ausnahmezustand für Kinder und Jugendliche hat. Hier erzählen sie selbst, wo sie sich allein gelassen und abgehängt fühlen, aber auch, welche Chancen sich für sie ergeben haben.

Untermauert mit zahlreichen aktuellen Studien, Expertenaussagen und Best-Practice-Beispielen ist dieses Buch ein Wegweiser für Eltern, Erzieher und Lehrer, wie wir unsere Kinder unterstützen und wieder stärken können, und zugleich ein Appell an die Politik, ihre Haltung zu Kindern grundsätzlich zu überdenken.

Silke Fokken, Jahrgang 1972, ist Redakteurin im SPIEGEL-Ressort Deutschland/Panorama, Schwerpunkt Bildung. Sie hat Neuere deutsche Literatur, Publizistik und Politikwissenschaft in Münster und Berlin studiert (mit Zwischenaufenthalt in Großbritannien). Nach einem Volontariat beim SFB arbeitete sie zunächst beim RBB-inforadio, danach viele Jahre als freie Journalistin, unter anderem für die Deutsche Presse-Agentur und die ZEIT. 2016 fing sie bei SPIEGEL.de an. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Besuchen Sie uns auf www.dva.de

Silke Fokken

KRISEN KINDER

Wie die Pandemie Kinder und Jugendliche verändert hat und was sie jetzt brauchen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 by Deutsche Verlags-Anstalt, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München,

und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Grafiken: Peter Palm, Berlin

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Covermotiv: DEEPOL by plainpicture/Markus Mielek (vorne);DEEPOL by plainpicture (hinten)

Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN978-3-641-28837-2V002

www.dva.de

Inhalt

Die Corona-Krise in Kürze

Vorwort

1 Was von dem Leben im Kokon bleibt

Die Krise als Risiko für die kindliche Entwicklung

Homeoffice: Zwischen Backlash und Freiraum

Allein(erziehend): Stresstest mit Folgen

Vergessen?

Pubertät als Spaziergang – mit den Eltern

Hinter verschlossenen Türen: Mehr Gewalt und Missbrauch

»Manche Fälle kommen erst nach Jahren ans Licht«

2 Wie die Pandemie die Psyche belastet

Ängste, Störungen, Depressionen

Medienkonsum: Gefangen im Netz

»Eltern haben keinen Anspruch auf ein glückliches Kind«

Utopien als Antidepressivum bei Schulabstinenz

Resilienz – Immunsystem der Seele

3 Welche Folgen die Krise fürs Lernen hat

Von Anfang an ausgebremst: »Schildkröten« in der Schule

Die »abgehängten« Kinder und die Probleme beim Aufholen

Welche Chancen die Schule eröffnete, als sie geschlossen war

4 Wo die Politik jetzt umsteuern muss

»Wir müssen klären, was Gerechtigkeit heißt«

Schulschließungen & Co.: Die Missachtung von Kindern beim Krisen(miss)management

Gesellschaftliche Missstände im Licht der Pandemie – und wie wir sie beseitigen

Ausblick: Es ist an der Zeit

 

Beratungsstellen

Danke!

Anmerkungen

Literatur

Die Corona-Krise in Kürze

30. Januar2020 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ruft angesichts der Coronavirus-Pandemie eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite aus.

16. März2020 Kitas, Schulen, Hochschulen, aber auch fast alle anderen Bereiche des öffentlichen Lebens wie Kinos, Theater, Sportstätten, Schwimmbäder und Spielplätze werden geschlossen. Offen bleiben etwa Supermärkte, Drogerien, Tankstellen, Banken, Friseure. Für Krankenhäuser und Pflegeheime werden strikte Besuchsbeschränkungen verhängt.

22. März2020 Der »erste Lockdown« greift: Kontakte außerhalb des eigenen Hausstandes sind auf ein »absolut notwendiges Minimum« zu reduzieren. Gastronomiebetriebe, Friseure, Kosmetikstudios müssen schließen. Ziel ist, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern.

4. Mai2020 Deutschland öffnet schrittweise und unter Auflagen Geschäfte, Gastronomie, Sport- und Kultureinrichtungen. Auch die meisten Schulen machen nach und nach wieder auf. Prioritär sollen Abschlussklassen beschult werden. Schülerinnen und Schüler werden in der Folge meist im Wechselmodell unterrichtet: abwechselnd in Kleingruppen. Ab dem 11. Mai soll die Notbetreuung in Kitas erweitert werden. Bis zu den Sommerferien soll jedes Kind am Übergang zur Schule noch einmal die Kita besuchen können.

August/September2020 »Neue Normalität«: Schülerinnen und Schüler werden nach den Sommerferien in der Regel im Präsenzunterricht in voller Klassenstärke nach voller Stundentafel unterrichtet. Es gibt »feste Kohorten«. In vielen Schulen gilt eine Maskenpflicht.

28. Oktober2020 Die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) beschließt einen »leichten Lockdown« als »Wellenbrecher« angesichts steigender Infektionszahlen. Erneut müssen etwa Gastronomie, Freizeitstätten, Kosmetikstudios schließen.

13. Dezember2020 »Zweiter Lockdown«: Unter anderem müssen Einzelhandel und Friseure zumachen. Private Treffen werden auf den eigenen und einen weiteren Haushalt, jedoch auf maximal fünf Personen, beschränkt. Ausnahme: Kinder bis 14 Jahre. Die Weihnachtsferien werden vorgezogen. Kitas und Schulen sollen ab dem 16. Dezember 2020 bundesweit geschlossen bleiben, zunächst bis zum 10. Januar.

5. Januar2021 Die MPK tagt in der Folge alle zwei, drei oder vier Wochen und verlängert die Maßnahmen. Kitas und Schulen sollen weiter geschlossen bleiben. In mehreren Bundesländern dürfen etwa die Abschlussklassen vorrangig zurück in die Schulen.

10. Februar2021 Bundeskanzlerin Angela Merkel zieht sich aus der Schulfrage raus. So entscheidet jedes Land für sich. Einige Länder öffnen ihre Schulen schrittweise früher als andere. Die mittleren Jahrgänge sind mancherorts bis April oder Mai im Distanzunterricht. Friseure dürfen am 1. März wieder öffnen.

23. April2021 »Bundesnotbremse«: Bei einer lokalen 100er-Sieben-Tage-Inzidenz werden etwa soziale Zusammenkünfte (wieder) auf einen Haushalt und eine weitere Person beschränkt, unter 14-Jährige nicht mitgerechnet. In Schulen wird ab einer 165er-Inzidenz Distanzunterricht erteilt. Mögliche Ausnahmen: Abschlussklassen und Förderschulen.

August/September2021 Die meisten Schülerinnen und Schüler gehen nach den Sommerferien weitgehend regulär zur Schule. Vielerorts gilt eine Test- und Maskenpflicht.

18. November2021 Nach der Bundestagswahl beschließt die designierte Regierung von SPD, FDP und Grünen ein neues Infektionsschutzgesetz und lässt die »pandemische Lage von nationaler Tragweite« Ende November auslaufen. Ausgeschlossen werden Ausgangssperren oder die pauschale, flächendeckende Schließung von Geschäften, Gastronomie oder Schulen. Punktuell soll diese aber möglich sein. In Sachsen etwa sind wegen hoher Infektionszahlen etliche Schulen ganz oder teilweise geschlossen.

30. November2021 Das Bundesverfassungsgericht weist Beschwerden gegen das vollständige oder teilweise Verbot von Präsenzunterricht zum Infektionsschutz nach der bis zum 30. Juni 2021 geltenden »Bundesnotbremse« zurück. Gleichzeitig erkennt es »ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung an«.

Vorwort

»Die Pandemie wird einen Einschlag hinterlassen! Was das bedeutet, was jetzt passiert, können wir noch gar nicht überblicken«, warnte im ersten Corona-Herbst Wolfgang Kölfen, Chefarzt und Vizepräsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte.1 Da hatte Deutschland die ersten wochenlangen Kita- und Schulschließungen hinter sich und weitere vor sich, ein normaler Alltag war in weiter Ferne, das ganze Leben im Ausnahmezustand. Nichts war mehr verlässlich, nichts mehr planbar.

Als Bildungsredakteurin beim SPIEGEL habe ich seit Beginn der Pandemie sehr nah miterlebt, wie unglaublich belastend dieser Zustand für viele Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern war. Mütter und Väter erzählten mir, wie sie an dem Spagat zwischen Beruf und Betreuung verzweifelten, »am Ende ihrer Kräfte« waren. Wie sie immer wütender auf die Politik wurden, weil sie ihnen so viel zumutete. Wie sie mit ihren Kindern mitfühlten, die unter Einsamkeit litten, die aggressiver oder trauriger wurden.

Lehrkräfte berichteten von ihrem Dauereinsatz, als die Politik den Schulbetrieb in einen stets anderen Modus schaltete: Distanz-, Wechsel- oder Präsenzunterricht. Modelle, die es bis dahin gar nicht gegeben hatte. Die Lehrkräfte hatten Sorge, Kinder könnten ohne den täglichen Besuch der Kita oder Schule abgehängt werden. Ein Hamburger Schulleiter stellte eine »Late Night Show« bei YouTube auf die Beine und trat als Host auf, damit sich seine Schülerinnen und Schüler weiter als Teil einer Gemeinschaft auf dem »digitalen Pausenhof« fühlen konnten.

