Kritische Fremdsprachendidaktik -  - E-Book

Kritische Fremdsprachendidaktik E-Book

0,0

Beschreibung

Das Ziel dieses Sammelbands besteht darin, den Fremdsprachenunterricht durch kritische Ansätze wie Critical Literacy oder Critical Pedagogy anzureichern, um das bildungstheoretische Potential beim Lernen und Lehren von Fremdsprachen zu erhöhen. Anhand von unterschiedlichen Unterrichtsgegenständen und -beispielen wird der Frage nachgegangen, wie Fremdsprachenlernen stärker pädagogisch, sozial und werteorientiert geprägt werden kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 469

Veröffentlichungsjahr: 2020

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



David Gerlach

Kritische Fremdsprachendidaktik

Grundlagen, Ziele, Beispiele

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ISBN 978-3-8233-8328-4 (Print)

ISBN 978-3-8233-0273-5 (ePub)

Inhalt

Einführung in eine Kritische Fremdsprachendidaktik1. Einleitung2. Überlegungen zum aktuellen Stand der Fremdsprachendidaktik3. Mögliche Bezugsquellen einer Kritischen FremdsprachendidaktikKritische TheorieKritische ErziehungswissenschaftKritische PädagogikCritical LiteracyKritisches Denken4. Methodisch-didaktische Implikationen für einen kritisch orientierten FremdsprachenunterrichtLernende im Kritischen FremdsprachenunterrichtGegenstände im kritischen FremdsprachenunterrichtMethodische ÜberlegungenDie Rolle des Lehrwerks5. Fazit: Kritische Fremdsprachendidaktik oder -pädagogik?LiteraturverzeichnisDie Beiträge in diesem SammelbandDie Beiträge im EinzelnenCovid-19 und kritisches (Nicht-)WissenDanksagungAusgewählte Materialien für einen kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht: Jugendliteratur mit Transgender-Thematik1. Einleitung2. Kritische Perspektivierung der spezifischen Gegenstände des Fremdsprachenunterrichts: Sprache, Literatur, Cultural StudiesSpracheLiteraturCultural Studies3. Pädagogische Perspektiven auf einen kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht4. Materialauswahl: Jugendliteratur mit Transgender-Thematik5. Diskussion im Rahmen eines kritischen Fremdsprachenunterrichts und einer Kritischen Fremdsprachendidaktik6. FazitLiteraturverzeichnisTaking a stance: The role of critical literacies in learning with literature in a world at risk1. Introduction: English Language Education as ‘Political Activity’ and ‘Moral Act’Part I: Literacies, Discourse Competence and Educational Objectives – Outlining (Curricular) FoundationsI.1 (Critical) Literacies, Discourse Competence and the Role of LiteratureI.2 Educational Objectives and their ChallengesI.3 The Contradictoriness of Teaching Global Issues following the Intercultural ParadigmaPart II. Disembedding without embedding: Young Adult Novels and Tragic IndividualisationConclusion: ‘Interacting with Globalisation’ReferencesTowards a concept of Critical Digitalisation in the foreign language classroom1. Introduction2. Digitisation of Media and the Foreign Language Classroom: A Brief History of Types of Media3. Digitalisation and Digital Literacy: Conceptualisation and Representation in Educational Documents4. Reading the Digital: Digitalisation, Cultural Practices and Communication5. Towards Critical Digitalisation in the Foreign Language ClassroomReferencesGaming as a critical language learning practice1. Introduction2. Vernacular Gameplaying and Gameplaying Activities in the Formal Language Learning Classroom3. Authenticity and Sources of AuthorityLinguistic authenticity in digital gamingCultural authenticity in digital gamingFunctional authenticity in digital gaming4. Two Critical Sociocultural Practices: Language Learning & Use and GameplayingSociocultural language learning in gameplayingCritical foreign language gameplaying pedagogy5. Gameplaying as a Critical Multiliteracy CompetenceCritical English as a foreign language means multiple Englishes as foreign languageTranslingualism: Multiple modalities and multiple languagesA gameplaying pedagogy of multiliteracies for the EFL classroom6. Gameplaying as an Agentive, Critical, Foreign Language Pedagogic Practice7. Caveats and ConclusionsLearners’ skepticismLearners’ critical capacitiesCritical gamesTeaching games for criticalityReferencesQueere Interventionen in die Kritische Fremdsprachendidaktik: Theoretische Überlegungen und praxisorientierte Implementationen1. Einleitung: Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – (k)ein Thema in der Fremdsprachendidaktik?2. Queere Interventionen: Theoretische Grundlagen und Anknüpfungspunkte für eine Kritische FremdsprachendidaktikAffirmative Sichtbarmachung von LGBTQ-IdentitätenKritische Auseinandersetzung mit HeteronormativitätSprachliche Aushandlung sexueller und geschlechtlicher Identitäten3. Queere Implementationen: Überlegungen für die Praxis des FremdsprachenunterrichtsThemenTexteFazitLiteraturverzeichnisOn beauty ideals and body norms. Schönheits- und Körpernormen als Thema in einer Kritischen Fremdsprachendidaktik1. Zur Einführung: Ausgangspunkte für eine Kritische Fremdsprachendidaktik2. Schönheits- und Körpernormen – ein furchtbar lebensweltnahes Thema2.1 Einflussfaktoren: Mediale Körperbilder im Fokus2.2 Kulturelle Kategorien von Körpernormen2.3 Schönheitsideologien, Körperarbeit und Macht3. Gründe für eine kritische Thematisierung von Körpernormen im Fremdsprachenunterricht4. Konzeptionelle Anknüpfungspunkte – und Lücken: Kritisches kulturelles Lernen über Schönheits- und Körpernormen4.1 Anknüpfungspunkte …4.2 … und Lücken5. Implikationen für die Thematisierung von Körpernormen in der Fremdsprache6. On beauty ideals and body norms – Eine Unterrichtsreihe6.1 Name – Schönheitsideale und Körpernormen benennen können6.2 Reflect – Die kulturelle Gemachtheit von Schönheitsnormen analysieren und reflektieren6.3 Empathize – Die Auswirkungen von Körpernormen nachvollziehen6.4 Act – Körpernormen kritisch be-/aushandelnLiteraturverzeichnisResonanz als Konzept Kritischer Fremdsprachendidaktik1. Einleitung: Steigerungs- und Beschleunigungszwang als Kernmerkmale der Moderne2. Resonanz als Konzept für ein gelingendes Leben3. Unverfügbarkeit als Bedingung für Resonanzverhältnisse4. Bildungseinrichtungen nach Bologna und PISA: Outputorientierung, Effizienzsteigerung und NPM5. Gegen den Ökonomisierungstrend: Resonanz und Bildung6. Resonanzorientierung im Fremdsprachenunterricht7. AusblickLiteraturverzeichnisFremdsprachendidaktik pädagogisch denken – oder: Was ein Staatsanwalt mit Englischunterricht zu tun hat1. Einleitung: Anschluss an den Grundlagenbeitrag2. Das Pädagogische als die Notwendigkeit intergenerationeller Kommunikation und transformatorischer Bildung3. Das Problem: Schließung allenthalben4. Die Ursache: Durchprozessierungslogik durch konkurrenzorientiertes Leistungsprinzip5. Wie wird die Situation aufrechterhalten?6. Wie könnte die Situation verändert werden?LiteraturverzeichnisGestaltungsprinzipien einer Kritischen Fremdsprachendidaktik am Beispiel eines universitären Programms im Bereich Deutsch als Fremdsprache1. Einleitung2. Kontext3. Inhalte3.1 Vignette3.2 Relevanz3.3 Kohärenz4. Unterrichtsprozesse4.1 Diskrepanz4.2 Diversität4.3 Dialog6. AusblickLiteraturverzeichnisKritisch-reflexive Professionalisierung von Fremdsprachenlehrenden: Ein dramapädagogisch-hochschuldidaktischer Ansatz1. Theoretische Begründung einer kritisch-reflexiven Fremdsprachenlehrer*innenbildung1.1 Professionalisierung in der Fremdsprachenlehrer*innenbildung1.2 Kritische Pädagogik und kritisch-reflexive Fremdsprachenlehrer*innenbildung2. Dramapädagogik in der Fremdsprachenlehrer*innenbildung3. Das Projekt DramBild – Dramapädagogische Ansätze in der Lehrer*innenbildung3.1 Projektdesign3.2 Einblicke in die Projektergebnisse4. Vergleich der beiden Ansätze5. AusblickLiteraturverzeichnisGrundüberlegungen zu einer kritischen Fremdsprachenlehrer*innenbildung0. Vorbemerkung1. Das Verhältnis Fremdsprachenlehrperson – Kritische Fremdsprachendidaktik2. Was macht eine kritische Fremdsprachenlehrperson aus?2.1 Praxis: Professionelles Handeln in Strukturen und Institutionen2.2 Haltung: Entwicklung eines kritischen Bewusstseins2.3 Identität(sentwicklung)3. Professionstheoretische (Zwischen-)Überlegungen4. Kritische Fremdsprachenlehrer*innenbildungGrundeinstellungenUniversitäre PhaseVorbereitungsdienst und BerufseinstiegFort- und Weiterbildung5. Die Forschungsperspektive6. Fazit und Ausblick: Die HaltungsfrageLiteraturverzeichnisVerzeichnis der Autor*innen

Einführung in eine Kritische Fremdsprachendidaktik

David Gerlach

If ever there was a time to reconsider the nature and purposes of education and schooling in society – it is now. – Allan Luke (2017)

1.Einleitung

Ungerechtigkeit reproduziert sich selbst. In keinem anderen entwickelten Land ist der Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern derart abhängig von sozioökonomischen Faktoren wie in Deutschland (vgl. OECD 2016). Zu viele Kinder und Jugendliche in diesem Land gelten als benachteiligt und können so ihr volles Potenzial nicht ausschöpfen. Dies setzt sich fort: Wie sollen diese jungen Erwachsenen dann aufgrund mangelhafter Schulbildung – auch mangels eines Bewusstseins ihres Status – eine individuelle Veränderung in ihrem Leben bewirken? Wie ist es möglich, dass in einem derart hochentwickelten Land wie Deutschland 6,8 Millionen erwachsene Menschen trotz Schulpflicht nur gering literalisiert sind (vgl. Grotlüschen et al. 2019), vor einigen Jahren gar noch als „funktionale Analphabeten“ bezeichnet wurden (vgl. Grotlüschen/Riekmann 2012), damit basal-schriftsprachliche Fertigkeiten in ihrem Alltagsleben nicht erfüllen und damit nicht an einer durch Lesen und Schreiben dominierten Gesellschaft teilhaben können?

