Kuckucksspiel - Melanie Lahmer - E-Book

Kuckucksspiel E-Book

Melanie Lahmer

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Beschreibung

Er beobachtet, er verfolgt und er tötet. Wer ist sein nächstes Opfer? Im Wald in der Nähe von Siegen wird auf einem historischen Richtertisch eine Frauenleiche gefunden - hergerichtet wie am Pranger. Kommissarin Natascha Krüger und ihre Kollegen ermitteln und erfahren bald, dass in dem kleinen Dorf im Rothaargebirge eine weitere Frau bedroht wird. Welches Geheimnis verbindet die beiden jungen Mütter? Und welche Rolle spielen die Menschen im Dorf, die eine verschworene Gemeinschaft bilden?

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EPUB

Seitenzahl: 445

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


 

Melanie Lahmer

 

Kuckucksspiel

 

Kriminalroman

 

 

Das Buch

 

Er beobachtet, er verfolgt und er tötet.

Im Wald in der Nähe von Siegen wird auf einem historischen Richtertisch eine Frauenleiche gefunden - hergerichtet wie am Pranger.

Kommissarin Natascha Krüger und ihre Kollegen ermitteln und erfahren bald, dass in dem kleinen Dorf im Rothaargebirge eine weitere Frau bedroht wird.

Welches Geheimnis verbindet die beiden jungen Mütter? Und welche Rolle spielen die Menschen im Dorf, die eine verschworene Gemeinschaft bilden?

 

Aktualisierte Neuauflage von Kuckucksbrut, erschienen 2015 bei Bastei Lübbe, Köln.

Die vorliegende Ausgabe wurde vollständig überarbeitet und aktualisiert.

Auch als Taschenbuch mit der ISBN 978-3-96966-515-2 erhältlich.

 

Die Autorin

 

Melanie Lahmer, geboren 1974 in Rotenburg/Fulda, wuchs in unmittelbarer Nähe zur innerdeutschen Grenze auf. Sie studierte Erziehungswissenschaften, Psychologie und Soziologie und lebt mit ihrer Familie in ihrer Wahlheimat Siegen.

 

Ihr Debütroman »Knochenfinder« wurde mit einem Artist-in-Residence-Stipendium von der Kunststiftung NRW ausgezeichnet und war Quartalssieger beim Amazon-Autorenpreis »Entdeckt!«.

»Knochenfinder« und »Kuckucksbrut«, die beiden Ermittlerkrimis aus Siegen, erschienen zuerst bei Bastei Lübbe.

 

In »Unter der Mauer« ermittelt die Psychologin Nike Klafeld in Siegen und Eisenach.

 

Mehr Informationen:

 

www.Siegerland-Krimis.de

Inhaltsverzeichnis

 

Das Buch

Die Autorin

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Nachwort

Weitere Veröffentlichungen

Impressum

 

Prolog

 

Ihre Augen waren geschlossen, die Gesichtszüge entspannt, der Mund leicht geöffnet. Die weißen Brüste waren ein wenig zu groß für seinen Geschmack, aber die Rundung ihres Bauches gefiel ihm. Der Gummibund ihres orangefarbenen Rockes war ein Stück nach unten gerutscht, die Knochen der Beckenschaufel zeichneten sich unter der sonnengebräunten Haut ab. Dort, wo sonst ihr Bikinihöschen saß, lugte unschuldiges Weiß hervor. Zarter blonder Flaum bedeckte ihre Haut.

Unzählige Male hatte er sie im Bikini im Garten liegen sehen, ihren Körper lange betrachtet. Hatte beobachtet, wie sie sich im Liegestuhl räkelte, die nackten Beine langsam mit Sonnenmilch einrieb und sie dabei elegant in die Höhe reckte.

Manchmal trank sie Wasser aus einer Flasche, legte dabei den Kopf in den Nacken und machte den zarten Hals ganz lang. Die roten, leicht gewellten Haare fielen ihr dabei bis zum Ansatz ihres runden Pos.

Wenn sie ein Waffeleis schleckte, fuhr sie mit der Zunge langsam und lasziv am Rand der Waffel entlang, steckte spielerisch die Zungenspitze ins Eis und leckte sich die vollen Lippen, als wollte sie ihn mit dieser kleinen Geste locken.

Doch damit hatte sie keinen Erfolg gehabt, so leicht war er nicht zu beeindrucken. Zu groß war ihre Schuld gewesen, zu selbstverliebt ihre Inszenierung, als dass sie bei ihm irgendeine andere Gefühlsregung hatte erzeugen können als Hass.

Hass auf all das, was ihm angetan worden war, was ihn verletzlich und schwach hatte werden lassen. Das Weib, die Mutter alles Bösen.

Doch das war einmal.

Nun lag sie vor ihm, bleich und weich und frei von Schuld. Ihre Brüste lockten nicht mehr, ihre Zunge hatte jede Geschmeidigkeit verloren und hing ihr blau und geschwollen aus dem halb geöffneten Mund. Der Hals war nicht mehr zart und lang, sondern eingedrückt.

Er blickte noch einmal auf sie herab, verspürte ein leichtes Gefühl des Bedauerns und ließ den Kofferraumdeckel geräuschvoll einrasten. Seine Hände wischte er mit einem Erfrischungstuch ab, das er in ihrer Handtasche gefunden hatte. Es sollte nach Zitrone riechen, doch ihm entströmte nur der Geruch des frühen Todes.

 

Kapitel 1

 

Sie rieb sich die Augen, doch es half nichts. Die Dunkelheit ließ sich nicht abstreifen, sie setzte sich an ihr fest wie klebriges Pech. Langsam tastete sie sich vorwärts, spürte das kalte Gestein unter ihren Händen und versuchte, die Wände wegzuschieben. Doch sie kam nicht von der Stelle. Aber vielleicht lief sie ja auch die ganze Zeit im Kreis. Wie sollte sie das so ganz ohne Licht erkennen?

Plötzlich spürte sie etwas in ihrem Nacken, fest und warm. Sie wollte sich umdrehen, doch es gelang ihr nicht. Irgendetwas hielt sie im Klammergriff, presste ihren Kopf gegen die kalte Felswand und verhinderte jede Bewegung. Nahm ihr den Atem.

Hilfe!, wollte sie schreien, doch aus ihrem Mund kam nur ein Röcheln. Ihr Atem ging schneller, rasselnd. Aber sie hatte das Gefühl, dass ihre Lungen nicht genügend Sauerstoff aufnehmen konnten, egal, wie schnell und verzweifelt sie auch atmete.

Sie würde doch jetzt nicht ersticken? Nein, bitte, sie wollte noch nicht sterben, nicht hier in dieser dunklen Höhle!

 

Natascha Krüger setzte sich ruckartig auf, ihr Herz raste. Sie sah sich hektisch um, entdeckte das Bücherregal an der einen Wand, das Fenster mit der hölzernen Lamellenjalousie auf der anderen, die Tür zum Flur … Mit zitternden Händen ertastete sie die Matratze unter sich, spürte den weichen Stoff der Bettdecke und ließ sich erleichtert zurück aufs Kopfkissen fallen. Sie war zu Hause.

Diese verdammten Albträume! Seit ein paar Wochen wurde sie immer wieder von dem gleichen Traum heimgesucht, und jedes Mal befand sie sich in dieser Höhle, aus der es kein Entrinnen gab.

Der Wecker zeigte fünf Uhr vierundfünfzig.

Langsam tappte sie in die Küche, füllte den Wasserkocher und gab zwei Löffel Kaffee in die French Press. Dann ging sie ins Bad, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Das tat gut. Ihr Spiegelbild sah gar nicht so blass aus, wie sie es erwartet hatte. Trotzdem stachen die Sommersprossen wie kleine dunkle Inseln aus einem Meer der Blässe hervor.

Nach dem Duschen fühlte Natascha sich zwar frischer, aber immer noch seltsam ausgelaugt. Das Müsli schmeckte heute irgendwie fad; das Radioprogramm im Hintergrund war belanglos wie immer.

