Kritisches Denken -  - E-Book

Kritisches Denken E-Book

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Beschreibung

Kritisches Denken ist ein zentrales Werkzeug geisteswissenschaftlichen Arbeitens. Eigenes Urteilsvermögen zu stärken und Kritisches Denken zu wagen, gehört zu den wichtigsten übergeordneten Zielen eines geisteswissenschaftlichen Studiums. Diese Metakompetenz verleiht speziellen Kompetenzen erst ihren Sinn. Die Beiträge aus verschiedenen Disziplinen gehen der Bedeutung dieser unverzichtbaren Fähigkeit für Geisteswissenschaftler:innen nach und zeigen auf, welche Ausprägungen Kritisches Denken in den Geisteswissenschaften disziplinspezisch annehmen kann.

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Ulrike Job

Kritisches Denken

Verantwortung der Geisteswissenschaften

Umschlagabbildung: Graffiti, North Fitzroy, Melbourne, Australia 2006. Foto: Russell West-Pavlov

 

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2568-4019

ISBN 978-3-8233-8197-6 (Print)

ISBN 978-3-8233-0321-3 (ePub)

Inhalt

EinleitungMut zum eigenen Verstand gegen „selbstverschuldete Unmündigkeit“: Was heißt heute Aufklärung?Kritische TheorieZeitalter der Aufklärung und der Kritik – Annäherung an Immanuel KantKants Programm der VernunftkritikSchluss: Die Aktualität von Kritik und AufklärungLiteraturGeisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der GeisteswissenschaftEinleitungDer Zirkel des Fragens (Kevin Drews)I.II.III.Fragenstellen als zeitkritisches geisteswissenschaftliches Verfahren (Sandra Ludwig)Zum kritischen Potenzial geisteswissenschaftlichen Fragens (Andrea Renker)Befragung des Kanons als Form kritischen Denkens (Friederike Schütt)Bilder-kritisch Denken (Ann-Kathrin Hubrich)LiteraturInternetquellenBildquellePraxen des Kritisierens: Befunde und Perspektiven aus sprachwissenschaftlicher SichtSprachwissenschaft und KritikZum Gegenstand einer konkreten (sprach)kritischen Diskussion: „Sprache und Fach“Querstreben sprachlicher Verarbeitung von Wissen‚Dies‘ und ‚das‘ im sprachlichen HandelnSchluss und AusblickLiteraturInternetquellenKritisches Lesen in der Literaturwissenschaft – Pigoons und andere Gentechnische Visionen in Margaret Atwoods Roman Oryx and CrakeLiteraturKritisches Denken im Kontext der Zensur: am Beispiel einer Druckschrift aus der Zeit der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983)Einführende ÜberlegungenKontextuelle Einbettung des UntersuchungsgegenstandsAufdeckung der Strategien zur RezeptionslenkungLiteraturInternetquellenZum Verhältnis von Kritik, Theater und Versammlung am Beispiel der Hamburger Performance-Installation Söhne & Söhne von SIGNA (2015)KritikVersammlung als TheaterkritikSIGNAs Söhne & Söhne‚Schöne neue Arbeitswelt‘: Dystopie und UtopieGegenfragenLiteraturFormen und Funktionen der Fernsehkritik im FernsehenPerspektiven, Reichweiten, Angebotsformen und Funktionen des medialen SelbstbezugsZur historischen Entwicklung von Dokumentationen als Fernsehkritik im FernsehenSenderrückblicke als Dokutainment. Dokumentationen über FernsehgeschichteZur dokumentarischen Kritik von ProgrammentwicklungenWiederverwertung von Sendungsausschnitten im Spannungsfeld von Ökonomie und KritikFernsehkritik in der Fernsehfiktion: Formen und Funktionen von SelbstverweisenFernsehkritik im FernsehkrimiPerspektivwechsel der Fernsehkritik: Von der Außen- zur InnenbeobachtungDie Globalisierung der Metareferenz im Deutschen FernsehenFernsehkritik als Palimpsest: „Kalkofes Mattscheibe“FazitLiteraturInternetquellenFernsehquellenFilmkritik im Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und WissenschaftZur Geschichte der FilmkritikEinflüsse von Traditionslinien der KunstkritikKritik als Orientierungsangebot im 18. JahrhundertKritik als eigene Kunstform in der RomantikKritik als Teil des JournalismusRollenmuster von KritikerInnenEinflüsse von Literatur- und Theaterkritik auf die FilmkritikZur Entwicklung der Filmkritik in DeutschlandDie Ausdifferenzierung der Filmkritik der Nachkriegszeit und der fünfziger JahrePositionen der Filmkritik in den siebziger JahrenDie Filmkritik seit den neunziger JahrenZum Wirkungsaspekt der FilmkritikLiteraturInternetquelleZwischen Geistes- und Naturwissenschaft: Kritisches Denken in der Archäologie„Kritisches Denken“ – ist das neu oder kann das weg?Viele ArchäologienWahrheitssuche und SelbstverständnisTheorie und PraxisSpuren, Indizien, ArgumenteBeispiel: Egtveds Reisen – Das Seminar zum FilmZu guter Letzt: Kritik der KritikLiteraturBildquellenDas Mittelalter und seine Wahrnehmung – kritisch reflektiertIrrelevanz des Mittelalters und MittelalterboomDeutsche Mittelalterforschung im 19. Jahrhundert zwischen Kritik und AffirmationEine neue Relevanz des Mittelalters? Aktuelle Evokationen einer lang vergangenen ZeitKritische Potenziale der Forschungen zur Geschichte des MittelaltersLiteraturInternetquellenTheologie – „Rede von Gott“? Von der Selbstreflexivität Evangelischer TheologieEinleitungTheologie als „Rede von Gott“?Die reformatorische Kritik auf der Grundlage der Schriftauslegung und ihr institutionskritisches PotenzialTheologie der Aufklärung – die „historisch-kritische“ MethodeDialektische Theologie – Theologie als KritikFazitLiteraturWann werden zukünftige Generationen aufhören, die Erde auszuplündern?LiteraturInternetquellenDie Klassische Philologie in Bewegung – Überlegungen zum kritischen Potenzial einer DisziplinÖffentlichkeitDiversitätGlobalisierungRückblicke und AusblickeLiteraturInternetquellen

Einleitung

Ulrike Job

Unsere globalisierte, mobile und beschleunigte Welt verändert sich durch Bevölkerungswachstum, schwindenden sozialen Zusammenhalt, durch Umweltzerstörung, Klimawandel und Pandemien in rasantem Tempo. Diese ‚grand challenges‘, aber auch Unwägbarkeiten in individuellen Lebensentwürfen, verursachen Unsicherheiten. Sie drücken sich u.a. in Fake News, alternativen Fakten, politischen Wutreden oder Verschwörungserzählungen aus. Um solche Desinformationen kritisch prüfen zu können, Tatsachen von Fälschungen, Irrtümern und Meinungen unterscheiden und die Konditionen unseres Zusammenlebens aushandeln zu können, muss die Welt gut verstanden werden. Kreativität und neue Denkansätze sind dafür nötig. Aber vor allem das Vermögen zu kritischem Denken ist letztendlich die Grundlage für die eigene Beurteilungsmöglichkeit und eine mündige, gestaltende Bürgerschaft in unsicheren Zeiten.

Kritisches Denken ist „jene Art des Denkens (gültig für alle Gegenstände, Inhalte oder Probleme), bei der eine Person die Qualität ihres Denkens steigert, indem sie es sich zur Pflicht macht, die inhärenten Strukturen des Denkens sachkundig zu befolgen und sie an intellektuellen Normen zu messen.“1 Diese Definition macht deutlich, dass wir im kritischen Denken Selbst-Verantwortung für die Qualität unseres Denkens übernehmen und Kriterien geleitet unsere Denkgewohnheiten überprüfen,2 dabei Angemessenheit, Reichweiten und Grenzen reflektieren3.