Was wäre, wenn Schule und Bildung grundsätzlich auf den Abbau dieser Ungerechtigkeiten fokussieren würden? Was wäre, wenn die Fächer basal-schriftsprachliche Schwerpunkte stärker berücksichtigen und damit diese Teilhabe wieder ermöglichen? Und was wäre, wenn der Fremdsprachenunterricht mit seinem ihm genuinen Gegenstand – der Fremdheit von Sprache – Schülerinnen und Schülern ein Bewusstsein darüber vermittelt, dass Sprache Macht ist und Sprache machtvoll machen kann, dass Sprache Ungleichheit konstruieren, diese aber auch relativieren kann, dass Sprache diskriminieren kann, aber auch davon erlösen kann?

Es scheint gleichsam, als entdecke die internationale Fremdsprachenforschung Grundansichten der Pädagogik, insbesondere der Kritischen Pädagogik, wieder. Man mag diese Wende an zwei Entwicklungen festmachen: Zum einen am social turn in der Angewandten Sprachwissenschaft z.B. auch mit den Arbeiten von Bonny Norton (2000) und – damit eng verbunden – der veränderten Positionierung von Lernenden als Identitäten, die ein investment im Sprachenlernen für sich nutzen (vgl. auch Norton 2011, Bonnet 2018). Die Hinwendung zu einer stärker pädagogisch orientierten Fremdsprachenunterrichtspraxis geht zudem im Besonderen zurück auf die 1999 erschienene Schwerpunktausgabe des TESOL Journal, in dem u.a. Alastair Pennycook (1999) sich für die Berücksichtigung kritischer Ansätze und transformatorischer Bildung im Englisch-als-Zweitsprache-Unterricht ausgesprochen hat. In der Folge ist in den vergangenen zwanzig Jahren tatsächlich eine Vielzahl fremdsprachendidaktischer Publikationen erschienen – international primär zu Englisch als Fremd- oder Zweitsprache –, die sich gerade für die Stärkung dieses kritischen Elements einsetzen (z.B. Kumaravadivelu 1999/2006, Abednia 2012, Jeyaraj/Harland 2016, Banegas/Villacañas de Castro 2016). Besonders die ohnehin einem eher kritischen Diskurs verpflichteten Ramin Akbari (2008) sowie Graham Crookes (2009/2010/2013) haben in den vergangenen Jahren die Bedeutung der Kritischen Pädagogik und postmoderner Theorien für unterschiedliche, fremdsprachenunterrichtliche Kontexte herausgearbeitet. Während sie aufzeigen, dass die Begründungslinien für den Einsatz von Konstrukten wie der Kritischen Pädagogik (s.u.) in der Vergangenheit primär für erwachsene Fremdsprachenlernende bzw. Migranten und Migrantinnen in anderssprachigen (teils postkolonialen) Kontexten galt und diese ohne eine kritische Perspektive immer auch Subjekte von Benachteiligung waren, betont Crookes (2009) beispielsweise die Notwendigkeit der Disziplin, ein kritisches Bewusstsein im Fremdsprachenunterricht zu fördern. Und zuletzt hat – wieder Pennycook (2018) – unter einer posthumanistischen Brille die Angewandte Linguistik danach befragt, „what it means to be human“ (ebd.: 445).

Nun sollen ihre Überlegungen zu den dahinterliegenden theoretischen Konstrukten und ihre praktischen Implikationen in diesem Beitrag und Sammelband für den deutschsprachigen Kontext ebenso kritisch beleuchtet werden. Es ist die Frage danach, wie Fremdsprachenunterricht ein kritisches, pädagogisches Element dynamisch in seine Didaktik integrieren und methodisch umsetzen kann. Es geht – unter anderem – um das Thematisieren und Erkennen von machttheoretischen Zusammenhängen, den Abbau von Vorurteilen, Bildung für soziale Gerechtigkeit und Demokratieerziehung.

Ziel dieses einleitenden Beitrags soll es daher sein, die folgenden Fragen zu beantworten:

Welche theoretischen Konzepte und Annahmen können hinter einer Kritischen Fremdsprachendidaktik stehen?

Welches Potenzial haben aktuell dominierende kritische Konzeptionen und Theorien für die Fremdsprachendidaktik?

Welche methodisch-didaktischen Implikationen haben diese Konzepte und Annahmen für den Fremdsprachenunterricht, seine Gegenstände, Materialien und Durchführung?

Laurenz Volkmann (2010) hinterfragt bereits, ob die Kritische Pädagogik als weitere Baustelle nicht eher den Hochschulbereich angehe, den schulischen Fremdsprachenunterricht jedoch überfrachten könnte neben allen anderen Forderungen von der Förderung der funktional-kommunikativen Kompetenzen bis hin zum inter- und transkulturellen Lernen: „Wie ‚dekonstruktivistisch‘ im ursprünglichen Wortsinn, also wie ‚auseinandernehmend‘ oder gar alte Wahrheiten destruierend darf der Fremdsprachenunterricht sein?“ (ebd.: 15) Meine eigene Argumentation soll bereits in dieser Einleitung beginnen mit einem Mutmachen: „Heute umso mehr!“ Durch soziale und politische Verschiebungen dies- und jenseits des Atlantiks, globale und lokale Herausforderungen, die vielbeschriene Politikverdrossenheit, die sich zudem in Wahlen von Extremen äußern, darf die Förderung und Emanzipierung kritischer Bürgerinnen und Bürger – und hier vor allem auch system- und institutionenkritischer Heranwachsender – nicht nur Aufgabe von Hochschulen während des Studiums sein. Die Grundlagen dafür müssen bereits im schulischen Unterricht über das Herstellen einer kritischen Diskursfähigkeit angelegt werden, gerade vor dem Hintergrund einer offenbar wachsenden politisch-sozialen Bewusstheit junger Menschen und ihrem gestiegenen Interesse, sich gesellschaftlich zu engagieren (Stichwort: Fridays for Future).

Jeder Diskurs oder allein die Auseinandersetzung mit ihm kann dabei – manchmal auf kaum vorhersehbare Weise – für einzelne Lernende sozial relevant sein und eine politische und machtbezogene Dimension erhalten. Eine der zentralen Aufgaben der Schule besteht nun darin, Lernende an Diskurse und Praktiken heranzuführen und ihnen hierdurch die Teilhabe an ihnen – das heißt auch: die Teilhabe an der Gesellschaft – zu ermöglichen. (Fäcke et al. 2017: 5)

Der Fremdsprachenunterricht mit seinen Ansätzen und Unterrichtsgegenständen, den Zielen und Kompetenzen kann hier bedeutende Impulse liefern, die möglicherweise zunächst insbesondere über lehrer*innenbildende Institutionen in die Schulen hineingetragen werden könnten (vgl. z.B. Abednia 2012 und Gerlach/Fasching-Varner in diesem Band).

2.Überlegungen zum aktuellen Stand der Fremdsprachendidaktik

Herbeizurufen, dass die Fremdsprachendidaktik in einer Krise stecke, ist sicherlich übertrieben. Allerdings wird die Hauptfrage, der sie bis ans Ende des 20. Jahrhunderts nachgegangen war, nämlich der, wie Fremdsprachen möglichst effizient gelehrt und gelernt werden können, zunehmend durch andere Konzepte abgelöst. In einem postmethodischen Zeitalter, in dem die funktional-sprachliche Methodenfrage durch die Lehrkräfte eher eklektisch denn durch eine Großmethode beantwortet wird (vgl. Bell 2007, Kumaravadivelu 2006), stehen besonders Aspekte interkulturellen (vgl. z.B. Byram 1997, Volkmann 2010) und transkulturellen Lernens (vgl. z.B. Hallet 2002, Fäcke 2006) im Vordergrund (vgl. zur Kritik am Konstrukt der interkulturellen Kompetenz: Plikat 2017). Das Erreichen der near-nativeness wurde aufgegeben zugunsten des Ziels, einen intercultural speaker aufzubauen, der mittels einer „fremdsprachlichen Diskursfähigkeit“ (Hallet 2008) bzw. „fremdsprachlichen Diskursbewusstheit“ (Plikat 2017) gesellschaftliche Teilhabe ausüben kann (vgl. Norton 2000/2011). Zudem scheinen verstärkt auch allgemein-gesellschaftliche bzw. allgemein-pädagogische Fragestellungen wie Inklusion und Digitalisierung in ihrer Fachlichkeit ausdekliniert zu werden, was sich in Publikationen und Konzeptentwicklungen niederschlägt. Gleichzeitig kritisiert Pennycook (1990) schon vor dreißig Jahren die zunehmend funktionalistisch ausgerichtete Fremdsprachendidaktik mit einer „trivialization of content and an overemphasis on communicative competence“ (ebd.: 13).

Dabei überrascht für den deutschen Kontext, dass das Konstrukt „Bildung“ in einschlägigen Einführungswerken zur Fremdsprachendidaktik kaum eine Rolle zu spielen scheint (vgl. Sauer 2008). Höchstens im Zusammenhang mit der Förderung einer interkulturellen kommunikativen Kompetenz wird es thematisch (teils nur implizit) verhandelt. Die damit angestrebte Reflexionsfähigkeit, das „Fremdverstehen“ (vgl. Bredella/Christ 1995), der nötige Perspektivwechsel und die individuell-identitär wirksame Positionierung vor dem Hintergrund kultureller (auch literaturdidaktischer) Gegenstände mögen allesamt einem fremdsprachendidaktischen Bildungsziel entsprechen. Ihre Wirksamkeit muss jedoch hinterfragt werden, wenn bspw. für den englischdidaktischen Literaturunterricht attestiert werden muss, dass das Potenzial literarischer Texte nicht selten vernachlässigt wird, wenn Schülerinnen und Schüler Literatur nur als (unkritische) Rezipienten und Rezipientinnen erfahren (vgl. Gardemann in Vorbereitung).