Sie goss sich gerade etwas Milch in ihre zweite Tasse Kaffee, als es im Flur piepte. Das Handy meldete den Eingang einer Textnachricht. Wer mochte ihr morgens um kurz vor sieben eine WhatsApp-Nachricht schicken? Simon? Sie merkte, wie ihr Herz einen kleinen Hüpfer machte, eilte in den Flur und öffnete das Nachrichtenmenü.

Heute Abend schon was vor? Hast du Lust auf ein Glas Wein? Mein Papa hat wieder ein paar Flaschen aus dem Ahrtal mitgebracht. Küsschen, Tine.

Natascha schmunzelte.

Okay. Um halb neun bei dir?, antwortete sie und wartete auf Tines Reaktion.

Sie starrte auf das Handy in ihrer Hand, und ehe sie richtig wusste, was sie tat, öffnete sie ihr Telefonbuch und wählte eine Nummer, die sie eigentlich auswendig kannte.

Am anderen Ende ertönte erst das Freizeichen, dann meldete sich eine elektronische Stimme vom Band. Der Teilnehmer sei momentan nicht erreichbar. Natascha blickte auf die Uhr: Viertel vor sieben. Wahrscheinlich schlief Simon noch. Trotzdem wartete sie den Piepton ab und hinterließ eine Nachricht.

»Guten Morgen! Ich hoffe, du bist gestern heil in Berlin angekommen und hast die erste Nacht in dem Schulungszentrum gut geschlafen. Meine Nacht war ein bisschen kurz, aber das ist ja nichts Ungewöhnliches. Meld dich mal!«

Sie seufzte. Simon fehlte ihr schon jetzt. Wie sollte sie da bloß die ganze Woche ohne ihn überstehen?

 

 

Kapitel 2

 

Hartmut Sänger zog das Baumwolltaschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich die Stirn ab. Es war unglaublich warm, und das schon um acht Uhr morgens. Der Tag würde unerträglich werden.

Aber wenn er den historischen Wanderführer wirklich veröffentlichen wollte, dann musste er eben bei Wind und Wetter das Mittelgebirge erklimmen.

Seine Heimat, das Siegerland, lag im Dreiländereck von Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Hessen, an den Ausläufern von Rothaargebirge und Westerwald. Eingebettet in das Tal der Sieg, lagen die größeren Orte; Siegen als Oberzentrum mit Universität, zwei Schlössern, Kino, Theater und Einkaufsmeilen, ein paar Kleinstädte in den Nebentälern. Und ringsherum vereinzelte Dörfer; manche bestanden nur aus wenigen Straßen und wurden hauptsächlich zum Schlafen und Wohnen genutzt, andere wiederum hatten eine Jahrhunderte zurückreichende Geschichte, bezeugt von historischen Ortskernen mit niedrigen, schmalen Fachwerkhäusern.

Jahrzehntelang war das Siegerland von den großen Verkehrswegen abgeschnitten gewesen, Fremde waren selten hergekommen, und so waren die Siegerländer größtenteils unter sich geblieben. Auch heute noch beäugten viele Neues und Fremdes misstrauisch.

Doch Hartmut Sänger liebte sowohl die dichten Wälder und die schroffen Höhen als auch das zurückhaltende Temperament der Siegerländer. Es gab meist auch gar keinen Grund, sich vorschnell neuen Moden hinzugeben; das Alte hatte sich schließlich bewährt und sollte auch bewahrt werden.

Traditionen spielten auch heute noch eine große Rolle in der Region, die Geschichte des Bergbaus und der metallverarbeitenden Industrie waren allgegenwärtig. Schon seit seiner Pensionierung arbeitete Hartmut Sänger an dem historischen Wanderführer, um Einheimischen und Gästen die Augen für das Schöne und Besondere der Gegend zu öffnen.

Deshalb wanderte er schon seit Monaten durch die Wälder, durchkämmte die Täler und fotografierte fast vergessene Plätze entlang der Wanderwege.

Nachdem er vierzehn Monate lang alte Stollen und Schächte gesucht, kartografiert und beschrieben hatte, widmete er sich nun einem neuen Kapitel: dem Leben im späten Mittelalter. Es gab im Siegerland nicht mehr viele Zeugnisse dieser dunklen Epoche, deshalb lag ihm dieses Thema besonders am Herzen.

Sein erstes Ziel an diesem frühen Montagmorgen war ein alter Richtertisch bei Wilnsdorf, einer Kleinstadt direkt an der Grenze zu Hessen. Sänger wusste nur, dass dieser Richtertisch etwas außerhalb der Stadt im Wald liegen und aus steinigen Überresten bestehen sollte. Es war natürlich Ehrensache, seine Arbeit mit einer ersten Vor-Ort-Recherche zu beginnen.

Er parkte den Wagen am Gymnasium und folgte dem Weg, der in den Wald führte. Die dicht gewachsenen Buchen schluckten das Sonnenlicht, es war hier angenehm kühl, und Sänger atmete tief durch. Irgendwo neben ihm zirpten Grillen, ab und an knackte es im Unterholz. Ein Eichelhäher flog zwischen den Bäumen umher und keckerte, als wollte er Sänger begrüßen.

Erst nach und nach drangen andere Geräusche an Hartmut Sängers Ohr: Die Autobahn im Hintergrund rauschte monoton, vom nahe gelegenen Gymnasium klang das Geschrei der Schüler herüber. Große Pause, dachte er nach einem Blick auf die Armbanduhr.

Nach wenigen Metern erblickte er rechter Hand auf einer kleinen Lichtung drei große hölzerne Säulen, um die niedrige moosbewachsene Findlinge einen Kreis bildeten. Vor den Stelen war ein Marmorschild in den Waldboden eingelassen, und Hartmut Sänger ging neugierig näher. Das musste »det fikante Loch« sein, eine alte Hinrichtungsstätte. Hier hatte wahrscheinlich der Galgen gestanden, an dem im Mittelalter die Verurteilten des Femegerichts gehenkt worden waren. Die Inschrift auf dem Schild am Boden bestätigte Sängers Vermutung. Vierhundert Meter von dieser Stelle entfernt waren am »Freistuhl Hoheroth« die Urteile über die Missetäter gefällt worden, die dann hier »mit Tod durch den Strang« vollstreckt worden waren.

Sänger fotografierte die Marmorplatte, die drei Stelen, die gesamte Anordnung. Seine Neugier war entfacht, und voller Vorfreude machte er sich auf den Weg zum vierhundert Meter entfernten Richtertisch.

Der Weg stieg steil an, aus dem Buchenwald war ein Mischwald geworden. Nach wenigen Metern nahm Sänger einen Abzweig in einen Fichtenwald und folgte den überwucherten Spurrinnen in der Mitte des Weges. Hinter einem baufälligen Jägerhochsitz öffnete sich eine grasbewachsene Lichtung. Die Sonne warf geheimnisvolle Schatten auf die Wiese, alte Laubbäume umrahmten den abgelegenen Ort.

Hartmut Sänger blieb stehen und zückte die Digitalkamera, um diese ersten Eindrücke festzuhalten und später eine möglichst große Auswahl an brauchbaren Fotos zu haben. Er probierte verschiedene Positionen aus, um die Lichtung von verschiedenen Blickwinkeln fotografieren und ihre ganze mystische Schönheit festhalten zu können, setzte einzelne Bäume oder Sträucher in den Fokus und wechselte in verschiedene Belichtungsprogramme.

Wenn schon der Weg zu der historischen Stätte so verwunschen war, wie mochte sich dann erst der Richtertisch selbst präsentieren?

Sänger hielt die Kamera einsatzbereit in der Hand und ging weiter. In Gedanken schrieb er schon die ersten Zeilen der Geschichte, mit der er den Ort verknüpfen wollte. Die Hexenprozesse, die bis ins siebzehnte Jahrhundert geführt worden waren, könnte er in Verbindung mit dem Richtertisch bringen. Oder eine Episode über einen Aufstand geschundener Bergleute schreiben. Ideen hatte er viele.

