Kubismus und Futurismus -  - E-Book

Kubismus und Futurismus E-Book

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Beschreibung

„Die Entwicklung zum autonomen Bild“ beschreibt zusammengefasst den Inhalt dieser Dokumentation, die von anerkannten Kunsthistorikern zusammen gestellt wurde. Am Beispiel von über 70 Farbabbildungen und Kurzbiografien der im Bildteil vorgestellten Künstler – wie Georges Braque, Paul Cezanne, Franz Marc, Fernand Léger oder Pablo Picasso – wird diese faszinierende Kunstgattung ausführlich behandelt.

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BILDKUNST

KUBISMUS und FUTURISMUS

 

 

 

 

 

 

TABLET ART

Inhalt

Cover

Titel

Bildkunst des 20. Jahrhunderts

Farbtafeln mit Kurzinterpretationen

Sind kubistische Bilder künstlerische Vexierbilder?

Das kubistische Bild als malerische Tatsache

Vorbereitende Unterscheidungen zum Verständnis kubistischer Malerei

Künstlerisch hergestellte gegen natürliche Schönheit

Frühkubismus: Bilden und Anführen nachahmungsfreier Grundformen

Analytischer Kubismus: Herstellen der Bildautonomie

Futuristische Malerei als „transitorische“ Kunst

Von der Nachahmung zur Repräsentation von Bewegung

Kubismus und Futurismus im Vergleich

Anmerkungen zum Einführungstext

Nachweis der Zitate im Text zu den Farbtafeln

Literaturhinweise

Kurzbiografien der vorgestellten Maler

Impressum

Bildkunst des 20. Jahrhunderts

mit 64 Farbtafeln der Maler

Balla

Gleizes

Marcoussis

Boccioni

Gontscharowa

Metzinger

Braque

Gris

Mondrian

Carrà

Kupka

Picabia

Cézanne

LaFresnaye

Picasso

Delaunay

Léger

Russolo

Delaunay- Terk

MacDonald-Wright

Severini

Derain

Malewitsch

Villon

Duchamp

Marc

Farbtafeln und Kurzinterpretationen

Eine Bildfolge zu „Kubismus und Futurismus“ mit Farbtafeln nach Gemälden Paul Cézannes zu beginnen, hat mehrere Gründe. Einmal ist Cézanne wohl zu Recht der Vater der modernen Kunst, insbesondere der Malerei, genannt worden, auf den sich die unterschiedlichsten Strömungen und Richtungen berufen. Zum anderen verweisen Künstler und Kritiker gern auf die mittlere bzw. späte Phase des Œuvres, wenn sie seine für das Verständnis des Kubismus oft herangezogene Überlegung zitieren, die er in einem Brief vom 15.4.1904 an den symbolistischen Maler E. Bernard in einem Satz zusammenfasst: „… man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kugel und Kegel und bringe das Ganze in die richtige Perspektive, so daß jede Seite eines Objektes, einer Fläche nach einem zentralen Punkt führt“ (Cézanne, Briefe, S. 281). Doch ganz davon abgesehen, dass Cézanne hier nicht dazu aufruft, die Natur als Zylinder, Kugel und Kegel zu malen, und dies im Kubismus so auch kaum irgendwo geschieht, liegen seine „Vorleistungen“ für den Kubismus auf anderem Gebiet.