Sehr wohl wohnt den im fremdsprachen-, literatur- und kulturdidaktischen Diskurs besprochenen Konstrukten und Prozessen ein Potenzial inne, „Bildung als Transformation grundlegender Figuren des Selbst- und Weltverständnisses“ (Koller 2018: 15) zu konstruieren (vgl. auch Plikat 2017). Allerdings geht es im bildungstheoretischen Diskurs mittlerweile stärker um die Wahrnehmung von Bildung als „negativ-reflexiven Prozess der […] Aufhebung von Selbst- und Welterfahrungsschemata zugunsten neuer und v.a. komplexerer, selbstreflexiver Perspektiven“ (Zirfas/Jörissen 2007: 65). Diese selbstreflexive Perspektive müsste in ihrer Komplexität – neben anderen Aspekten – in meinen Augen ebenso eine Förderung der (fachlich geprägten) Kritikfähigkeit an institutionalisierten Denkweisen und sozial gewachsenen, gesellschaftlichen Strukturen vorsehen. Damit wird sie auch zu einem Gegenstand der (kritischen) Fremdsprachendidaktik.

3.Mögliche Bezugsquellen einer Kritischen Fremdsprachendidaktik

Ganz bewusst wird im Folgenden die Kritische Theorie in der Tradition der Frankfurter Schule als Grundlage für die weiteren theoretischen Bezüge kurz umrissen. Dabei sollte allerdings anschließend auffallen, dass ich Kritische Erziehungswissenschaft und Kritische Pädagogik voneinander trenne: Unter ersterem Begriff skizziere ich das deutsche Verständnis einer Disziplin, die sich natürlicherweise stark anlehnt an die Vertreter der Frankfurter Schule, allerdings weitgehend die Diskussionen und Einflüsse auf einer internationalen Ebene, die der Kritischen Pädagogik im Anschluss an Paulo Freire, gleichsam zu ignorieren scheint. Daher bespreche ich beide Bereiche zunächst getrennt voneinander und versuche sie erst später wieder aufeinander zu beziehen, wenn es um die konkret fremdsprachendidaktisch gedachten Konzepte gehen soll.

Darüber hinaus seien die folgenden Bezugsquellen in zunehmend praxisorientierter Reihenfolge genannt: Von der Kritischen Theorie über die Kritische Pädagogik sowie Critical Literacy, die international weitestgehend im Anschluss an die Kritische Pädagogik diskutiert wird, werde ich in Grundzügen die Annahmen hinter dem (unscharfen) Konstrukt des kritischen Denkens vorstellen. Letzteres ist auch dem Umstand geschuldet, eine gewisse Abgrenzung der anderen Konstrukte zu diesem latent inflationär verwendeten Konzept zu ziehen, es gleichzeitig aber auch hinsichtlich seiner Produktivität im Hinblick auf fremdsprachendidaktische Fragestellungen zu hinterfragen.

Diese Bandbreite soll es sein, die didaktisch-methodischen Implikationen für eine Kritische Fremdsprachendidaktik in Ansätzen anschließend skizzierbar zu machen.

Kritische Theorie

Obwohl die Kritische Theorie, und hier für Deutschland besonders bedeutsam die Frankfurter Schule, immer eine eher marxistisch-sozialkritische Perspektive einnahm, die die selbstbestimmte Autonomie der Bürgerinnen und Bürger betonte und gleichzeitig die nötige kritische Haltung gegenüber (totalitären) Autoritäten, lassen sich aus ihr auch erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse ziehen (vgl. Lehmann 2015). Spätestens mit Adornos Erziehung nach Ausschwitz (1971a) wird die Bedeutung einer soziologisch-kritischen Perspektive auf Bildung und Erziehung im Nachkriegs-Deutschland zentral gestellt, in der Hoffnung, totalitäre und faschistische Regime in Zukunft verhindern zu können. In seiner Vorlesung „Tabus über dem Lehrberuf“ (1971b) stellt Adorno zudem heraus, dass Bildung ohnehin ständig ideologisch gefährdet sei und gerade Schülerinnen und Schüler zu eigenständig denkenden, demokratischen Bürgerinnen und Bürgern erzogen werden müssten.

Anhängerinnen und Anhänger der Kritischen Theorie zeichnet eine grundsätzliche Skepsis aus: Sie betrachten soziale Phänomene aus sich heraus und setzen sich mit ihnen in ihrer Eigenständigkeit hermeneutisch auseinander (immanente Kritik). Dadurch erhalten diese Zugänge einen Neutralitätsanspruch, der wiederum nur durch den Gegenstand selbst begründet und damit ahistorisch ist und dekontextualisiert wird. Diese Einschränkung, die die Mitglieder der Frankfurter Schule natürlich nicht als solche bezeichnen würden, kann kritisiert werden: So vernachlässigt sie (potenziell) das Einbeziehen zahlreicher sozialer oder kultureller Faktoren, möchte nicht explizit Ursache-Wirkungs-Ketten aufstellen, sondern phänomenologisch aus sich heraus beschreiben, interpretieren und kritisieren, „was Sache ist“. Selten entstehen daher konkrete Handlungsempfehlungen aus hermeneutisch-kritischen Bearbeitungen bestimmter Phänomene: Die Kritische Theorie versteht sich vielmehr als offene Methodologie mit dem Anspruch, Allgemeingültigkeit und die Neu-Entstehung von Ideologie zu vermeiden.

Ausgehend unter anderem von der Prämisse, dass Sprache nicht ein Abbild der Wirklichkeit ist, sondern Menschen durch Sprache Zugang zur Wirklichkeit erhalten (vgl. Wittgenstein 2003), basieren zahlreiche weitere (postmoderne bzw. poststrukturalistische) Theorien auf marxistischen, zumindest ideologiekritischen und machttheoretischen Annahmen, die besonders historisch tradierte, gesellschaftliche Benachteiligungen aufbrechen möchten. Sie betrachten hierzu den Gebrauch von Sprache und wie diese bestimmte kategoriale Zuordnungen erzeugt, die dann sozial wirksam zur Konstruktion von Minderheiten oder – im Umkehrschluss – sozial überlegenen Gruppen führen. Zu diesen Theorien gehören neben anderen die feministische sowie die Queer-Theorie, welche geschlechtliche Kategorien in identitärer, sozialer wie biologischer Hinsicht hinterfragen, oder auch die Critical Race Theory, die beispielsweise die Überlegenheit Weißer vor dem Hintergrund eines formal auf Gleichberechtigung ausgelegten Rechtsstaats wie die Vereinigten Staaten von Amerika anprangert.

Auch die Pädagogik und Erziehungswissenschaften wurden durch Annahmen der Kritischen Theorie nachhaltig beeinflusst.

Kritische Erziehungswissenschaft

Vielleicht am deutlichsten zeigte sich dieser Einfluss in der Kritischen Erziehungswissenschaft, die als solche – im Gegensatz zur Kritischen Pädagogik (s.u.) – heute kaum noch begrifflich als Disziplin auftritt. Gemeint war damit seinerzeit der durch die Student*innenbewegung der 1960er Jahre geprägte „Bezug auf Traditionen sozialistischer Pädagogik der Weimarer Republik sowie die Marxsche Theorie“ (Sünker 2007: 424). Wesentlich schließen sich die Prinzipien an diejenigen der Kritischen Theorie an, diskutieren pädagogische Konstrukte aus sich heraus, kritisieren dabei besonders die ungenügende Reflexion „der gesellschaftlichen Produktions- wie Reproduktionsprozesse in ihrer Bedeutung für Bildung und Erziehung“ (ebd.: 424). Wesentlich für die Zeit ist die Kritik an Eliten und am Kapitalismus sowie an deren beider Einfluss im weiter auszugestaltenden Bildungssystem. Das eigentliche Ziel ist die wachsende Mündigkeit der Schülerinnen und Schüler, Förderung demokratischen Denkens gegen jedwede Entstehung von Machtstrukturen, die Erstarkung antiautoritärer Erziehung sowie reformpädagogischer Konzepte.

Praxistheoretisch zeigte sich dies – neben den Einflüssen Adornos auf höherer Ebene – besonders durch Klafkis Kritisch-konstruktive Didaktik (2007), die er auf Basis und als Reaktion auf Kritik an seiner bildungstheoretischen Didaktik erweiterte. In „epochaltypischen Schlüsselproblemen“ sollen sich anhand besonders dringender sozialer Probleme (wie Gleichberechtigung, Krieg und Frieden, Umwelt) Fertigkeiten auf Seiten der Lernenden einstellen, die zu einem verantwortungsvollen, kritischen Umgang mit diesen bzw. auch neu auftretenden Phänomenen führen. Klafkis Prinzip der „kategorialen Bildung“ verlangt, dass ein Unterrichtsgegenstand immer zugleich einen Wert an sich sowie einen formalen Bildungsgehalt hat. Letzterer zeichnet sich dadurch aus, dass er „elementar“, „fundamental“ sowie „exemplarisch“ ist, d.h. der Unterrichtsgegenstand ist einfach vermittelbar, dabei gleichzeitig essentiell nötig für ein Weltverstehen und dabei typisch und potenziell in seinem Sinn übertragbar auf andere Zusammenhänge. Oft nur auf Einzelstunden bezogen, obwohl es Klafki immer um größere Planungszusammenhänge ging, werden Themen bzw. Gegenstände vor allem bezüglich ihrer Beispielhaftigkeit, ihrer Gegenwarts- sowie ihrer Zukunftsbedeutung für Lernende hinterfragt mit dem Ziel, deren „Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit, Solidaritätsfähigkeit“ (Jank/Meyer 2002: 231) in einem gesellschaftlichen Sinne zu fördern.