Vor ihm öffnete sich ein kleiner sonnenüberfluteter Platz, der von einer Eiche gekrönt wurde und wie die Hinrichtungsstätte mit den drei Stelen von moosbewachsenen Findlingen eingerahmt wurde, dreizehn an der Zahl.

Aber all das nahm Sänger nur am Rande wahr. Am ganzen Körper bebend, brachte Sänger die Digitalkamera in Position und versuchte, den niedrigen Steintisch unter der Eiche zu fokussieren. Doch es gelang ihm nicht, weil seine Hände so stark zitterten. Mehrmals verrutschte ihm das Bild, auch den Auslöser fand er nicht gleich und schaltete die Kamera einmal sogar versehentlich aus.

Das hier durfte nicht wahr sein! Hartmut Sänger wollte nicht glauben, was er sah. Und doch war es so real wie der Richtertisch selbst, die große Steinplatte in der Mitte des Platzes, der vom ausschweifenden Laub der Eiche überdacht war.

Dicke schwarze und grüne Schmeißfliegen surrten um Sänger herum; ihr Summen klang seltsam bedrohlich, ja grausam. Endlich gelang es ihm, Fotos zu machen. Er konnte den Finger gar nicht mehr vom Auslöser nehmen, er schien dort festgeklebt zu sein. Hartmut Sänger schoss Foto um Foto, eine ganze Bildergalerie der immer gleichen, starren Szenerie. Denn die Frau auf dem Richtertisch bewegte sich nicht. Würde sich nie mehr bewegen. Fliegen hatten sich in Scharen auf ihr niedergelassen; krabbelten auf der Suche nach Nahrung über ihre nackten Brustwarzen, über Mund und Augen.

Hartmut Sänger starrte auf die Leiche, ließ endlich die Kamera sinken und stützte sich am nächstbesten Baum ab, um sich auf den holprigen, mit altem Laub und frischem Moos bedeckten Untergrund zu übergeben.

 

 

Kapitel 3

 

Natascha blickte kurz auf die Uhr und trat kräftiger in die Pedale. Der Zwischenstopp beim Bäcker hatte sie wertvolle Minuten gekostet. Nach dem freien Wochenende wollte sie heute lieber etwas früher im Büro sein, denn meist gab es gerade montagmorgens viel aufzuarbeiten.

Sie erreichte das Polizeigelände an der Hauptstraße im Siegener Ortsteil Weidenau, bog schwungvoll rechts ab und raste über den Bürgersteig in den Hof der Polizeidienststelle. Die wenigen Fahrradstellplätze waren belegt, also fuhr sie weiter zum Mitarbeiterparkplatz hinter dem Gebäude. Doch beim Abbiegen auf den Hof rutschte plötzlich ihr linker Fuß vom Pedal ab, und für einen Moment blickte sie nach unten. Deshalb sah sie den Jeep, der rückwärts und viel zu schnell aus einer der Parklücken fuhr, zu spät.

Natascha riss den Lenker herum, das Fahrrad geriet ins Schlingern, und sie biss die Zähne zusammen in Erwartung des schmerzhaften Aufpralls. Doch der Wagen hielt rechtzeitig, und Natascha gelang es, die Balance zu halten und zu bremsen.

»Verdammt! Geht‘s noch?« Fluchend rieb sie sich die Handgelenke. Bei dem Beinahe-Zusammenstoß war sie mit ihrem gesamten Körpergewicht nach vorn gepresst worden und hatte den Schwung nur mit den Handballen abgefedert. Sie spreizte und beugte die Finger der linken Hand, ihrer Schreibhand, verspürte jedoch keinen Schmerz.

»Was war das denn? Kannst du nicht gucken, wenn du rückwärts ausparkst?«, schimpfte sie.

Vor ihr stand Jörg Lorenz, ihr Bürokollege, und sah sie zerknirscht an. »Sorry. Ich wollte mich nur gerade in die Parklücke stellen und war dabei total in Gedanken. Hast du dir wehgetan?«

Natascha schüttelte den Kopf. »Geht schon. War aber ganz schön knapp!« Ihr Herz raste noch immer, doch sie beruhigte sich langsam wieder von dem Schreck. Das war typisch Lorenz! Wenn er über irgendetwas grübelte, nahm er links und rechts nicht mehr viel wahr.

»Am Wochenende hat mal wieder so ein Idiot Steine von einer Autobahnbrücke geworfen und einen Unfall verursacht. Die Fahrerin liegt mit schweren inneren Verletzungen im Kreisklinikum«, erzählte er. »Und jetzt sollen wir uns darum kümmern. Na danke.« Lorenz schüttelte den Kopf und verzog verächtlich das Gesicht. Seine Schwester war vor ein paar Jahren bei einem ähnlichen Vergehen beinahe ums Leben gekommen und kämpfte noch heute mit Schmerzen beim Gehen und wiederkehrenden Albträumen. Dr. Dreisler, der Abteilungsleiter, wusste das. Trotzdem ließ er Lorenz diesen Fall bearbeiten.

Fast jeder aus dem Kollegium hatte so einen wunden Punkt, mit dem er während des Polizeidienstes immer wieder konfrontiert wurde. Da half nur, sich auf seine Weise davon zu distanzieren und gewisse Dinge auszublenden.

Natascha dachte kurz an ihre eigene Angst vor engen, geschlossenen Räumen, schob sie aber schnell beiseite.

»Lass uns reingehen!«, sagte sie, ohne weiter auf Lorenz einzugehen. »Wir sind ohnehin schon spät dran.«

 

Im Inneren des Polizeigebäudes war es erstaunlich still. Eine angenehme Kühle empfing sie im großen Wartebereich, der ein gutes Viertel des gesamten Erdgeschosses einnahm. Offene Glasfassaden und der mit Fotos künstlerisch gestaltete Fußboden sollten einladend und freundlich auf die Besucher wirken. Trotzdem würde sich hier kaum jemand wohlfühlen, denn wer kam schon gern zur Polizei?

Im oberen Stockwerk lagen die Büros der Kriminalpolizei, eine Glastür trennte sie von Treppenhaus und Fahrstuhl.

Kaum hatten Natascha und Lorenz die Etage betreten, kam ihnen Kriminalhauptkommissar Hannes Winterberg entgegengeeilt. Die graublonden Locken des sechsundvierzigjährigen Kollegen wippten bei jedem Schritt, das schwarze T-Shirt mit dem Led-Zeppelin-Aufdruck spannte über seinem Bauch und die Sohlen seiner Camel-Boots quietschten auf dem Linoleumboden.

»Morje!«, grüßte er knapp und schnaubte. »Ihr könnt direkt wieder kehrtmachen und nach Wilnsdorf fahren.«

»Guten Morgen, Hannes«, grüßte Natascha und hob kurz die Hand. Die Woche fing ja gut an! Erst fuhr Jörg Lorenz sie beinahe über den Haufen, und dann sollte sie sich als erste Amtshandlung am Montag gleich in seinen Jeep setzen und mit ihm ins südliche Siegerland fahren!

»Was gibt‘s?«, fragte sie und war sich nicht sicher, ob sie die Antwort wirklich hören wollte. So, wie Winterberg sie anschaute, gab es schlechte Nachrichten.

»Bei der Leitstelle ging ein Notruf ein. Jemand hat im Wald bei Wilnsdorf eine Tote gefunden. Die Kollegen von dort haben schon alles in die Wege geleitet. Der Notarzt ist vor Ort, die Kriminaltechniker sind unterwegs, und auch die Staatsanwältin weiß Bescheid. Ihr könnt also direkt losfahren.«

»Bleibst du hier?«, wollte Natascha wissen.

Winterberg nickte. »Ich übernehme die Koordination, ihr könnt an Ort und Stelle schauen. Und dann sehe ich zu, dass wir diesen Steinewerfer delegieren können.« Hannes Winterberg blickte ganz kurz zu Jörg Lorenz hinüber. Und trotz Lorenz’ undurchdringlicher Miene meinte Natascha, seine Erleichterung zu spüren.