1 Paul Cézanne Fünf Badende, 1885/1887 Öl/Lwd., 65,5 X 65,5 cm Basel, Kunst museum

Leitgedanke der Kunst Cézannes ist; Da es keinem Künstler gelingt, die Natur einfach zu kopieren, indem er sie Punkt für Punkt auf die Leinwand zu übertragen sucht, kann es nur darum gehen, mit Hilfe malerischer Zeichen die Natur zu repräsentieren, sich also um das Erzeugen und die Organisation der malerischen Kunstmittel zu kümmern. So zeigen „Fünf Badende“ ebenso wie die beiden „La Montagne Sainte-Victoire“-Bilder, dass es das Anliegen des Künstlers ist, farbige Zeichen zu entwickeln und im malerischen Prozess zu verwenden. Cézanne nannte sie „farbige Äquivalente“. Um diese nun im Bild optimal zur Geltung zu bringen, verzichtet der Maler immer konsequenter auf jede feste lineare Konturierung der Bildgegenstände. Die weiblichen Aktfiguren in „Fünf Badende“ z.B. veranschaulichen, wie selbst die Begrenzungen der Figuren durch Farben gegeben sind und deshalb in ihrem Verlauf nur farbig geklärt werden können. In „La Montagne Sainte-Victoire“ von 1904/1906 sehen wir dann diese kontur- und umrissfreie Malerei, die die Gegenstände im Bild, statt sie zu vereinzeln, direkt als farbigen Bildzusammenhang vorführt. Dieser in jeder Hinsicht farbbestimmte Bildaufbau gelingt mit Hilfe von Farbflecken („plans“, „taches“) unterschiedlichster Gestalt und Größe, Die „sensations colorantes“, wie Cézanne sie bezeichnete, setzt er als Gestalt- und Buntwerte zugleich ein, und zwar so, dass diese „Sichtbarkeitswerte“ (A. V. Hildebrand) als Elemente im Bild und für das Bild erzeugt werden. Wie die beiden hier vorgestellten Landschaften Cézannes auf das nachdrücklichste belegen, lässt sich die Farbe als Mittel zur Gestaltung der Gegenstände von ihrer Aufgabe als reines Kunstmittel, die Dichte des Bildes zu gewährleisten, nicht mehr unterscheiden. Diese sich bildintern verwirklichende freie Figuration der Farbe demonstriert geradezu ihre Unabhängigkeit vom gegenständlichen Zusammenhang der sichtbaren Welt. Oder anders gesagt: Das Erzeugen der Farbflecken und das Herstellen eines bildeigenen Zusammenhangs, um die Natur zu repräsentieren statt nur zu kopieren, erfolgt gerade so, dass Bildung, Anordnung und jeweilige Verwendung der Flecken in ein und demselben Bild zugleich erfolgen. J.Gasquet hat drei Gespräche mit Cézanne überliefert, in denen der Maler diese Art der Bildung eines farbigen Zusammenhangs als zentrales Thema seiner Kunst erläutert; „- Nun ja!… (Er wiederholt seine Bewegung, löst seine Hände, die zehn Finger geöffnet, nähert sie langsam, langsam, faltet sie wieder, drückt sie, verkrampft sie, läßt die eine in die andere sich einbohren.) Hier, das muß man erreichen. Wenn ich zu hoch oder zu tief greife, ist alles verpfuscht. Keine einzige Masche darf zu locker sein, kein Loch, durch das die Erregung, das Licht, die Wahrheit hindurchschlüpfen kann. Ich bearbeite, verstehen Sie. das ganze Bild gleichmäßig, in der Gesamtheit. Ich bringe in dem gleichen Schwung, dem gleichen Glauben alles zusammen, was auseinanderstrebt…“ (Gasquet, S. 9).

2 Paul Cézanne La Montagne Sainte-Victoire, 1898-1900 Öl/Lwd., 60 x 73 cm. Leningrad, Eremitage

3 Paul Cézanne La Montagne Sainte-Victoire, 1904/1906 Öl/Lwd., 60 x 72 cm. Basel, Kunstmuseum

Damit erkennt Cézanne die Farbe als alleiniges Grundelement der Bildkunst, mit dem es gelingt, Malerei als allseitigen bildeigenen Zusammenhang herzustellen, ohne noch in irgendeiner Weise ein lineares Gerüst für die Bildorganisation zu Hilfe zu nehmen. Der Künstler versucht nämlich, in der Bildgestaltung das Anführen wie anordnende In-Beziehung-Setzen der Farbflecken und deren je spezifische Verwendung in einer Malhandlung zu leisten, die für jedes zu malende Werk neu entwickelt werden muß, um „Konstruktionen vor der Natur“ (Cézanne) zu verbildlichen.