Viele andere Pädagoginnen und Pädagogen2 richteten WhatsApp-Gruppen ein, luden zu Videokonferenzen ein, suchten per Telefon das Gespräch mit den Kindern, gaben notfalls an der Haustür Aufgaben ab. Wohlahnend, dass manche Kinder trotzdem den Anschluss verlieren würden, und enttäuscht von manchem Kollegen, der abgetaucht war. Sie mühten sich um Schadensbegrenzung. Denn, so viel war klar, der Ausnahmezustand würde Schaden anrichten, den »Einschlag« hinterlassen.

Fast zwei Jahre nach Beginn der Pandemie zeichnet sich ab, wie dieser Einschlag aussieht. Wie es Kindern und Jugendlichen nach dem Ausnahmezustand geht, was sie von uns als Eltern, als Erzieher, als Lehrerinnen oder anderen Menschen, die mit ihnen zu tun haben, brauchen. Was sie von uns als Gesellschaft, von der Politik, benötigen und vor allem welche Lehren wir alle der Krise ziehen müssen.

All diesen Punkten nachzugehen, war der Antrieb für dieses Buch. Bestärkt wurde er – bei allem Verständnis für die politischen Bestrebungen, die Pandemie einzudämmen – von einer im Laufe der Monate immer größer werdenden Fassungslosigkeit, was den Jüngeren, dieser vulnerablen Gruppe, in der nicht enden wollenden Krise zugemutet wurde. Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen hatten – anders als stets behauptet – offenkundig nicht die »oberste Priorität«, ungeachtet der gravierenden, sich immer deutlicher abzeichnenden Folgen.

Die Leistungsschere riss beim Lernen immer weiter auf, die psychische Belastung war immens, Fälle von Missbrauch und Gewalt häuften sich. In Praxen und Kliniken für Kinder- und Jugendpsychotherapie herrscht starker Andrang wegen Zwangsstörungen, Ängsten, suizidalen Gedanken. Kinder und Jugendliche sind quer durch alle sozialen Milieus betroffen, wenn auch nicht gleichermaßen. Die Pandemie und der damit verbundene massive politische Eingriff der Kita- und Schulschließungen sowie sonstigen Kontaktbeschränkungen sind auf extrem unterschiedliche Menschen und Lebenswelten gestoßen, mit den erwartbaren Auswirkungen.

Diejenigen, die ohnehin in benachteiligten Verhältnissen leben, die beengt wohnen, deren Eltern unter Existenzsorgen leiden, psychisch vorbelastet sind, überfordert, vielleicht sogar gewalttätig, haben es besonders schwer. Diejenigen, die privilegierter aufwachsen, stecken die Belastungen oft leichter weg. Manche genossen sogar die neuen Freiräume ohne das tägliche schulische Korsett.

Einmal mehr springen uns in der Krise die Missstände entgegen, die in Deutschland lange vor Corona existierten und die sich nun umso gravierender auswirken: soziale Ungleichheit, umfassende Kinderarmut, starke Bildungsungerechtigkeit, ein dringend reformbedürftiges Schulsystem und eine politische Ignoranz gegenüber Kindern und Jugendlichen, insbesondere aus sozioökonomisch benachteiligten Familien, die sich seit Jahren in Deutschland eingerichtet hat. All dies muss sofort ein Ende haben. Das ist das Mindeste, was wir der Jugend nach der ganzen Misere schuldig sind.

Knapp zwei Jahre nach Beginn der Pandemie will dieses Buch Bilanz ziehen und zeigen, wie sich die Krise auf ganz unterschiedlichen Ebenen auswirkt: als starker Eingriff in die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, als große psychische Belastung, als Bremse beim Lernen – und als das berühmte »Brennglas«, unter dem politische und gesellschaftliche Missstände grell sichtbar werden, verbunden mit dem dringenden Auftrag, diese zu beseitigen.

Das Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Auswirkungen etwa, die die Pandemie für junge Erwachsene, Auszubildende und Studierende hat, verdienen ein eigenes Buch. Auch gesundheitliche Folgen wie Long-Covid werden nicht berücksichtigt, weil die Dynamik an neuen medizinischen Erkenntnissen noch rasanter verläuft als in anderen Bereichen und Langzeitfolgen noch nicht erforscht sind.3

Manche andere Entwicklung ist bei Redaktionsschluss Mitte November 2021 ebenfalls kaum absehbar. Die »vierte Welle« ist da, die neue Virusvariante Omikron sorgt für Verunsicherung. Der Virologe Christian Drosten spricht von einer »Notfallsituation«. Er erwarte einen sehr anstrengenden Winter »mit neuen, sagen wir ruhig: Shutdown-Maßnahmen«.4 Die Ampel-Koalition beteuert, bundesweite Schulschließungen solle es nicht geben, aber in Regionen mit sehr hohen Fallzahlen wie in Sachsen sind bereits etliche Schulen geschlossen. Winter is coming, und es zeichnet sich ab: Kinder könnten die Zeche dafür zahlen, dass sich nicht mehr Erwachsene haben impfen lassen und die Politik das Krisenmanagement hat schleifen lassen. Die Pandemie ist längst nicht vorbei. Diese Bilanz ist eine Zwischenbilanz.

Besonders wichtig war mir, Kinder und Jugendliche, die sich so oft nicht gehört fühlten, zu Wort kommen zu lassen. Manche sagten erst zu, dann doch wieder ab. Sie steckten zu tief in ihren Problemen, etwa in Depressionen, als dass sie schon darüber sprechen konnten. Anderen fiel es leichter. Zwischen August und November 2021 habe ich gut zwei Dutzend Menschen im Alter zwischen fünf und 18 Jahren in verschiedenen Teilen Deutschlands besucht. Es waren berührende Begegnungen mit klugen, empathischen Menschen, die viel zu sagen haben.

Manche Antwort ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, etwa auf die Frage, wie es geht. »Gut«, sagen die meisten, oder »nee, läuft«. Das kann stimmen, ist häufig aber offensichtlich von dem Wunsch getrieben, nicht allzu verletzlich dazustehen oder anderen keine Sorgen zu bereiten, etwa den eigenen Eltern. Weil die Kinder und Jugendlichen sehr persönliche Einblicke gewähren, sind die meisten Namen auf ihren Wunsch oder den ihrer Mütter und Väter geändert.

Neben diesen Interviews knüpft das Buch an Gespräche mit Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern sowie Pädagogen, Psychologinnen und Bildungsforschern in der SPIEGEL-Berichterstattung, auch von Kollegen und Kolleginnen, seit Krisenbeginn an, berücksichtigt einschlägige Studien, Umfragen, Presseberichte und Interviews in verschiedenen Medien, um die öffentliche Diskussion mit abzubilden, die sich Tag für Tag weiterdreht, neue Zahlen, neue Erkenntnisse liefert.

Dieses Buch will alarmistisch im besten Sinne sein. Es geht keineswegs darum, eine vermeintlich »verlorene Corona-Generation« zu beklagen. Ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen wird vermutlich halbwegs unbeschadet durch die Zeit kommen. Ein Aufschrei ist dennoch angebracht. Einem Teil der Kinder und Jugendlichen geht es wirklich schlecht, er benötigt dringend Hilfe. Die Krise muss uns alle außerdem aufrütteln.

Der Umgang mit Kindern und Jugendlichen in der Pandemie steht symptomatisch für eine Missachtung ihrer Rechte und Bedürfnisse hierzulande, die nicht länger zu ertragen ist. So geht es nicht weiter. Immerhin hat die Krise gezeigt, was sich konkret ändern muss.

Dieses Buch enthält zahlreiche Empfehlungen von Expertinnen und Experten, wie Eltern, Erzieher und Lehrerinnen helfen können, Belastungen der Pandemie abzufedern, wo wir unsere Haltung zu Kindern grundsätzlich überdenken sollten – und wo die Politik dringend umsteuern muss. »Auf Sicht fahren« funktioniert jedenfalls schon lange nicht mehr. Der neue Kurs muss klar auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zielen. Im Großen wie im Kleinen. Best-Practice-Beispiele zeigen, was alles an Veränderung möglich ist, wenn Menschen einfach mal anfangen.

1 Was von dem Leben im Kokon bleibt

»Unglaublich, wie groß das Meer ist. Die ersten Menschen gingen nicht allein an den Strand, sondern sie fragten andere, ob sie auch mitkämen. Dann fassten sie sich an den Händen und gingen zusammen zum Meeresufer. Zu zehnt müssten wir mindestens sein, sagten sie, damit wir das Meer sehen können, einer allein schafft es nicht.«

Franz Hohler5

Die Krise als Risiko für die kindliche Entwicklung

Menschen sind nicht dafür geschaffen, allein zu sein, Kinder schon gar nicht. Hätte es eines Experiments bedurft, um diese These zu beweisen, hätte sich die Wissenschaft kaum ein überzeugenderes Setting ausdenken können als monatelange Kita- und Schulschließungen, zusätzlich massive Kontaktbeschränkungen. Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, Großeltern, Freunde, Nachbarn, die Erzieherin, den Lehrer, die Fußballtrainerin oder den Physiotherapeuten, bitte alle nicht treffen. Die Kleinfamilie möge unter sich bleiben.