Kritisches Denken gilt als eine zentrale menschliche Fähigkeit, eigene und fremde Annahmen herauszuarbeiten, sie im Hinblick auf Richtigkeit und Gültigkeit zu hinterfragen, anschließend Alternativen zu suchen, um den Denkrahmen größer und vollständiger zu fassen und auf dieser „vor-gedachten“ Grundlage informierter handeln und entscheiden zu können.4

Umgangssprachlich verwenden wir ‚Kritik‘ und ‚kritisieren‘ oft im Sinne einer häufig intuitiven und ausschließlich negativen Beurteilung, einer Abwertung, Beanstandung oder Bemängelung. Wenn man aber nach der Wortherkunft schaut, so ist der ursprünglich griechische Begriff aus dem Verb κρίνειν krínein abgeleitet, das ‚(unter-)scheiden, entscheiden, beurteilen‘ bedeutet. Und so ist der korrekte Sprachgebrauch von ‚Kritik‘ und ‚kritisieren‘ eine Beurteilung nicht nur nach Unwert, sondern vor allem nach dem Wert. Kritik und kritisieren ist dann nicht das intuitive Ergebnis einer ablehnenden Haltung, sondern viel mehr das Vermögen, Eigenschaften, Argumente, behauptete Tatsachen, Fakten, aber auch Vermutungen, Hypothesen aus verschiedensten Blickwinkeln, nach Wert und Unwert, nach richtig und falsch, nach Glauben und Wissen informiert zu prüfen und den Geltungsbereich der Beurteilung zu erörtern.

Grundlage für kritisches Denken ist das selbstständige und umfassende Nachforschen und Überprüfen von Informationen unabhängig von der eigenen favorisierten Meinung, d.h. ohne Suche nur von Informationen, die der eigenen Meinung entsprechen, bzw. Vernachlässigung solcher, die der eigenen Position entgegengesetzt sind. Eine in diesem Sinne kritische Haltung − verbunden mit intensiver und vollständiger Prüfung und Beurteilung aus verschiedensten Blickwinkeln − nimmt Gegebenes nicht hin, sondern bewahrt hoffentlich vor Täuschung und Irrtum. Sie eröffnet aber auch Neues in der eigenen Urteilsbildung. Somit ist Kritik ein produktiver Prozess der Neuzusammensetzung.5

Kritisches Denken ist nicht nur eine Methodenfähigkeit der „bewusste(n), selbstregulative(n) Urteilsbildung, welche Interpretation, Analyse, Bewertung und Schlussfolgerung beinhaltet“6, sondern es ist auch eine Haltung, eine Persönlichkeitseigenschaft: Man muss kritisches Denken für notwendig halten, sensibel und selbstverantwortlich bereit dafür sein. Wichtig sind die Grundeinstellung und Erkenntnis, dass man nie sicher wissen kann, was „wahr“ ist.

Man könnte annehmen, dass es in der menschlichen Natur liegt, kritisch zu denken. Kritisches Denken als Methodenfähigkeit und als persönliche Bereitschaft entwickeln sich jedoch nicht automatisch, sondern müssen in diskursiven Prozessen erlernt und eingeübt werden, sonst bleibt es ungeschult und voller Vorurteile. Damit kommt insbesondere Erziehungs- und Bildungseinrichtungen eine hohe Verantwortung zu, sich der Herausforderung zu stellen, junge Menschen in der Entwicklung von kritischem Denken zu unterstützen, damit sie selbstbestimmt, verantwortlich und zukunftsorientiert in allen möglichen Bereichen des öffentlichen wie persönlichen Lebens handeln können. Somit muss kritisches Denken auch als anerkanntes Ziel von Hochschullehre in Haltung und als Methode ausgebildet und trainiert werden.

Kritisches Denken ist ein Markenzeichen, eine zentrale Eigenschaft in der Wissenschaft. Es ist Grundlage für eine skeptische, gründliche und Ergebnis offene, wissenschaftliche Arbeitshaltung und gilt als bestakzeptiertes Lernziel in allen Wissenschaftsdisziplinen7. Oft wird es implizit durch vorbildliches Nachahmen vermittelt, eher weniger explizit mit einem Metablick und systemischem Wissen als Methode erläutert8.

Wissenschaft hat eine aufgeklärte Sicht auf Wahrheit: Sie produziert Annäherungswissen und muss häufig mit widersprüchlicher Evidenz umgehen. Guter Standard für den Umgang mit Wahrheit bzw. Annäherungswissen ist aber der Anspruch auf dessen Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit. Wissenschaftler*innen müssen ihre Quellen offenlegen und so argumentieren, dass ihre Annahmen nachvollziehbar sind. In der Wissenschaft ist Kritik im Sinne einer kritischen Haltung Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens und dient der gründlichen Prüfung des zu untersuchenden Objekts bzw. des Sachverhaltes im Hinblick auf dessen Einwandfreiheit, Vollständigkeit, Widerspruchsfreiheit, Vorverständnis sowie auf dessen positive wie negative Merkmale. Denn alles, was wir − insbesondere in der Wissenschaft − zu wissen glauben, steht unter Vorbehalt, niemand kennt die endgültige Wahrheit.

Die Geisteswissenschaften ermöglichen mit vielen Einzeldisziplinen, die Welt in ihren kulturellen Ausprägungen (Sprache, Literatur, Kunst, Kultur, Medien, Religionen, Weltanschauungen usf.) besser zu verstehen. Als großer Wissens-, Diskurs- und Reflexionsraum von und über Kultur dienen sie der kulturellen Selbstvergewisserung und bieten eine wissenschaftliche Bedeutungslehre von Kultur, in dem sie das, was Kultur offenbart, untersuchen. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihren Untersuchungsobjekten ist kritisches Denken das Kerngeschäft der Geisteswissenschaften, das als Haltung und Methode diskursiv ausgehandelt und in betreuter Übung trainiert wird.

Durch Lesen, Schreiben und Diskutieren werden wissenschaftliche Umgangsformen eingeübt, wie in den jeweiligen Einzeldisziplinen das Weltverstehen der Geisteswissenschaften funktioniert. „Mit diesem Ansatz von „doing science“ werden Studierende in vielen kleinen vorantastenden Gedankenschritten zu urteilsfähigem Selbstdenken herangebildet.“9

Die vorliegenden Beiträge in diesem Sammelband sind aus Vorträgen einer Ringvorlesung zum Thema „Kritisch denken in den Geisteswissenschaften“ entstanden, die im Sommersemester 2017 in der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg stattgefunden hat. In dieser Ringvorlesung haben die Vortragenden geisteswissenschaftliche Deutungs- und Erkenntnisprozesse exemplarisch nachvollzogen, um dazu beizutragen, den Unterschied zwischen überprüfbarem Argumentieren und leichtfertigen Behauptungen aufzuzeigen und Teilnehmer*innen der Ringvorlesung für kritisches Denken tiefer zu sensibilisieren.

Sicher war der Anstoß für das Thema ‚kritisch denken‘ das weltpolitisch aufregende Jahr 2016, in dem der Begriff ‚postfaktisch‘ zum Wort des Jahres gekürt wurde. Da stellte sich die Frage, ob und was wir Geisteswissenschaftler*innen dieser anti-aufklärerischen Haltung entgegenzusetzen haben.

Denn, wie Bernhard Pörksen vor einiger Zeit in der ZEIT treffend feststellt, reicht es heute nicht mehr aus, „aufzuklären, indem man Wissen bereitstellt. Notwendig geworden ist eine Aufklärung zweiter Ordnung, die neben der Vermittlung von Inhalten systematisch auch über die Prozesse ihres Zustandekommens informiert (…).“10

 

Den spannenden Auftakt für den Sammelband macht BIRGIT RECKI (Philosophie) mit einer grundlegenden Klärung des Methodenbegriffs ‚Kritik‘. An die in der Frankfurter Schule und deren Kritischer Theorie angeprangerte Lebensform der Unmündigkeit knüpft Recki an, um uns mit Kants einflussreichen Gedanken zur Methode der Kritik vertraut zu machen: Als Philosoph der Aufklärung ermutigt Kant den mit Vernunft ausgestatteten Menschen, seinen eigenen Verstand zur Erkenntnisgewinnung zu nutzen und sein Urteilsvermögen nicht von außen, also etwa von gesellschaftlichen Verhältnissen, abhängig zu machen, um sich so aus (selbstverschuldeter) Unmündigkeit mit eigener Kraft eigenverantwortlich zu befreien. Jedoch: diese aufklärerische Kritikvorstellung unterliegt in der heutigen Zeit mit suggestiver und manipulierender Informationspolitik weitaus herausfordernden Bedingungen als noch zu Kants Zeiten.