Im Frühkubismus bei Picasso (→ Bild 4 bis → Bild 9) und Braque (→ Bild 10 bis → Bild 16) dagegen handelt es sich um ein Schritt-für-Schritt-Verfahren, um zunächst einmal die bildeigenen, aus Geometrie und Stereometrie abgeleiteten Formen an der nachahmenden Darstellung zu gewinnen. Damit schaffen sich diese Künstler als erstes ein Repertoire von bildnerischen Basiselementen, die in der frühkubistischen Phase zusammengestellt. dann im analytischen Kubismus für den autonomen Bildaufbau nach bildimmanenten Regeln verwendet werden.

Mit oft seherischer Fantasie hat der Malagese Pablo Picasso künstlerisches Handeln umgestaltet unter der schlichten Fragestellung: Wie kann man mit Zeichnung, Grafik, Malerei und Skulptur bildnerisch handeln?

Picasso ist es wie keinem anderen gelungen, die Ismen des ersten Jahrhundertdrittels zu durchlaufen, miteinander zu verschränken und trotz allem die eigene „Handschrift“ zu behalten. Die breite Öffentlichkeit benutzt den Namen „Picasso“ häufig als Stempel, der nahezu allem, was in der modernen Kunst gemacht wurde, aufgedrückt werden kann, sei es als Zeichen der Ablehnung, sei es als Zeichen der Zustimmung: „Wie Picasso!“

Beim Klassischen setzt Picasso wie selbstverständlich an und gelangt zur alles in Frage stellenden Freiheit des Dadaismus; er identifiziert sich ganz mit der Erfindung der Strenge des kubistischen Bildaufbaus, um bald schon zur Phantastik surrealer Bildkonzepte zu kommen. Daneben leistet er sich unkontrollierten Automatismus ebenso wie größte Spontaneität beim Improvisieren.

4 Pablo Picasso Die Mädchen von Avignon, 1907 Öl/Lwd., 244 x 233 cm New York, The Museum of Modern Art, Lillie P. Bliss Bequest

Wie kaum eine andere Künstlerpersönlichkeit unseres Jahrhunderts fordert Picasso vorbehaltlose Gefolgschaft und radikalen Widerspruch heraus. So ist es nicht verwunderlich, wenn Künstler verschiedenster Herkunft und unterschiedlichster Bild- und Kunstauffassung bereit sind, Picasso zu huldigen, etwa mit der Ausstellung „Hommage à Picasso“ 1973, die zum 90. Geburtstag des Künstlers in mehreren europäischen Städten gezeigt wurde.

Wenn auch Picassos vielseitiges Werk zu Unterteilungen in verschiedene Phasen herausfordert, so können diese lediglich als Anhaltspunkte verstanden werden. Über die erste wichtige Periode seiner künstlerischen Entwicklung hat Picasso selbst gesagt: „Wir waren alle Art-nouveau-Künstler.“ Seine Arbeiten zwischen 1901 und 1904, der sogenannten „Blauen Periode“, sind denn auch in Lineament und Farbigkeit der Stilkunst verpflichtet. Hauptthema ist der von Leid, Hunger, Einsamkeit gezeichnete Mensch, der allerdings so im europäischen Symbolismus und Jugendstil kaum thematisiert wird. Zur oft nachtblauen melancholischen Einfarbigkeit tritt der Ausdruck der schlanken, überlängten Linie, um etwa Auszehrung, Ratlosigkeit der Figuren zu deuten, z.B. in „Bildnis Jaime Sabartés“ (1901), „Die Umarmung“ (1903) oder „Die Bürglerin“ (1904). 1904 übersiedelt Picasso endgültig nach Paris. In dem barackenähnlichen Holzhaus auf dem Montmartre, bekanntgeworden unter dem Namen „Bateau Lavoir“, bezieht er ein Atelier. Es wird zum ständigen Treffpunkt von Schriftstellern und bildenden Künstlern, u.a. G. Apollinaire, M. Jacob, A. Salmon, A. Derain (→ Bild 38), K. van Dongen und J, Gris (→ Bild 17 bis → Bild 22), dann nach 1907 auch G. Braque (→ Bild 10 bis → Bild 16). Zwischen 1904 und 1906 wandelt sich seine Palette zu lichtem Blau, hellem Rosa und rötlichem Ocker. In dieser „Rosa Periode“ malt er hauptsächlich Szenen aus dem Zirkus- und Artistenmilieu, das berühmte Gemälde „Die Gaukler“ („Les Saltimbanques“) von 1905 etwa.