Eine halbe Stunde später erreichten sie die erwähnte Waldlichtung nahe Wilnsdorf. Schon von Weitem sahen sie die rotierenden Blaulichter des Notarztwagens und verschiedener Streifenwagen und Natascha ahnte, dass sie diese Strecke noch öfter fahren würde.

 

 

Kapitel 4

 

Das Erste, was Natascha an der Fundstelle auffiel, war der Gestank. Süßlich-modrig lag er über der Lichtung und sandte grellgrüne Blitze vor ihr inneres Auge. Das Summen der unzähligen Fliegen erzeugte einen grauen Wellenton in ihrem Kopf.

Natascha hielt sich das Kragenbündchen ihres T-Shirts vor die Nase, doch das half nur wenig. Der synästhetisch verstärkte Geruch hatte sich in ihrem Inneren bereits festgefressen und würde für lange Zeit abrufbar bleiben.

Solange sie denken konnte, nahm sie Gerüche und Töne anders wahr als andere Menschen, roch oder hörte sie nicht nur, sondern sah sie darüber hinaus als farbige Strukturen vor ihrem geistigen Auge. Ihr war diese besondere Form der Wahrnehmung lange Zeit nicht bewusst gewesen. Erst während ihres kurzen Abstechers an die Psychologische Fakultät der Universität zu Köln hatte sie von Synästhesie erfahren, davon, dass sie selbst auf Außenreize viel sensibler reagierte als die meisten anderen Menschen. Mit dieser besonderen Form der Wahrnehmung ging auch eine latente Geräuschempfindlichkeit einher, mit der sie aber inzwischen umzugehen gelernt hatte.

Meist nahm sie ihre verstärkte Wahrnehmung als gegeben hin, in Momenten wie diesen würde sie auf ihre Synästhesien aber gern verzichten. Der Geruch der Leiche für sich genommen war schon unangenehm genug; sie brauchte nicht auch noch ein Bild dazu.

Der Fundort der Leiche war weiträumig abgesperrt, und innerhalb des Sperrbereichs arbeiteten drei Kollegen von der Kriminaltechnik, um die Spuren zu sichern. Ihre Papieranzüge hoben sich leuchtend weiß vor dem Dunkel des Waldes ab. Die Aufschrift der Streifenwagen reflektierte im Sonnenschein und gab der Szenerie etwas Hochoffizielles.

»Da hinten ist Schmitz.« Natascha wies auf den Kriminaltechniker, der im abgesperrten Bereich auf dem Boden hockte. »Sprichst du mit dem Arzt?«

Lorenz nickte. »Guck mal! Die Kraft ist bei ihm.«

Natascha folgte seinem Blick und entdeckte die Staatsanwältin, die in ihrer üblichen steifen Körperhaltung neben dem Arzt stand. Ihre Bewegungen wirkten immer irgendwie ruckartig und unkoordiniert.

Heute trug sie ein pinkfarbenes Kostüm, dazu schwarze Lackschuhe. Das blonde Haar im akkuraten Pagenschnitt war mit Haarspray zu absoluter Unbeweglichkeit fixiert. Schon im Bürogebäude fiel Dr. Eleonore Kraft zwischen all den leger gekleideten Kripobeamten auf, hier im Grünbraun des Waldes wirkte sie wie ein schreiender Farbfleck, der in den Augen schmerzte.

Mit schnellen Schritten trippelte sie zu ihrem Sportwagen, warf die Autotür zu und brauste davon. Von Natascha oder Lorenz hatte sie keinerlei Notiz genommen.

 

Natascha ging zu dem mit rot-weißem Flatterband abgesperrten Bereich, gab einem der Kriminaltechniker mit einer Geste zu verstehen, dass sie sich die Leiche genauer anschauen wollte, und zog sich im Gehen die Einweghandschuhe über.

Schmitz, der weißhaarige Kriminaltechniker, hockte zwischen zwei Nummerntafeln, stand jedoch auf, als er sie sah. Er zog den Mundschutz nach unten und die Kapuze des weißen Overalls nach hinten, doch sie rutschte ihm wieder zurück ins Gesicht. »Hallo, Natascha! Alles klar?« Der Pfefferminzgeruch seines Kaugummis wehte zu ihr herüber und überdeckte für einen Moment den süßlich-modrigen Geruch des gewaltsamen Todes.

»Wenn man mal davon absieht, warum ich hier bin, geht es mir ganz gut, danke.« Natascha sah sich um.

Das Absperrband umschloss einen großen Bereich, in dessen Mitte eine Eiche stand. Im Schatten der Baumkrone, ein paar Schritte entfernt, befand sich eine Steinplatte, die auf Steinblöcken aufgebockt war. Sie erinnerte an einen niedrigen Tisch, vor dem man kniend Platz nehmen konnte. Rundherum waren Nummerntafeln aufgestellt; farbige Markierungen waren auf den Waldboden gesprüht. Auf der Tischplatte lag eine weibliche Leiche, der Kopf der Eiche zugeneigt. Die Frau sah aus, als schliefe sie. Ihre roten Haare fielen bis auf den Waldboden; Reisig und Laub hatten sich darin verfangen. Die Beine hingen schlaff von der Tischplatte, der linke Arm ebenfalls. Der rechte lag auf der Platte. Zwischen Ring- und Mittelfinger steckte etwas, das wie eine bunte Spielkarte aussah.

Natascha runzelte die Stirn, scannte aber weiterhin das Gelände mit ihren Augen ab, um sich so viel wie möglich einzuprägen. Fotos waren wichtig, doch der erste Eindruck war für sie entscheidend. Weil er unverfälscht war.

Eiche und Steintisch bildeten das Zentrum eines weitläufigen Kreises, der von dreizehn moosbewachsenen Findlingen gesäumt wurde. Es hatte den Anschein eines mystischen, zumindest jedoch besonderen Ortes.

Die Frau trug einen tief auf den Hüften sitzenden orangefarbenen Rock, der ihr fast bis zum Knöchel reichte, und flache Riemchen-Sandalen. Der Oberkörper war nackt, die weichen Brüste schimmerten blass, die Brustwarzen stachen wächsern darauf hervor. Schwarze und grün schimmernde dicke Fliegen hatten sich auf der Leiche niedergelassen und flogen jedes Mal in Scharen auf, wenn sich ihnen jemand näherte. Es fiel Natascha schwer, nicht immer wieder auf die Brüste der Toten zu starren. Sie hatte das Gefühl, ihr dadurch die letzte Würde zu nehmen.

»Sexualdelikt?«, fragte sie Schmitz, ohne ihn anzusehen. Sie hob das Absperrband an und betrat den Steinkreis.

»Möglich«, antwortete er knapp und schob sich erneut die widerspenstige Kapuze aus der Stirn. Das Rascheln kam Natascha unangenehm laut vor. Klares Zeichen meiner eigenen Anspannung, erkannte sie und bückte sich zu der Leiche hinab.

Das lange Haar war wahrscheinlich gefärbt, denn es leuchtete auffallend rot. Natascha tippte wegen des Farbtons auf Henna, aber das würde das Labor verifizieren können. Einzelne Ästchen hingen im Haar, das wirr um den Kopf der Frau lag.

Der Tod hatte die Gesichtszüge der Frau verändert, es fehlte die Spannkraft, die einem Gesicht Ausstrahlung verlieh. Dennoch ahnte man, dass sie zu Lebzeiten hübsch gewesen war.

»Eine natürliche Todesursache können wir also ausschließen«, sagte Natascha seufzend und wies auf den Hals der toten Frau. Mehrere blauschwarze Hämatome reihten sich aneinander; sie stachen auf der gelblichen Haut deutlich hervor. Natascha drückte vorsichtig gegen das Kinn der Toten, und der Kopf fiel auf die andere Seite. »Die Leichenstarre ist schon wieder zurückgegangen«, stellte sie fest. »Demnach ist die Frau schon mindestens seit sechsunddreißig Stunden tot.«

Schmitz nickte, dabei raschelte die Kapuze. »Also mindestens seit Samstagabend. Eher länger, wenn du mich fragst. Vielleicht sogar seit Freitag.« Er schob einige verklumpte Haarsträhnen am Kopf der Leiche beiseite. »Schau mal hier!«

In den Haaren hing etwas Blut, aber viel zu wenig in Anbetracht der tiefen Schädelverletzung.