 

KEVIN DREWS, SANDRA LUDWIG, ANDREA RENKER, FRIEDERIKE SCHÜTT und ANN-KATHRIN HUBRICH (Doktorandenkolleg Geisteswissenschaften) bieten in fünf Facetten Reflexionen dazu, was Fragen als methodische Vollzugsformen von kritischem Denken in den Geisteswissenschaften leisten. Kevin DREWS charakterisiert das Infragestellen als elementares Werkzeug, um festgefahrene Vorstellungen zu lockern und neue Perspektiven zu ermöglichen. Sandra LUDWIG rückt den rechten Zeitpunkt des Fragens in den Fokus und betont die Relevanz der günstigen Gelegenheit als kritischen Faktor des Fragens, aber auch des Antwortens. Andrea RENKER hebt die Uneindeutigkeit geisteswissenschaftlicher Untersuchungs- und Befrageobjekte hervor und betont die Notwendigkeit in den Geisteswissenschaften, polyvalente Antworten auf die deutende Befragung eines Werks geben zu können und nicht auf letztgültige Antworten abzuzielen. Friederike SCHÜTT konzentriert sich auf die Relevanz, noch offen gebliebene Fragen zu entdecken und Fragelücken zu schließen. Ann-Kathrin HUBRICH schließlich beleuchtet die kritische Bildbetrachtung und unterstreicht die Wichtigkeit, die politische Bedeutung von Bildern in den Medien zu hinterfragen.

 

An einem sprachkritischen Beispiel aus der Jugendsprache exemplifiziert KRISTIN BÜHRIG (Linguistik des Deutschen mit dem Schwerpunkt „Deutsch als Zweit- und Fremdsprache“) wie schwierig und erklärungsbedürftig hinweisende, deiktische Partikel im Deutschen für eine Anwenderschaft zu handhaben sind, die solche Partikel in ihrer Muttersprache nicht kennt. Da diese Partikel auf Sachverhalte verweisen, gestalten sie ganz besonders den Prozess des Wissensaufbaus und der Wissensverarbeitung. Sprachkritik als Reflexion über Sprache und Sprachgebrauch sei − so argumentiert sie − ein dominanter Faktor für den Bildungserfolg und müsse daher fundiert an Hochschulen eingeübt werden. Nur so können zukünftige Lehrer*innen die sprachliche Entfaltung und damit auch die Wissensentfaltung von Schüler*innen mit geringer Zweitsprachenkompetenz bzw. mit Migrationshintergrund bestmöglich unterstützen.

 

UTE BERNS und PAUL HAMANN-ROSE (Anglistische Literaturwissenschaft) machen uns die methodischen Schritte des wissenschaftlich-kritischen Lesens deutlich, das sich nicht (nur) dem genussvollen Lesen hingibt, sondern geschult Mehrdeutigkeiten, Indizien für Tabuisiertes und opak transportierte Hinweise auf gesellschaftliche Verhältnisse aufdeckt. Ein so geschultes Lesen ermöglicht gesellschaftskritische Perspektiven auf die Welt und eröffnet Vorstellungsräume, die zum Mit- und Weiterdenken einladen und den Blick auf die Welt erweitern.

 

INKE GUNIA (Romanische Literaturwissenschaft) unternimmt an einer Druckschrift des argentinischen Erziehungsministeriums aus der Zeit der Militärdiktatur eine kritische Schriftprüfung, um konkrete Repressionen in der damaligen Bildungspolitik sichtbar zu machen. Sie untersucht die Druckschrift textkritisch und gelangt so zu einem vertieften Verständnis dieses Textes, den sie uns als ein komplexes Superzeichen mit kontextueller Einbettung und einem intendierten Leser zugänglich macht.

 

MARTIN JÖRG SCHÄFER (Germanistische Literaturwissenschaft) hebt am Beispiel der Kunstform ‚Performance‘ unter Beteiligung von Zuschauern auf die Funktion von Theater als einer ‚als-ob‘-Darstellung und damit Kritikmöglichkeit unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens ab. Der wissenschaftliche Blick auf (theatrale) Darstellungs- und Erlebnisweisen unseres Zusammenlebens macht nachvollziehbar, wie Theater die Grenzen und Möglichkeiten der jeweils individuellen Wahrnehmung schöpferisch aushandelt.

 

JOAN BLEICHER (Medien-und Kommunikationswissenschaften) untersucht fernsehkritisch medieninterne Fernsehkritik. In einem fernsehgeschichtlichen Senderrückblick stellt sie Sendeformate aus den Bereichen Information und Unterhaltung vor, die mit einer kritischen Von-Innen-Betrachtung vermitteln, wie Fernsehen durch Recycling und Sampling von Sendungen seine Position als Leitmedium an das Internet zu verlieren droht. Insbesondere in kabarettistischen Formaten erhält die ironische Selbstkritik einen neuen Unterhaltungswert, die fortlaufende Sendungsbeobachtung und so entstehendes Wiedererkennungswissen des Publikums voraussetzen.

 

JOAN BLEICHER (Medien- und Kommunikationswissenschaften) stellt ‚Filmkritik‘ als Mittel, sich mit Kunst auseinanderzusetzen und sich Kunst anzueignen, in das Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft. Sie hebt autodidaktisch betriebene Filmkritik mit subjektiven und durchaus unterhaltenden Geschmacksurteilen von einer wissenschaftlich basierten Filmbewertung ab, die zu ihrem Untersuchungsobjekt analytische Distanz hält, das Sehverhalten schulend zwischen Kunst und Trivialität unterscheidet und versucht, gesellschaftliche Schlüsselprobleme zu dechiffrieren. Ihre Wirkung ist bildungsbezogen und selbstaufklärerisch.

 

FRANK NIKULKA (Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie) macht deutlich, dass die Archäologie, die sich mit den materiellen Hinterlassenschaften aus der Menschengeschichte befasst, nicht zu unumstößlichen Wahrheiten in Bezug auf die Vor- und Frühgeschichte gelangen kann und somit auf Rekonstruktionen und korrigierbare Hypothesenbildung angewiesen ist, die fortlaufend einer kritischen Prüfung unterzogen werden muss. Durch neue Funde werden zunächst gesicherte Ergebnisse wieder in Frage gestellt, machen alternative Deutungsansätze möglich und nähern sich der ‚Wahrheit‘ nur an. Mit dieser kritischen Grundhaltung übernimmt Wissenschaft hohe gesellschaftliche Verantwortung.

 

CHRISTOPH DARTMANN (Mittelalterliche Geschichte) lädt uns zu einer kritischen Wahrnehmung des Mittelalters ein. Er hinterfragt populäre Klischees und vereinfachende Geschichtsbilder, die in Filmen und Fantasyromanen vermittelt werden, und stellt sie Ergebnissen fundierter wissenschaftlicher Mittelalterforschung entgegen. Damit zeigt er auf, welche Gefahren in der unkritischen Übernahme falscher Geschichtsbilder liegen, und unterstreicht das aufklärerische, kritische Potenzial der Geschichtswissenschaft.

 

SONJA KELLER (Evangelische Theologie) zeigt auf, wie sich die theologische Wissenschaft kritisch (i. e. wissenschaftlich) mit dem menschlichen Phänomen ‚Glauben‘ auseinandersetzt, mit dem sie nicht zu verwechseln ist. Die Theo-logie als ‚Rede von Gott‘ untersucht u.a. Bibeltexte als historische Dokumente mit philologischen Methoden der Schriftauslegung. Mit ihrer wissenschaftlichen Durchdringung der Grundlagen, der Inhalte und des Vollzugs von christlichem Glauben schafft die Theologie eine wichtige Voraussetzung für den Dialog in unserer multiethnischen und religionspluralen Gesellschaft.

 

CLAUDIA SCHINDLER (Klassische Philologie) hebt in ihrem Beitrag auf die Schulung kritischen Denkens durch kritisches Lesen von antiken Texten ab, die durch eine 2000-jährige intensive Rezeption Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses geworden sind. In der Beschäftigung mit den zeitlich distanten „Klassikern“ können Vorstellungen der antiken Welt und deren mediale Vermittlung durch Literatur untersucht und mit heutigen Annahmen und deren Diskursen verglichen werden. Am Beispiel von Nachhaltigkeitsvorstellungen und -diskursen in zentralen Werken der antiken Literatur macht Schindler deutlich, dass eine kritische Lektüre von sogenannten Klassikern die Sensibilisierung im Umgang mit manipulativen medialen Diskursen in der heutigen Zeit zu unterstützen vermag und sich bestens dazu eignet, aktuelle Nachhaltigkeitsdiskurse kritisch hinterfragen zu können.