1906/1907 beschäftigt sich Picasso vor allem mit den Werken Cézannes und der Fauves. Die primitive Plastik - Figuren der Bakotas, Pangoreplastiken Gabuns sowie Schnitzwerke der Gurovölker - hat Picasso, Derain und Matisse, aber auch die deutschen Expressionisten ebenso fasziniert wie inspiriert. Aufmerksam machte Picasso auch auf die Kunst der Kykladen. Dieses Interesse von selten der Künstler, die selbst solche Arbeiten sammelten, steht im engen Zusammenhang mit dem Beginn der Erforschung der Volkskunst kurz nach 1900. Mit harter Konturierung, Betonung des Skulpturalen und Bevorzugung erdiger Farbtöne bereitet Picasso während dieser Zeit, seiner sogenannten „Iberischen“ oder „Negerperiode“, den Kubismus vor. Als Beispiel für diese Entwicklungsstufe in seinem Œuvre sei sein „Selbstbildnis mit Palette“ (1906) genannt.

Mit „Die Mädchen von Avignon“ („Les Demoiselles d'Avignon“) von 1907 ist das Startzeichen für den Kubismus gegeben, eine der drei großen, die bildende Kunst erneuernden Bewegungen im ersten Viertel unseres Jahrhunderts. Wie wohl kein anderes hat dieses Gemälde Picassos die kubistische Entwicklung in der Bildkunst beeinflusst, obwohl es erst dreißig Jahre nach seiner Vollendung (in der Mitte des Jahres 1907) zum ersten Mal ausgestellt wurde. Unter Anspielung auf die „Jüngferchen“ eines Hauses in der Avignon-Straße in Barcelona fand ein mit dem Künstler befreundeter Schriftsteller um 1920 den heute geläufigen Titel.

Die bildnerische Gestaltung einer Bordellszene, die der Arbeit zugrunde liegt, zeigt noch Picassos Interesse für das Leben am Rande der Gesellschaft, das für seine „Blaue“ und „Rosa Periode“ thematisch bestimmend war. Das bildnerische Verfahren, das das Stadium des Experimentierens nicht verleugnet, bedient sich als Quellen z.B. der Kunst El Grecos mit ihren wenig körperhaften, überlängten Figuren ebenso wie der Skulpturen Gauguins und afrikanischer Bildwerke. Die seit der Renaissance gültige Konvention der Zentralperspektive, bei der vom Auge als Zentrum die Gegenstände der sichtbaren Welt nach scheinbarer Größenabnahme, Verkürzung und Konvergenz der Linien auf die vertikale Bildebene projiziert werden, tritt im Ölbild Picassos ähnlich wie schon bei Cézanne nur noch in Resten auf; in der insgesamt flächenbestimmten Malerei wird gewisse Räumlichkeit hauptsächlich durch Hintereinander und gegenseitiges Sichüberschneiden der Figuren veranschaulicht. Von links nach rechts sind zunächst drei stehende weibliche Akte zu sehen, der am linken Bildrand im Rechtsprofil mit herabhängendem Arm und vorgestelltem Bein, über dem Kopf eine Hand. Die beiden anderen sind mehr oder weniger in Frontalansicht gegeben, haben einen bzw. beide Oberarme hoch erhoben, wobei die stark angewinkelten Unterarme hinter dem Kopf verschwinden. Mit der, vom Betrachter aus gesehen, rechten Hand hält die mittlere der drei stehenden Figuren ein über den Oberschenkel geworfenes Tuch. Auch der untere Teil des Körpers der Figur in der Bildmitte ist zum größten Teil mit einem hellen Tuch bedeckt. Zum rechten Bildrand hin folgen zwei weitere weibliche Akte, einer sitzend in der unteren Bildecke, der andere darüber im Dreiviertelprofil nach links gedreht, halb verdeckt durch die sitzende Figur. Ganz im Vordergrund schiebt sich von der Mitte des unteren Randes aus ein dreieckiges Flächenstück ins Bild, das als Ablage für ein Arrangement aus Früchten (Melonenscheibe, Traube, Apfel, Birne) gesehen werden kann. Der rostfarbene Bildabschluss links und die blauen Flächenstücke in der rechten Bildhälfte lassen sich am ehesten-will man überhaupt eine Darstellung von gegenständlich Eindeutigem annehmen - als Vorhänge ansprechen.