Kritische Pädagogik

Gängiger als der Begriff der Kritischen Erziehungswissenschaft, wie er in Deutschland ab und an zu lesen ist und wie ihn auch Klafki wiederholt genutzt hat, ist in internationalen Kontexten jener der Kritischen Pädagogik (Critical Pedagogy). Im Wesentlichen werden auch hier die Grundüberlegungen der Kritischen Theorie auf Bildung und Erziehung übertragen. Grundsätzlich gehen Vertreter und Vertreterinnen dieser Richtung davon aus, dass Bildung immer politisch und sozial-emanzipierend sein muss und dass es kein neutrales Wissen gibt (vgl. Aliakbari/Allahmoradi 2012, Crookes 2013). Die Diskriminierungen, die innerhalb einer Gesellschaft stattfinden z.B. in Bezug auf Klassenunterschiede, Rasse oder Geschlecht, werden wiederum innerhalb der Bildungssysteme reproduziert (vgl. Giroux 1983). Die kritische Reflexion dessen, was Bildungseinrichtungen, Schule und der Unterricht selbst anbieten, muss demnach der Kritischen Pädagogik folgend ein unabdingbarer Bestandteil des Unterrichts werden (vgl. Kincheloe 2008, Akbari 2008):

Critical pedagogy is teaching for social justice, in ways that support the development of active, engaged citizens who will, as circumstances permit, critically inquire into why the lives of so many human beings, including their own, are so materially (and spiritually) inadequate, be prepared to seek out solutions to the problems they define and encounter, and take action accordingly. (Crookes 2013: 77)

Als einer der Begründer Kritischer Pädagogik gilt Paulo Freire, der aus seinen Erfahrungen mit brasilianischen Arbeiter*innen, denen er Lesen und Schreiben beibrachte, eine Analyse kolonialistischer Bildungsideologie entwickelte, welche in seiner Pedagogy of the Oppressed (zuerst veröffentlicht 1970; Freire 2006) mündete. Er identifiziert ein – im Allgemeinen sicherlich auch außerhalb von Südamerika nicht unbekanntes – transmissionsorientiertes Modell von „Bildung“ („banking model of education“), das dem Primat der Vermittlung von vorgegebenen Inhalten folgt, ohne die sozialen, kontextbedingten Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ernst zu nehmen. Dabei kommt es nach Freires Analyse zu einer Dehumanisierung nicht nur der Schülerinnen und Schüler, sondern auch der Lehrkräfte, da sie in Abhängigkeit gebracht werden von curricularen und administrativen Vorgaben sowie Lehrwerken und Materialien. Freire prägt in seinem Werk den Begriff des „kritischen Bewusstseins“ (conscientization als englischer Begriff war die direkte Übersetzung des portugiesischen conscientização), welches in einem post-marxistischen Sinne eine wachsende Kritikfähigkeit sozialer Beziehungen, Interaktionen und Machtgefüge fördern soll. Kritische Pädagogik, auch wenn Freire diesen Namen zunächst selbst nicht nutzte (dies war später Giroux), war für ihn nie eine methodologische Rezeptologie, sondern politische Erziehung zum sozial verantwortlichen Handeln. In Education: The Practice of Freedom (Freire 1976) beschreibt er ein dreistufiges, kritisch-theoretisches Konzept, das er allerdings, wie sich bei genauerer Betrachtung im Nachhinein herausstellte, von einer kirchlichen Organisation grundlegend übernommen hatte (vgl. Crookes 2009: 183), unterteilt in Naming, Reflection und Action. In der Naming-Phase geht es um die Beschreibung und Identifizierung eines (sozialen, machttheoretischen) Problems oder einer Fragestellung, während der Reflection-Phase werden mögliche Ursachen hierfür ergründet, um in der letzten Phase (Action) Lösungen und Optionen zu erarbeiten.

Wichtig für Freire war, dass die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler unmittelbar aufgegriffen wird, wie es heute in der Fremdsprachendidaktik als „Lerner*innenorientierung mittels authentischer Aufgaben“ bezeichnet werden würde. In didaktischer Hinsicht benutzte er dabei im beginnenden Anfangslese- und -schreibunterricht primär Wortschatz, den die Lernenden tatsächlich in ihren Alltagskonversationen benutzten. Crawford (1978) war die erste, die die Freire’schen Prinzipien auf das Fremdsprachenlernen übertrug und mehrere Prinzipien herausarbeitete, welche wiederum Crookes (2009: 184) wie folgt zusammenfasst:

a)

The purpose of education is to develop critical thinking by presenting [students’] situation to them as a problem so that they perceive, reflect and act on it;

b)

The content of the curriculum derives from the life situation of the learners as expressed in the themes of their reality;

c)

The learners produce their own learning materials;

d)

The task of planning is first to organize generative themes and second to organize subject matter as it relates to those themes;

e)

The teacher participates … as a learner among learners;

f)

The teacher … contributes his/her ideas, experiences, opinions, and perceptions to the dialogical process;

g)

The teacher’s function is one of posing problems;

h)

The students possess the right to and power of decision making.

Henry Giroux (1983) hat Freires Grundkonzept aufgegriffen und in einer westlichen Orientierung gewissermaßen als „Kritische Pädagogik“ massentauglich gemacht. Die Grundannahme der Kritischen Theorie, dass Bildung auch immer ein politisches Moment hat, wurde dabei übernommen. Im Gegensatz zu Vertretern der Frankfurter Schule rufen diejenigen der Kritischen Pädagogik jedoch zum kollektiven Handeln auf und setzen sich für einen transformatorischen Prozess ein. Bildung und Erziehung sind damit ein Werkzeug, soziale Gerechtigkeit aktiv herzustellen.

Die Grundüberlegungen der Kritischen Pädagogik sind selbst nicht ohne Kritik geblieben. Diese neigt im einen Extrem dazu zu beanstanden, dass das Ziel sei, eine Radikalisierung junger Menschen bzw. Bürgerinnen und Bürger in sozial-gesellschaftlicher Hinsicht vorzunehmen, auf der anderen Seite wird die fundamental kritische Haltung am Status Quo häufig als institutionelle Gefahr für Bildungssystem und Curriculum angesehen. Je nach Auslegung und Radikalität der Umsetzung haben die Bedenken möglicherweise ihre Berechtigung. Allerdings soll es in dieser Argumentationslinie nicht darum gehen, einen Radikalismus zu befürworten oder gar in Schule zu implementieren. Vielmehr sind mit dem Begriff der Kritik im Freire’schen Sinne gleichzeitig Hoffnung, Respekt sowie Humanität verbunden (vgl. Akbari 2008; vgl. auch die Kritik an Akbaris Beitrag von Sowden 2008 mit dem provokanten Titel „There’s more to life than politics“). Die hinter dem Ansatz der Kritischen Pädagogik stehenden Prinzipien vermögen einen emanzipierenden und bildenden Fremdsprachenunterricht zu informieren, in dem eine allgemein-kritische Haltung angelegt und befördert wird, die aus Lernenden das hehre Ziel des mündigen Bürgers und der mündigen Bürgerin zu formen vermag. Wie Crookes (2009) allerdings betont, hat sich die Fremdsprachendidaktik, und er spricht speziell von Kontexten mit English as a Foreign oder Second Language (EFL/ESL), wenn überhaupt nur vereinzelt einer curricularen Verankerung einer gewissen Kritischen Pädagogik verschrieben.

Critical Literacy

Critical Literacy findet sich im akademischen Diskurs sowie in der Praxis primär in postkolonialen Kontexten wie Südamerika oder Pakistan, aber auch in Südafrika und Australien, sowie verstärkt in Mittel- und Nordamerika (vgl. Crookes 2009, Abednia/Crookes 2018, López-Gopar 2019). Sie geht ebenfalls auf die Frankfurter Schule und Paulo Freire zurück, dem es in seinem Bildungsanspruch von Schülerinnen und Schülern darum ging, durch das Beherrschen von (Schrift-)Sprache das „kritische Bewusstsein“ zu befördern. Neben dialogisch orientierten Unterrichtsmethoden legte Freire besonderen Wert auf die Lese- und Schreibprozesse sowie die kritische Reflexion über die Bedeutung von Sprache (vgl. Vasquez 2017):

Critical literacy is about imagining thoughtful ways of thinking about reconstructing and redesigning texts, images, and practices to convey different and more socially just and equitable messages and ways of being that have real-life effects and real-world impact. (ebd.: 9)

Critical Literacy folgt der Annahme, dass die Welt als soziale Konstruktion wie ein Text gelesen, interpretiert und bewertet werden kann (vgl. Janks 2014). Damit ist sie – und alle in ihr verfügbaren Texte – niemals neutral, wie auch die individuelle Bedeutungskonstruktion niemals neutral sein kann. Gleichzeitig sind sprachliche Kompetenzen, die diese Wirklichkeit erschließen, von besonderer Bedeutung und dadurch grundlegende Voraussetzung. Verschiedene Autorinnen und Autoren haben Modelle vorgeschlagen, wie die Förderung dieser Literalität ausgestaltet werden kann. Im Kern konzentrieren sie sich auf eine operationale, eine kulturelle und eine kritische Ebene (vgl. z.B. Janks 1991, Bigum/Green 1993, Luke 2018). Schülerinnen und Schüler müssen zunächst lernen, die Sprache auf basal orthographischer oder phonologischer Ebene, allerdings auch hierarchiehöhere Diskurselemente dekodieren zu können. Sie müssen daraufhin die Einsicht gewinnen, dass Lernen und Texte in (eigene und fremde) kulturelle Kontexte eingebettet sind und schließlich die impliziten Strukturen kritisch bewerten, um sich damit vom vermeintlichen Neutralitätsanspruch (schriftsprachlicher bzw. kommunikativer) Produkte zu lösen. Breidbach et al. (2014) diskutieren Critical Literacy als dem Konstrukt von Multiliteralität inhärenten Bestandteil. Sie adressieren dabei auch den kognitiven Anspruch, der mit der Förderung einer Critical Literacy im Fremdsprachenunterricht verbunden ist, welche in eine Methodologie des kommunikativen Ansatzes noch integriert werden müsste.