Von Cocooning – auf Deutsch: verpuppen, sich einspinnen – ist in der Biologie die Rede, wenn Raupen einen Kokon um sich herum bilden, um dann später, vollständig verwandelt, als Schmetterling in die Welt zu fliegen. Den Begriff »Cocooning« prägten aber auch Trendforscher6 und meinten damit, dass sich Menschen vermehrt in die eigenen vier Wände zurückziehen, die unter Umständen als bedrohlich wahrgenommene Umwelt aussperren, ihr gar Gleichgültigkeit entgegenbringen, es sich drinnen gemütlich machen.

Schon vor Corona war in Teilen der Bevölkerung immer mal wieder eine Tendenz zum Cocooning zu beobachten. Während der Pandemie jedoch zogen sich Millionen Menschen zurück. Der Rückzug wurde von der Politik über weite Strecken verordnet, mindestens angemahnt. #zuhausebleiben galt für die gesamte Bevölkerung zwecks Eindämmung der Infektionsgefahr als Leben rettende Maßnahme.

Zu den unfreiwilligen Heldinnen und Helden gehörten in diesem Szenario Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern, die mit der Isolation, mit dem Verzicht auf ihr normales Leben, einen wesentlichen Beitrag leisten sollten, damit sich das Coronavirus nicht weiter in der Bundesrepublik ausbreitete. Von Anfang an war jedoch absehbar, Kinder und Jugendliche würden von dem »Kampf gegen die Pandemie«, wie es im Politikerjargon hieß, Verletzungen davontragen.

»Eine gesunde Entwicklung ist im Idealfall eben nicht reduziert auf den Mikrokosmos Kleinfamilie, sondern eingebettet in mehrere Systeme, die gut aufeinander abgestimmt sind«, sagt Claudia Friedrich, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Tübingen. Eltern, Familie, Kita, Schule, Freunde – alle bilden das berühmte »Dorf«, das es laut einem afrikanischen Sprichwort braucht, um ein Kind großzuziehen. Fällt dieses Dorf weg, steigt das Risiko für eine ungesunde Entwicklung erheblich. Der Münchner Kindermediziner Johannes Hübner warnte: »Die Kollateralschäden für Kinder durch die Schulschließungen sind enorm.« So entstünden Defizite durch verpassten Schulstoff, es gebe negative Auswirkungen auf die Entwicklung. Man beobachte zudem eine »erschreckende Zunahme von Kindesmisshandlung und – missbrauch«7.

Wie schwer die Verletzungen der Pandemie bei einzelnen Kindern und Jugendlichen sind, fällt in der Bilanz sehr verschieden aus und hängt stark von den Menschen und ihren Lebensumständen ab. Meine Gespräche mit Kindern und Jugendlichen zeigen ebenso wie Studien, dass einige von ihnen die Belastungen besser abfedern konnten, manche sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen, während andere unter den Folgen leiden, teils massiv.

Bisher lässt sich nur ahnen, welchen Abdruck Corona in ihrem späteren Leben hinterlässt und was die Krise gesamtgesellschaftlich verändert hat. Fest steht schon jetzt, dass die Pandemie soziale Unterschiede und Ungerechtigkeiten offenbart und verschärft hat und dass sie – unabhängig davon – stark in die altersgerechte Entwicklung aller Kinder und Jugendlichen eingegriffen hat.

Exkurs: Die Entdeckung der Kindheit

Mit Blick auf die Menschheitsgeschichte ist die Erkenntnis, die frühen Jahren seien besondere im Leben eines Menschen, noch neu. Über Jahrtausende wurden Kinder als kleine Erwachsene gesehen und als Arbeitskräfte eingesetzt. Im Mittelalter ging man davon aus, dass die frühen Jahre eine »Übergangszeit waren, die schnell verging und die man schnell vergaß«, wie Philippe Ariès in Geschichte der Kindheit8 schrieb. Erst ab dem 15./16. Jahrhundert bildete sich demnach langsam die »Familie«, wie wir sie heute kennen, als Lebensgemeinschaft von Eltern und Kindern mit engen Beziehungen aus.

Eine moderne Vorstellung von Kindheit, wonach Kinder besonderen Schutz benötigen und Raum, um sich frei zu entwickeln, entstand etwa ab dem 17. Jahrhundert. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau schuf dazu mit Émile oder Über die Erziehung ein Werk, auf dem viele spätere Gedanken aufbauten. Er betonte darin, dass Kindheit eben »kein bloßes Durchgangsstadium zum Erwachsensein ist«9.

Rousseau rief dazu auf, der kindlichen Entwicklung möglichst ungestörten Lauf zu lassen, frei von den Zwängen der Erwachsenen. Bei der Erziehung sei »an den kindlichen Zustand zu denken«, aus dem der Mensch sich erst allmählich entwickele.10 Danach schufteten zwar zahlreiche Kinder weiter in Bergwerken und Fabriken, aber der Gedanke an die Besonderheit des »kindlichen Zustandes« war gepflanzt.

Im 18. und 19. Jahrhundert rückten Kinder und die Kindheit verstärkt in den Fokus. In der Folge setzten sich zahlreiche Reformpädagoginnen und – pädagogen wie die Italienerin Maria Montessori (1870–1952) mit der kindlichen Entwicklung auseinander. Die Medizinerin ging etwa von einer von der Tierwelt auf den Menschen übertragenen Theorie »sensitiver Perioden« aus, wonach in Kindern eine Art innerer Konstruktionsplan angelegt ist: Ihr Interesse richte sich auf Gegenstände, die sie jeweils gerade für ihr geistiges Wachstum brauchen. Erwachsene sollten die nötigen Impulse liefern.11

Der Schweizer Jean Piaget (1896–1980) stellte später ebenfalls Thesen auf, wonach kindliches Lernen in Stadien verläuft. Die Entwicklung vollzieht sich demnach im Austausch des Kindes mit seiner Umwelt. Die jeweils höhere Stufe setzt die vorangehende voraus, kann also nicht übersprungen werden.12 Piaget gilt als Pionier der Entwicklungspsychologie, die bis heute grundsätzlich an solchen Modellen festhält.

Man muss sich dies in Erinnerung rufen, weil zu Beginn der Corona-Pandemie von vielen Menschen nicht verstanden wurde, warum Kinder angesichts der massiven Kontaktbeschränkungen eine »vulnerable Gruppe« sein und warum sie Schaden davon tragen könnten, nur weil sie für längere Zeit auf das Leben mit ihren Eltern zurückgeworfen waren. In manchem Leserbrief an den SPIEGEL klang völliges Unverständnis durch, mitunter sogar der Vorwurf, den Eltern sei einfach die Betreuung zu anstrengend. Man ignorierte, dass Kinder in einer besonderen Lebensphase getroffen wurden.

Der Kontakt zu Gleichaltrigen etwa ist »nicht nur für das Wohlbefinden von Kindern zentral«, sagt die Entwicklungspsychologin Friedrich, »sondern auch für ihre altersgerechte Entwicklung.«

Schmerzlich vermisst: Freundinnen und Freunde

Eine Doppelhaushälfte in Frankfurt am Main: Ludwig, 9, erzählt, dass sein allererster und bester Freund aus der Kindergartenzeit sich während der Pandemie fast nur noch mit einem anderen Jungen getroffen habe. »Wegen Corona.« Man merkt, wie schwer Ludwig das gefallen ist. Er sitzt neben seiner Schwester Felicitas, 7, auf dem Sofa, wenige Wochen nachdem das neue Schuljahr in Hessen wieder angefangen hat, und lässt mit ihr die Corona-Zeit Revue passieren.

Felicitas sagt, sie habe ihre beiden besten Freunde nur noch »sehr, sehr selten« gesehen, obwohl die in der Nähe wohnen. Sie hätte gerne zu dritt gespielt, so wie sonst, »zum Beispiel dass wir draußen sind, und der Boden ist aus Wasser, und überall sind Haie«. Im Distanzunterricht habe sie zwar oft Pause machen können, »aber ohne Freunde. Da war ja keiner.« Felicitas guckt weg, als sie das sagt. Sie habe ihre Freunde schon sehr vermisst. Das ist für sie im Rückblick auf die bisherige Corona-Zeit der wundeste Punkt.

Sich vor Haien in Sicherheit bringen macht allein keinen Spaß, wie so vieles andere. Was besser geht, ist Barbie spielen. Puppen miteinander sprechen, streiten und lachen lassen. Das war Felicitas liebstes Spiel während der Corona-Zeit und ist es immer noch, wie sie sagt. In einem extra Spielzimmer steht ihr Barbie-Haus, fast genauso groß wie sie selbst. Zwei große Barbies und eine kleine sollen hier wohnen. Mutter, große Schwester und kleine Schwester. »Ich habe zwar auch Ken, aber der spielt nicht mit«, erklärt Felicitas, zeigt den Barbie-Mann kurz her, wirft ihn dann wieder in die Spielkiste.

Sie hat neben Ludwig noch zwei Brüder, Maximilian, 5, und Leopold, 10. Der Kleine sitzt zwei Meter von seiner Schwester entfernt vor einer Playmobilburg. Die beiden Großen lesen oben in ihrem Kinderzimmer Comics. Ob sie sich gut mit ihren Brüdern versteht? »Ja, und so stören sie ja nicht.« Dass sie Geschwister hat, findet Felicitas gut. Sie spiele schon manchmal mit ihnen. Sie selbst wolle später mal acht Kinder haben. Nur, Brüder sind eben Brüder. Freundinnen und Freunde können sie nicht ersetzen.