5 Pablo Picasso Drei Figuren unter einem Baum, 1907 Öl/Lwd., 99 x 99 cm. Privatbesitz

6 Pablo Picasso Artistenfamilie (Harlekinfamilie), 1908 Öl/Lwd., 88 x 98 cm Wuppertal, Von-der-Heydt-Museum

Wer diese das Gegenständlich-Motivische des Bildes kennzeichnende Beschreibung nur liest, ohne das Bild selbst vor Augen zu haben, dem wird nicht leicht klarzumachen sein, dass diesem Gemälde Picassos gegenüber neben seinen Schriftstellerfreunden sogar die bildenden Künstler der Avantgarde, z.B. H.Matisse, A. Derain und besonders G. Braque, ihr Missfallen und Unverständnis bekundeten. Erst mit einer weiterführenden Beschreibung kann aufgezeigt werden, wie stark Bildthema und die zur Darstellung verwendeten bildnerischen Mittel in Bezug auf die traditionelle Norm auseinanderklaffen. Statt eines runden, geschmeidigen und damit die weiblichen Körperformen nachahmenden Konturs wird der Beschauer mit der optischen Tatsache konfrontiert, dass bei großer anatomischer Freiheit in der Grobgliederung der Figuren insbesondere an deren Feingliederung (Gelenkstellen, Brüste, Gesichter) Umrisse von splittriger Kantigkeit hervortreten, die natürlich, rein malerisch gesehen, möglich sind, die gewohnte Darstellung eines weiblichen Aktes aber sprengen und deshalb schockieren. Zu dieser Darstellungsweise gehören in Farbe und Form zerstückelt erscheinende Flächenteile des Hintergrunds und der wohl als unregelmäßig gezackt zu bezeichnende obere wie untere Abschluss des figürlichen Motivs. Statt der erwarteten anatomischen Richtigkeit und Wahrscheinlichkeit werden geometrienahe Formstücke vorgeführt, statt einer expressiven Gestik wird der Versuch gemacht, die menschliche Figur weniger nach mimetischen denn nach bildgemäßen Gesichtspunkten zu ordnen in der Absicht, das Bild so zu organisieren, dass optische Repräsentation im Bild an die Stelle der nachahmenden Abbildung tritt.

In den Gesichtern der beiden mittleren Akte, ganz ohne Zweifel en face gegeben, erscheinen die Nasen im Profil. Bei der Verbildlichung der Gesichter beschränkt sich der Künstler auf die zu einem Gesicht gehörenden bezeichnenden Teile, also auf Augen, Nase, Mund und Ohren, womit er die Köpfe in die Nähe primitiver Plastiken rückt. Die als diagonale Richtungswerte eingesetzten farbigen Schraffuren in den Gesichtern der beiden rechten Akte steigern diesen bildnerischen Reduktionsprozess bis ins Maskenhafte. Zugleich aber werden diese Schraffuren anstelle des Hell-Dunkels in der traditionellen Malerei für die Angabe von Volumina verwendet. Alle bildnerischen Maßnahmen vereinigen sich dort, wo sie gleichermaßen darauf abzielen, die Vergleichbarkeit zwischen sichtbarer Welt und bildlicher Darstellung zu kappen, um den Bildzusammenhang um so mehr als bildeigenes optisches Gefüge hervortreten zu lassen, dem in der außerbildlichen Wirklichkeit so nichts mehr entspricht. Neben die durch und durch farbbestimmte Malerei Cézannes (→ Bild 1 bis → Bild 3) tritt die form-flächen-bestimmte Malerei bei Picasso.