»Postmortal beigebracht?« Natascha schaute Schmitz ins Gesicht, um nicht auf die Knochensplitter und das darunter sichtbare angetrocknete Gewebe starren zu müssen.

Schmitz nickte und deutete auf die Karte in der Hand der Toten. Vorsichtig zog er sie zwischen den Fingern der Leiche hervor und legte sie in eine Asservatentüte.

»Eine Tarotkarte?« Natascha nahm die eingetütete Karte und betrachtete sie. Der Tod.

Schmitz zuckte mit den Schultern. »Damit müsst ihr euch befassen.«

»Habt ihr eine Handtasche mit Ausweis oder irgendwas anderes gefunden, das uns Auskunft über die Identität der Frau gibt?«, fragte sie, doch Schmitz, der mittlerweile aufgestanden war, schüttelte langsam den Kopf.

»Nichts dergleichen. Aber hast du das schon gesehen?« Er wies mit einem behandschuhten Finger auf den Bauch der Frau.

Natascha folgte seinem Blick, vorbei an den weißen Brüsten mit den schillernden Fliegen. Auf dem Unterbauch erkannte sie mehrere silbrig weiße Geweberisse, die in Richtung des Höschenbundes verliefen.

»Schwangerschaftsstreifen«, antwortete sie und schluckte. »Dann hinterlässt die Tote wahrscheinlich eine Familie. Kinder.« Natascha erhob sich ebenfalls und seufzte. »Ich hasse solche Situationen!«

»Ich auch.« Schmitz atmete wieder einen Hauch von Pfefferminzduft in ihre Richtung.

Lorenz kam auf sie zu. »Die Kraft hat bereits die Obduktion angeordnet, denn eine natürliche Todesursache kann man hier ja wohl ausschließen.«

Natascha nickte und stellte sich vor, wie die Leiche der Unbekannten auf einem metallenen Obduktionstisch liegen und ein grün gekleideter Arzt aus der Rechtsmedizin detailliert seine Arbeit erläutern würde.

»Winterberg wird der Obduktion beiwohnen«, erklärte Lorenz zu Nataschas Erleichterung. Sie hatte schon einige Leichen gesehen; manche davon waren arg entstellt gewesen, aber der Gedanke an eine Obduktion verursachte ihr noch immer eine Gänsehaut.

»Ist gut.« Sie wies mit dem Kopf zu einem der Streifenwagen, neben dem ein sichtlich aufgelöster Mann in Wanderkleidung stand. »Ich red‘ mal mit dem Zeugen. Der sieht aus, als sollte er schleunigst nach Hause und sich auf die Couch legen. Das hier war sicher ein bisschen viel für ihn.«

 

Der knapp siebzigjährige Mann wirkte zwar blass, war aber ansprechbar und hielt einen weißen Plastikbecher in der Hand. Der Kaffee darin dampfte längst nicht mehr, doch das schien er nicht einmal zu bemerken. Gedankenverloren starrte er auf den Boden und sah erst auf, als Natascha vor ihm stand. Sie begrüßte ihn und stellte sich vor.

»Hartmut Sänger«, antwortete er mit leiser Stimme. Er trug Wanderstiefel, eine olivgrüne Trekkinghose, ein rot kariertes Hemd mit aufgerollten Ärmeln und eine Weste in Tarnfarbe mit vielen Taschen. Sänger sah aus, als hätte er sich am Morgen für eine mehrtägige Wandertour gerüstet.

»Sie haben die Frau gefunden?«

Der Mann nickte und sah Natascha an. Seine blauen Augen wirkten wässrig. »Es ist so schrecklich! Sie ist doch noch so jung gewesen! Wer tut denn so etwas?« Sein Blick glitt kurz zu dem Steinkreis und der toten Frau.

Natascha sprach ein paar beschwichtigende Worte, doch ihre Frage, ob er die Tote schon einmal gesehen habe, verneinte er.

»Ich kenne die Frau nicht. Aber wissen Sie: Normalerweise gehe ich hier in der Gegend auch gar nicht wandern. Ich kannte diese Stelle im Wald überhaupt nicht. Das ist alles nur ein seltsamer Zufall!« Er holte tief Luft. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nie und nimmer hergekommen! Ich wollte einfach nur das gute Wetter nutzen und mir ein paar Notizen machen. Und dann finde ich eine Tote!« Die Worte sprudelten nur so aus ihm hervor, doch Natascha unterbrach ihn.

»Um welche Art von Notizen handelt es sich? Und wofür brauchten Sie die Fotos?« Sie wies auf die Kamera, die an einem Riemen um seinen Hals hing.

Hartmut Sänger riss die Augen auf. »Ich schreibe doch einen historischen Wanderführer. Übers Siegerland.« Er starrte gedankenverloren in den Kaffeebecher. »Ich war Lehrer. Für Geschichte. Am Kolleg. Und nach der Pensionierung habe ich angefangen, die Region zu erkunden. Zu Fuß, versteht sich.« Er sah Natascha wieder mit seinen wässrigen Augen an. »Und im Moment suche ich verschiedene Orte mit mittelalterlichem oder frühneuzeitlichem Bezug auf. Weil ich die Geschichte festhalten und konservieren möchte.«

»Was hat es denn mit diesem Ort auf sich?«, hakte Natascha nach und blickte zu dem Tisch in der Mitte der Findlinge hinüber. Mittlerweile war die Leiche abtransportiert worden, doch die Kriminaltechniker untersuchten noch immer den Bereich hinter dem rot-weißen Flatterband. Es würde noch eine Weile dauern, alle Spuren zu sichern.

»An dieser Stelle gab es früher, im fünfzehnten Jahrhundert, ein Femegericht. Da wurden Missetäter schuldig gesprochen und verurteilt, meist gehenkt. Unten am ‚fikante Loch‘, bei den drei Stelen. Haben Sie die gesehen?«

Natascha erinnerte sich, auf der Fahrt zum Fundort einen kleinen Platz mit Pfählen und einer in den Boden eingelassenen Platte bemerkt zu haben. »Und weiter?«

»Jedenfalls hat man vor ein paar Jahren diesen Steinkreis errichtet, die Eiche gepflanzt und die Steinplatte graviert und hier aufgestellt. Als Gedenkstätte für die vielen Femegerichte mitten im Wald.«

Sänger schüttelte den Kopf. »Wenn ich geahnt hätte, was mich hier erwartet, wäre ich zu Hause geblieben. Hätte mich über meine Bücher gehockt und mir das nötige Wissen einfach angelesen.« Er hielt einen Moment inne. »Manchmal ist die Wirklichkeit viel brutaler, als jeder Albtraum es sein kann, finden Sie nicht auch?« Dann sah er Natascha an, als hätte er gerade eine Eingebung gehabt. »Natürlich wissen Sie das. Sie sind Polizistin.«

Natascha dankte ihm für seine Auskünfte und notierte seine Kontaktdaten, dann entließ sie den Zeugen.

Sänger nickte erleichtert und verließ eilig die Lichtung in Richtung Stadt.

 

Natascha blickte ihm nachdenklich hinterher und ging zurück zum Steinkreis. Der Polizeifotograf umrundete gerade mehrmals die Tischplatte und lichtete sie aus verschiedenen Blickwinkeln ab; er ging dabei auch in die Hocke. Als er fertig war, inspizierte Natascha zusammen mit Lorenz und Schmitz die Steinplatte.

»Hier ist ein Text eingemeißelt.« Sie beugte sich über den Tisch und betrachtete die Großbuchstaben, die sich in einer schier endlosen Folge aneinanderreihten. Es war nicht leicht, die Buchstabenschlange zu einem sinnvollen Text zusammenzusetzen.

»Hier stand ein mittelalterliches Femegericht, genau wie Sänger gesagt hat. Das Losungswort hieß Strick – Stein – Gras – Grein. Weiß jemand, was das bedeutet?«, fragte sie, doch die beiden Kollegen schüttelten den Kopf.