In allen Gesprächen mit den Kindern und Jugendlichen ist die Trennung von den Freunden, die Sorge um Freundschaften die schmerzlichste Erinnerung im Rückblick auf die Corona-Maßnahmen. Das gleiche Bild zeigt sich in Umfragen: Dass sie ihre Freundinnen und Freunde vermissten, war für die übergroße Mehrheit der Kinder und Jugendlichen, 85 Prozent, in den ersten Monaten der Pandemie das größte Problem13. Die Ungewissheit, wie lange dieser Zustand noch anhalte, beklagten 60 Prozent.

Im Sommer und Herbst 2020 kehrte die Gesellschaft zwar zu einer »neuen Normalität« zurück, aber schon im darauffolgenden Winter wurden Kitas und Schulen erneut für mehrere Wochen geschlossen, soziale Kontakte stark beschränkt. »Wie viele Haushalte wären wir dann?« wurde die neue Leitfrage, bevor es überhaupt zu privaten Treffen kam. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel schlug im Herbst 2020 gar die »Ein-Freund-Regel« vor.14 Menschen, auch Kinder, sollten sich wegen steigender Corona-Infektionszahlen nur mit einem bestimmten Freund oder einer Freundin treffen dürfen. Die Idee wurde zwar schnell verworfen, von manch vorsichtigen Eltern aber trotzdem umgesetzt, so dass sich manches Kind ausgeschlossen fühlte.

Fast alle Aktivitäten, die kindliches Miteinander prägen, fielen aus: Laternelaufen, Halloween, Geburtstage, Vereinssport. Kein Wunder, dass in der COPSY-Studie (Corona und Psyche) vier von fünf Kindern und Jugendlichen angaben, ihre sozialen Kontakte seien deutlich zurückgegangen. Zwei von fünf sagten, die Beziehung zu Freunden habe sich verschlechtert.15

Eine gewisse Traurigkeit darüber ist auch Monate später noch zu spüren, nicht zuletzt, weil manche Freundschaft offenbar unwiederbringlich in die Brüche gegangen ist. Weil noch unsicher ist, wie es mit anderen Freundschaften angesichts andauernder Corona-Maßnahmen weitergeht. Und weil manche Kinder nicht vergessen haben, wie einsam sie sich ohne ihre Freunde gefühlt haben, als sie sie besonders dringend gebraucht hätten.

Die siebenjährige Pia,16 lebt im Osten von Berlin. Kurz vor den ersten Schulschließungen trennten sich ihre Eltern, ihre Mutter zog aus. »Ich habe mich sehr doll allein gefühlt und meine Freunde sehr, sehr vermisst«, sagt Pia, als sie fast anderthalb Jahre später auf der Bettkante sitzt und mehrere Sorgen rund um die Pandemie, vor allem aber um diese Trennung loswerden möchte, die sie weder Mama noch Papa sagen will. »Aber bitte als Geheimnis behalten«, sagt Pia, »weil sonst vielleicht Mama auf Papa wütend wird oder umgekehrt.«

Pia hätte diese Sorgen vielleicht gerne ihrem Freund Jannes anvertraut, dessen Eltern auch getrennt sind. Oder sie hätten zusammen gespielt und ihre Sorgen für eine Weile vergessen. Aber das ging wegen Corona eben sehr lange nicht. Pia war zurückgeworfen auf das Leben mit ihrem Vater, den Geschwistern und ihrer Mutter, die sie alle zwei Wochen besucht; alle sind stark von der Trennung belastet. Mit Jannes ist die Freundschaft nun auch nicht mehr so, wie sie mal war, findet Pia, obwohl sie sich längst wieder treffen dürfen. »Er ärgert mich jetzt öfter«, sagt sie, »aber ich mag ihn trotzdem noch.«

Alte Freundschaften halten und neue knüpfen ist unter Pandemiebedingungen unter Umständen gar nicht so einfach. Beatrix Hellwig, die Mutter von Leopold, Ludwig, Maximilian und Felicitas in Frankfurt fragt sich, wie gut ihren Kindern dies gelingt. »Das läuft bei Felicitas bisher etwas schleppend«, findet sie. Felicitas ist erst wenige Monate vor den zweiten Schulschließungen eingeschult worden, ohne andere Kinder zu kennen. Inzwischen ist sie in der zweiten Klasse, hatte aber noch keinen Tag »normal« Schule.

Es herrscht Maskenpflicht, die Jahrgänge müssen auf dem Schulhof unter sich bleiben, nach Kohorten getrennt. Felicitas kann deshalb nicht mit ihren Freundinnen aus der ersten Klasse spielen. Freundschaften mit Kindern aus ihrer eigenen Klasse sind zarte Pflänzchen, auch weil die Zweitklässler meist Masken tragen, während sie versuchen, sich besser kennenzulernen. Wenn Felicitas sich etwas wünschen kann, dann ist es vor allem dies: dass der Schulhof nicht mehr unterteilt ist und sich alle Kinder mischen dürfen. Leopold hingegen sagt zwar, er habe im Lockdown vor allem vermisst, dass er sich nicht täglich mit seinem besten Freund treffen konnte, draußen sein, im Park auf Bäume klettern. »Aber jetzt«, sagt Leopold, »ist alles wieder wie vorher.« An seiner neuen Schule habe er auch schon Freunde gefunden: »Mir fällt das leicht.«

Zeitfenster für soziales Lernen verpasst?

Wie gut Kinder den gesellschaftlichen Ausnahmezustand nach ein paar Monaten abhaken können, hängt der Wissenschaft zufolge stark vom Alter der Kinder, ihrer Persönlichkeit und ihren Lebensumständen ab. Grundsätzlich gilt: Kinderfreundschaften etwa sind nicht nur wichtig, um sich nicht allein zu fühlen, um Gleichgesinnte zu haben, mit denen sich über Witze lachen lässt, die kein Erwachsener lustig findet. Sie sind auch wichtig für soziales Lernen.

Werden Gefühle bei Babys und Kleinkindern noch ausschließlich über die Bezugspersonen reguliert, entwickeln ältere Kinder im Miteinander mit anderen nach und nach eigene Strategien. Kinder beobachten, wie sich andere verhalten, wie sie mit Frust und Freude umgehen. Daraus ziehen sie Schlüsse. Das Miteinander ist unter anderem wichtig, um die eigenen Gefühle irgendwann gut im Griff zu haben, nicht bei Kleinigkeiten auszurasten. Stichwort Emotionsregulation.

Im sozialen Austausch mit anderen, etwa im Rollenspiel, lernen Kinder, dass andere eine Perspektive haben können, die sich von ihrer unterscheidet. Sie üben, Regeln aufzustellen und einzuhalten. Im Streit trainieren sie, starke Gefühle auszuhalten, Grenzen anderer zu erkennen. »Das kann ein Kind natürlich auch im Umgang mit Erwachsenen lernen«, sagt die Neurobiologin Nicole Strüber17, »aber aufgrund des Autoritätsgefälles ist es für Kinder dann schwerer, die Sichtweisen der anderen zu begreifen. Das ist nicht das Gleiche.«

Kinder messen und vergleichen sich, üben, sich in eine Gruppe einzufügen, knüpfen Freundschaften, in denen sie Halt und Akzeptanz finden. Das Spiel, das unbeschwerte und selbstbestimmte Miteinander von Gleichaltrigen, beschreibt Strüber in Coronakids als »Grundbedürfnis von Grundschulkindern«. Dieses Bedürfnis müsse befriedigt werden, das Gehirn brauche diese Erfahrungen als Grundlage, um weitere soziale und emotionale Fähigkeiten auszubilden.

Das Kind lerne dadurch immer besser, seine Gefühle der Situation anzupassen, auch seine Bedürfnisse aufzuschieben; »es lernt, sich in andere hineinzuversetzen, geduldig zu sein, Kompromisse zu schließen«, erklärt die Neurobiologin. Bleiben Kindern diese Spielerfahrungen coronabedingt über weite Strecken verwehrt, haben sich entsprechende »Soft Skills«, die wiederum maßgeblich für schulischen Erfolg sind, vermutlich weniger gut ausgebildet.18

Dazu kommt, dass die Lebensumstände in Familien, aber auch Kitas und Krippen während der Krise besondere waren. Beispiel Maskenpflicht: Tragen Erwachsene zeitweise eine Maske, ist das kein Problem. Für Babys und Kleinkinder aber, die fast den ganzen Tag in einer Krippe verbringen und dabei von Menschen mit halb verdeckten Gesichtern umgeben sind, »kann dies erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung haben«, sagt Strüber. Kinder müssten die Mimik sehen, um Gefühle zu erkennen und zu verstehen, die eigenen und die der anderen. Es geht ums »Spiegeln«.

Wie gut sich solche Entwicklungsprozesse nachholen lassen, ist bisher wenig erforscht. Man weiß, dass es sogenannte Plastizitätsfenster gibt: Hirnregionen reifen Schritt für Schritt. Deshalb können Menschen in bestimmten Zeitfenstern bestimmte Fähigkeiten besonders gut lernen. Bestes Beispiel: Spracherwerb. In jungen Jahren lernen Kinder eine zweite Sprache noch wie ein Native Speaker. Später können Menschen eine Sprache noch sehr gut lernen, aber nicht unbedingt so, dass sie akzentfrei sprechen, und es fällt ihnen schwerer.