Zahlreiche Studien in den letzten zwanzig Jahren untersuchen die Bedeutung dieses Konstrukts und wie es bei Schülerinnen und Schülern helfen kann, soziale Ungerechtigkeit und entsprechend nötiges Gegenhandeln bewusst zu machen (vgl. Festino 2008, Norris et al. 2012, Abednia/Crookes 2018). Damit einher geht der zunehmend stärkere Fokus auf Identitätskonstrukte sowie die Förderung individuell wirksamer Agency innerhalb (potenziell einschränkender) sozialer Systeme (vgl. Comber/Nixon 2014). Die feministische Kritik konnte zudem zahlreiche Beispiele von patriarchalen und hierarchischen Praktiken im Fremdsprachenunterricht in verschiedenen Ländern ausmachen und potenzielle Lösungsvorschläge erarbeiten (vgl. Pavlenko 2004, Sunderland 2004).

Kritisches Denken

Als streng genommen keine (kritische) Theorie, sondern vielmehr schwammiges Konstrukt, gilt das kritische Denken in vielen Disziplinen und Fächern als überfachliches Ziel im Nachgang zu den PISA-Erhebungen, obwohl mittlerweile genau diese vermeintliche Überfachlichkeit als Transferkompetenz durch empirische Erkenntnisse in Zweifel gezogen wird (vgl. Willingham 2007). Die Argumentation geht dahin, dass kritisches Denken nicht überfachlich angelegt, vermutlich gar nicht explizit unterrichtet werden kann. Es findet nur basierend auf entsprechend ausgeprägtem Fachwissen kontextgebunden Anwendung (ebd.), was zudem je nach fachkultureller Prägung unterschiedliche Erkenntnistheorien nach sich zieht. Es gibt Anzeichen dafür, dass das grobe Erkennen von Problemstellungen als Oberflächenstrukturen tatsächlich lernbar ist, das letztendliche Lösen eines fachlich orientierten Problems auf tieferliegenden Ebenen jedoch komplexeres, disziplinspezifisches Wissen benötigt (vgl. Barnett/Ceci 2002).

Im Gegensatz zu Kritischer Pädagogik ist kritisches Denken folglich auf einer stärker rationaltheoretischen und vor allem apolitischen Ebene zu verorten, die darauf abzielt, Lösungen bzw. differenzierte, mehrperspektivische Antworten auf Fragen zu finden, welche nicht notwendigerweise sozialer oder gesellschaftlicher Natur sein müssen (aber sein können). Es kann daher auch eine sprachliche Herausforderung darstellen, sich sowohl die nötigen Informationen zur Lösung der Problemstellung zu erarbeiten, als auch eine Antwort differenziert zu formulieren und in eine Form zu bringen, welche gegenteiligen Meinungen standhält. Kritik an diesen (vermeintlich einfachen und in sich logischen) Antworten zu üben, ist einer der Kernansprüche kritischen Denkens, was dieses mit der Kritischen Theorie gemein hat. In diesem Feld ist zudem der Einsatz metakognitiver Strategien zu verorten, die auch für das Fremdsprachenlernen bedeutsam sind und eine entsprechende „Kritikfähigkeit“ wahrscheinlicher machen (vgl. Willingham 2007).

Kritisches Denken wird als eines der 21st century skills angesehen und dabei nicht selten mittels der Taxonomie von Benjamin Bloom et al. (1956) bzw. ihrer Revision (vgl. Krathwohl 2002) konstruiert. Blooms Überzeugung seinerzeit war, die Taxonomie könne Folgendes bieten:

common language about learning goals to facilitate communication across persons, subject matter, and grade levels;

basis for determining for a particular course or curriculum the specific meaning of broad educational goals, such as those found in the currently prevailed national, state, and local standards;

means for determining the congruence of educational objectives, activities, and assessments in a unit, course, or curriculum; and

panorama of the range of educational possibilities against which the limited breadth and depth of any particular educational course or curriculum could be contrasted. (Krathwohl 2002: 212)

Dabei wurde Wissen bzw. der Umgang mit ihm in sechs wesentliche Ebenen unterteilt von Wissen, Verstehen, Anwendung, Analyse, Synthese bis hin zur Evaluation mit jeweils ausdifferenzierten Unterkategorien. Wie jedes Stufenmodell, das zudem offensichtlich einen gewissen Gültigkeitsanspruch der Evaluierbarkeit von Kompetenz bzw. Performanz, also eine gewisse Standardorientierung, vertrat, jedoch kaum dezidiert empirisch überprüft wurde, blieb es nicht ohne Kritik. Die revidierte Fassung bezieht dementsprechend zusätzlich zu einer kognitiven auch eine metakognitive Dimension ein, die einzelnen Kategorien der ersteren wurden begrifflich stark angepasst: Erinnern, Verstehen, Anwenden, Analysieren, Evaluieren und Kreieren sind die mittlerweile gängigen Formate, nach denen Aufgaben im Sinne einer revidierten Bloom’schen Taxonomie konstruiert werden.

Die Taxonomie findet ihren Niederschlag mittlerweile in zahlreichen internationalen Fremdsprachenlehrwerken, obwohl sie nicht unproblematisch ist aufgrund der bereits angesprochenen, mangelhaften empirischen Fundierung – auch bezüglich des tatsächlichen Niederschlags kritischen Denkens in fremdsprachenunterrichtlichen Settings. Es wird gleichsam angenommen, dass das stufenweise Abarbeiten von hierarchieniedrigen hin zu hierarchiehöheren „Thinking skills“, wie sie Bloom angelegt hat, kritisches Denken am fremdsprachendidaktischen Gegenstand quasi-automatisch fördert. Dies ist nicht nur vor dem Hintergrund des nur wenig ausdifferenzierten Konstrukts problematisch, sondern auch, wenn man bedenkt, dass in der Taxonomie höher angelegte Prozesse wie „Evaluieren“ durchaus sprachliche Herausforderungen für Lernende auf Niveau A1 oder A2 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens darstellen dürften.

Zusammenfassend muss noch einmal betont werden, dass kritisches Denken in der Regel keine transformatorischen Ziele verfolgt im Sinne der Bildung zu sozialer Gerechtigkeit und der kritischen Diskussion bestimmter Brennpunktthemen wie es die Kritische Pädagogik tut (vgl. Burbules/Berk 1999). Das kritische Denken ist vielmehr ein methodischer Ansatz, der das mehrperspektivische Betrachten dieser Fragestellungen befördern kann, und ist daher von Bedeutung.

4.Methodisch-didaktische Implikationen für einen kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht

Ausgehend von den theoretischen Bezügen mag die Frage gestellt werden, ob die mit ihnen verbundenen Überzeugungen und Ziele nicht zum einen sehr ambitionierten sowie ideologisch aufgeladenen Fremdsprachenunterricht führen (vgl. Jeyaraj/Harland 2016), zum anderen, ob sie in methodisch-didaktischer Hinsicht möglicherweise utopisch und kaum umsetzbar sind. Die einfache Antwort darauf ist: Wahrscheinlich. Gleichzeitig hat Paulo Freire immer wieder herausgestellt, dass das Gegenteil eines kritischen Bewusstseins immer Stillstand, wenn nicht sogar Rückschritt wäre, Akzeptanz des Status quo unbegrenzter Gehorsam vor der Autorität (vgl. Freire 1976, Giroux 1983). Einen kritischen Geist zu entwickeln bzw. diese Kritikfähigkeit in Lernenden anzuregen, muss als ein Prozess gesehen werden, der nie abgeschlossen ist. Es ist kein Prozess, der wie fremdsprachliche Fertigkeiten standardisiert messbar oder anhand eines Referenzrahmens kompetenzorientiert abgebildet werden könnte. Es sind vielmehr humanistische, politische und gesellschaftlich-soziale Überzeugungen sowie Reflexivität, die kritisches Denken anregen und damit im Fremdsprachenunterricht fruchtbar integriert werden können, um Demokratieerziehung und Partizipation zu ermöglichen. Es ist eine mit dem Ziel der Partizipation ausgerichtete Fremdsprachendidaktik mit methodischer Umsetzung zur Förderung von „competencies and skills that have value in a culture, and at the same time provide the basis for critical change“ (Hallet/Legutke 2013: 9). Damit steht eine Kritische Fremdsprachendidaktik der von Plikat (2017) entworfenen „fremdsprachlichen Diskursbewusstheit“ sehr nahe, zumal er neben diskurstheoretischen Aspekten eine „Bewusstmachung der affektiven, machtbezogenen und sprachstrukturellen Domänen“ (ebd.: 299) als nötig erachtet und diese mit universellen Menschenrechten sowie dem Anspruch transformatorischer Bildungsprozesse ins Verhältnis setzt.

Das notwendigerweise anzuerkennende politische Moment eines derart an Demokratie und Menschenrechten orientierten Unterrichts ist in dem Zusammenhang nicht parteipolitisch zu verstehen, es lässt sich nicht in „links“ und „rechts“, „konservativ“ oder „liberal“ einordnen. Es geht vielmehr um Machtkonstellationen und die Konstruktion von Macht und Ungerechtigkeit (und ihre Entlarvung) durch Sprache (vgl. Foucault 1980, Pennycook 1999). Damit ist, wie auch Fäcke et al. (2017) herausstellen, jeder Unterricht politisch, da „Bildung inhärent politisch ist“ (ebd.: 5). Ein unkritischer, d.h. apolitischer Fremdsprachenunterricht, der lediglich möglichst neutrale Themen einzubeziehen versucht (s. auch Anmerkungen zu Lehrwerken unten), verkommt laut Pennycook (1990) zu einer technologisierten und rein prozessierenden Praxis. Ein kritisch-pädagogischer Ansatz soll Grundprinzipien des Fremdsprachenunterrichts in funktional-pragmatischer, diskurs- und genretheoretischer sowie interkultureller Hinsicht keinesfalls ersetzen, ihn aber möglicherweise sinnvoll ergänzen und wertvolle neue Themen und Praktiken einführen (vgl. Morgan 1998).

Entsprechend soll es im Folgenden darum gehen, mögliche didaktische wie auch methodische Überlegungen im Zusammenhang mit den oben vorgestellten kritischen Aspekten zu skizzieren, welche darüber hinaus in diesem Sammelband vertiefend anhand von Beispielen und fremdsprachendidaktischen Unterrichtsgegenständen durchgespielt werden.