Von hier aus arbeitet der Künstler an der Organisation des Bildes durch Flächenformen konsequent weiter, indem er wie in „Drei Figuren unter einem Baum“ und „Artistenfamilie (Harlekinfamilie)“ die Farbigkeit, die in „Die Mädchen von Avignon“ noch an seine „Blaue“ und „Rosa Periode“ erinnert, immer stärker zur Skala vor allem der Braun-Grau-Grün-Töne abschwächt. Zugleich geht er daran, Flächenformen nach ihrer Möglichkeit zu erforschen, als volumenbildende Elemente eingesetzt zu werden. In „Drei Figuren unter einem Baum“ arbeitet Picasso denn auch mit jetzt breit gezogenen farbigen Schraffuren, wie sie uns andeutungsweise in den beiden rechten Figuren in „Die Mädchen von Avignon“ begegnet sind. Die Bildfläche wird durch die verschiedenen Lagen und Richtungen der Farbschraffuren und einen breiten Kontur in Teilbezirke mit dekorativer Wirkung untergliedert, deren Einzelformen einmal Figürlich-Gegenständliches, z.B. Gesichter, und Gegenstandsfreies, z. B. Formen am unteren und oberen Bildrand, darstellen; das Zusammenspiel von verschieden schraffierten Flächenteilen erzeugt gleichzeitig Körperteile der Figuren nachahmende und ebenso freie, nur der Bildorganisation zur Verfügung stehende Volumina.

7 Pablo Picasso Akt im Wald (Große Dryade), 1908 Öl/Lwd., 186 x 107 cm Leningrad, Eremitage

8 Pablo Picasso Der Torero oder der Stierkampfbegeisterte, 1912 Öl/Lwd., 135 x 82 cm Basel, Kunstmuseum

Das Verfahren der visuellen Aspektierung in zwei Richtungen - das Gegenständliche der sichtbaren Welt nachahmen und zugleich auch die bildselbständigen Formen herausarbeiten - wird in „Artistenfamilie (Harlekinfamilie)“ konzentriert und verfeinert, um in „Akt im Walde (Große Dryade)“ - wie in der Einleitung ausführlich dargelegt - zu einem Höhepunkt frühkubistischer Kunstauffassung geführt zu werden. Denn die Einführung von Formteilen, die idealen Gegenständen aus Geometrie und Stereometrie nahekommen, an einer einzigen nachahmend dargestellten weiblichen Figur vorzuführen, ist in „Akt im Walde (Große Dryade)“ beispielhaft gelungen und deutet bereits darauf hin, dass diese bildautonomen Formen für die Weiterentwicklung des Kubismus ausschlaggebend sein werden.

So kommt Picasso denn auch in „Der Torero oder der Stierkampfbegeisterte“ zu einer im wesentlichen gegenstandsfreien Facettierung der gesamten Bildfläche. Dieses Gemälde ist der analytischen Phase des Kubismus insofern zuzurechnen, als mit form- und figurzerlegenden Kunstmitteln unabhängig von der Nachahmung dennoch auf die sichtbare Welt Bezug genommen wird.

Der Gefahr, das Bild könne aufgrund der oft kleinteiligen Gliederung der kubistischen Elemente wie ein Glas in viele Scherben zerfallen, wird schon dadurch entscheidend vorgebeugt, dass die vertikale Gesamtrichtung des, Bildaufbaus sich dem Hochformat sicher einfügt. Das Hervorheben gerade der Vertikalen, manchmal auch der Horizontalen, als optisch eingängiges Verankerungsmoment bei Aufbau und Anordnung der bildeigenen Kunstmittel lässt sich im Kubismus immer wieder beobachten, neben Picassos „Akt im Walde (Große Dryade)“ oder „Die Violine“ z.B. auch bei Braque ( → Bild 11, → Bild 13, → Bild 14), Gris (→ Bild 17), Kupka (→ Bild 37) oder Derain (→ Bild 38).