 

STEPHAN RENKER (Klassische Philologie) beschließt diesen Sammelband mit einer wissenschaftskritischen Erkundung der Entwicklungsbereiche der deutschsprachigen ‚Klassischen Philologie‘. Dabei befragt er die Disziplin nach ihren grundsätzlichen Orientierungsbedingungen, um in der global vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts relevante Beiträge zur aktiven Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen leisten zu können. Er erhofft sich von seiner Disziplin eine hohe Bereitschaft zur Autointerrogation, verbunden mit einem neuen Gespür für offene Richtungswechsel. Sein Begriff von kritischem Denken imaginiert auf diese Weise Möglichkeitsräume, in denen Theorie (disziplinintern) und Politik (als Wechselwirkung zwischen Fach und Gesellschaft) gestalterisch zusammenfließen.

 

Der Sammelband möchte das Thema ‚kritisch denken‘ multiperspektivisch beleuchten und exemplarisch aufzeigen, mit welchen Forschungsanliegen und Methoden geisteswissenschaftliche Disziplinen arbeiten, um so der Verantwortung nachzugehen, kritisches Denken als unverzichtbaren Bestandteil von Wissenschaft für die Geisteswissenschaften selbst anzuwenden und Studierende durch Nachahmung zur Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung in und außerhalb der Hochschule zu befähigen.

Literatur

Brookfield, Stephen D. (2012). Teaching for Critical Thinking. Tools and Techniques to Help Students Question Their Assumptions. San Francisco, Jossey-Bass.

Facione, Peter. A. (1990). Critical Thinking: A Statement of Expert Consensus for Purposes of Educational Assessment and Instruction – The Delphi Report. Millbrae, CA: California Academic Press.

Jahn, Dirk (2012). Kritisches Denken fördern können – Entwicklung eines didaktischen Designs zur Qualifizierung pädagogischer Professionals. Aachen: Shaker Verlag.

Kruse, Otto (2017). Kritisches Denken und Argumentieren. Eine Einführung für Studierende. Konstanz: UVK.

Kunze, Rolf-Ulrich (2020). „(Geistes-)Wissenschaft – online und präsent“. In: Forschung und Lehre 8, 671.

Internetquellen

European Qualifications Framework (EQF) (2008), Descriptors. Official Journal of the European Union, 06.05.2008.https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2008:111:0001:0007:EN:PDF (06.01.2021).

Paul, Richard; Elder, Linda (2003). Kritisches Denken. Begriffe und Instrumente. Ein Leitfaden im Taschenformat. Stiftung für kritisches Denken. https://www.criticalthinking.org/files/german_concepts_tools.pdf (06.01.2021).

Pörksen, Bernhard (2016). „Wissenschaft: Die postfaktische Universität“. ZEIT Campus, 15.12.2016 http://www.zeit.de/2016/52/wissenschaft-postfaktisch-rationalitaet-ohnmacht-universitaeten (06.01.2021).

Rauning, Gerald (2008). „Was ist Kritik? Aussetzung, Neuzusammensetzung in textuellen und sozialen Maschinen“. transversal texts, 27. Juli 2018. https://transversal.at/transversal/0808/raunig/de (06.01.2021).

Mut zum eigenen Verstand gegen „selbstverschuldete Unmündigkeit“: Was heißt heute Aufklärung?

Birgit Recki

Kritische Theorie

Wenn heute in den Geistes- und Sozialwissenschaften von Kritik und kritischem Denken die Rede ist, dann darf der Hinweis auf eine Richtung des gesellschaftskritischen Denkens nicht fehlen, die auf die Zeit Mitte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückgeht: die Kritische Theorie der Gesellschaft. Mit der Aufnahme der Leitmotive im Denken von Karl Marx und dessen Kronzeugen Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat sie sich die konsequente Kritik aller Formen von Herrschaft und gesellschaftlicher Entfremdung zum Programm gemacht. Unter dem Namen Frankfurter Schule sollte sie eine der wirkungsmächtigsten Varianten des Marxismus im 20. Jahrhundert werden. Die Namen ihrer philosophischen „Gründerväter“ Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sind – mit Titeln wie Dialektik der Aufklärung, Kritik der instrumentellen Vernunft, Negative Dialektik,1 aber auch mit der Ästhetischen Theorie (dem letzten, posthum veröffentlichten Werk Adornos, in dem die Kunst zur letzten Instanz der Gesellschaftskritik in einem aussichtslos verstellten Zustand gesellschaftlicher Negativität erklärt wird)2 – wohl die berühmtesten. Zu nennen ist aber auch Herbert Marcuse, der nach Jahrzehnten des Wirkens in den USA mit seinen gesellschafts- und kulturkritischen Büchern, in denen er das analytische Instrumentarium der marxistischen Gesellschaftskritik durch die Einsichten der Freud’schen Psychoanalyse zu schärfen suchte, Ende der 60er Jahre zu einer der wichtigen Bezugspersonen der kalifornischen und der europäischen Studentenbewegung wurde.3

Nachdem sich die Erschütterung über die Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts, über die nationalsozialistische Herrschaft, den Zweiten Weltkrieg, den Völkermord an den Juden und den Vietnamkrieg, bei der ersten Generation der Denker der Frankfurter Schule in der radikalen Kritik einer als Instrument der Herrschaft völlig disqualifizierten Vernunft niedergeschlagen hatte, sollte dem produktivsten und einflussreichsten Kritiker der folgenden Generation: Jürgen Habermas, das Verdienst zukommen, durch eine neue Grundlegung der politischen Ethik das Vertrauen in die immer auch kommunikative und normative Kraft der Vernunft zurückzugewinnen und damit nicht zuletzt die Möglichkeit von Kritik vor dem performativen Selbstwiderspruch einer völligen Verwerfung der Vernunft in Sicherheit zu bringen.4

Bei allen Differenzen und Differenzierungen teilen diese Autoren (und eine stattliche Reihe weiterer, die im Rahmen einer eingehenden Auseinandersetzung zu nennen wären)5 generell das Programm der Kapitalismuskritik – und speziell gemäß der von Marx aufgenommenen Intuition, dass die Organisationsstrukturen des ökonomischen Wirtschaftens sich prägend auf die Lebensformen einer Gesellschaft auswirken, die Kritik aller gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Formen des menschlichen Bewusstseins und der kommunikativen Praxis, in denen sich Unfreiheit und illegitime Herrschaftsstrukturen geltend machen. Wenn an der so genannten Basis die arbeitsteilige Organisation der ökonomischen Produktion auf ungleiche Eigentumsverteilung und die darauf beruhenden Herrschaftsverhältnisse aufgebaut ist, dann teilen sich diese Herrschaftsstrukturen dem Bewusstsein der Menschen mit: ihrem Denken, Fühlen, Handeln, ihrer kommunikativen Praxis, und das gesamte Zusammenleben in allen seinen sozialen, politischen und kulturellen Formen – der gesamte Überbau – wird die Züge dieser Herrschaft annehmen. In einer warenproduzierenden Gesellschaft werden vermittelt über das Bewusstsein der in Arbeits- und Konsumsphäre verbundenen Menschen schließlich alle menschlichen Verhältnisse und Verhaltensweisen Züge der Warenproduktion, des Warenbesitzes und des Warentauschs tragen.6 Diese Vorstellung skizziert Marx in einem Lehrstück, das seine Leser und Interpreten den „dialektischen Materialismus“ genannt haben, und die in diesem Titel behauptete Dialektik wäre nicht Dialektik, wenn es sich in diesem Verhältnis von Basis und Überbau nicht um ein Wechselverhältnis handelte – wenn es nicht auch eine Rückwirkung des Überbaus auf die Basis gäbe, des Bewusstseins auf die basalen Verhältnisse, von denen es geprägt ist. Hier muss eine kritische Theorie wie die hier vorgestellte ihre Chance sehen: ihre Chance auf Veränderung des Bewusstseins und der Lebensformen durch Aufklärung und kritische Analyse am Leitfaden der Idee von Herrschaftsfreiheit.