Lernende im Kritischen Fremdsprachenunterricht

Bereits die New London Group (2000) formulierte ihr Konzept der Multiliteracies als (sprach-)didaktische Antwort auf die Notwendigkeit von Lernenden, mit einer größeren Vielzahl von Texten im weiteren Sinne umzugehen (vgl. auch Küster 2014). In Verbindung gebracht wird ein kritisches Moment hier stärker über Critical Literacy, welche aber noch nicht notwendigerweise immer ein soziales Moment berücksichtigt. Kritischer Fremdsprachenunterricht jedoch ist von den sozialen Bedürfnissen der Lernenden aus gedachter Unterricht. Dieser Anspruch lässt sich auch historisch herleiten, z.B. mit dem stärkeren Fokus auf Fragen der Lernenden im Vergleich zu Fragen der Lehrenden (inquiry education; vgl. Postman/Weingartner 1969). Authentizität und Lerner*innenorientierung sind nicht umsonst zentrale Paradigmen der Fremdsprachendidaktik, die weiterhin hohe Bedeutung haben (vgl. z.B. zu Authentizität im Englischunterricht: Will 2018). Jedoch haben sie nicht dazu geführt, dass individuelle und soziale Herausforderungen der Lernenden real und kontextsensibel im Unterricht realisiert werden. Dies hat verschiedene Gründe: Einer davon kann die Dominanz des Lehrwerks und seine Verhandlung einer am Prinzip der political correctness ausgerichteten Themenauswahl sein (s.u.), welche sich auch in Lehrplänen (kompetenz- oder inhaltsorientiert) widerspiegelt (oder Ursache dessen ist). Ein anderer Grund könnte eine Lehrer*innenbildung sein, die ebenso unkritisch (kulturelle) Unterrichtsgegenstände rezipiert und in der Schule einbringt, ohne eine echte demokratische Teilhabe der Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen. Pennycook (1997/1999) merkt allerdings kritisch an, dass ein zu sehr am Konstrukt demokratischer Partizipation aufgehängter Fremdsprachenunterricht Gefahr läuft, sich methodisch in Stuhlkreisen zu verlaufen. Vielmehr müssten dezidiert kritische Themen mit lokalen Bezügen zum Gegenstand gemacht, möglichst auch curricular verankert werden. Die Identitätsentwicklung der Schülerinnen und Schüler, das Ernstnehmen ihrer sozialen Strukturiertheit bzw. eine Sensibilisierung dafür, sich für die Bedürfnisse anderer einzusetzen, muss auch fachlich ausdifferenziert werden (vgl. Norton 2011, Bonnet 2018). Dabei reicht es nicht, wie in der Vergangenheit, nur nach individuellen Faktoren oder Lernendenvariablen (wie z.B. Motivation) einen differenzierenden Unterricht zu gestalten. Die Rolle bzw. subjektive Bedeutung des investments innerhalb einer sozialen Strukturiertheit und des Kontexts des Unterrichts scheint ungleich bedeutender (vgl. Norton 2000/2011): „For example, a student may be a highly motivated learner, but may not be invested in the language practices of a given classroom if the practices are racist, sexist, or homophobic.” (Darvin/Norton 2015: 37; Hervorhebung im Original)

Es wird im Folgenden noch klarer werden, wie dies methodisch-didaktisch umgesetzt werden kann.

Gegenstände im kritischen Fremdsprachenunterricht

Die Anwendung einer Kritischen Pädagogik im Fremdsprachenunterricht geht über das häufige Beispiel für Critical Language Awareness (vgl. Fairclough 2015), das Multiliteracies-Konstrukt der New London Group (2000) bzw. Critical Literacy (s.o.) hinaus. Im Zusammenhang mit der Förderung von (kritischer) Sprachbewusstheit im Unterricht wird als Beispiel nicht selten die Analyse der Wirkung von Werbung hergenommen (vgl. z.B. Fehling 2010). Hier wird die Sprache von Werbung zum Unterrichtsgegenstand gemacht, ihre manipulative Wirkung analysiert, ggf. sogar von Schülerinnen und Schüler produktorientiert eigenständig entwickelt. Im Sinne einer kritischen Didaktik ist diese Vergegenständlichung von Sprache und ihrer Funktion notwendig, allerdings geht sie nicht weit genug, da hier nicht notwendigerweise kritische Haltungen und Überzeugungen der Lernenden ernst genommen oder gar gefördert werden. Auch führt die Analyse von Werbung häufig nicht dazu, dass Ungerechtigkeiten, Machtgefüge oder Ungleichheiten aufgedeckt bzw. transformiert werden. Es geht hier eher um die Förderung einer Analysekompetenz, die sicherlich eine Voraussetzung für ein kritisches Bewusstsein bzw. das oben vorgestellte kritische Denken sein kann, aber noch nicht hinreichend an den Grundfesten der lerner*innenseitigen Überzeugungen auch im Sinne einer sozial-ideologischen Kritik anzusetzen vermag. Janks (2010/2014) beispielsweise zeigt vor dem Hintergrund von Critical Literacy in südafrikanischen Schulen diesen entscheidenden weiteren Schritt, denn ihr Ziel ist: „to increase students’ awareness of the way language was used to oppress the black majority, to win elections, to deny education, to construct others, to position readers, to hide the truth, and to legitimate oppression” (2010: 12).

Es mag hier der Verdacht aufkommen, dass eine Kritische Fremdsprachendidaktik mit ihren oben vorgestellten Bezugstheorien eher Gegenstände aufgreifen kann, die tatsächlich in Systemen und Ländern mit sozialer (aktiver oder passiver) Repression bzw. in sozial ungerechten Kontexten vorkommen. Allerdings: „Unterricht ist [immer, D.G.] in gesellschaftliche Kontexte eingebunden, das heißt: auch in politische, historische, soziale, ökonomische etc. Daher ist eine Auseinandersetzung mit bestimmten Werten und Normen unumgänglich.“ (Fäcke et al. 2017: 6) Man muss sich nur die latente und reale Ungerechtigkeit im deutschen Bildungssystem vor Augen führen, in dem in Zeiten gestiegener Heterogenität genau diejenigen Schülerinnen und Schüler abgehängt werden, denen durch ihr sozioökonomisch schwächer gestelltes Elternhaus oder ihre Nachbarschaft kaum ein anderer Zugang zu Bildung ermöglicht wird als derjenige, den die Schule bereitstellt (vgl. z.B. OECD 2016). Die Abhängigkeit von sozialen Systemen und Institutionen, das genaue Gegenteil verpflichtenden Fremdsprachenunterrichts mit „reflexiv-emanzipatorische[n] Ziele[n]“ (Bonnet/Hericks 2014: 90; Hervorh. im Orig.), scheint für diese Lernenden vorprogrammiert. Und genauso sind wachsende Reflexion und Emanzipation der sozial besser gestellten Kinder und Jugendlichen ebenso wertvolle Ziele im Fremdsprachenunterricht wie auch in institutionellen Bildungskontexten insgesamt, indem Lernende dazu ermutigt werden, Verantwortung für sich und ihre Mitlernenden zu übernehmen, denn „what happens in the classroom should end up making a difference outside the classroom“ (Baynham 2006: 28). Und: „If students are going to transform the lives of themselves and those of others, they cannot do so unless due attention is paid to their own culture in the curriculum and opportunities are provided for critical reflection on its features.“ (Akbari 2008: 279)

Die De- und Rekontextualisierung z.B. der englischen Sprache als internationale lingua franca, die mehr und mehr Personen interagieren lassen, die nicht ursprünglich aus einer englischsprachigen Kultur stammen, lässt den weiterhin gültigen Fokus auf die englischsprachigen Kulturen zunehmend fraglich erscheinen (vgl. ebd.). Mit der Brille der Kritischen Pädagogik gerät die Kultur der Fremdsprachenlernenden zunehmend ins Licht – und ihr inter-/transkultureller Vergleich der Lebenswelten z.B. mit Gleichaltrigen auf der ganzen Welt. Die Kritische Pädagogik betont daher ständig die Bedeutung lokaler Kontexte und ermutigt, die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler in den Unterricht einzubeziehen, Alltags- und Jugendthemen zu berücksichtigen und zwar nicht ausschließlich vor dem Hintergrund eines zielsprachlichen Textes oder einer Lektüre, die gelesen wird, sondern ganz ursprünglich generiert auf Basis der Sorgen und Bedürfnisse der Lernenden. Zunächst abstrakt wirkende Themen wie soziale Benachteiligung und Brennpunkte, Migration, Rassismus oder sexuelle Orientierung können allgemein eingeführt, müssen dann aber anhand lokaler oder regionaler Besonderheiten sowie besonderer Lerngruppen problemorientiert durchdrungen werden, um Betroffenheit und transformatorisch-reflexives Denken befördern zu können.

Volkmann (2010) warnt:

Das Kernlernziel des Englischunterrichts, die interkulturelle kommunikative Kompetenz, darf keineswegs durch eine ideologische oder kulturkritische ‚Überfrachtung‘ an den Rand gedrückt werden. […] Es stellt sich überhaupt die Frage, inwieweit altersadäquat kritisches Bewusstsein vermittelt werden kann bzw. im Anfangsunterricht werden soll. (ebd.: 16)

Dies ist sicherlich eine Herausforderung. Gleichzeitig verweisen Janks (1991) und Akbari (2008) auf die Bedeutung der L1 im Fremdsprachenunterricht zwecks der Erhaltung von Flüssigkeit im Unterrichtsgeschehen und des barrierefreien Klärens sprachlicher Phänomene. Das Einbringen und die Diskussion muttersprachlicher Konzepte, d.h. insbesondere potenziell relevanter Themen, kann folglich in der L1 (auf einer alltags- und/oder bildungssprachlichen Ebene) geschehen, schließlich ist die Muttersprache sehr stark identitär wirksam für jeden einzelnen Lernenden und jede einzelne Lernende: „If people are supposed to become empowered and their voices recognized and respected, then the first step needs to be a respect for who they are and the values they represent.“ (ebd.: 280) Dennoch muss im kritischen Sinne auch in der Fremdsprache die Problemstellung oder der zu diskutierende Konflikt thematisiert werden, um kritisches Denken (in der Fremdsprache) und ein kritisches Bewusstsein fremdsprachlich zu fördern. Die Werte und Überzeugungen, die die Lernenden mit in den Unterricht bringen, können über ihre L1 im Sinne von translanguaging (z.B. transferiert von einer L1 zu Deutsch und dann in die Fremdsprache Englisch) zum Gegenstand gemacht und reflektiert werden mit dem Ziel, emanzipatorisches Denken und Handeln zu fördern.