Wird das Zeitfenster für den Spracherwerb nicht genutzt, weil Kitas über Wochen und Monate geschlossen sind und Kinder mit Eltern nichtdeutscher Herkunft nur in deren Muttersprache kommunizieren, »ist dies verlorene Zeit in Hinblick auf den Erwerb der Bildungssprache«, sagt die Tübinger Forscherin Friedrich. »Insofern waren die Corona-Beschränkungen für die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund verheerend.«

Medienkonsum könne die Lücke nicht schließen. Die Zeit vorm Bildschirm fehle für soziale Interaktion, mit der Kinder Sprache am besten lernen. Studien zeigten, dass Kinder, die etwa mit chinesischen Serien berieselt werden, keinen Nutzen haben, sagt Friedrich. »Die Kinder verstehen kein Wort.«

Ob es wie bei der Sprache auch Zeitfenster zum Erwerb von sozialer Kompetenz und Gefühlsregulation gibt, will Silvia Schneider, Leiterin der Klinischen Kinder- und Jugendpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum, nicht zuletzt ausgelöst durch Corona, künftig genauer erforschen. »Grundsätzlich ist das durchaus zu erwarten«, sagt sie.

Schneider hat in der Pandemie an Studien zu Kindern im Alter bis zu sieben Jahren und deren Eltern mitgewirkt. Dabei stellte sie fest, dass die kindliche Psyche schon während der ersten Kita- und Schulschließungen merklich belastet war. Selbst kleine Kinder zeigten vermehrt Auffälligkeiten wie Einschlafprobleme, Trennungsängste, Traurigkeit, Hyperaktivität, auch Probleme beim Miteinander mit Gleichaltrigen. All das, sagt Schneider, seien Symptome von Angst und Stress.

»Wenn Menschen mit einer neuen Situation überfordert sind, können Ängste und damit verbundene Anpassungsstörungen, auftreten«, erklärt sie. »Das sind erst mal normale, verständliche Reaktionen.« Bei den meisten Kindern werde es wohl bei so einer Anpassungsreaktion bleiben, die im Laufe der Monate jedoch vorübergehen könne. Gerade bei vorbelasteten Kindern könne jedoch eine psychische Störung entstehen. »Wie sich die Krise langfristig auf die seelische Gesundheit auswirkt, wissen wir noch nicht. Das hängt auch von der Dauer der Belastung ab.«

Kinderärztin: »Kinder werden wütender und trauriger«

Mittelfristig halten die psychischen Auffälligkeiten offenbar an. Die Kinderärztin Andrea Wünsch leitet das Team Sozialpädiatrie und Jugendmedizin der Region Hannover, das für Schuleingangsuntersuchungen in der Stadt und im Umland zuständig ist. Sie hat in den vergangenen Monaten nicht nur Kinder im Vorschulalter darauf untersucht, ob sie fit für die Schule sind, sondern befragte auch zu verschiedenen Zeitpunkten deren Eltern zum Befinden der Kinder.19

Statt sich langsam zu verflüchtigen, schlugen die Folgen der Krise im zweiten Pandemiejahr demnach zunächst immer mehr durch.

Rund ein Zehntel der Eltern berichtete, ihr Kind leide unter psychosomatischen Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen, Übelkeit oder Appetitlosigkeit.

Der Anteil von Kindern, die häufiger traurig sind, stieg im Verlauf der Pandemie von

27

auf

36

Prozent.

Der Anteil der Kinder, die häufiger Wutanfälle hatten, kletterte von

21

,

3

auf

25

,

8

Prozent.

Der Anteil von Kindern mit Ein- und Durchschlafproblemen pendelte sich auf knapp

14

Prozent ein.

Knapp

14

Prozent der Eltern berichteten, ihr Kind verhalte sich in der Corona-Krise ruhiger und zurückgezogener.

Ein Viertel gab vermehrt Ängste und Sorgen an. Diese Zahlen waren im zweiten Lockdown leicht rückläufig gewesen, dann aber wieder angestiegen. Auch der Stress- und Streitpegel in den Familien nahm offenbar nicht ab.

Knapp

27

Prozent der Eltern berichteten, dass es während der Pandemie öfter Konflikte in der Familie gebe. Bei der ersten Befragung waren dies nur

20

,

6

Prozent gewesen.

»Je länger der Lockdown dauerte, desto trauriger und wütender wurden die Kinder«, resümiert Wünsch im November 2021. Kinder aus sozial benachteiligten Familien waren der Studie zufolge überdurchschnittlich von all diesen Problemen betroffen, aber natürlich nicht nur sie.

Um die Auffälligkeiten wieder in den Griff zu bekommen, rät Wünsch den Eltern, sie sollten sensibel darauf achten, wie es ihren Kindern geht, und »möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen«. Wer an Grenzen stößt, sich überfordert fühlt, soll sich Hilfe und Beratung suchen.

»Das ist überhaupt keine Stigmatisierung«, betont die Kinderärztin, »sondern ein Zeichen von Verantwortung und Selbstfürsorge.« Man müsse im Blick behalten, wie sich die mittelfristigen Auffälligkeiten entwickeln, »und ob da noch etwas nachkommt«.

»Ich habe meine Kinder nicht wiedererkannt«

Ein großes Einfamilienhaus in der Nähe von Lüneburg, Niedersachsen: Linus und Ben,20 sechs Jahre alte Zwillinge, toben hier auf dem Trampolin. In dem großen Garten stehen außerdem zwei Fußballtore, weiter hinten in einer Ecke ist ein großes Klettergerüst mit Schaukel, Rutsche und Seilen. Linus und Ben wohnen auf einem Spielplatz. Aber den wochenlangen Verzicht auf ihre Kita und ihren normalen Alltag konnte das nicht kompensieren.

Linus habe sie getreten, gebissen, Wutanfälle gehabt, sagt seine Mutter Jana bei einem Treffen im September 2021. Die beiden Jungs hätten sich außerdem ständig miteinander gestritten und seien aggressiv geworden. »Ich habe meine Kinder nicht wiedererkannt.« Noch immer gebe es sehr schnell Streit. »Da können Sie die Uhr nach stellen.« Gerade hüpfen die beiden ganz friedlich und kicken einen Ball gegen das Netz. »Vorführeffekt«, meint Jana. Zwei Minuten später weint Ben. Er hat sich den Fuß verknackst. »Selber schuld«, findet Linus.

Dass sich Geschwister öfter streiten, ist an sich nicht ungewöhnlich. Ihre Mutter erklärt sich die vielen Reibereien aber auch damit, dass sie ihre Kinder in der Krise ständig vertrösten und all ihre normalen kindlichen Wünsche ablehnen, immer wieder Nein sagen musste. Nein, ihr geht nicht zur Kita, nicht zu den Freunden in der Nachbarschaft, nicht zu Oma und Opa, obwohl die nur wenige Straße weiter wohnen. Nein zum Kindergeburtstag, weil dort mit mehr als zehn Kindern die Kontaktbeschränkungen nicht eingehalten werden. Nein zum Kinderturnen. Nein, Mama und Papa können jetzt nicht mitspielen, sie müssen arbeiten.

Ihre Kinder könnten sich jetzt viel besser selbst beschäftigen, findet Jana. Aber sie seien auch anhänglicher. Plötzlich seien sie fast jede Nacht wieder zu den Eltern ins Bett gekommen, hätten teilweise eingenässt. Linus sei manchmal weinend aufgewacht, habe leicht abwesend gewirkt. »Als sie in die Kita in die Notbetreuung durften, ging es ihnen besser«, sagt Jana. Immer mal wieder kommen die Jungs jedoch auch Monate später nachts rüber. Ben habe Mühe, sich auf Fremde einzulassen. Bei ihm sei eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) diagnostiziert worden. Er kann sich schlecht Dinge im Kurzzeitgedächtnis merken. Beide Jungs hätten zudem andauernd das Gefühl, an irgendetwas Schuld zu haben.

Ob all das durch Corona beeinflusst ist, weiß die Mutter letztlich nicht. Sie vermutet es. Die Wutanfälle sind immerhin seltener geworden. In der Schule kommen die Zwillinge, die nun seit einigen Wochen in die erste Klasse gehen, besser klar als befürchtet. »Wir sind auf einem guten Weg«, sagt Jana. »Aber ausgestanden ist die Krise nicht.«

Je jünger Kinder sind, desto größer ist der zeitliche Anteil, den die Pandemie in ihrem Leben eingenommen hat. Bei Ben und Linus ist es fast ein Drittel ihres Lebens. »Corona hat das Zeug, Kindern ihr natürliches Zutrauen in die Welt zu nehmen. Und die Gewissheit, dass am Ende schon alles irgendwie gut wird«, glaubt die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Sigrid Müller-Hoogen,21 die für einen SPIEGEL-Artikel von den Beobachtungen in ihrer Praxis erzählte. Umso wichtiger ist, dass Eltern Ängste ernst nehmen, Kindern Zuversicht und Sicherheit vermitteln. Aber das ist schwer, wenn Mütter und Väter selbst unter Stress stehen.