Den Ansätzen und Differenzierungen innerhalb der kritischen Theorie der Gesellschaft in dem einen und anderen Punkt ein Stück weit kritisch nachzugehen, wäre ein interessanter Einstieg in ein weites Feld der sozialwissenschaftlich informierten Gegenwartsphilosophie und ihrer Resonanzen in der Literaturwissenschaft, in der Kunst-, Architektur- und Filmkritik, und in der Musikwissenschaft. Nach der einleitenden Erinnerung an eine bis heute produktive und einflussreiche Theorie, die ihr Selbstverständnis im programmatischen Begriff der Kritik artikuliert, soll der folgende Beitrag sich jedoch auf einen Philosophen konzentrieren, dessen wahrhaft radikaler Ansatz am Grunde des modernen Selbstverständnisses steht und den man als den großen Kritiker schlechthin ansprechen darf. Kritik der Vernunft – und dabei unter anderem auch Kritik der Gesellschaft – ist das Programm, das damit in den Blick gerät.

Zeitalter der Aufklärung und der Kritik – Annäherung an Immanuel Kant

Der Begriff der Kritik ist einer der grundlegenden philosophischen Methodenbegriffe. Entscheidend ist in der Philosophie immer, dass man sich im Nachdenken über die Probleme, die zum Nachdenken veranlassen, reflexiv auch über die Voraussetzungen und die Methode(n) dieses Nachdenkens verständigt. Kritik der verwendeten Begriffe, kritische Reflexion auf einen jeweils erreichten Stand der Klärung, kritische Revision früherer Phasen der Forschung und Auseinandersetzung: Kritik ist das Element allen problembewussten Denkens, aller Theorie. Sucht man nach einem exemplarischen Beispiel, an dem man sich vor Augen führen kann, wie das zu verstehen, wie diese Einsicht umzusetzen ist, dann ist man gut beraten, auf Immanuel Kant (1724-1804) zurückzugehen.

Die Aufklärung, diese intellektuelle Bewegung, die dem 18. Jahrhundert seinen Epochen-Namen gegeben hat und die in ganz Europa auf die Befreiung des Menschen auf der Grundlage einer Läuterung des Wissens und Reform des Denkens abzielte, war auf ihrem Höhepunkt, und Kant war schon ein Mann von 60 Jahren, er hatte sich seinen Ruf als rücksichtsloser Kritiker der traditionellen Metaphysik schon erarbeitet,1 als er 1784 in seinem berühmten Aufsatz in der Berlinischen Monatsschrift auf die Frage, ob „wir“ denn „in einem aufgeklärten Zeitalter“ lebten, die Antwort gab: „Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“2 Was meint Kant mit seinem Programmbegriff, und in welchem Verhältnis steht der Anspruch auf Aufklärung zum Begriff der Kritik?

Aufklärung ist ein Prozess der Erweiterung des Wissens, des Bewusstseins und der Denkungsart. Mit diesem altmodischen Ausdruck „Denkungsart“, den man auch mit „Gesinnung“ oder „Bildung“ wiedergeben kann, ist die grundsätzliche Einstellung gemeint – die gleichermaßen theoretische wie praktische Einstellung gegenüber den Dingen, den anderen Menschen, der Welt und nicht zuletzt auch gegen sich selbst. Dass es im Prozess der Aufklärung zwar um Belehrung, Kenntnisse, Wissenszuwachs geht, aber niemals bloß um sie, sondern dabei immer zugleich um die Art und Weise, wie ich damit umgehe, was ich daraus mache, wie ich bereit bin, mich nach meinen Einsichten auch zu richten – das soll dieser Begriff der Denkungsart kenntlich machen: Was nützen alle Kenntnisse, wenn sie bloßes Kreuzworträtselwissen bleiben und ich nicht imstande bin, selbstständig Zusammenhänge herzustellen und zu bedenken? Was nützt ein enzyklopädisches Wissen, wenn es mich zu einer Art von wandelndem Lexikon macht, ich dabei aber nicht imstande bin, in der komplexen, unübersichtlichen Wirklichkeit meine Interessen wahrzunehmen, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, mein Leben selbstständig zu führen? Was nützt Wissenschaft aller Art, wenn der Horizont meines Denkens verstellt ist, wenn ich eine engstirnige, illiberale und intolerante Person bin, die in jeder kommunikativen Herausforderung versagt, jede Abweichung vom Vertrauten als Angriff empfindet, den Andersdenkenden verachtet, den Bettler vom Hof jagt, in jedem Fremden einen Abgesandten der Finsternis vermutet? Aufklärung ist niemals bloß Anhäufung von Wissen, sondern immer auch Einübung in den angemessenen Umgang damit, Erschließung eines Horizontes, liberale Gesinnung. An zwei Stellen dieses kurzen Aufrisses wurde bereits in voller Absicht das Prädikat „selbstständig“ verwendet, einmal im selbstständigen Umgang mit Wissen, das andere Mal in der selbstständigen Lebensführung. Damit soll darauf hingewiesen sein, dass Aufklärung, so wichtig auch die Läuterung des Wissens und Reform des Denkens ist, niemals bloße Theorie bleiben kann, sondern immer auch Auswirkungen auf die Praxis, das Handeln hat.

Die Befreiung des Menschen auf der Grundlage einer Läuterung des Wissens und Reform des Denkens – es gibt keine Formel, durch die auch die Philosophie Kants in ihrem programmatischen Anspruch auf die Einheit von theoretischer und praktischer Verbesserung des Menschen besser umschrieben wäre. Wenn Kant in seinem Aufsatz die Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bestimmt, dann hat er im Sinn, dass die Menschen, die in den zeitgenössischen Herrschaftsstrukturen unterdrückt, befangen, bevormundet sind, zunächst einmal ermutigt werden müssen, Erkenntnisse zu sammeln und den eigenen Erkenntnissen auch zu vertrauen. „Sapere aude. Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“3 Und er sieht in den Verhältnissen seiner Zeit den vordringlichen Gegenstand des damit verbundenen Anspruchs auf Selbstständigkeit in der Religion. In einer Zeit, in der die Bürger in aller Regel durch Zwang der Obrigkeit die Konfession ihres Landesherrn (sei er nun Kaiser, König, Kurfürst) haben mussten (und wenn ein Landstrich durch Kriegseroberung unter eine andere Regierung fiel, dann konnte es auch nach dem Westfälischen Frieden passieren, dass die Menschen, die bis dahin Protestanten gewesen waren, sich gleichsam über Nacht als Katholiken wiederfanden – und umgekehrt), ist die Religionsfreiheit ein vordringliches Gut, für das es sich lohnt, zu argumentieren, zu streiten, sich einzusetzen. Denn es ist ganz deutlich, dass Art und Grad der Bevormundung, die durch Religionszwang bis in die innersten Belange eines Menschen ausgeübt wird, eine besonders empfindliche Art der Unmündigkeit darstellt. Entsprechend widmet Kant den größeren Teil seines Aufsatzes diesem Thema und preist den großen preußischen König, der als Erster den Ehrentitel eines aufgeklärten Monarchen verdient habe, weil er dekretiert hat, dass in seinem Land jeder nach seiner Façon selig werden solle – also: jeder selbst entscheiden können solle, welcher Religion er angehören will. Die Religion, so findet Kant, ist das exemplarisch ausgezeichnete Feld der Mündigkeit, nach der der freie Mensch als Bürger strebt – exemplarisch, und damit nicht das einzige. Von hier ausgehend, nach dem Modell der Religionsfreiheit soll in allen Bereichen des Lebens die Idee der Aufklärung umgesetzt werden.