Mit dem Wissen darum, dass jedwede Vorgabe von möglichen Themen die Idee eines kritischen Fremdsprachenunterrichts fast untergräbt, sollen in Tabelle 1 dennoch zumindest thematische Felder aufgeführt werden, wie sie in der Literatur diskutiert und (grob) für verschiedene Altersgruppen vorgeschlagen werden. Crookes (2013), Janks (1991) sowie Leland/Harste (2002) liefern einige Beispiele für besonders auf kritischen Fremdsprachenunterricht zugeschnittene Themen, obwohl berücksichtigt werden muss, dass in den letzten 20 Jahren verstärkt auch im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur zahlreiche kritisch orientierte Werke erschienen sind, die als Reflexionsfolien im Fremdsprachenunterricht produktiv genutzt werden können.

Altersstufe

Potenzielle Themen

Primarstufe

Bilderbücher oder kurze Geschichten mit sozialen Themen wie Bullying, Umgang mit Trauer, Umgang mit Veränderung, Ability und Disability, (Kinder-)Armut …

Sekundarstufe

wie oben, allerdings stärker von den Lernenden aus generierte Themen, aktuelle (lokale) Nachrichten, politische Instanzen in der Schule, Gewalt, Rassismus, Vorurteile, Macht und Machtausübung in Schule und außerhalb, soziale Klassen, Umwelt, Globalisierung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Friedenserziehung, Aktivismus, Identität, Herkunft, Gender, sexuelle Orientierung, soziale Identität, Privilegiertheit, andere Muttersprachen …

Tab. 1:

Mögliche Themenfelder einer kritisch orientierten Fremdsprachendidaktik.

Der Fremdsprachenunterricht ist und war lange Zeit sehr bis fast ausschließlich mit der Methodenfrage beschäftigt, worum es auch im Folgenden vor dem Hintergrund Kritischer Pädagogik und Critical Literacy gehen soll. Aktuell ist die Disziplin glücklicherweise durch inter-/transkulturelle sowie bildungstheoretische sowie literarisch-ästhetische Fragestellungen wieder stärker didaktisch geprägt (vgl. z.B. auch Beiträge in Grünewald et al. 2013, Küster et al. 2015). Auch Kritische Theorie, Kritische Pädagogik und Critical Literacy könnten hier, stärker an transformatorischer Bildung orientiert, entsprechende Schwerpunkte setzen.

Methodische Überlegungen

Der Fremdsprachendidaktik bietet sich in ihrem post-methodischen Zeitalter eine Vielzahl von Techniken, Prinzipien und Ansätzen, um Unterricht zu gestalten. Letztlich gilt bei der methodischen Umsetzung kritisch-didaktischer Prinzipien wie unter allen anderen didaktischen Vorbedingungen die Methodenangemessenheit: Die Methode muss zum Ziel passen, das didaktisch begründet vorliegt. Wenn also eines der Ziele einer Kritischen Fremdsprachendidaktik ist, ein Bewusstsein für soziale Ungleichheit zu entwickeln, muss sich dies in der Methodenwahl niederschlagen. Es müssen partizipativ orientierte Ansätze gewählt werden, die den in der Kritischen Pädagogik immer wieder betonten Dialog fördern. Eine Kritische Fremdsprachendidaktik berücksichtigt dabei in besonderem Maße auf Interaktion zielende Sprachlerntheorien wie z.B. die soziokulturelle Theorie, die basierend auf den Überlegungen von Wygotski (1978) besonders durch Lantolf und Thorne (2006) für das Fremdsprachenlernen ausdifferenziert wurden. In diesem auf soziale Interaktion ausgelegten Unterricht müssen Dialogisierung und mit Kritikfähigkeit verbundene Diskussionen mit einem entsprechenden Scaffolding entlastet bzw. geübt werden. In jüngeren Lerngruppen bieten sich hier Modelltexte oder -videos an, um sprachliche und inhaltliche Charakteristika von dialogisierter Kritik transparent zu machen (vgl. Crookes 2013). Dazu gehört auch, das Stellen von relevanten Fragen zu ermutigen: Was sind die Folgen unseres Handelns? Was sind Konsequenzen, was Ergebnisse?

Freire (1976), Crawford (1978), Crookes (2013) und andere betonen, dass Lernende ihr Material selbst erstellen sollen. Dabei ist nicht gemeint, dass sie Arbeitsblätter erstellen, mit denen die Gruppe dann üben soll. Vielmehr geht es darum, dass Lernende ermutigt werden, Realia, Texte, Interessen usw. in den Unterricht einzubringen, sodass die Schwerpunktsetzung des Unterrichts stärker von den Lernenden aus erfolgt. Die Rolle der Lehrkraft ist dabei, methodisch und sprachlich flexibel ein Scaffold zur Verfügung zu stellen, das die Bearbeitung des Lernmaterials ermöglicht. Dabei spielt das Lehrwerk weiterhin eine wichtige Rolle, es muss allerdings einer kritischen Würdigung unterzogen werden, was die ausgewählten Themen und sprachlichen Anforderungen angeht (s.u.). Weiter unten wird der kritische Umgang mit Fremdsprachenlehrwerken noch angerissen werden, gleichwohl würde ich nicht so weit gehen wie Meddings und Thornbury (2009), die den Gebrauch von Lehrwerken grundlegend verteufeln und skeptisch „an over-reliance on materials and technical wizardry in current language teaching“ (ebd.: 6) beäugen. Ganz ähnlich wie der Kritischen Pädagogik geht es ihnen darum: „The emphasis on the here-and-now requires the teacher to focus on the actual learners and the content that is relevant to them.“ (ebd.) Ihr als „Dogme“ bekannt gewordener (und heftig kritisierter) Ansatz soll primär auf die Sprachentwicklung der Lernenden eingehen, vernachlässigt dabei allerdings – in meinen Augen – die Förderung jener Kritikfähigkeit, die hier bereits breit diskutiert wurde. Lehrwerke bieten hingegen eine methodische Integration besonders der sprachlichen Fertigkeiten und gleichzeitig mit ihren Themen eine Reflexionsfläche, die von den Lehrkräften (und ihren Lernenden) kritisch genutzt werden kann.

Diese Anforderungen können prozess- und produktorientiert im Unterricht integriert werden, Prinzipien von Handlungs- und Problemorientierung sind hinlänglich bekannt und werden wiederholt aufgegriffen. Auch in der Fremdsprachendidaktik aktuell dominante methodische Ansätze wie die Aufgaben- oder Genreorientierung (vgl. Hallet 2016) bieten sich an, kritisch angereichert zu werden. Im Sammelband Pedagogy and Practice in Second Language Teaching (Burns/Richards 2012) gehören zu den pädagogisch-methodischen Ansätzen im Besonderen Aufgabenorientierung, textbasiertes Lernen und Lehren, inhaltbasiertes Lernen und Lehren (CLIL), outcome-basiertes Lernen und Lehren sowie Literacy-basiertes Lernen und Lehren. Die verschiedenen Stufen des kritischen Denkens, selbst wenn es oben als zunächst apolitisch charakterisiert wurde, können Anhaltspunkte für die Aufgabengestaltung in diesen verschiedenen Ansätzen bieten. Breidbach et al. (2014) schlagen z.B. eine Unterscheidung nach „language curriculum“ und „curriculum of discourse“ (ebd.: 99) vor, wobei an Ersteres hierarchieniedrige Aufgaben im Sinne des Aufbaus sprachlicher Fertigkeiten geknüpft werden können, während Letzteres stärker das hierarchiehöhere, reflexive Potenzial im Sinne einer Critical Literacy berücksichtigt (vgl. auch Breidbach 2011).

Die zu stellenden und zu diskutierenden Probleme in einem kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht sollten dabei natürlicherweise nicht Probleme um ihrer selbst willen sein, sondern vor dem Hintergrund des didaktisch-kritischen Anspruchs methodisch aufbereitet werden.

Die Rolle des Lehrwerks

Wenn die Kritische Pädagogik im Fremdsprachenunterricht sehr stark die biographisch und identitär wirksamen Probleme der Kinder und Jugendlichen vergegenständlichen soll, heißt das auch, dass sich die Bedürfnisse von Lernenden z.B. in Städten gegenüber ländlicheren Gegenden oder in bildungsbürgerlich geprägten Vierteln gegenüber „Brennpunkten“ deutlich unterscheiden. Lehrwerke vermögen diese Bandbreite an für die Lernenden relevanten Themen, die „localness“ (Akbari 2008: 280), gar nicht abzubilden. Stattdessen werden in Lehrwerken zielkulturelle Themen und Aspekte der Mittel- und Oberschicht abgebildet, die in Ansätzen teils auch interkulturell reflektiert werden (sollen), aber dennoch grundsätzlich immer durch von Lehrwerkautor*innen oder Lehrplänen relevant gesetzte Inhalte gefüllt werden: „Coursebook contents and teaching methods have been cautiously selected to make sure that only socially refined topics are addressed.“ (Akbari 2008: 278) Zudem ist in internationalen Englischlehrwerken ein Streamlining der Themen hin zur Vermeidung der PARSNIP-Konzepte zu beobachten (vgl. Gray 2002, gemeint sind: Politics, Alcohol, Religion, Sex, Narcotics, Isms wie Socialism oder Agnosticism und Pornography), obwohl gerade diese für Heranwachsende bedeutende Themen darstellen, die Sensibilisierung und Thematisierung bedürfen. Im Sammelband Gender and Language Learning (vgl. Elsner/Lohe 2016) machen die Herausgeberinnen deutlich, dass die individuell höchst bedeutsame Frage einer inklusiven Berücksichtigung des Titelthemas im Fremdsprachenunterricht weiterhin weitgehend vernachlässigt wird – auch von einschlägigen fremdsprachendidaktischen Einführungsbänden.