„Die Violine“ von 1913, ein für kubistische Bildauffassung offenbar besonders geeignetes Motiv bei Picasso wie bei Braque und Gris, mag als Beispiel dienen für die Verwendung malereifremder Materialien, wie Papierstreifen, Zeitungspapier, Wachsleinwand, Glas, Sägemehl usw., hier Gips und Sand. Bei diesem Collageverfahren werden die genannten Stoffe im wesentlichen unter dem Aspekt ihrer Dinghaftigkeit eingesetzt, wobei in dieser Arbeit Picassos die sorgfältig illusionistisch gemalte Maserung des Holzes mit den genannten, faktisch vorhandenen Materialien aufs stärkste kontrastiert, so dass die verschieden gestalteten Bildteile ihren Realitätsgehalt gegenseitig relativieren wie auch im Prozess des Betrachtens eine wechselseitige Verbindung von optisch Wahrzunehmendem und haptisch Fassbarem schaffen.

9 Pablo Picasso Die Violine, 1913 Öl, Gips und Sand auf Lwd., 65 x 46 cm Bern, Kunstmuseum Hermann-und-Margit-Rupf-Stiftung

„Man darf nicht nachahmen, was man erschaffen will" (Braque, Vom Geheimnis, S. 78). Auf diese kurze Formel, die das künstlerische Erfinden gegen das bloße Nachahmen ausspielt, bringt Georges Braque seine Kunstauffassung. Sein Ziel ist weniger, zufällige Tatsachen und Ereignisse der sichtbaren Welt abzubilden, sondern, mit dem beliebten Ausdruck der Kubisten gesprochen, eine malerische Tatsache (fait pictural) künstlerisch zu erzeugen. Bei dieser bildnerischen Tätigkeit möchte sich der Maler mit der Natur „verbinden“, um sie mit den von ihm selbst entwickelten Kunstmitteln zu repräsentieren.

10 Georges Braque Landschaft bei L'Estaque, 1908 Öl/Lwd., 46 x 38 cm Paris, Musée National d'Art Moderne

Braque wird von G.Apollinaire Ende 1907 in Picassos Atelier mitgenommen. Dort ist er zunächst über dessen Arbeit „Die Mädchen von Avignon“ (→ Bild 4) empört. Kurz darauf jedoch äußert er sich positiv und zeigt sich von der Bilderfindung beeindruckt. Deutlich wird der Einfluss auf Braques malerische Praxis in dem schon in der Einleitung erwähnten Gemälde „Grande Nue-Weiblicher Akt“ von 1907/1908. In Braques Œuvre erhält dieses Bild einen ähnlichen Stellenwert als Grundstein kubistischer Malerei wie „Die Mädchen von Avignon“ im Werk Picassos.

Zum dritten Mal ging Braque im Sommer 1908 nach L'Estaque. Dort malte er Landschaften wie „Landschaft bei L'Estaque“ (→ Bild 10), „Häuser in L'Estaque“ (→ Bild 12) und Stillleben wie „Stilleben mit Kaffeekanne“ (→ Bild 11). Die zunächst helle, noch von der Feurigkeit der Fauves bestimmte Palette des Künstlers - „Matisse und Derain eröffneten mir den Weg“ (Braque) - verändert sich zu Grün, Ocker, Grau, Schwarz. Steifes, eckiges, oftmals breites Lineamentals Begrenzung der Formen tritt an die Stelle eines gelockerten und gerundeten Umrisses. Dass die malerische Entwicklung Braques und Picassos (→ Bild 4 bis → Bild 9) gerade zu Beginn der kubistischen Bewegung große Parallelen aufweist, lässt sich schon zeigen, wenn man nur Braques „Landschaft bei L'Estaque“ mit Picassos „Drei Figuren unter einem Baum“ (→ Bild 5) vergleicht. Das farbig schraffierende Verfahren ist in Grobheit und Breite des Pinselzugs, in der Abschwächung des Farbtons wie auch in der Betonung der auf Volumenbildung abzielenden Richtungsänderungen fast austauschbar. Beide Bilder belegen zudem, dass die Aufgabe der malerischen Erzeugung von nicht nahahmenden Volumina so nicht lösbar ist, es sei denn, die Künstler hätten das Abgleiten ins bloß Dekorative in Kauf nehmen wollen.