Studien zeigen, dass sich viele Eltern in den Monaten der Pandemie stark belastet fühlten. Das hat Folgen für die Kinder. Zwar können auch Kinder von gelassenen Eltern Auffälligkeiten entwickeln, aber die Wahrscheinlichkeit dafür steigt, wenn es Müttern und Vätern selbst nicht gut geht, wenn sie chronisch gestresst oder verunsichert sind. Schneider hat in ihren Studien einen klaren Zusammenhang festgestellt. Überrascht war sie davon nicht.

Frühere Studien mit Babys im Alter von acht Monaten zeigten bereits, wie eng das Verhalten von Kindern mit dem ihrer Eltern verknüpft ist. Schneider spricht vom »Visuellen Klippenparadigma«. Bei diesem Experiment befindet sich eine Plexiglasplatte in der Mitte eines Tisches, eine »Klippe«. Sind Eltern entspannt, krabbeln die Kinder darüber. Sind die Eltern in einer ängstlich, besorgten Stimmung, tun sie es eher nicht. In der Corona-Krise war die elterliche Stimmung noch ausschlaggebender für das Handeln der Kinder, weil sie kaum andere Kontakte hatten.

Wenn chronischer Stress dazu führt, dass Mütter und Väter nicht gut auf die Bedürfnisse ihrer Babys und Kleinkinder eingehen können, hat das gleich doppelt Auswirkungen. Es schränkt das Urvertrauen der Kinder ein. Und es setzt Kinder selbst unter Stress, was sich wiederum auf die Entwicklung ihres Gehirns auswirken kann. So beschreibt es die Neurobiologin Nicole Strüber.

»Im Gehirn wirken Stresshormone, die einerseits Leistungsbereitschaft fördern, andererseits in zu großer Menge schädlich sind. Das Stresssystem im Gehirn entwickelt sich nicht gut. Es kann schlechter rauf- und runterfahren«, sagt Strüber. »Kinder können in der Folge schlechter Stress abfedern, schlechter Gefühle regulieren, sind unter Umständen weniger leistungsbereit und anfälliger für Depressionen.«

Nach der Krise wieder ins Lot kommen

Das kindliche Stresssystem ist nicht zwingend für immer auf »Krise« gepolt, sondern kann wieder ins Lot kommen. Ausgleichend wirkt, wenn Kinder, auch ältere Kinder, Nähe und Vertrautheit erleben. Dann wird Oxytocin im Gehirn freigesetzt, eine Art Kuschelhormon, quasi als »physiologisches Korrelat zum Stresshormon«, wie Strüber erklärt. Deshalb fühlten sich Kinder etwa mit ihren Eltern, aber auch mit anderen Bezugspersonen und Freunden wohl. Auch Sport und Bewegung tun sehr gut, unter anderem weil hier andere Stoffe im Gehirn aktiviert werden.

Strüber ist überzeugt, dass sich nach der Krise nicht nur das Stresssystem wieder regulieren lässt, sondern Kinder auch soziales Lernen und die entsprechenden Entwicklungsschritte nachholen können, unter der Bedingung, dass die Erwachsenen Verständnis dafür haben. »Manchmal scheitert das Nachholen von Entwicklung an falschen Erwartungen.«

Eltern mögen nach den Kita- oder Schulschließungen denken, es sei alles wieder normal, also müssten sich auch ihre Kinder wieder normal verhalten, nicht laut, nicht trotzig, nicht reizbar sein. Aber wenn Kinder emotionale Erfahrungen nachholen, verhalten sie sich nicht unbedingt so, wie das ihrem Alter angemessen erscheint. Ein Schulkind neigt vielleicht zum Trotzanfall. »Wichtig ist«, sagt Strüber, »extreme kindliche Verhaltensmuster als das zu erkennen, was sie sind: als Folgen der Pandemie.«

Weder zu Hause noch in der Schule darf es deshalb Druck geben, nun endlich den versäumten Stoff nachzuholen und wieder Leistung zu bringen. Statt auf das Erledigen von Hausaufgaben zu pochen, kann es viel wichtiger sein, Kinder mit anderen spielen zu lassen. Zumal Kinder, die noch unter Stress und unter dem Eindruck der Krise stehen, den Kopf gar nicht frei haben zum Lernen.

Zeigen Erwachsene kein Verständnis, reagieren sie genervt auf das Verhalten des Kindes, bremsen sie die Entwicklung nur weiter aus. Strüber mahnt, selbst wenn die Pandemie längst vorbei sei, könne es dann weiter zu Stress und Streit kommen. Ein Teufelskreis.

Den Teufelskreis durchbrechen, den Stress abschütteln, sich Zeit für Kinder nehmen, Verständnis haben: Bei allen besuchten Müttern und Vätern ist zu spüren, wie sehr ihnen daran zum Wohle ihrer Kinder gelegen ist. Deutlich wird aber auch, dass Menschen abhängig von ihrer Lebenssituation vor ganz unterschiedlichen Herausforderungen stehen. Diejenigen, denen es leichter fiel, die Pandemie zu bewältigen, tun sich auch leichter, beim Aufholen zu helfen. Für andere, die es in der Krise schon schwerer hatten, bleibt die Unterstützung ihrer Kinder ein Kraftakt, teils begleitet von dem bitteren Gefühl, von Politik und Gesellschaft alleingelassen zu werden.

Beatrix Hellwig, die Mutter von Felicitas, Maximilian, Ludwig und Leopold, hat in der Pandemie immer mal wieder Beschwerdemails an Kultusminister und andere Politiker geschrieben, weil sie es »ungerecht und ein Unding« fand, dass sie als berufstätige Frau plötzlich noch Ersatzlehrerin spielen sollte. Und weil Familien über Gebühr belastet worden seien.

»Ich durfte als Erwachsene längst wieder ins Fitnessstudio gehen, da saßen meine Kinder immer noch nicht täglich im Unterricht.«

Beatrix Hellwig geht es ums Prinzip. Dass ihre Kinder, die sonst sorgenfrei aufwachsen, in der Krise Schaden genommen haben, glaubt sie nicht. Trotz der plötzlichen Herausforderung, zu Hause zu arbeiten und gleichzeitig die Kinder zu betreuen, habe sie der Pandemiezeit anfangs durchaus Positives abgewinnen können. Der Kalender war leer. Keine Verabredungen, keine Termine, das ganze Leben entschleunigt. »Ich habe das zum Teil auch genossen, und von diesem Gefühl ist etwas zurückgeblieben. Ich nehme mir bewusst mehr Zeit für die Kinder. Ein Beispiel: Meine Söhne lieben Computerspiele, ich hasse sie. Jetzt höre ich zu, wenn sie davon erzählen.«

Cocooning ist ihre Sache trotzdem nicht. »Sobald es ging, waren wir im Restaurant, im Kino, im Schwimmbad, auch im Urlaub.« Sonne tanken auf Gran Canaria, wandern in Österreich, Ski fahren in der Schweiz. Zu Hause ist der Kalender wieder voll. Die Kleinen wie die Großen sind oft verabredet, haben Spaß an ihren Hobbys: Klettern, Karate, Tennis, Trampolin.

Homeoffice: Zwischen Backlash und Freiraum

Ein altes Fachwerkhaus, direkt am Marktplatz in Homberg (Efze), Hessen: Anna Groos und Tobias Reitz machen sich mit ihren Söhnen, Carlo, 5, und Joscha, 2, einen gemütlichen Sonntag. Ein ferngesteuertes Polizeiauto saust über die Dielen, ein Hörspiel läuft, und Abschiedsstimmung liegt in der Luft. Sechs Monate hat die Familie während der Pandemie in diesem »Ritterhaus« gewohnt, wie die Kinder es nennen. Es hat viele Balken. Mitte Oktober 2021 geht es in wenigen Tagen zurück in die Vier-Zimmer-Wohnung nach Darmstadt.

»In ein paar Jahren werden sich die Kinder vermutlich kaum noch bewusst an die Zeit hier erinnern«, glaubt Tobias, »aber vielleicht haben sie unbewusst mitgenommen, dass sie coole Dinge erlebt haben, dass in jeder Krise das Potenzial für Veränderung und Kraft liegt.« Nach Erschöpfung und Pandemiemüdigkeit, die von vielen anderen Familien beklagt wird, klingt das nicht. Dessen ist sich Tobias bewusst. Er spreche aus einer »megaprivilegierten Position«.

Die hat damit zu tun, dass sich für ihn und Anna aus dem Ausnahmezustand in der Pandemie eine Chance ergeben hat: Sie konnten, zeitlich befristet, aus ihrem alten Leben aussteigen und ein neues ausprobieren. Die Familie nahm an dem Projekt »Summers of Pioneers« teil. Zusammen mit 16 anderen Menschen, darunter viele Selbstständige und Kreative, zogen sie von Mai bis Oktober 2021 nach Homberg.22

Von der Stadt in die Provinz. Von der Wohnung mit Balkon in ein Häuschen. Vom Alltag als Kleinfamilie in das Miteinander einer größeren Community. Es war ein Wohnexperiment, verbunden mit der Frage: Wie und wo wollen wir in Zukunft leben und arbeiten? »Als Eltern«, sagt Anna, »hat uns auch diese Idee umgetrieben: Müssen Kinder auf dem Land groß werden? Müssen sie barfuß über den Feldweg rennen und Kühe beim Namen nennen können?«

Gegründet hat das Projekt schon vor Corona der ehemalige Journalist Frederik Fischer. »Das Interesse hat während der Pandemie stark zugenommen«, sagt er. Das Homeoffice schuf für einen Teil der Bevölkerung Freiräume. Wer umziehen wollte, brauchte keinen neuen Job, sondern nahm seinen alten mit. Einzige Bedingung: stabiles Internet.