»Es gab offenbar zwölf femewürdige Vergehen: Raub und Gewalttaten gegen Kirchen und Geistliche - Diebstahl - Beraubung einer Kindbetterin oder eines Sterbenden - Raub und Leichenraub - Mordbrand und Mord - Verrat - Verrat der Feme - Notzucht - Fälschung von Münzen - Raub auf der Kaiserstraße - Meineid und Treulosigkeit. Und: Wer nicht zu Ehren antworten will auf Stätten, wo es sich gebührt. Sehr umfassend.« Lorenz klang sarkastisch. »Ich nehme an, die Verurteilten wurden mit dem Tode bestraft.«

Natascha nickte. »Mit dem Strang. An der Hinrichtungsstätte weiter unten im Wald.«

»Was hat das zu bedeuten?«, wollte Schmitz wissen, und Natascha hob ratlos die Schultern.

»Ich habe keine Ahnung.«

 

 

Kapitel 5

 

Natascha lehnte sich während der Rückfahrt nach Siegen im Ledersitz von Lorenz‘ Jeep zurück und dachte an den Richtertisch, das Arrangement aus den dreizehn Steinen und der Eiche und an die Frauenleiche mitten auf dem Steintisch mit der ominösen Inschrift. Sie sollten gleich im Siegerlandmuseum oder in der Uni anrufen und einen Experten zurate ziehen. Jemanden, der sich mit historischen Stätten auskannte. Das Siegerlandmuseum war im Oberen Schloss untergebracht, das wie eine kleine, schieferbedeckte Burg auf dem Siegberg oberhalb der Altstadt thronte und von weit her zu sehen war. Wo in früheren Jahrhunderten das Haus Nassau-Oranien residiert hatte, war heute ein kunst- und regionalhistorisches Museum untergebracht. Sogar mehrere Originale des Barockmalers Peter Paul Rubens sollten dort ausgestellt sein, aber Natascha hatte bisher nie die Zeit für einen Museumsbesuch gefunden. Vielleicht sollte sie Simon mal zu einem Sonntagsausflug dorthin einladen, auch wenn er das Museum wahrscheinlich schon in- und auswendig kannte. Geschichte war eines seiner Hobbys, und er hatte eine diebische Freude daran, Leute mit seinem Spezialwissen über die bewegte Geschichte der Stadt Siegen zu beeindrucken.

Sie passierten gerade die Eremitage, die Wallfahrtsstätte direkt an der B 52, als Lorenz‘ Handy klingelte. Es war Winterberg, der ihnen über Lautsprecher von den aktuellen Vermisstenfällen berichtete.

»Eine Katze, zwei Jugendliche und eine Seniorin aus einem Pflegeheim. Aber Letztere wurde vier Stunden später wieder aufgefunden«, erklärte er. »Am Freitagabend hat ein gewisser Frank Feldmann seine Ehefrau Anke als vermisst gemeldet. Einer der Kollegen aus Wilnsdorf kennt den Mann und hat sich deshalb darum gekümmert.« Winterberg machte eine Kunstpause. Natascha wusste, worauf er anspielte: Die Frau war volljährig und durfte gehen, wohin sie wollte. Sie war niemandem Rechenschaft schuldig.

Natascha dachte an die Tote im Wald. Sofort sah sie sie wieder zwischen den Findlingen liegen, das hennarote, lange Haar, den orangefarbenen, weit heruntergezogenen Rock. Und die nackten Brüste.

Sie beschrieb das Opfer, erzählte Winterberg, dass sie bisher keinen Ausweis und keine Tasche, keine Bluse und kein T-Shirt gefunden hatten. Und dass die Frau Schwangerschaftsstreifen hatte. »Wenn ich jetzt darüber nachdenke, wirkte sie wie jemand aus der Alternativen-Szene. Du weißt schon: Alt-Hippies mit Klangschalen und Didgeridoo.«

Winterberg seufzte. »So ähnlich hat auch der Kollege aus Wilnsdorf die Vermisste beschrieben. Er nannte den Ehemann einen ‚langhaarigen Öko’. Er ist achtunddreißig und Elektriker.«

»Anke Feldmann heißt die Frau?«, vergewisserte sich Natascha und hoffte gleichzeitig, dass es sich bei der Vermissten nicht um die Tote im Wald handelte. Solange das Opfer keinen Namen hatte, war es leichter, Distanz zu wahren, konnte man sich besser auf die bloßen Fakten konzentrieren. Doch gleichzeitig halfen ihr Name und Geschichte eines Opfers dabei, seine Persönlichkeit zu erspüren und eine Tat von ihren Anfängen her zu denken. Ein Dilemma.

»Ja. Feldmanns wohnen in Weissbach, einem kleinen Dorf außerhalb von Wilnsdorf.« Er nannte Straße und Hausnummer. »Anke Feldmann ist dreiunddreißig Jahre alt, Arzthelferin und hat einen vierjährigen Sohn«, erklärte Winterberg.

»Ach, Mist!«, flüsterte Natascha betroffen. Es war jedes Mal umso schrecklicher, wenn Kinder beteiligt waren. Wurde einem Elternteil Gewalt angetan, dann litten vor allem die Kinder. Und oftmals gab es niemanden, der sich mit ihnen beschäftigte und ihnen auf kindgerechte und behutsame Art und Weise erklärte, was passiert war.

»Er heißt Felix«, sagte Winterberg noch. Kurz darauf legte er auf.

»Ich kenne Weissbach von früher.«

Natascha sah ihren Kollegen überrascht an, der nun mitten auf der Bundesstraße wendete, auf der ihnen gerade kein Auto entgegenkam. »Was hast du da gemacht?«

»Die Schwester meiner Oma hat dort gewohnt, Tante Liese. Ist schon ein merkwürdiges Dörfchen. Liegt ziemlich abgelegen, in der Nähe des Rothaarsteigs, aber Touristen und Wanderer würden sich wahrscheinlich niemals dorthin verirren, weil ausgedehnte Wälder dazwischenliegen. Ich glaube, die Hauptstraße ist sogar eine Sackgasse, die am Waldrand endet.«

»Na, da bin ich aber mal gespannt!« Natascha sah aus dem Fenster und betrachtete den Fichtenwald, der an ihnen vorüberzog.

Hinter Wilnsdorf stieg die Bundesstraße steil an, die Bewaldung am Straßenrand wurde dichter, rückte näher an die Straße. Schimmernde CDs hingen in den Bäumen, um das Wild aus den Wäldern davon abzuhalten, die Straße zu überqueren. Sie reflektierten ein wenig Sonnenlicht, obwohl die Gegend größtenteils im Schatten lag.

Hinter einer scharfen Kurve erschien ein mit Schlamm bedeckter gelber Wegweiser: Weissbach 3 km.

»Das ist wirklich abgelegen hier, mitten im Wald. Ziemlich ruhig. Ob die Leute hier Handyempfang oder Internet haben?«

In einigen Dörfern des Siegerlandes gab es noch immer Funklöcher, auch fehlende Internetverbindungen waren ein ernsthaftes Problem. Hier war das Internet teilweise wirklich noch Neuland. Für Natascha, die in Köln aufgewachsen war, ein undenkbarer Zustand.

»Für Kinder ist es bestimmt schön, so im Einklang mit der Natur zu leben«, sagte sie versonnen und bemitleidete gleichzeitig die Jugendlichen und Heranwachsenden. Ohne fahrbaren Untersatz war man hier aufgeschmissen.

»Ich war immer gern in Weissbach«, antwortete Lorenz und folgte der Straße. Dicke Placken aus angetrocknetem Schlamm lagen auf dem Asphalt. Offenbar war vor nicht allzu langer Zeit ein Traktor hier entlanggefahren. Natascha dachte an Schmitz und hoffte, dass die Kollegen von der Kriminaltechnik inzwischen verwertbare Spuren am Fundort sichergestellt hatten.