„Häuser in L'Estaque“ ist ein besonders gutes Beispiel dafür, wie die Zentralperspektive, die einen festen Standpunkt des Malers in Bezug auf die darzustellenden Gegenstände verlangt, für den Aufbau des Bildes - ebenfalls wie bei Picasso - außer Kraft gesetzt wird. Sie wird ersetzt durch ein selbständiges Farbflächen-Raum-Gefüge, das nur schwerlich noch auf einen Standpunkt außerhalb des Bildes zurückgeführt werden kann, was das Foto „L'Estaque“ (→ Bild 10, in: Frey) von D. K. Kahnweiler unterstreicht, das er 1909 vom entsprechenden Landschaftsausschnitt machte. Der Standpunkt außerhalb des Bildes ist weitgehend eingegangen in die Aufschichtung kantiger Volumina von rechts unten nach links oben und ist von ihrer unterschiedlichen Neigung zur Oberfläche nicht mehr abzulösen. Wie sehr es Braque darum geht, statt sich nach einer überkommenen Norm zu richten, Aufbau und Anordnung des Bildes selbst in die Hand zu nehmen, um Körperhaftigkeit und Greifbarkeit der Gegenstände – in „Stilleben mit Kaffeekanne“ genauso wie in „Häuser in L'Estaque“ – zu zeigen, und wie sehr die Farbe kaum mehr als eine formunterscheidende und zugleich formbegleitende Rolle übernimmt, erläutert er stellvertretend für andere Kubisten aus seiner künstlerischen Praxis heraus, was unsere Beispiele belegen; „Die herkömmliche Perspektive befriedigte mich nicht. In ihrer Mechanisierung gibt sie nie den vollen Besitz der Dinge. Sie geht von einem einzigen Standpunkt aus und verläßt ihn nie. Aber der Standpunkt ist etwas ganz Kleines. Genau wie einer, der sein Leben lang Profile zeichnen und den Eindruck erwecken würde, der Mensch besitze nur ein Auge… Sobald man das bedenkt, ändert (sich) alles, Sie können sich nicht vorstellen, in welchem Maße!… Ganz besonders war ich von der Sichtbarmachung dieses neuen Raumes, den ich spürte, angezogen; eine Faszination, die zur Leitidee des Kubismus wurde. So begann ich, hauptsächlich Stilleben zu malen, denn da gibt es einen greifbaren, ich möchte fast sagen, handgreiflichen Raum. Ich habe es übrigens einmal geschrieben: ‚Wenn ein Stilleben mit der Hand nicht mehr greifbar ist, hört es auf, Stilleben zu sein.‘ Das entsprach meinem steten Wunsch, die Dinge nicht nur zu sehen, sondern zu greifen. Gerade dieser Raum lockte mich sehr, denn es war das erste kubistische Bild, die Erforschung des Raumes. Die Farbe spielte keine große Rolle. Von der Farbe interessierte uns nur das Licht. Licht und Raum sind zwei Dinge, die sich eng berühren, und wir führten sie zusammen … Man nannte uns abstrakt“ (Braque, Vom Geheimnis, S. 17).

11 Georges Braque Stilleben mit Kaffeekanne, 1908 Öl/Lwd., 46 x 38 cm Stuttgart, Staatsgalerie

12 Georges Braque Häuser in L'Estaque, 1908 Öl/Lwd. 73 x 80 cm Bern, Kunstmuseum Hermann-und-Margrit-Rupf-Stiftung

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