»Unser Leben war in der Corona-Krise wie bei so vielen anderen Menschen ohnehin auf den Kopf gestellt«, sagt Anna. »Wir hatten fast anderthalb Jahre zu 100 Prozent am Schreibtisch im Schlafzimmer gearbeitet.« Oft saßen sie um 6.30 Uhr im ersten Videocall, als die Kinder noch schliefen, und arbeiteten erneut bis Mitternacht, als sie wieder schliefen. »Das war eine Grenzerfahrung«, sagt Anna. »Gleichzeitig«, sagt Tobias, »war das ein guter Moment, um darüber nachzudenken, wie wir leben wollen.«

Sechs Monate später fällt die Bilanz gemischt aus. Joscha war in der Krippe mit der etwas altbackenen Pädagogik nicht so glücklich. Carlo hatte den besten Sommer seines Lebens. Er durfte in den Waldkindergarten im Ort gehen, fast den ganzen Tag draußen sein. »Das hat Carlo unglaublich gutgetan. Der ist auf jeden Baum geklettert«, sagt Anna. Unterm Strich wollen sie trotzdem erst mal zurück nach Darmstadt, zurück zu Freunden und Großeltern; um eine Erfahrung reicher.

Solche Chancen wie Anna und Tobias hat das Homeoffice längst nicht allen Eltern beschert. Trotzdem freuen sich viele, wenn dieses Corona-Relikt bleibt. Mussten Menschen jahrelang darum ringen, die Erlaubnis zur Heimarbeit zu bekommen, um Familie und Beruf besser vereinbaren zu können und mehr Zeit für ihre Kinder zu haben, wurden in der Pandemie Millionen Erwerbstätige von einem Tag auf den anderen an den heimischen Schreibtisch geschickt. Ein Dammbruch. Vorgesetzte erkannten: Es geht.

Tobias Reitz sagt, früher sei er frühmorgens um 4 Uhr in Darmstadt aufgestanden, um einen dreistündigen Workshop in Hamburg abzuhalten, und erst spätabends zurückgekommen: »Jetzt wäre das ein Videocall, fertig.« So hat die Pandemie neben der horrenden Belastung unterm Strich auch Freiräume geschaffen.

Nur, die Vorteile haben erst mal nur diejenigen, die ihre Arbeit von zu Hause erledigen können. Laut einer ifo-Studie23 könnte mehr als die Hälfte der Erwerbsarbeit im Homeoffice erfolgen. Tatsächlich nutzte dies während des zweiten Lockdowns im Februar 2021 nur knapp ein Drittel der Beschäftigten, trotz »Homeoffice-Pflicht«.

Am 1. Juli 2021 wurde diese Pflicht der Arbeitgeber, zwecks Infektionsschutz Bürotätigkeiten zu Hause zu ermöglichen, wieder aufgehoben, im Herbst dann wieder eingeführt. Dazwischen beorderten viele Firmen ihre Angestellten zurück. Insgesamt sind die Arbeitgeber skeptisch.

Wie aus einer Umfrage des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hervorgeht,24 will nur jedes fünfte Unternehmen die Möglichkeiten für mobiles Arbeiten längerfristig ausbauen. Ein Rechtsanspruch auf Homeoffice besteht nicht.

Unabhängig davon gibt es Zweifel, ob großzügige Homeoffice-Regeln am Ende dazu führen, dass die Mehrheit der Kinder künftig mehr Zeit sowohl mit Mama als auch mit Papa verbringt und eine moderne Rollenverteilung kennenlernt – oder weiterhin damit groß wird, dass der Vater mehr arbeitet, mehr Geld verdient und die Mutter mehr Wäsche macht, mehr Kindergeburtstage plant.

Rolle rückwärts in alte Muster?

Bisher stecken Deutschlands Mütter nach der Geburt eines Kindes beruflich deutlich mehr zurück als Väter. Die Quote der erwerbstätigen Mütter ist zwar in den vergangenen zehn Jahren von 66,7 auf 74,7 Prozent gestiegen, aber zwei Drittel dieser Mütter arbeiten Teilzeit. Bei den Vätern sind es nur 6,4 Prozent. Deutschland gehört damit zu den EU-Ländern mit den höchsten Teilzeitquoten von Müttern. Der Schnitt liegt bei 34,9 Prozent. Auf Platz 1 sind die Niederlande, aber hier hat auch fast jeder fünfte Vater eine Teilzeitstelle.25

Die Rollenverteilung hat unter anderem mit dem Gender Pay Gap zu tun. In Deutschland bekommen Frauen im Schnitt pro Stunde rund ein Fünftel weniger Lohn. Seit Jahren. Es tut sich auch wenig daran, dass sie deutlich mehr Zeit für Kinderbetreuung aufwenden als Väter. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)26 betreute bei 59 Prozent der befragten Paare überwiegend die Frau die Kinder. 31 Prozent teilten sich in etwa gleich auf. Bei 8 Prozent betreute die Kinder (fast) vollständig die Frau, bei weniger als 3 Prozent war dies der Mann. Auf diese Situation traf die Pandemie.

Wenig überraschend: Als die staatliche Kinderbetreuung in Kitas und Schulen wegfiel, die überhaupt beiden Eltern eine Erwerbstätigkeit ermöglicht hatte, griffen traditionelle Muster. Mütter kümmerten sich im Schnitt noch mehr als sonst um Haushalt und Kinderbetreuung. In einigen Familien blieb die Rollenverteilung gleich, oder Väter halfen deutlich mehr mit, in anderen jedoch weniger.

Zudem ergaben Studien, dass der Mental Load, die Belastung durch das Organisieren von Alltagsaufgaben, bei vielen Müttern höher ist, und damit auch der Stresspegel. Nicht nur aufgrund der Doppelbelastung, sondern auch aufgrund der politischen Erwartung, Frauen würden die immense zusätzliche Care-Arbeit inklusive Heimunterricht neben ihrem Beruf selbstverständlich gratis miterledigen.

Unter dem Hashtag #CoronaElternrechnenab kalkulierten Frauen die Lohnkosten und schickten ihre Rechnung an die Regierung: als symbolischen Protest. Ein Shitstorm war die Folge. Im Netz wurden Stimmen laut, die Mütter sollten sich nicht beschweren. Bezeichnend.

Rund anderthalb Jahre nach Pandemiebeginn kommt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zu dem Ergebnis, dass sich die Rollenverteilung zwischen Paaren im Sommer 2021 im Großen und Ganzen wieder auf Vorkrisenniveau eingespielt hat, also weitgehend stabil geblieben ist. Weil Frauen während der Kita- und Schulschließungen jedoch den größeren Anteil an Kinderbetreuung und Hausarbeit übernommen hatten, vergrößerte sich in einer Gesamtbilanz der Gender Care Gap. Nur für einen geringen Teil der Paare habe die Krise die Chance zu einer gleichberechtigteren Rollenverteilung eröffnet, schreibt die Studienautorin Bettina Kohlrausch, oft in der Konstellation: Vater im Homeoffice, mit einer geringen Stundenzahl im Job.27

Während die meisten Eltern im ersten Lockdown noch komplett auf sich gestellt waren und hoffen mussten, als systemrelevant zu gelten oder aus anderen Gründen unter die Notbetreuungsregeln in ihrem Bundesland zu fallen, hatte die Politik im zweiten Lockdown immerhin dazugelernt.

Als Mitte Dezember 2020 erneut Kitas und Schulen bundesweit geschlossen wurden, galten in mehreren Bundesländern deutlich weichere Regeln für die Notbetreuung. Außerdem kündigte die Regierung an, die Kinderkrankentage auszuweiten, damit Eltern zu Hause bei ihren Kindern bleiben konnten und nicht gleichzeitig arbeiten mussten. Für das Jahr 2021 wurden die Kinderkrankentage verdoppelt. Paare konnten pro Elternteil zunächst insgesamt 20 statt 10 Tage Kinderkrankengeld beantragen, Alleinerziehende 40 Tage pro Kind. Die Höhe des Kinderkrankengeldes beträgt laut Bundesfamilienministerium in der Regel 90 Prozent des Nettoeinkommens.

Entlastung durch Kinderkrankentage?

Die damalige Familienministerin Franziska Giffey sagte, man habe erlebt, die Betreuung kleiner Kinder und Arbeit – »das geht nicht zusammen«. Deshalb gebe es nun diese »passgenaue Entlastung«28. Diese Information erfolgte allerdings erst am 21. Januar 2021. Zu diesem Zeitpunkt waren Kitas und Schulen schon über einen Monat zu. Die Bestimmung war zwar zuvor angekündigt worden und trat rückwirkend zum 5. Januar in Kraft. Aber in den Wochen dazwischen gab es viel Verunsicherung.

Später erhöhte die Regierung die Zahl der Kinderkrankentage weiter auf 60 pro Kind, aber viele Eltern empfanden die Regelung trotzdem alles andere als passgenau. Laut einer Befragung der Hans-Böckler-Stiftung29 hatten die Kinderkrankentage bis zum Juni 2021 nur 20 Prozent der Eltern genutzt. Weil sie an ihrem Arbeitsplatz nicht fehlen konnten, nicht auf ihr volles Gehalt verzichten konnten oder wollten oder Sorge um ihren Job hatten.