An Kants Stellungnahme zu diesem Herzstück der aufgeklärten, eigenverantwortlichen Lebensweise wird deutlich, welche Rolle der methodische Ansatz der Kritik in seiner Philosophie spielt. Ebenso gut kann man sagen: Es ist der für Kants gesamtes Werk grundlegende Gedanke der Kritik, der sein Denken als genuin aufklärerisch ausweist. Schon 1781 hatte Kant in der Kritik der reinen Vernunft den Anspruch der Vernunftaufklärung auf den Punkt gebracht, indem er formuliert:

Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.4

Die einzige Autorität, deren Anerkennung bei der allseitigen Kritik der Geltungsansprüche (von Religion, Gesetzgebung, also: Politik – und Kant hätte umstandslos auch die Wissenschaft noch hinzufügen können) vorausgesetzt wird, ist die Vernunft als Instanz des Erkennens, des Denkens und Urteilens. Das aber wäre eine Inkonsequenz – wenn es denn so gemeint wäre, dass dabei die Vernunft im toten Winkel der Orientierung bliebe. Man kann nicht alles und jedes mit den Mitteln und Ansprüchen der Vernunft kritisieren, und die Vernunft selbst unkritisiert einfach so voraussetzen. Die Frage muss schon auch lauten, ob die Vernunft das, was ihr da als Leistung unterstellt wird, auch zu leisten vermag. Und eben diese Frage und die kleinteiligen Einzelfragen, die daran hängen, stellt Kant in dem Buch vor, in dessen Vorrede er vom Zeitalter der Kritik spricht – das heißt auch: Diese Frage ist zu einem guten Teil in umfänglichen Analysen bereits beantwortet, wenn er 1784 dann Mut machen will, dass sich der Mensch seines eigenen Verstandes bediene.

Kants Programm der Vernunftkritik

Kants gesamtes Werk ist der Kritik gewidmet – der Kritik derjenigen Fähigkeiten, die den Menschen als vernünftiges Wesen in seinem Anspruch auf Freiheit und Selbstständigkeit auszeichnen. In seiner eigenen kritischen Philosophie, die er als systematische Selbstkritik der Vernunft begreift, untersucht er, was die Vernunft aufgrund welcher Vermögen leisten kann, und was ihre Vermögen übersteigt. Was ist Kritik der Vernunft? Der Programmtitel des Aufklärers ist absichtsvoll doppeldeutig, gemeint ist nämlich erstens Kritik an der Vernunft (genitivus obiectivus), zweitens Kritik durch die/mit den Mitteln der Vernunft (genitivus subiectivus). Es geht also um Kritik der Vernunft durch sich selbst: die selbstreflexive Analyse der Fähigkeiten und Grenzen der Vernunft. Dieses Programm ist in epochemachender Weise zu Buche geschlagen: Kritik der reinen Vernunft 1781 (Erkenntnistheorie); Kritik der praktischen Vernunft 1788 (Ethik); Kritik der Urteilskraft 1790 (Ästhetik/Theorie der zweckmäßigen Natur).

Kant bezieht sich dabei auf den Begriff einer Vernunft als Fähigkeit zu gegenständlicher Erkenntnis, zum Urteilen, zur Hervorbringung von Grundsätzen und Ideen, und zu rein begrifflicher Spekulation. Thematisch sind das lauter grundlegende kognitive oder intellektuelle Grundfähigkeiten, die er im Sprachduktus seiner Zeit als „Vermögen“ bezeichnet. Damit ist das bezeichnet, was ich vermag – also eine Fähigkeit/Kapazität für bestimmte Leistungen. Die Vernunft ist das Vermögen, das wir in allen möglichen Leistungen einsetzen, dabei immer auch als Instanz der Kritik aus konsequentem Selbstbegriff.

„Die Vernunft in einem Geschöpfe ist ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinct zu erweitern, und kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe“, heißt es in einer der kleinen geschichtsphilosophischen Schriften der 80er Jahre,1 und in einer anderen: das „Vermögen […], das sich über die Schranken, worin alle Thiere gehalten werden, erweitern kann“.2 So fasst Kant in dieser Zeit das menschliche Selbstverständnis zusammen, das sich in den Leistungen der Vernunft äußert und auf das er sich auch in seiner Auffassung von Aufklärung beruft.

Es geht ihm in seiner kritischen Philosophie darum, die Leistungen und die Grenzen der menschlichen Vernunft zu ermessen. Bereits 1781 in der Kritik der reinen Vernunft legt Kant die systematische Spannweite seines Unternehmens einer Vernunftkritik in der Formulierung von drei Fragen auseinander: „Was kann ich wissen? – Was soll ich tun? – Was darf ich hoffen?“ In der Logik-Vorlesung (1800) greift er diese Fragen wieder auf und fasst sie zusammen in der Frage „Was ist der Mensch?“ Die Systematik dieser 3 Fragen führt zunächst direkt zu einer Aufteilung der vernunftkritischen Problemstellung in theoretische Philosophie (Erkenntnistheorie und Ontologie), praktische Philosophie (Moralphilosophie und politische Philosophie), Theologie und Religionsphilosophie. Wir können im Nachvollzug von Kants kritischer Philosophie auch sehen, wie sich diese drei Fragen in der Sache bereits den drei großen Werken, den drei Kritiken zuordnen lassen: Die erste Frage Was kann ich wissen? der Kritik der reinen Vernunft, die zweite Was soll ich tun? der Kritik der praktischen Vernunft und die dritte Frage Was darf ich hoffen? der Kritik der Urteilskraft, in welcher auf dem Weg über die Analyse der ästhetischen Gefühle angesichts des Schönen und Erhabenen der Natur der spekulative Begriff einer zweckmäßigen Natur und des in ihr wirkenden Willens entwickelt wird. Der Mensch als erkennendes, handelndes und fühlend reflektierendes Wesen und die Geltungsansprüche seiner theoretischen, praktischen und ästhetischen Urteile sind dabei thematisch.3 Das alles übergreifende Thema ist das Selbstverständnis des Menschen als des vernünftigen Wesens, dessen intellektuelle Leistungen in den drei Teilen der Vernunftkritik untersucht werden.

Zunächst einmal muss die Erkenntnis auf sichere Fundamente gestellt werden, und nicht allein die empirische Erkenntnis, wie sie in der hoch organisierten Form der Wissenschaften kulminiert, sondern auch die metaphysische Erkenntnis der Philosophie. Der Gedanke, mit dem Kant Epoche macht, als er die Fundamente der Erkenntnis zu sichern sucht, ist die Einsicht, dass diese sicheren Fundamente in den erkennenden Subjekten, genauer: in den Strukturen ihrer Intelligenz – und nicht in den Dingen und den Verhältnissen der äußeren Welt liegen.

Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntniß müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntniß erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten […]. Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.4

Die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, das soll heißen: Wir können alles nur so erkennen, wie es unsere Erkenntnisbedingungen zulassen, wir können die Dinge immer nur so erkennen, wie sie uns durch die formalen Vorgaben unseres Erkenntnisvermögens, durch die ‚Anschauungen‘ unserer Sinne5 und durch die Begriffe unseres Verstandes erscheinen. Wir können uns diesen grundstürzenden Gedanken, mit dem sich die Analyserichtung von den Objekten zum Subjekt der Erkenntnis wendet, mit der anschaulichen Analogie verständlicher machen, die ein Zeitgenosse und früher Leser Kants, der Dichter Heinrich von Kleist in einem Brief an seine Verlobte für diesen Grundgedanken der Kritik der reinen Vernunft findet: „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände welche sie dadurch erblicken, sind grün und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande.“6 Eines ist ganz klar: Diese Einsicht, dass wir im Erkennen zu den Dingen strukturell etwas vom Erkenntnisobjekt Unablösbares „hinzutun“, was dem Funktionieren unserer Erkenntnisbedingungen geschuldet ist, kann nur dazu führen, umso entschiedener zu analysieren, wie denn diese Erkenntnisbedingungen funktionieren – also lautet Kants Programm: Kritik der Vernunft in der Analyse ihrer Leistungen. Der damit vorgestellte Gedanke der Erkenntniskritik ist tatsächlich einer der beiden berühmtesten Gedanken Kants: die kopernikanische Wende. Diese methodische Wende zu den Bedingungen, die das Subjekt der Erkenntnis mitbringt, ist seither bis in unsere Tage immer wieder einmal zum Modell erkenntnistheoretischer und auch wissenschaftstheoretischer Positionen geworden – und dabei häufig unter dem Titel des Konstruktivismus: Wir „konstruieren“ in einem übertragenen, nämlich: epistemischen Sinne, die Welt erst, insofern wir sie erkennen.