Ebenfalls können in didaktischer Hinsicht die sich ständig ändernden Begebenheiten und Einflüsse der Jugendlichen – mal ist es der Konsum von Pornovideos auf dem Schulhof, ein andermal Drogenprävention oder Konflikte mit anderen Schülerinnen und Schülern – einen deutlich wichtigeren Pool an (authentischen) Themen bieten im Vergleich zu kulturellen Aspekten Großbritanniens oder Frankreichs. Und gleichzeitig setze ich mich mit dieser Argumentation Kritik seitens kulturdidaktischer Vertreter*innen aus, die – durchaus nachvollziehbar – den Wert der Auseinandersetzung mit englischer, spanischer, französischer Literatur und Kultur herausstellen. Und ich möchte ausdrücklich betonen, dass ich dies hier auch im Sinne von Bildung nicht in Abrede stellen möchte. Allerdings muss in der Folge der oben dargestellten theoretischen Bezüge auch im modernen Fremdsprachenunterricht eine stärkere Berücksichtigung kontextueller Faktoren Einzug halten, die es ermöglichen, soziale Aspekte der Lebensrealität der Lernenden zu integrieren (vgl. Gerlach/Leupold 2019). Möglicherweise werden diese im Verlauf eines Schuljahres auch einmal deutlich wichtiger als die zielsprachlichen Kulturen oder inter- bzw. transkulturelles Lernen, dann wiederum treten sie pendelartig wieder zurück. Vielleicht kann beispielsweise das Thema Armut oder Obdachlosigkeit anhand deutscher, möglicherweise regionaler Projekte diskutiert werden, ohne eine perspektivische Distanz mittels der Betrachtung von Armut in einem anderen (zielsprachlichen) Land zu schaffen (vgl. Akbari 2008). Diesen Freiraum muss und sollte es geben – auch curricular und per Stundentafel berücksichtigt.

Plikat (2018) stellt heraus, dass der Fremdsprachenunterricht Lernende selten auf kritische Fremdheitserfahrungen vorbereitet, dass aber – und er nimmt als theoretische Folie den Evolutionären Humanismus – dieser „es etwa ermöglichen [würde], rassistische Inhalte in Lehrbüchern zu kritisieren, da solche Inhalte für die betroffenen Menschen eine diskriminierende und leidvolle Erfahrung bedeuten“ (ebd.: 53). Wenn Lehrwerke weniger neutral-generische Themen, sondern emotional und problematisch aufgeladene behandeln, ergeben sich Reibungspunkte im Unterrichtsgeschehen: „If students can perceive the relevance of the examples to their own lives, they are more likely to be motivated to examine the language in which [the more extreme examples] are written.“ (Janks 1991: 193) Selbst wenn die eingesetzten Lehrwerke diese Aspekte noch nicht vorhalten, zeigt Osborn (2006), wie „normale“ Themen von einer kritischen Lehrkraft entsprechend problematisiert werden können: Im Sprechen über das Wetter, Häuser und deren Inneneinrichtung kann Obdachlosigkeit bzw. Privilegiertheit ein Thema sein, an das Wortfeld Essen und Einkaufen können sich Fragen nach Konsumverhalten oder sozioökonomischem Status anschließen. Gleichzeitig müsste überlegt werden, ob „kritische“ Themen wie z.B. Gewalt, Ideologie, Geschlecht und sexuelle Orientierung mittelfristig nicht im Allgemeinen präsenter werden sollten in Lehrwerken, stellen sie doch wichtige Kategorien in der Identitätsbildung Heranwachsender dar (vgl. Norton 2011). Jedoch: Auch vermeintlich gutgemeinte Lehrwerk-Charaktere, die einem breiten Diversitätsbegriff folgend multikulturelle und multisektionale Eigenschaften mitbringen, können wiederum mit einer kritischen Brille bezüglich ihrer Wirkung (und intendierten Zusammenstellung im Lehrwerk) mit Schülerinnen und Schülern diskutiert werden.

Wie Crookes (2013) überblicksartig zeigt, gibt es international einige Beispiele für kritische Fremdsprachenlehrwerke, die jedoch nicht selten auf die Initiativen einzelner Lehrerinnen und Lehrer unter bestimmten historischen und sozialen Bedingungen zurückgehen und dabei in der Regel nicht von größeren Verlagshäusern vertrieben werden.

5.Fazit: Kritische Fremdsprachendidaktik oder -pädagogik?

Kritische Theorien und Kritische Pädagogik beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Welt, Weltverstehen und Sprache. Dabei ist dies alles andere als vermeintliche Kuschelpädagogik, es geht um „the messy, unpleasant aspects of social life and the people for whom such aspects are part of their day-to-day reality“ (Akbari 2008: 282). Eine Kritische Fremdsprachendidaktik vergegenständlicht die Kommunikation und Interaktion im fremdsprachlichen Klassenzimmer zur Förderung sozialer und demokratischer Verantwortung, zur Reflexion sozialer Ungleichheit, zum respektvollen Miteinander und zum pflichtbewussten Handeln. Kritische Pädagogik ist auch immer die „Pädagogik der Hoffnung“ (Freire 2014), sie kritisiert nicht zum Selbstzweck, sondern möchte Zustände verändern und das Bewusstsein erweitern. Das mag stellenweise unbequem sein, gleichwohl nötig für ein (möglicherweise letztlich utopisches) Bildungsziel, das nichtsdestotrotz verfolgt und verteidigt werden sollte.

Auch eine kritische Haltung gegenüber (vermeintlichen) Innovationen, neuen methodischen Ansätzen oder standardorientierten Testungen gehört in diese Konzeptualisierung einer kritischen Fremdsprachenlehrer*innenbildung (vgl. Gerlach/Fasching-Varner in diesem Band) dazu mit der Grundidee, „help a person develop a philosophy of teaching“ (Crookes 2009: 21). Aber noch einmal, um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Ein solcher reflexiv-kritischer Habitus einer Lehrperson, ebenso ein kritischer Fremdsprachenunterricht an sich, haben nicht zum Ziel, eine Subversion gegenüber Autoritäten zu erzeugen oder politische Überzeugungen an Lernende weiterzugeben. Auf Grundlage des Beutelsbacher Konsens (vgl. Wehling 1977) gilt das Überwältigungsverbot genauso wie eine gleichberechtigte Darstellung unterschiedlicher Sichtweisen (Kontroversitätsgebot). Häufig vernachlässigt wird in Darstellungen und Diskussionen um den Beutelsbacher Konsens allerdings die gleichzeitige Notwendigkeit, als Lehrkraft eine entsprechende Analyse- und Handlungsfähigkeit seitens der Lernenden zu fördern. Es geht also im kritisch-pädagogischen Sinne darum, zum einen aufzudecken, wenn vorgegebene Skripte und Handlungsanweisungen einem ideologischen Zweck dienen, zum anderen, Schülerinnen und Schüler zu kritischen, mündigen Bürgerinnen und Bürgern zu erziehen, die ihre gemeinsame Zukunft für ein soziales und respektvolles Miteinander aktiv gestalten. Ein transmissionsorientiert ausgerichteter Fremdsprachenunterricht vermag dies in meinen Augen nicht zu leisten. Vielmehr muss dieser konstruktiv und partizipativ durch die Lehrkraft und mit den Lernenden gemeinsam strukturiert werden, Demokratiebildung berücksichtigen und auf die unmittelbare Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler eingehen.

Die nachfolgende Abbildung deutet lediglich an, inwiefern theoretische Bezugsquellen in Zusammenhang stehen mit potenziellen fremdsprachendidaktisch-methodischen Ansätzen. Sie ist keineswegs als normative Folie zu sehen und würde damit auch jedes kritischen Anspruchs entbehren. Vielmehr diskutieren die folgenden Beiträge im Sammelband ebenfalls weitergehende oder unter Zuhilfenahme anderer theoretischer Konstrukte anders gelagerte Unterrichtsgegenstände und Fragestellungen.

Abb. 1:

Bezugstheorien einer Kritischen Fremdsprachendidaktik.

Eine noch zu diskutierende Frage wäre abschließend, ob die Konzeptualisierung als „Kritische Fremdsprachendidaktik“ oder „Kritische Fremdsprachenpädagogik“ (vgl. Crookes 2013) nötig und nicht möglicherweise selbst „kritisch“ sein könnte in ihrer Vermittlung gegenüber Lehrerinnen und Lehrern, Lernenden, Lehrplanentwickler*innen und denjenigen, die ihre Prämissen in der Praxis zu implementieren versuchen. Es besteht die Gefahr – wie es die Kritische Pädagogik auch immer wieder wahrnimmt – als „zu politisch“ (vgl. Sowden 2008), „zu radikal“ oder gar „revolutionär“ zu wirken, obgleich die Mehrzahl der oben genannten Prinzipien mit demokratisch-emanzipierenden Bildungsprozessen und Theoriekonstrukten vollkommen in Einklang zu bringen sind, ja, sie sogar im Besonderen unterstützen und fördern könn(t)en. Dennoch ist das „Kritische“ auch immer „anders“, auch immer „neu“ und mit einem gewissen Umdenken verbunden, was wiederum Gefahr läuft, Praktikerinnen und Praktiker unnötigerweise abzuschrecken. Möglicherweise müssen die Gegenstände einer Kritischen Fremdsprachendidaktik als Demokratiebildung und Reflexivität konzeptualisiert werden. Gleichzeitig gehen sie über die Ansprüche von interkultureller kommunikativer Kompetenz im Sinne Byrams, seinem „intercultural being“ (Byram 2008), deutlich hinaus. Sie sind vielmehr zu sehen als die Förderung von „intercultural responsibility“ (Guilherme et al. 2010) und einer im Fremdsprachenunterricht ernstgenommenen Wertevermittlung. Insofern ist ein „Werterelativismus, wie ihn zum Beispiel der Gemeinsame europäische Referenzrahmen nahelegt, […] dabei weder ethisch noch pädagogisch angemessen und in keiner Weise mit dem Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule vereinbar“ (Fäcke et al. 2017: 8).

Literaturverzeichnis

Mit * versehene Werke sind als Leseempfehlungen anzusehen.