Männer nahmen die Kinderkrankentage etwas öfter als Frauen. Kohlrausch erklärt dies damit, dass Personen, die befristet oder in Teilzeit beschäftigt waren, beides Merkmale, die häufiger auf Frauen zutreffen, seltener von den Kinderkrankentagen Gebrauch machten. In der Gesamtschau zeige sich, »dass sich die bereits vor der Krise existierenden Ungleichheitsstrukturen in der Krise verschärfen und damit auch langfristig zu einer wachsenden Ungleichheit zwischen den Geschlechtern führen könnten, wenn nicht rechtzeitig gegengesteuert wird.«

Das Konservative in den Köpfen

Dass die Krise in den Köpfen vieler Väter offenbar konservatives Denken befördert hat, zeigt eine Studie des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung)30 und der Freien Universität Berlin. Ein Team hatte die Einstellungen zur Erwerbstätigkeit von Müttern anhand der Zustimmung zu folgenden Aussagen auf einer vierstufigen Skala erfasst und daraus die Haltung abgeleitet:

»Eine berufstätige Mutter kann ein genauso herzliches und vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Kindern finden wie eine Mutter, die nicht berufstätig ist.«

»Es ist für ein Kind sogar gut, wenn seine Mutter berufstätig ist und sich nicht nur auf den Haushalt konzentriert.«

»Ein Kleinkind wird sicherlich darunter leiden, wenn seine Mutter berufstätig ist.«

Nachdem im Jahr 2016 noch rund 60 Prozent der Väter mit Kindern unter zwölf Jahren sehr egalitäre Einstellungen vertraten, waren es ein Jahr nach Ausbruch der Corona-Pandemie nur noch rund 54 Prozent. Zumindest für Väter in Westdeutschland sei dieser Rückgang direkt und im statistisch signifikanten Sinne auf die Kita- und Schulschließungen zurückführen, so das DIW. Hier sank der Anteil der Väter mit egalitären Ansichten von 56 Prozent auf 49 Prozent.

Gerade die Gruppe westdeutscher Väter hatte vor Corona ihre Einstellung am stärksten hin zu einem gleichberechtigteren Rollenverständnis verändert. Der Rückgang ist demnach umso beachtlicher. Für ostdeutsche Väter und für Mütter insgesamt lassen sich solche Effekte nicht nachweisen.

Wie die Sache ausgeht, wird Kinder und Jugendliche stark beeinflussen. Die vorherrschenden Rollenbilder sind laut Shell-Studie31 offenbar prägend für ihre eigene Lebensplanung: Fragt man heute Jugendliche, wie sie sich Arbeit und Betreuung teilen wollen, wenn sie 30 Jahre alt sind und ein zweijähriges Kind haben, sind sie sich unabhängig vom Geschlecht weitgehend einig: Die Frau sollte vorrangig beruflich kürzer treten.

Zwei Drittel der Frauen würden demnach gerne maximal halbtags arbeiten; etwa genauso viele junge Männer wünschen sich dies von ihrer Partnerin. Allerdings will auch mehr als die Hälfte selbst Teilzeit arbeiten und »aktiver Vater« sein. Deutlich mehr als die Hälfte der Befragten findet ein »männliches Versorgermodell« am besten, bei dem die Frau maximal einen Teilzeitjob hat. Im Westen denken Jugendliche traditioneller als im Osten, analog zur gelebten Praxis.

Bleibt es bei der klassischen Rollenverteilung, müssen die heutigen Mädchen in ihrem späteren Leben statistisch betrachtet mit erheblichen Gehaltseinbußen rechnen, jedenfalls wenn sie Kinder bekommen. In Westdeutschland erzielt ein Mann rund 1,5 Millionen Euro Lebenserwerbseinkommen, eine Frau mit Kindern im Schnitt nur 580000 Euro brutto, wie eine Analyse der Bertelsmann Stiftung zeigt.32 Als ausschlaggebend gilt, dass Frauen wegen der Kinder oft Teilzeit arbeiten, Männer eher nicht. Im Westen sind die Effekte auch hier größer als im Osten.

Wie Paare die Rollenverteilung eines Tages aushandeln, hängt stark von politischen Weichenstellungen und gesellschaftlichem Umdenken ab. Die Krise hat gezeigt: Die Regierung ist mit drei Ausrufezeichen gefordert, mehr Geschlechtergerechtigkeit zu fördern, und zwar nicht nur mit Blick auf Paar-Familien.

Allein(erziehend): Stresstest mit Folgen

Eine Drei-Zimmer-Wohnung im vierten Stock, kein Fahrstuhl, in Osnabrück, Niedersachsen: Nina, 8, und Lara, 6, wohnen hier allein mit ihrer Mutter Maike33. Durch ihr Kinderzimmerfenster gucken sie auf einen Hof: eine größere Rasenfläche mit Wäscheleinen und Mülleimern. »Da haben Lara und ich öfter gespielt. Meine Freundinnen durfte ich wegen Corona nicht treffen. Das war schon sehr blöd«, sagt Nina. Selten habe sie mit Nachbarskindern gespielt, »obwohl wir nicht durften. Das fand ich gut, aber auch doof, weil es gegen die Regeln war und man wegen der Polizei schnell nach Hause musste.«

Die strikten Kontaktbeschränkungen sind schon Monate her, aber als Ninas Freundin am Telefon ist und fragt, ob sie sich verabreden wollen, hüpft Nina vom Sofa hoch, möchte am liebsten sofort losstürmen, die Freundin sehen. Manchmal spielten sie mit anderen Kindern »Corona«. »Dann ist einer das Virus. Der muss einen anderen fangen, dann ist der das Virus.« Aus Sicht von Nina und Lara hat sich durch die Pandemie sonst nicht viel verändert. Ihre Mutter sieht das anders.

Als Alleinerziehende musste sie sich monatelang meist alleine um ihre Mädchen kümmern, jedes zweite Wochenende gehen sie zu ihrem Vater. So waren sie während der Lockdowns fast andauernd zu dritt, auf 58 Quadratmetern. »Abends habe ich oft mit Freunden telefoniert. Ich hatte das Gefühl: Ich muss mit einem Erwachsenen reden. Ich werde komisch im Kopf, wenn ich nur mit Kindern rede.« Maike litt vor einigen Jahren unter Depressionen. Sie hatte Sorge, dass sie da wieder reinrutscht.

Für Ein-Eltern-Familien waren die Herausforderungen in der Krise besonders groß. Viele fühlten sich vom Staat noch mehr als andere alleingelassen und leiden bis heute unter den Folgen; in der großen Mehrheit Frauen mit Kindern. Neun von zehn Alleinerziehenden sind Mütter. Sie waren schon vor der Krise strukturell stark benachteiligt und gefordert.

Maike hatte sich zum Organisationstalent entwickelt: Job und Kinderbetreuung gewuppt, sich ihr weniges Geld bestens eingeteilt, bürokratische Hürden für staatliche Hilfen genommen, Schwimmunterricht für die Große organisiert, Frühförderung für die Kleine. Alles im Alleingang. In der Krise kam sie an Grenzen. Die Kleine habe, wie schon vor Corona, öfter Wutanfälle gehabt, geschrien, gehauen, gebissen. Laras Frühförderung in der Kita fiel pandemiebedingt oft aus.

Maike versuchte, das auszugleichen, gleichzeitig das Homeschooling zu bewerkstelligen. »Aber die Große hat mich nur schwer als ›Ersatzlehrerin‹ akzeptiert. Es gab sehr viel Streit.« Sobald es Zwist gab, habe sie Papa angerufen oder erklärt, sie ziehe zu Papa. »Der war zum Glück auf meiner Seite und hat gesagt, sie müsse bei ihm auch die Aufgaben machen«, sagt Maike.

Während der Corona-Zeit hat sie sich von ihrem Ex-Mann gut unterstützt gefühlt, der die Kinder wenn möglich auch an den Montagen nach den Papa-Wochenenden bei sich behielt. Sie weiß von Alleinerziehenden, bei denen es anders war. Maike findet, die Krise habe deutliche Spuren hinterlassen. Die Kleine sei introvertierter, die Große aggressiver geworden. Sie selbst habe sich auch verändert. »Ich wurde früher als sehr geduldiger Mensch beschrieben. Jetzt gehe ich schnell an die Decke. Ich werde laut. Anfangs haben sich die Kinder erschrocken, jetzt scheint es ihnen egal zu sein.« Vor Corona habe sie ihren Töchtern jeden Abend vor dem Einschlafen Geschichten vorgelesen. Nun stelle sie ein Hörspiel an und gehe aus dem Zimmer. Aufs Sofa.

»Ich habe einfach keine Energie mehr«, sagt Maike, »und wenn die Kinder besonders anstrengend sind, ist da schnell der Griff in die Schokoladenkiste.« Während der Pandemie habe sie zwölf Kilo zugenommen. »Das Schlimme ist, dass es der Großen genauso geht. Sie ist noch nicht zu dick, hat aber sechs Kilo zugelegt. Ich habe Sorge, dass es ihr eines Tages geht wie mir, und das wünsche ich ihr nicht.«