Doch nicht nur der erkennende Verstand, von dem Kant dann sagen wird, man solle Mut haben, sich seiner zu bedienen, ist eine der Leistungen der Vernunft, auch der an Grundsätzen orientierbare Wille, der sich im Handeln artikuliert, ist eine Vernunftleistung. „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“7 So lautet der erste Satz der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, der Schrift, mit der Kant die Kritik der praktischen Vernunft vorbereitet. Es ist eigentlich ganz klar, dass es einen Bereich im Leben wie in der Philosophie gibt, in dem der kritische Anspruch allen problembewussten Denkens besonders prägnant wird, den Bereich, wo sich das Denken auf das menschliche Handeln in seiner Orientierungsbedürftigkeit, seiner Korrekturbedürftigkeit bezieht: die Moral – und damit philosophisch die Ethik. Kritik ist das genuine Element der Moral, und hier zeigt sich ganz besonders prägnant die für das vernunftkritische Programm unhintergehbare Dimension der Selbstkritik, denn in der moralischen Einstellung stellt sich ein Handelnder immer die Frage nach der Angemessenheit und Rechtfertigung des eigenen Handelns: Was soll ich tun? Und in der Auseinandersetzung mit diesem alles Handeln begleitenden normativen Anspruch, zugespitzt auf die Frage: Wann ist der Wille ein guter Wille? gelingt Kant der zweite seiner beiden berühmtesten Gedanken, der Kategorische Imperativ: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“8

Auch wenn man nicht so viel Zeit hat, wie man brauchte, um diesen Gedanken in angemessener Gründlichkeit zu behandeln – so viel sieht man in diesem Gebot der Achtung vor der Würde der Person, in diesem Instrumentalisierungsverbot, auf einen Blick: Der Kategorische Imperativ ist Ausdruck einer Ethik der wechselseitigen Achtung vor der Freiheit des Anderen.

Beide Aspekte, der Aspekt der theoretischen Verstandesleistung im (richtigen) Erkennen wie der Aspekt der praktischen Leistung im (moralischen) Handeln, sind gemeint, wenn wir Kant als den großen Kritiker der Vernunft ansprechen. In beiden Aspekten macht Kant Dimensionen der menschlichen Freiheit geltend. Es ist bereits ein Gebrauch meiner Freiheit, wenn ich mich selbstständig ohne Bevormundung durch einen Anderen meines Verstandes bediene, es ist ein anderer, nämlich praktischer Gebrauch meiner Freiheit, wenn ich so handle, wie ich es als richtig eingesehen habe.

Im Anschluss daran und mit Rekurs auf einen häufig beanstandeten Punkt lässt sich die Rolle der Kritik in Kants Verständnis von Aufklärung abschließend konkreter fassen: Was hat es zu bedeuten, dass Kant in seiner Aufklärungsschrift von 1784 von selbstverschuldeter Unmündigkeit spricht? Sollte die Quintessenz des kritischen Bewusstseins darin bestehen, dass der Kritiker den Menschen für die Verhältnisse der Unterdrückung und der Knechtschaft, in denen sie unmündig sind, weil sie bevormundet werden, auch noch selbst die Schuld gibt und auf diese Weise die Unterdrücker: die Herren – wie man mit Blick auf feudale Herrschaftsverhältnisse ruhig sagen darf – vom Vorwurf entlastet? Dieser Verdacht trifft nicht Kants Position und Pointe.

Ich gestehe, daß ich mich in den Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: Ein gewisses Volk (was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist) ist zur Freiheit nicht reif; die Leibeigenen eines Gutseigenthümers sind zur Freiheit noch nicht reif; und so auch: die Menschen überhaupt sind zur Glaubensfreiheit noch nicht reif. Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist (man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können). Die ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders, als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen, man frei sein muß).9

Man sieht an dieser Argumentation: Kant denkt nicht daran, es den Herrschenden bequem zu machen, indem er sie von ihrem Anteil an Herrschaftsverhältnissen entlastet. Mit der Rede von der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist keine Verharmlosung von manipulativen, autoritären oder sogar totalitären Verhältnissen zu sehen. Man muss die Pointe der Rede von selbstverschuldeter Unmündigkeit in etwas anderem sehen: in dem provokativen rhetorischen Hinweis, dass zu jedem Herrschaftsverhältnis zwei gehören – einer, der die Herrschaft ausübt und einer, der sie sich gefallen lässt. Gerade der mit den Begriffen von Aufklärung und Mündigkeit gestellte Anspruch auf die eigene Zuständigkeit, auf Freiheit ist nicht zu realisieren ohne die vorgängige Bereitschaft zur Verantwortung für die eigenen Angelegenheiten. Insofern ist mit der Rede von der selbstverschuldeten Unmündigkeit die Ausflucht verstellt, den Anderen oder den Verhältnissen pauschal die Verantwortung für die eigenen Lebensverhältnisse zuzuschieben; in dem Prädikat „selbstverschuldet“ hat man den indirekten, aber heftigen Appell zu sehen, sich nach Kräften – und dabei immer aus eigener Kraft – aus der Unmündigkeit herauszuarbeiten.

Schluss: Die Aktualität von Kritik und Aufklärung

Wie fällt heute unsere Antwort auf die Frage aus, die Kant in seinem Aufsatz von 1784 mit illusionsloser Zuversicht so differenziert beantwortet hat? Auch wir, selbst als Bürger einer globalisierten Welt, einer jahrzehntelangen Erfolgsgeschichte der Demokratisierung und der Einhegung des Krieges, einer weltweiten Ausdehnung des öffentlichen Kommunikationsnetzes auf der Basis einer technologischen Entwicklung, die zugleich die schlimmsten Formen harter Arbeit und epidemischer Krankheiten abzuschaffen geholfen hat, können die Frage, ob wir in einem aufgeklärten Zeitalter leben, nur verneinen. Denn unter den Bedingungen polarisierter wirtschaftlicher und politischer Machtinteressen und asymmetrischer Verteilung von Ressourcen aller Art müssen wir uns selbst in einer Entwicklungsdynamik, die man unter Kantischer Optik in der Orientierung an den Ideen von Freiheit und Frieden1 als Fortschritt ansprechen würde, offenbar jederzeit auf Rückschläge gefasst machen. Dabei ist es gar nicht einmal sicher, ob wir uns angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Problemlage immerhin zutrauen dürfen, auch den zweiten Teil der Antwort noch wie Kant zu formulieren: Nein – aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Ob wir weiterhin wenigstens in einem Zeitalter der Aufklärung leben, dürfte zu einem entscheidenden Teil davon abhängen, ob wir es uns zutrauen, an der Idee der Kritik – und an der Kraft zu ihrer praktischen Umsetzung festzuhalten.

Selbstverständlich ist das nicht. Das Interesse an Aufklärung hat sich zeitgenössisch in einem Spannungsverhältnis der Extreme zu bewegen: Auf der einen Seite steht das historische Bewusstsein, dass die Herrschaftsverhältnisse eines monarchisch regierten Staates mit eingeschränkter politischer Partizipation der Bürger der Vergangenheit angehören. Wir leben in einem Verfassungsstaat, der sich als parlamentarische Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht, Gewaltenteilung und Minderheitenschutz und unter den Bedingungen freier Öffentlichkeit organisiert. Auf der anderen Seite steht der Einwand, dass sich die Verhältnisse in der Welt seit Kants Zeiten nicht verbessert hätten, ohne sich zugleich verschlimmert zu haben: Das Netz der anti-aufklärerischen Kräfte hat sich in Zeiten der hochtechnologisch instrumentierten Globalisierung verdichtet, die Formen der Herrschaft sind teils drastischer, teils unsichtbar geworden. Doch als Epochendiagnose tragen solche Einsichten auch dann nicht, wenn die Analyse richtig sein sollte. Denn wo eine solche Einschätzung möglich wird, hat immer schon kritische Erkenntnis stattgefunden – und wo diese möglich ist, da ist es auch möglich, die Kritik methodisch und zielstrebig weiterzuführen. Wir haben es dabei allerdings in einem Punkt mit erschwerten Bedingungen zu tun: Es gibt in der heutigen Welt Kräfte der Bevormundung, der Unmündigkeit, der Manipulation, von denen der Zeitgenosse des 18. Jahrhunderts sich noch nichts träumen ließ. Und diese Kräfte wirken mit einem beständigen Angebot auf uns ein, in dem sich Wissen (unter dem bezeichnenden Titel der „Information“), Unterhaltung und die Suggestion basisdemokratischer Meinungsbildung in einer schwer durchdringlichen Melange durchmischen, sodass wir gut daran tun, das Programm der Kritik der Vernunft zu verstärken und zum einen den Aspekt der Selbstkritik, der in Kants Ansatz der Vernunftkritik so stark gemacht ist, noch um einiges zu intensivieren; es zum anderen zu erweitern mindestens um die Kritik der Rhetorik öffentlichen Sprechens und die Kritik der manipulativen Bilderflut.