»In Tante Lieses Nachbarschaft wohnte ein Junge, Norbert. Der war zwei Jahre älter als ich, und wir waren meist im Wald unterwegs. Haben Buden gebaut und Abenteurer gespielt«, sinnierte er und lächelte bei der Erinnerung. »Aber irgendwie haben wir uns aus den Augen verloren, als wir älter wurden. Ich wüsste gern, wie es ihm heute geht.«

»Dann kennst du vielleicht auch Familie Feldmann? Der Mann ist doch in deinem Alter«, überlegte Natascha, doch Lorenz schüttelte den Kopf.

»Der Name sagt mir nichts.«

Der Wald lichtete sich, und plötzlich lag Weissbach in einer leichten Senke vor ihnen. Natascha sah zuerst einen u-förmig angelegten Hof mit kleinem Fachwerkhaus, etwas größerer Scheune und Stallungen rechts von der Straße. Alles wirkte heruntergekommen und ungepflegt. Das linke Scheunentor hing schief in den Angeln, die Gardinen hinter den Fenstern waren vergilbt. Ein rostiger Wasserwagen stand mitten auf dem Hof, der mit schwarzem Kopfstein gepflastert war.

»Hier wohnte früher eine Familie, deren Tochter bei einem Reitunfall ums Leben gekommen ist.« Lorenz fuhr langsamer und zeigte auf den Hof. »Aber jetzt sieht das ganze Anwesen ziemlich verlassen aus. Ist schon schade, wenn sich niemand mehr kümmern kann und alles zerfällt.«

»Dabei könnte man aus der Hofanlage noch was Nettes machen. Vielleicht ein Ausflugslokal oder eine Herberge für Wanderer.« Natascha dachte an Heulager in der Scheune, frische Kuhmilch und ein deftiges Frühstück mit noch warmem Brot. Und an spielende Kinder in einem kleinen Streichelzoo. Doch hier würden weder Wanderer einkehren noch Kinder umhertollen. Der Hof wirkte nicht nur verwaist, sondern regelrecht tot. Seelenlos. Als wäre mit der Tochter alles Lebendige vom Hof verschwunden.

Sie passierten das Ortsschild. Auf einem verwitterten Holzgerüst stand: Unser Dorf soll schöner werden. Am Fuß des Gerüstes blühten rote Geranien. Natascha hatte das Gefühl, gemeinsam mit Lorenz eine Reise in die Vergangenheit angetreten zu haben. Beinahe erwartete sie, Bauern mit Ochsengespannen zu begegnen.

Die Hauptstraße war von Schlaglöchern übersät, und Lorenz fuhr Schlangenlinien, um ihnen auszuweichen. In dem kleinen Ort in dem dunklen Tal schien wirklich die Zeit stehen geblieben zu sein. Ein Blick auf ihr Handy ließ Natascha seufzen. Sie steckten tatsächlich in einem Funkloch.

Häuser verschiedener Epochen reihten sich scheinbar wahllos aneinander, kleine Fachwerkhäuser aus dem achtzehnten Jahrhundert standen neben sterilen Bauten der sechziger Jahre. Sogar einen rot gestrichenen Neubau sah sie, bei dem noch die Baugenehmigung mit dem roten Punkt im Fenster hing. Das Grundstück war noch nicht bepflanzt, doch leuchtend gelber Löwenzahn überzog den Vorgarten wie ein Teppich. Haus und Garten wirkten zwar bunt, aber seltsam leblos.

Die eigentümliche Stimmung im Ort machte sich nun auch im Auto breit. Natascha und Jörg Lorenz schwiegen, jeder hing seinen Gedanken nach. Einzig das Navigationsgerät plärrte seine Anweisungen durch die Lautsprecher, bis Lorenz das Gerät ausschaltete.

»Da vorne ist die Kirche, da muss auch die Pfarrgasse sein«, sagte er, und Natascha sah den weißen Kirchturm mit dem schwarzen Wetterhahn zwischen den schiefergedeckten Dächern hervorschauen.

Je näher sie der Kirche kamen, desto enger wurden die Gassen. Die Wege rund um die Kirche waren so schmal, dass Lorenz schließlich fluchend ein Stück zurücksetzte und den Jeep am Straßenrand abstellte. Die alten Fachwerkhäuser schienen aneinanderzukleben und sich gegenseitig zu stützen; für Lorenz‘ großen Wagen war da kein Platz.

»Wir gehen besser zu Fuß, sonst bleiben wir womöglich noch stecken.« Lorenz öffnete die Fahrertür und stieg aus. Stallgeruch drang zu Natascha, und sie zog die Nase kraus. Beim Aussteigen wehte ihr noch ein weiterer Geruch entgegen: der von angebranntem Fleisch, wahrscheinlich aus dem geöffneten Küchenfenster des Hauses hinter ihnen. Ein Gemisch aus Grün- und Grautönen bildete sich vor Nataschas innerem Auge.

»Merkwürdig, dass wir bisher noch keinen einzigen Menschen hier im Ort gesehen haben!«, sagte sie leise. »Die müssen doch irgendwo sein!« Sie sah sich um, und mit einem Mal beschlich sie das Gefühl, beobachtet zu werden.

Irgendwo im Hintergrund bellte ein Hund, eine Katze sauste dicht vor Nataschas Füßen über die Straße und verschwand fauchend in einem Holzstapel neben einem Hauseingang. Etwas klapperte, doch noch immer war keine Menschenseele zu sehen.

»Wahnsinn!« Auch Lorenz flüsterte, räusperte sich dann aber und sprach in normaler Lautstärke weiter. Es wirkte irgendwie unpassend. »Hier hat sich in all den Jahren so gut wie nichts verändert. Siehst du da die alten Grabsteine an der Ostseite der Kirche? Die waren früher auch schon so schief.«

Die verwitterten und teilweise mit Moos bedeckten Sandsteinquader wirkten geradezu unheimlich, und Natascha schüttelte sich unwillkürlich. Doch dann rief sie sich zur Ordnung: Sie befanden sich hier in einem ganz normalen Dorf des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts, nicht in der Kulisse eines verstaubten Gruselfilms!

»Da vorn ist die Nummer siebzehn, das Haus der Feldmanns!« Sie wies mit einer leichten Kopfbewegung in die Richtung.

»Das Haus kenne ich!«, sagte Lorenz. »Da hat früher eine alte Frau gewohnt, über die ganz abenteuerliche Geschichten erzählt wurden. Ich dachte als Kind, sie wäre eine Hexe.«

Das Fachwerkhaus war schmal und wirkte seltsam geduckt; der schwarze Schiefer auf der Giebelseite unterstrich diesen Eindruck noch. Aber die Fassade war hell getüncht und gab dem Haus ein gemütliches Aussehen. In den Fenstern standen Kerzenständer und bunte Stoffblumen. Neben der Eingangstür bildeten mehrere Gartenlaternen aus Metall ein einladendes Ensemble. Alles wirkte modern und liebevoll und schien überhaupt nicht in die düstere Atmosphäre des Ortes zu passen. Natascha wollte nicht mit schlechten Nachrichten in diese kleine Idylle eindringen.

»Komm, wir bringen es hinter uns!« Sie klingelte.

»Herr Feldmann?«, fragte Natascha den Mann, der ihnen öffnete. Seine dunkelblonden Locken waren im Nacken zu einem Zopf gebunden. Er trug eine ausgeblichene Jeans und war barfuß. Langhaariger Öko – die Beschreibung des Wilnsdorfer Kollegen hätte treffender nicht sein können. »Wir sind Kriminaloberkommissar Jörg Lorenz und Kriminalkommissarin Natascha Krüger von der Polizei in Siegen. Dürfen wir reinkommen?«

Feldmanns braune Augen huschten zwischen ihr und Lorenz hin und her. Dann nickte er langsam und ließ sie eintreten. Im Hintergrund erschien ein etwa vierjähriger Junge mit einem zerzausten Pandabären im Arm. Der Kleine sah sie erwartungsvoll an.

»Hallo. Du bist Felix, nicht wahr?« Natascha lächelte ihn an, obwohl ihr überhaupt nicht nach Lächeln zumute war. So unschuldig, wie er zurücklächelte, schien er nichts Böses zu ahnen. Schüchtern drückte er den Pandabären an seine Brust.

Natascha und Lorenz betraten den schmalen Flur. Er wirkte dunkel. Eine restaurierte Holztreppe führte ins Obergeschoss, Naturholz dominierte den Eingangsbereich. Auch im Inneren des Hauses sah man deutlich die Handschrift eines Menschen, der großen Wert auf ein gemütliches Zuhause legte.

Frank Feldmann strich sich in einer nervösen Geste über die Stirn. Einzelne Locken hatten sich aus dem Zopf gelöst und umrahmten nun das Gesicht mit den müden Augen. Er räusperte sich. »Felix, geh bitte nach oben in dein Zimmer! Ich möchte allein mit dem Besuch sprechen«, bat er seinen Sohn mit leiser Stimme, doch der Kleine schüttelte so heftig den Kopf, dass die hellen Haare hin- und herflogen.

Feldmann sah sich Hilfe suchend ihnen um.

»Ja. Es ist vielleicht besser, wenn wir allein miteinander reden«, sagte Lorenz und nickte Natascha kaum merklich zu. Sie hätte gern selbst das Gespräch geführt, aber es war klar, dass der Junge nicht dabei sein konnte und sie brachte es nicht übers Herz, ihn in dieser Situation einfach wegzuschicken.

Frank Feldmann zuckte zusammen, schloss kurz die Augen und seufzte. »Kommen Sie, wir gehen ins Wohnzimmer!«

Die Dielen im Flur knarrten, als die beiden Männer sich entfernten.

Natascha hockte sich zu dem Jungen. »Magst du mir dein Zimmer zeigen? Ich bin ganz neugierig zu sehen, wie du wohnst.« Sie nahm den Kleinen an die Hand. »Ich kann dir was vorlesen, wenn du möchtest.«

Felix sah sie zweifelnd an und machte sich von ihr frei. Langsam stieg er vor ihr die Stufen empor. Das Kinderzimmer befand sich direkt neben der Treppe. Eine Stehlampe mit weißem Papierschirm erhellte den kleinen Flur, mehrere bunte Kinderbilder hingen an der Wand neben Felix‘ Zimmertür.

Natascha blieb vor einem Bild mit Weihnachtsbaum und vielen bunten Geschenken stehen. »Das ist aber hübsch! Hast du das gemalt?«

Der Junge zog die Nase kraus und nickte. »Ja. Aber da konnte ich noch keine Tannenbäume malen. Das kann ich jetzt viel besser. Soll ich’s dir mal zeigen?«

»Gern!« Sie betraten Felix‘ Zimmer, das in seiner Unordnung gar nicht zum übrigen Haus passen wollte. Natascha musste aufpassen, dass sie weder auf eines der aneinandergereihten Spielzeugautos trat noch das fragile Gebilde aus Legosteinen umstieß, das auf dem Boden stand.

»Hier ist Papier«, erklärte Felix. »Du kannst auch Tannenbäume malen, wenn du willst. Oder Leute. Ich glaube, ich male die Mama. Die ist bei ihrer Freundin zu Besuch, hat der Papa gesagt. Da schläft sie auch. Darum brauch ich heute nicht in den Kindergarten zu gehen und der Papa nicht zur Arbeit. Aber morgen bringt mich der Papa wieder in den Kindergarten. Das macht sonst die Mama.« Er zuckte mit den schmalen Schultern. »Der Papa kann das aber auch gut. Und er hat mir zum Frühstück viel mehr Leberwurst aufs Brot geschmiert. Die Mama schimpft sonst immer darüber.« Felix grinste breit und begann, grüne Zacken auf das Blatt zu malen.

Natascha sah dem Jungen dabei zu und spürte plötzlich eine tiefe Traurigkeit in sich aufsteigen. Wahrscheinlich zeigte Lorenz unten gerade Felix’ Vater ein Foto von der Toten auf dem Richtertisch. Handelte es sich bei der Frau um Felix’ Mutter? Ob der Kleine sich noch von ihr verabschiedet hatte, als sie ein letztes Mal das Haus verlassen hatte?

 

Eine halbe Stunde später gingen Natascha und Lorenz bedrückt durch die schmale Pfarrgasse zurück zum Auto. Ihre Befürchtung hatte sich bestätigt: Frank Feldmann hatte in der Toten seine Frau Anke erkannt. Dennoch hatte Lorenz ihn bitten müssen, zur offiziellen Identifizierung in die Pathologie zu kommen.

Dunkle Wolken hatten sich in der Zwischenzeit am Himmel gebildet und verdeckten teilweise die Sonne, sodass die enge Gasse noch bedrückender wirkte als zuvor. Natascha hatte das dringende Bedürfnis, diesen Ort zu verlassen. Sie sehnte sich danach, mit tiefen Zügen klare Luft in ihre Lungen zu saugen.

An einem Haus mit üppigen orangegelben Tagetes-Rabatten wurde plötzlich mit Wucht ein Fenster geschlossen und die Gardine vorgezogen. Natascha zuckte zusammen.

»Wie hat er es aufgenommen?«, fragte sie, als sie das Auto erreichten.

Lorenz öffnete die Wagentür, um frische Luft hineinzulassen, stieg aber noch nicht ein. »Recht gefasst. Als hätte er schon geahnt, dass seine Frau nicht mehr lebt. Dann liefen ihm ein paar Tränen über die Wangen, aber die hat er gleich weggewischt. Er meinte, er müsse jetzt stark sein. Für seinen Sohn.«

»Hat Feldmann jemanden, der ihm Beistand leisten kann?«

»Er hat noch in meiner Gegenwart einen Freund angerufen. Der will so schnell wie möglich zu ihm kommen.« Lorenz seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Dann ließ er sich auf den Fahrersitz sinken.

»Magst du drüber reden?« Natascha spürte den Anflug eines schlechten Gewissens, weil sie ihren Kollegen mit der traurigen Pflicht allein gelassen hatte.

»Nee, ist schon gut. Danke übrigens, dass du den Jungen abgelenkt hast.« Lorenz startete den Motor und wendete umständlich den Wagen, um nicht doch noch an einer Hauswand oder einem der wuchtigen Blumenkübel vorbeizuschrammen. »Frank Feldmann hat übrigens immer wieder betont, dass er sich nicht vorstellen kann, wer seiner Frau das angetan hat. Angeblich hatte sie mit niemandem Streit. Sie soll sich mit allen im Dorf gut verstanden haben.« Danach verfiel Lorenz in Schweigen, und Natascha nahm es als Zeichen dafür, dass auch er seinen Gedanken nachhängen wollte.

Sie lehnte sich zurück und betrachtete die Häuser des Ortes, an denen sie vorüberfuhren. Noch immer zeigte sich kein Mensch auf der Straße, und dennoch glaubte Natascha, beobachtet zu werden.

 

 

Kapitel 6

 

Das Wasser in der Flasche enthielt kaum noch Kohlensäure, so wie eines dieser überteuerten Heilwasser. Sein Brustkorb brannte. Ob diese quälenden Hustenanfälle irgendwann aufhören würden?

Er stand am Fenster und betrachtete den Wald, der sich in der Ferne dunkel gegen den bewölkten Himmel abhob. Fichten wuchsen dicht an dicht, streckten die dünnen Arme gen Himmel, als erhofften sie sich von dort Beistand. Dabei lag ihr Problem in den Wurzeln. Ein weit verzweigtes Netz aus dünnem, oberflächlichem Wurzelwerk sollte diesen riesigen Bäumen Halt geben, sie im Erdreich verankern und gleichzeitig nähren.

Dabei reichte ein einziger Sturm, um ihnen allesamt den Boden wegzureißen und all das zu zerstören, worauf sie gebaut hatten.

Verächtlich verzog er das Gesicht, nahm noch einen Schluck von der Plörre aus der Flasche. Das Wasser schmeckte fade und stillte kaum den Durst.

Immer häufiger fegten Stürme über das Land, rissen alles mit sich, was nicht fest verwurzelt war.

---ENDE DER LESEPROBE---