Die Anlässe für kritisches Denken in aufklärerischer Absicht sind somit nicht weniger geworden. Wir müssen offenbar mehr denn je bereit sein, im Prinzip alle Instanzen in der Welt (so wie Kant die Religion und die Gesetzgebung) der kritischen Prüfung der von ihnen erhobenen Geltungsansprüche zu unterziehen. Das ist in jedem Fall ein anstrengendes Unternehmen, das neben sensibilisierter Aufmerksamkeit, klaren Erkenntnissen und Entschiedenheit auch Ausdauer, Disziplin und Frustrationsresistenz verlangt. Faulheit und Feigheit2 sind da auch weiterhin die Versuchungen, die einen dazu bewegen können, es sich in der Anpassung bequem zu machen. Wer wollte behaupten, dass Kants Rede vom „Mut“, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, hier veraltet wäre?

Literatur

Adorno, Theodor W. (1951). Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Adorno, Theodor W. (1966). Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Adorno, Theodor W. (1970). Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Duhm, Dieter (1973). Warenstruktur und zerstörte Zwischenmenschlichkeit. Köln: Rosa-Luxemburg-Verlag.

Habermas, Jürgen (1962). Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied am Rhein: Luchterhand.

Habermas, Jürgen (1968). Erkenntnis und Interesse. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen (1981). Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen (1991). Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Horkheimer, Max (1967). Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt am Main: S. Fischer.

Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (1947). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam: Querido.

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Kant, Immanuel (1784a). „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ In: Akademie-Ausgabe Bd. VIII, 33–42.

Kant, Immanuel (1784b). „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“. In: Akademie-Ausgabe Bd. VIII, 15–32.

Kant, Immanuel (1785). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Akademie-Ausgabe Bd. IV, 385–464.

Kant, Immanuel (1786). „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“. In: Akademie-Ausgabe Bd. VIII, 107–124.

Kant, Immanuel (1793). Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: Akademie-Ausgabe Bd. VII, 1–202.

Kant, Immanuel (1795). Zum Ewigen Frieden. In: Akademie-Ausgabe Bd. VIII, 341–386.

Kleist, Heinrich von (1801). „Brief an Wilhelmine von Zenge vom 22.3.1801“. Zitiert nach Cassirer, Ernst (1921). „Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie“. In: Ders. (2001). Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Band 9 (Aufsätze und kleine Schriften (1902-1921). Hrsg. von Birgit Recki, Text und Anmerkungen bearbeitet von Marcel Simon. Hamburg: Felix Meiner.

Marcuse, Herbert (1965). Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Marcuse, Herbert (1967). Der eindimensionale Mensch. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Marcuse, Herbert (1969). Versuch über die Befreiung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Mendelssohn, Moses (1785). Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. Berliner Ausgabe 2014.

Recki, Birgit (1984). Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Recki, Birgit (2004). Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Aufsätze zu Immanuel Kant. Münster: mentis.

Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft

Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich

Einleitung

Fragen zu stellen, einem wissenschaftlichen Gegenstand durch Fragen auf die Spur zu kommen, durch kritisches Hinterfragen von überlieferten Denkformen und traditionellen methodischen Herangehensweisen allgemeingültige Annahmen auf den Prüfstand zu stellen, gehört zu den grundlegendsten Formen, in denen geisteswissenschaftliches Arbeiten sich selbst seines kritischen Impulses versichert. Was dabei in Frage gestellt werden darf, wie weit kritisches Nachfragen gehen kann, mag von unterschiedlichen akademischen Kontexten, institutionellen Rahmenbedingungen oder diskursiven bzw. disziplinären Ordnungsgefügen abhängen. Die Form des kritischen Nachfragens als solche scheint dabei jedoch eine ganz unproblematische Praktik im Selbstverständnis des geisteswissenschaftlichen Arbeitens zu sein. Dabei beginnt das moderne Nachdenken über Kritik als In-Frage-Stellen überlieferter Annahmen und Prämissen des Erkennens und Denkens doch mit äußerst problematischen Fragen. In der Vorrede der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, jenem Epoche machenden Werk, in dem das Erkennen auf die Frage nach der Möglichkeit und Grenze der Vernunft verwiesen wird, setzt Immanuel Kant mit Fragen ein, die nicht gestellt werden, sondern sich aufdrängen:

Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.1

In der Geschichte des Denkens neigte der Mensch, so Kant, allzu häufig dazu, diesen unlösbaren Fragen etwa nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt mit transzendenten Urteilen zu begegnen, die aber letztlich unbeweisbar sind und als dogmatische Setzungen den Geltungsraum menschlicher Erkenntnisfähigkeit überschreiten. Nicht diese philosophische Kritik an dogmatischer Metaphysik soll hier aber weiter verfolgt, sondern viel grundlegender der Einsatzpunkt des Fragens selbst betrachtet werden. Das Fragen am Beginn der Kritik der reinen Vernunft, und darauf liegt hier der Fokus, ist nicht einfach eine unproblematische Denkpraktik, mit der man sich langsam einem Gegenstand nähern kann, um ihn sukzessive durch immer kleinteiligere und konkretere Frageformen erkennen, denken und bestimmen zu können. Am Anfang des modernen kritischen Denkens stehen vielmehr Fragen als Probleme, als Bedrängnis. Die Frage wird nicht aktiv gestellt, sondern drängt sich der menschlichen Vernunft auf, bedrängt und führt beinahe eine Art Eigenleben, zu dem sich der Mensch verhalten muss. Damit wird der kritische Einsatzpunkt des Denkens zuerst und grundlegend ein Nachdenken über die richtigen Frageformen, über die Art und Weise, wie Fragen so zu stellen sind, dass sie dem menschlichen Erkenntnisapparat entsprechen und nützlich sein können. Fragen ist demnach nicht eine unproblematische Praxis geisteswissenschaftlichen Arbeitens, sondern betrifft vielmehr ganz entschieden die Frage nach der Art des Fragens selbst: bevor wir Fragen nach dem was des Erkennens stellen können, müssen wir also zunächst nach dem wie dieses Fragens selbst fragen.

Kant hat dieses Problem des Fragens in der Kritik der reinen Vernunft bekanntlich auf ein philosophisches Projekt verpflichtet, das die Bestimmung der Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnisfähigkeit des Menschen zum Ausgangspunkt hat. Diese Form der Kritik ist aber nicht nur eine Untersuchung des Erkenntnisapparats um seiner selbst willen, sondern auch ein aufklärerisches Projekt als Kritik durch Infragestellung anmaßender Geltungsansprüchen von Religion oder Staat. Daher heißt es in der Vorrede weiter:

Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.2

Die historische Zäsur, die sich hier in Immanuel Kants Vorrede als Unterscheidung zwischen metaphysischem Dogmatismus und kritischer Aufklärung ankündigt, ist nicht die Beschreibung, Protokollierung eines notwendig geschichtsimmanenten Prozesses, sondern eine starke performative Setzung, die im Akt des Fragens selbst diesen historischen Prozess initiiert. Indem Kant eine historische Differenz zwischen der Vergangenheit und der eigenen Gegenwart markiert, ruft er zugleich eine spezifische Form der Kritik aus, nämlich die Aufklärung im Modus des kritischen Hinterfragens, die dabei allerdings, und das gilt es zu betonen, zuallererst die Frage nach dem Modus des Fragens selbst befragt: Michel Foucault hat darauf hingewiesen, dass das epochale Ereignis vor allem darin besteht, dass mit dieser Frage das Fragen selbst in der Geschichte als kritische Vollzugsform eines Denkens auftaucht, das uns bis heute als Aufgabe beschäftigt. Zu Kants Text „Was ist Aufklärung“ schreibt er: