Unter der Mauer - Melanie Lahmer - E-Book

Unter der Mauer E-Book

Melanie Lahmer

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Beschreibung

Eine verschwundene Studentin. Eine unüberwindbare Grenze. Und ein Verbrechen, das mehr als 30 Jahre lang ungesühnt bleibt. Leipzig, 1984: Die Studentin Michaela Wolff verschwindet spurlos. Alles, was ihrer Familie bleibt, ist ein Abschiedsbrief. Auch nach dem Fall der Mauer findet man kein Lebenszeichen von ihr. Die Familie zerbricht beinahe an diesem Schicksal. Fünfunddreißig Jahre später stößt die Psychologin Nike Klafeld in Siegen auf ein altes Tagebuch, versteckt in einem Weltkriegsbunker. Die Suche nach der jungen Frau führt sie auf eine Reise in ihre eigene Vergangenheit und plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Doch Nike ahnt nicht, dass sie sich bei ihrer Suche nach Gerechtigkeit selbst in große Gefahr bringt ... »Unter der Mauer« Der Auftakt zur neuen Krimireihe mit der Psychologin Nike Klafeld

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Ähnliche


 

 

Melanie Lahmer

 

»Unter der Mauer«

 

Kriminalroman

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Die Autorin

30. Juli 1984

Kapitel 1

Leipzig, 13. Juni 1984

Kapitel 2

28. Juli 1984

Kapitel 3

Kapitel 4

29. Juli 1984

Kapitel 5

Kapitel 6

Leipzig, 30. Juni 1984

Kapitel 7

Kapitel 8

30. Juli 1984

Kapitel 9

30. Juli 1984

Kapitel 10

31. Juli 1984

Kapitel 11

31. Juli 1984

Kapitel 12

Leipzig, 31. Juli 1984

Kapitel 13

Kapitel 14

Leipzig, 29. Oktober 1984

Kapitel 15

Kapitel 16

Leipzig, 13. November 1989

Kapitel 17

31. Juli 1984

Kapitel 18

Kapitel 19

01. August 1984

Kapitel 20

Leipzig, 09. Dezember 1989

Kapitel 21

Leipzig, 26. August 2019

Kapitel 22

Leipzig, 27. August 2019

Kapitel 23

Kapitel 24

01. August 1984

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Siegen, 27. August 2019

Kapitel 30

03. August 1984

Kapitel 31

Kapitel 32

Leipzig, 07. September 2019

Nachwort

Dank

Liebe Leserin, lieber Leser!

Weitere Veröffentlichungen

Impressum

 

Das Buch

 

Eine verschwundene Studentin. Eine unüberwindbare Grenze. Und ein Verbrechen, das mehr als 30 Jahre lang ungesühnt bleibt.

 

Leipzig, 1984: Die Studentin Michaela Wolff verschwindet spurlos. Alles, was ihrer Familie bleibt, ist ein Abschiedsbrief. Auch nach dem Fall der Mauer findet man kein Lebenszeichen von ihr. Die Familie zerbricht beinahe an diesem Schicksal.

Fünfunddreißig Jahre später stößt die Psychologin Nike Klafeld in Siegen auf ein altes Tagebuch, versteckt in einem Weltkriegsbunker.

Die Suche nach der jungen Frau führt sie auf eine Reise in ihre eigene Vergangenheit und plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Doch Nike ahnt nicht, dass sie sich bei ihrer Suche nach Gerechtigkeit selbst in große Gefahr bringt ...

 

»Unter der Mauer« Der Auftakt zur neuen Krimireihe mit der Psychologin Nike Klafeld

 

 

Die Autorin

Melanie Lahmer, geboren 1974 in Rotenburg/Fulda, wuchs in unmittelbarer Nähe zur innerdeutschen Grenze auf. Sie studierte Erziehungswissenschaften, Psychologie und Soziologie und lebt mit ihrem Mann, den drei Töchtern und zwei Katzen in ihrer Wahlheimat Siegen.

Ihr Debütroman »Knochenfinder« wurde mit einem Artist-in-Residence-Stipendium von der Kunststiftung NRW ausgezeichnet und war Quartalssieger beim Amazon-Autorenpreis »Entdeckt!«.

»Knochenfinder« und »Kuckucksbrut«, die beiden Ermittlerkrimis aus Siegen, erschienen im Bastei Lübbe-Verlag.

 

Mehr Informationen:www.siegerland-krimis.de

 

 

 

30. Juli 1984

 

Liebe Mutti, lieber Vati!

Wenn ihr diesen Brief lest, bin ich nicht mehr da.

Ich habe mich entschieden, ein neues Leben zu führen.

Sucht nicht nach mir, denn ihr werdet mich nicht finden. Ich habe alle Spuren verwischt, um euch nicht mit unnötigem Wissen zu belasten.

Ich weiß, dass meine Entscheidung Konsequenzen haben wird. Auch für euch. Doch ich kann nicht anders. Leider kann ich euch keine Erklärung geben und hoffe auf euer Verständnis.

Ich werde immer an euch denken,

eure Michi

 

 

Kapitel 1

 

»Hey, Nike, fang!«

Lukas warf ihr einen Flaschenöffner zu, den sie geschickt aus der Luft fing.

»Das war knapp!«, rief Nike lachend. Mit einem Plopp öffnete sie die Flasche Bier und hob sie den anderen zum Zuprosten entgegen.

»Auf Pigs and Pearls und den alten Probenraum!«

Sie nahm einen Schluck und schüttelte sich. Das Bier war lauwarm, aber das machte an einem Abend wie diesem nichts. Heute ging es um Erinnerungen, nicht um Gaumenfreuden.

Obwohl der Probenraum eine Zeitlang wie ein zweites Zuhause für sie gewesen war, musste die Band genau wie alle anderen Mieter der Bunkerräume auch, ihr Domizil verlassen. Das Gebäude aus Kriegszeiten war von einer Immobiliengesellschaft aufgekauft worden und sollte nun zu einem extravaganten Wohngebäude ausgebaut werden.

»Feier die Feste, wie sie fallen«, stimmte ihr Bandkollege Jute an und imitierte mit seinen Fingern einen imaginären Basslauf.

»Feier die Feste wie sie fallen, heut' ist der beste Tag von allen ...«

Nike nahm den Gesang auf, ihre Bandkumpels stimmten ein und plötzlich lagen sie sich in den Armen und sangen den Song, der auf keinem ihrer Konzerte fehlen durfte.

Es half, nicht allzu melancholisch zu werden.

Nach der letzten Strophe löste sich Nike aus der Umarmung und trank von ihrem Bier. Dabei ließ sie den Blick durch den Raum schweifen, über die alten, bunten Teppiche auf dem kalten Betonboden und die Bandposter an den Wänden, bis er an den unzähligen Eierkartons hängenblieb.

»Ich hab die Dinger ja immer gehasst. Die sehen schäbig aus und bringen nichts.«

Mit dem Finger drückte sie eine Erhebung ein, dann noch eine.

»Wie alt sind die überhaupt? Die kleben doch bestimmt noch von der allerersten Band aus den Achtzigern oder so hier.«

Lukas stellte seine Bierflasche auf den Boden und griff mit beiden Händen an den schmalen Rand der Pappe, um sie abzureißen. Sie hatten den Probenraum mitsamt Eierkartons übernommen und sie aus lauter Faulheit an den Wänden gelassen. Dass sie nicht zur Schalldämmung taugten, hatten sie von Anfang an gewusst.

Er riss eine große Lücke in die Wandverkleidung und warf die Reste in Jutes Richtung. Der duckte sich einfach, sodass die Pappe vor Nikes Füßen landete.

»Vorsicht! Zerbrechlich!«

Sie schüttelte den nächsten blauen Müllsack auf, um die Pappstücke darin zu sammeln. Es tat gut, so ausgelassen in dem alten Probenraum herumzualbern. Das linderte die leichte Wehmut, die Nike überkommen hatte. Kein Wunder, immerhin waren sie in diesem Raum in den letzten vier Jahren zu einer richtig coolen Truppe zusammengewachsen.

»Ich wäre ja gern noch hiergeblieben.«

Lukas holte sich noch ein Bier aus der Kiste in der Ecke. »Wir hatten echt eine schöne Zeit hier.«

»Ach, wir werden schon einen neuen Raum finden. Wart’ nur ab!«

Nike prostete ihrem Mann zu, obwohl sie nicht so optimistisch war, wie sie vorgab. In letzter Zeit hatten sie nur noch wenig geprobt, weil Gitarrist Rob und Lukas bei der Siegener Kripo zunehmend mehr Überstunden machen mussten. Diesen Freitagabend hatten sie sich freigehalten, um auf gebührende Weise von diesem Teil ihrer Bandgeschichte Abschied zu nehmen.

»Hey, ihr beiden, hockt hier nicht so faul rum!«

Jutes übersprudelnde Energie war ansteckend. Zu fünft zerrten und zogen sie an den hartnäckig verklebten Eierkartons. Der Haufen in der Mitte wurde immer größer, die Kiste Bier in der Ecke leerte sich.

»Hey, schaut mal!«, rief Jute. »Hier hat wohl jemand alte Liebesbriefe versteckt!«

Er hielt ein paar zerrissene Seiten in die Höhe. »Ob das hier mal ein heimliches Liebesnest war?«

»Das würde dir gefallen!«

Lukas schüttelte lachend den Kopf und begann, Eierkartons in einen blauen Müllsack zu füllen.

»Soll ich euch mal ein paar Zeilen vorlesen?«

Jute hielt die Zettel gegen die Leuchtstoffröhre an der Decke und verengte die Augen.

»Das ist mit Bleistift geschrieben, das kann ich ja kaum entziffern.« Er schwieg einen Moment, dann las er mit gerunzelten Brauen vor. »Ich weiß zwar immer noch nicht, wo ich bin, aber das Mineralwasser heißt Rothaarquelle und ... Mehr kann ich nicht lesen. Und das bisschen hier auch nur mit viel Fantasie.«

»Also, dass man nicht weiß, wo man aufwacht, kann ich mir ja noch vorstellen. Aber dann weiß ich zumindest grob, in welcher Region ich mich befinde«, antwortete Lukas lachend. Er nahm einen Schluck Bier und kratzte mit der Spachtel ein paar hartnäckige Pappreste von der weiß getünchten Wand.

»Ja, der Herr von der Kripo weiß eben nicht, wie so ein richtiger Absturz aussieht. Als ich damals in Berlin ...«, begann Keyboarder Pit, doch Nike unterbrach ihn.

»Keine Zivi-Geschichten, Pit. Bitte! Wir haben alle mittlerweile mindestens acht Mal gehört.« Sie ging zu Jute, der ihr die zerknüllten Seiten in die geöffnete Hand legte.

»Da sind noch mehr Blätter«, antwortete er. »Wenn du sie lesen willst, musst du das Zeug wohl erstmal sortieren. Die Zettel und Schnipsel hängen nicht zusammen und sind teilweise zerrissen.«

Der blonde Bassist griff an den Rand des nächsten Kartons, unter dem noch mehr Blätter hervor segelten und auf dem Boden landeten.

»Oh, das scheint ein Nest zu sein. Bitteschön.«

Er ging ein paar Schritte zur Seite, um an einer anderen Stelle weiterzumachen.

»Vielleicht sind das ja abgelegte Songtexte einer unserer Vorgängerbands«, mutmaßte Jute und riss an der nächsten grauen Pappe. »Wenn sie gut sind, peppen wir das Ganze auf und machen einen coolen Song draus.«

Nike bückte sich und hob die Seiten auf, doch Jute war schon längst wieder mit dem Abriss beschäftigt.

»Warum versteckt denn jemand so viele beschriebene Seiten hinter der Wandverkleidung?«

Sie hielt die Seiten gegen das Licht. Das Papier war leicht vergilbt, die aufgedruckten Linien eng mit Bleistift beschrieben.

Hätte ich es ahnen können?

Offensichtlich waren die Blätter aus einem Heft oder Buch herausgerissen worden.

»Heb sie doch auf und kleb sie zusammen. Vielleicht sind sie ja wirklich zu gebrauchen«, antwortete Lukas, ohne aufzusehen.

»Und wenn es Tagebucheinträge sind, die niemand lesen soll?«

Sie sammelte die Zettel trotzdem auf.

»Dann schmeiß sie einfach weg. Ist doch egal.«

Lukas warf eine weitere Handvoll Pappe in den Müllsack.

Doch hinter dem nächsten Karton verbargen sich noch mehr Blätter.

Vorsichtshalber verstecke ich die beschriebenen Seiten ...

Nike hob sie auf und steckte sie in ihre Gesäßtasche. Vielleicht war es das Bier, vielleicht die ausgelassene Stimmung, vielleicht auch die unterschwellige Traurigkeit, den Probenraum verlassen zu müssen.

Doch die wenigen Sätze regten etwas in ihr an, das sie noch nicht greifen konnte. Sie würde sich morgen damit beschäftigen.

 

 

Leipzig, 13. Juni 1984

 

Es war einer der wenigen schönen Tage in diesem Juni, entsprechend kühl war das Wasser im Kulkwitzer See. Doch das interessierte viele Leipziger nicht, denn die Liegewiesen und Strände an den Ufern des »Kulki« waren überfüllt mit Menschen, die genug von dem ewigen Regen hatten.

»Wer zuerst im Wasser ist!«

Thomas sprang von der Decke auf und rannte auf den See zu.

»Das ist unfair!«, rief Michaela, rappelte sich auf und lief hinter ihm her. Ehe sie ihn erreichte, war er mit einem Hechtsprung im Wasser gelandet und untergetaucht. Michi sprang kopfüber hinterher, als würde nicht auf sämtlichen Schildern am Ufer davor gewarnt.

»Was ist mit dir?« Annett schaute zu Karsten, der entspannt neben ihr sitzen geblieben war und den beiden hinterherblickte. »Keine Lust auf einen kleinen Wettstreit?«

Er richtete sich auf und stützte sich mit den Händen hinter dem Körper ab.

»Ich bleib lieber hier bei dir.«

Dabei sah er ihr direkt ins Gesicht und Annett spürte, wie eine leichte Röte ihre Wangen überzog. Schnell blickte sie nach vorne zum See, wo Thomas gerade ihre Schwester in die Höhe hob, um sie gleich danach ins kalte Nass des Kulkwitzer Sees fallenzulassen. Michi schrie auf und bespritzte ihn mit Wasser, woraufhin er untertauchte und sie von unten umfasste und zu sich zog. Michi kreischte erneut, doch Thomas brachte sie mit einem langen Kuss zum Schweigen.

»Süß, die beiden, oder?«

Karsten legte sich auf die Seite, stützte seinen Kopf mit der Hand und spielte mit einem Grashalm am Saum von Annetts Handtuch.

»Dabei hätte ich am Anfang nie geglaubt, dass das was wird mit ihnen. Deine Schwester hat sich ja wirklich lange gesträubt. Thomas musste sich ziemlich für sie ins Zeug legen.«

»Michi liebt eben ihre Freiheit. Da hat sie ihren eigenen Kopf.«

Annett lachte und blickte auf seine Hand, die langsam näher kam. Der Grashalm kitzelte, als Karsten damit die nackte Haut an ihrem Oberschenkel berührte. Ein Kribbeln zog durch ihren Bauch, vorsichtig strich sie mit ihren Fingerspitzen über Karstens Handrücken.

»Hey, ihr beiden, kommt doch auch ins Wasser! Es ist total erfrischend!«

Michis Ruf zerstörte den kleinen, schüchternen Moment und er zerplatzte wie die zarte Membran einer Seifenblase. Annett zog ihre Hand zurück, Karsten setzte sich wieder auf, als hätte Michaela sie bei einer Ungezogenheit ertappt.

Dabei war das Quatsch, denn vor Michi brauchten sie sich wirklich nicht zu schämen. Wenn Annett daran dachte, was sie ihr manchmal abends vor dem Einschlafen erzählte ... Doch in den letzten Wochen hatte ihre Schwester sich verändert, war oft nachdenklich und tat abends, als würde sie ganz schnell einschlafen. Dabei hörte Annett, wie sie sich unruhig im Bett wälzte.

»Na, was meinst du?« Karsten zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Ein paar Schwimmzüge zum Abkühlen?«

Ehe Annett antworten konnte, war er auch schon aufgestanden und mit einem eleganten Sprung im Wasser gelandet. Mit einem verwirrenden Gefühl von Vorfreude und Sehnsucht folgte sie ihm.

Michi, Thomas, Annett und Karsten alberten gemeinsam im See herum, duckten sich unter, bespritzten sich mit Uferschlamm und Seewasser und erzählten sich später anzügliche Witze, während sie sich auf ihren Handtüchern von der Sonne trocknen ließen.

Es war einer der ersten heißen Tage des Jahres und Annett glaubte, dass ihr Glück niemals enden würde.

 

 

 

 

Kapitel 2

 

»Guten Morgen!«

Lukas stand in der Schlafzimmertür und hielt zwei dampfende Tassen in der Hand. »Kaffee?«

Ohne auf Nikes Antwort zu warten, stellte er eine der beiden Tassen auf ihren Nachtschrank und kroch neben sie unter die Bettdecke.

»Oder gibt es noch eine andere Möglichkeit, dich zu wecken?«, hauchte er in ihr Ohr. Seine Fingerspitzen strichen über ihren Nacken. Wohlige Gänsehaut breitete sich auf ihrem Oberarm aus und sie seufzte. Es war lange her, dass Lukas sie so sanft geweckt hatte; frühmorgendliche Zärtlichkeiten waren vom Alltag verdrängt und erstickt worden.

Andererseits war sie schrecklich müde. Sie hatten bis nach Mitternacht im Probenraum aufgeräumt, der nun völlig leer und kahl war. Ein unpersönlicher, grauer und mit altdeutschen Ziffern versehener Raum in einem Hochbunker aus Stahlbeton. Irgendwie gruselig.

Anschließend war sie in einem zähen Traum gefangen gewesen, in dem sie die Papierschnipsel entziffern wollte, die ihr aber immer wieder aus der Hand gerutscht und zu Boden gesegelt waren. Sie hatte sich so oft hin- und hergewälzt, dass sie sich nun wie gerädert fühlte.

Lukas' Hand wanderte vom Nacken zu ihrer Brust, sein Atem ging flach und streifte ihr Ohr. Doch Nike war nicht in Stimmung, die Bilder des gestrigen Abends waren zu stark, das Bier hinterließ ein flaues Gefühl im Magen.

»Der Kaffee duftet verführerisch«, murmelte sie und wand sich aus Lukas' Armen. Sie klopfte ihr Kopfkissen zurecht und legte es sich in den Rücken, so dass sie in bequemer, aufrechter Position ihren Wachmacher genießen konnte.

»Ja klar, der Kaffee.«

Sie merkte Lukas die Enttäuschung an, auch wenn er sie vor ihr verbergen wollte.

»Es hat nichts mit dir zu tun«, erklärte sie deshalb und drückte ihm einen Kuss auf die stoppelige Wange. »Ich bin wegen gestern noch so aufgewühlt.«

»Schon gut«, erwiderte Lukas. Er lehnte sich ebenfalls gegen die Kopfstütze des Bettes. »Wir sind ja schließlich keine zwanzig mehr.«

Er klang beleidigt, doch Nike wollte sich nicht von ihm unter Druck setzen lassen. Denn auch in diesem Punkt hatte er recht; sie waren keine zwanzig Jahre alt, sondern vierzig. Knapp.

»Ich muss noch den Nudelsalat für Hajos Geburtstag morgen vorbereiten. Brigitte bekommt sonst einen Anfall, schließlich ist der Salat fest eingeplant. Und du weißt ja, wie sie ist.«

Lukas seufzte, schwieg aber und nippte an seinem Kaffee.

»Malte wollte übrigens nicht mitkommen, ich habe ihn aber dazu verdonnert«, erklärte sie. »Immerhin wird sein Opa neunundsechzig.«

Lukas hatte die Beine aufgestellt, sie legte eine Hand auf seinen Oberschenkel. Erst beim Kontakt mit Lukas' Körperwärme merkte sie, wie kalt ihre Finger waren. Doch Lukas ließ sich nichts anmerken und trank seinen Kaffee, als wäre es die verantwortungsvollste Aufgabe an diesem Samstagvormittag.

Langsam zog sie die Hand zurück. Die Stimmung zwischen ihnen war futsch. Doch Nike hatte keine Lust, sie zu kitten. Nicht schon wieder. Dann sollte Lukas eben seinen Kaffee in der Schmollecke trinken.

»Du weißt ja, wo du mich findest.«

Entschlossen stand sie auf und ging barfuß in die Küche, um den Nudelsalat vorzubereiten und sich von dem unschönen Tagesbeginn abzulenken.

Während die Nudeln kochten, zog sie sich im Badezimmer um und machte sich frisch. Beim Zähneputzen fiel ihr Blick auf die Jeans vom Vorabend, die über dem Badewannenrand hing. Ein Schnipsel lag zerknittert auf den Fliesen. Nike bückte sich und hob das Papier auf.

Was hatte sie da nur gestern Abend geritten, dass sie die ganzen Schnipsel und Blätter aufgehoben und in die Tasche gesteckt hatte? Ein akuter Anfall von Melancholie, dachte sie und grinste mit der Zahnbürste im Mund.

Lukas und die anderen hätten das Papier einfach in den Müllsack gesteckt und weggeworfen; sie hingegen hatte sich von ihrer Neugier leiten lassen. Es war natürlich nicht die feine Art, in einem fremden Tagebuch zu stöbern – andererseits gab es vielleicht auch jemanden, der sich über diese wahrscheinlich längst vergessenen Fragmente seines Lebens freuen würde.

Sie wusch ihr Gesicht und wuschelte sich durch die weißblonden Haare. Später, wenn der Nudelsalat fertig war, würde sie die einzelnen Blätter sortieren.

Nachdem sie die Pasta abgegossen hatte, ging sie durch die Schiebetür nach draußen auf die Terrasse. Die Sonne stand noch an der Front des Hauses, die Temperatur war angenehm. Erst am späten Nachmittag würden die Sonnenstrahlen auf die Rückseite des Hauses reichen und ihnen hoffentlich einen lauschigen Samstagabend bescheren. Mit angezogenen Knien setzte sie sich auf die Holzbank und trank ihren zweiten Kaffee. Der wilde Ligusterbusch am Rand der Terrasse duftete betörend, das Summen unzähliger Bienen war wie Musik in ihren Ohren.

Doch die Idylle wurde durch das Rascheln des Flieders auf der rechten Seite gestört. Mit einem eleganten Sprung landete Chesterfield, der dicke rote Kater von nebenan, auf der obersten Treppenstufe der Holzterrasse. Kaum hatte sich Chester auf Nikes Schoß zusammengerollt, hörte sie ihren Nachbarn, Ralf Lorey, hinter dem Flieder rufen.

»Na, stört er schon wieder?« Ralf zwängte sich ebenfalls zwischen den beiden Fliederbüschen hindurch und sah seinen Kater vorwurfsvoll an. Doch der beachtete ihn gar nicht weiter und schnurrte mit geschlossenen Augen.

»Möchtest du einen Kaffee?«

Ralf wackelte unschlüssig mit dem Kopf, doch als Nike ihre Tasse in seine Richtung hielt, nickte er. »Na gut. Ich wollte sowieso mit euch reden.« Er nahm ihr gegenüber Platz, woraufhin Chester sich noch fester auf Nikes Schoß zusammenrollte.

»Moin!«

Lukas brachte zwei Tassen mit nach draußen und setzte sich gähnend zu ihnen.

Ralf nahm sich einen Kaffee und nippte daran. »Bei mir gibt es demnächst ein paar Veränderungen.«

»Du heiratest?«

Lukas' Frage sollte ein Scherz sein, aber für einen kurzen Moment glaubte Nike, einen Schatten über Ralfs Blick zu sehen. Doch er fing sich schnell wieder und fiel in Lukas' Lachen ein. Ralf war der typische ewige Junggeselle - und Nike hätte sich über eine Partnerin aufrichtig gefreut.

»Für meinen sechzigsten Geburtstag im September habe ich ein Einzelzimmer im Wellness-Hotel gebucht. Mit Sauna, Whirlpool und allem Pipapo. Das wollte ich jetzt eigentlich nicht umbuchen.«

»Du kannst das Zimmer gerne mir überlassen, ich finde garantiert Verwendung dafür!«, antwortete Lukas und räkelte sich in seinem Gartenstuhl, als säße er gedanklich schon im Pool.

Nike rollte mit den Augen.

»Du wirst aber nicht wegziehen, oder?«

Ralf lebte auf ihrer rechten Seite in einem mittelgroßen Bungalow mit Hanglage, wie fast alle Häuser in der Nachbarschaft. Er bewohnte die obere Etage mit ebenerdigem Eingang zur Straße, das untere Stockwerk mit dem Seiteneingang stand momentan leer.

»Kein Umzug. Im Gegenteil, ich werde meinen Haushalt erweitern. Um einen Hund.«

»Gute Idee!« Lukas hatte das Räkeln aufgegeben und sah seinen Nachbarn interessiert an. »Was ist es denn für einer?«

»Eine Bordeaux-Dogge. Selly. Sie kommt aus dem Tierheim und hat bisher wenig Glück mit ihren Herrchen und Frauchen gehabt. Aber bald ist sie ja bei mir!«

Ralf strahlte vor Vorfreude. Nike konnte es ihm nachempfinden, auch Lukas lächelte versonnen.

»Wir hatten bis vor ein paar Jahren auch einen Hund, Nero, einen kleinen Mischling. Dem hätte es hier im Haus auch gut gefallen.« Nike kraulte Chesters Fell und nickte wehmütig. »Dann könnten wir uns das Umgraben sparen und hätten vermutlich keine Probleme mehr mit Maulwürfen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob er sich so gut mit Chester vertragen hätte.«

Der Kater lag unbeweglich auf ihren Oberschenkeln, als würden sie gar nicht über ihn reden.

»Das ist das Problem«, seufzte Ralf. »Ich weiß nicht, wie Chester mit dem neuen Hausgenossen umgehen wird.«

»Unsere Tür steht nach wie vor für euch offen. Für dich, für Chester - aber auch für deinen Hund.«

Nike strich dem dicken Kater über das rote Fell. »Und wenn Chester vorübergehend eine Auszeit braucht, können wir ihm auch ein Katzenklo bei uns aufstellen. Schlaf- und Futterplätze hat er sich ja sowieso schon gesucht.«

Ralf sah sie erleichtert an. »Darauf hatte ich gehofft. Danke. Es ist ja sowieso nur eine Art Sicherheitsnetz. Wer weiß schon, wie die beiden miteinander klarkommen. Vielleicht werden sie ja die dicksten Freunde. Soll es ja alles geben!«

Erleichtert trank er seine Tasse aus und stand auf.

»Jetzt will ich aber erstmal wieder rüber, ich hab Frau Riedel versprochen, den Rasen zu mähen.«

Chester öffnete kurz ein Auge, als sein Herrchen durch die Hecke wieder nach drüben ging, blieb aber ansonsten unbewegt liegen.

»Wir schaffen das schon, mein Guter. Dann kommst du eben noch öfter zu uns.«

Nike schloss die Augen und genoss die Stille des Augenblicks, die Wärme des Katers auf ihrem Schoß und dachte daran, welch ein Glücksfall Ralf als Nachbar war.

 

 

 

28. Juli 1984

 

Übermorgen ist es soweit!

Meinen Rucksack habe ich längst gepackt und im Kleiderschrank in die hinterste Ecke gestellt. Hoffentlich entdeckt Annett ihn nicht. Ich möchte sie nicht anlügen, aber ich könnte ihr unmöglich die Wahrheit sagen.

So lange habe ich diesen Tag herbeigesehnt und jetzt ist er plötzlich da.

Manchmal würde ich am liebsten alles wieder rückgängig machen und meinen Plan vergessen. Was, wenn es schiefgeht? Wenn sie mich erwischen? Ich habe schon so viele schlimme Geschichten gehört – aber woher weiß ich, ob sie wahr sind?

Ich habe genug von den Lügen, die mich mein Leben lang begleitet haben. Es gibt ein anderes Leben. Es MUSS ein anderes Leben geben, denn wofür dienen sonst die ganzen Heimlichkeiten, die Unterstellungen und Halbwahrheiten?

Es ist gefährlich. Aber ich werde niemals Ruhe finden, wenn ich es nicht zumindest versucht habe.

Und ich bin bereit, den Preis dafür zu bezahlen.

 

 

 

Kapitel 3

 

»Fass mal mit an, Malte!«, rief Lukas über die Schulter nach hinten, während Nike den T4 auf den großen Platz mit den Altpapier-Containern steuerte. Zwischen den beiden Sitzen und der Miniküche des umgebauten Bullis lagen zehn blaue Säcke, prall gefüllt mit dem Dämmmaterial aus dem Probenraum.

Malte war am späten Vormittag verstrubbelt und übernächtigt nach unten gekommen und hatte äußerst unwillig die Anweisung entgegengenommen, beim samstäglichen Aufräumen und Saubermachen zu helfen.

»Darf man hier überhaupt so viel auf einmal einwerfen?«, maulte er, schnallte sich aber ab und öffnete die Schiebetür des Bullis. Mit einem Satz sprang er nach draußen und streckte sich, als hätte er stundenlang zwischen den Säcken kauern müssen.

»Ja, darf man. Besonders in Begleitung seiner Erziehungsberechtigten«, kalauerte Lukas, doch sein Sohn schenkte ihm nur einen müden Blick.

Zu dritt schleppten sie die Müllsäcke zu den Containern und begannen, die Pappstücke in die Einwurfschlitze zu schieben.

»Was soll denn mit den ganzen Schnipseln passieren?« Malte sah sie gelangweilt an, ohne eine Antwort zu erwarten. »Wir können doch einfach die Tüte mit allem drum und dran zu Hause in die Mülltonne werfen. Dann sparen wir uns die ganze Arbeit hier.«

Er hielt einen Müllsack hoch, einige Pappstücke segelten zu Boden. Lukas sah ihn mit hochgezogenen Brauen an, sagte aber nichts.

»Schon gut«, seufzte Malte und hob die Schnipsel wieder auf. »Hab schon verstanden. Und was ist hiermit? Sind das Songtexte?«

Er hielt eine Handvoll Blätter in der Faust, die vermutlich zu einem Tagebuch gehörten.

»Weg damit, was sonst«, herrschte Lukas ihn an, der nun sichtlich genervt war. »Ich will mich nicht ewig hiermit aufhalten, wir fahren nachher noch zu Opas Geburtstag.«

»Als ob ich das vergessen hätte«, entgegnete Malte kleinlaut und steckte die Tagebuchseiten in den Container.

»Hört doch mal auf zu streiten!« Nike knüllte ihren leeren Müllsack heftiger zusammen als nötig. »Das ist ja nicht auszuhalten!«

Die beiden sahen sie empört an, plötzlich wieder vereint. »Was ist denn?«

»Ach, vergesst es.«

Sie winkte ab.

Malte griff die nächsten Schnipsel und Blätter und wollte sie gerade in den Container werfen, als Nike ein lautes »Stopp!« rief. »Nicht wegwerfen, die brauche ich noch!«

Malte und Lukas sahen einander an, von schlechter Laune keine Spur mehr.

»Woher soll ich das wissen? Dann darfst du sie eben nicht in den Müll werfen«, maulte Malte und Lukas nickte. »Was willst du denn mit dem ollen Zeug? Glaubst du wirklich, da steht was Interessantes drin?«

Ihr Mann sah sie zweifelnd an, was Nikes Rebellenherz erst recht anstachelte.

»Ja, ich halte das für wichtig. Und jetzt gib mir bitte die Blätter.«

Sie nahm die Seiten entgegen, strich das oberste Blatt glatt.

Ich wollte die Alpen sehen und die Nordsee, wollte Venedig besuchen und den Eiffelturm in Paris.

In den Worten schwang eine Sehnsucht mit, die Nike stark berührte.

Ich wollte all das, was ich niemals würde haben können.

Es war völlig egal, was Lukas davon hielt – sie würde die Blätter aufheben und zusammenpuzzeln. Und sie würde erst Ruhe geben, wenn sie das Geheimnis des Tagebuchs gelöst hatte.

 

Den Rest des Nachmittags verbrachte sie im Staudenbeet, um den lästigen Giersch einzudämmen und Verblühtes abzurupfen. Chester lag auf der Gartenbank und ließ sich von der Sonne wärmen, und selbst die vorwitzige Blaumeise, die immer wieder auf dem Terrassentisch umherstolzierte, konnte ihn nicht aus der Ruhe bringen.

Erst als Nike sich mit einer Flasche Wasser dazusetzte, erhob sich der Kater gemächlich, sprang leichtfüßig von der Bank und trottete dann hinüber in sein heimisches Revier.

Nike sah ihm kopfschüttelnd hinterher und nahm einen großen Schluck aus der Wasserflasche. Dabei fiel ihr Blick auf die Stelle, an der der Kater den halben Nachmittag gelegen hatte.

Da lag eine der Seiten aus dem Tagebuch. Sie musste ihr wohl aus der Hosentasche gerutscht sein. Nike dachte an Jutes Spruch mit dem Aufwachen nach einem Vollrausch. Daran, dass man am nächsten Tag nicht wusste, wo man sich befand.

Ihr selbst war so etwas nie passiert, Jute und Pit aber schon, das hatten sie oft genug erzählt. Und Rob und Lukas? Die beiden kannten sich seit der Oberstufe und waren seitdem beste Freunde. Sie waren nicht immer Polizisten gewesen und aus verschiedenen Erzählungen reimte sie sich zusammen, dass weder Rob noch Lukas als Abiturienten Gelegenheiten ungenutzt verstreichen ließen. Egal, ob es sich um Mädchen, Alkohol oder Kiffen handelte.

Sie selbst hatte zwar ebenfalls kaum eine Party ausgelassen, doch gegen ihre Schwester waren ihre eigenen Versuche der Auflehnung geradezu kindisch gewesen. Ihre Eltern hatten sich mehr als einmal gefragt, warum ihre Zwillingstöchter nicht nur gegensätzlich aussahen, sondern sich auch so benahmen.

Nike nahm die Tagebuchseite in die Hand.

Es hatte sich nach einem Reisetagebuch angehört und sie war neugierig, wer da auf der Reise gewesen war. Sie setzte sich und legte die Füße gekreuzt auf den Tisch. Während sie das Wasser direkt aus der Flasche trank, betrachtete sie das Blatt.

Erst gebe ich ihm Geld, und dann liege ich heulend da und will wieder nach Hause?

Das klang nicht gut und Nike ließ das Blatt sinken. Die Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, schob sie schnell beiseite. Wurde hier ein Missbrauch angedeutet?

Sie drehte die Seite um und überflog die eng beschriebenen Linien auf der Suche nach einem Namen oder einem Ort.

Freiheit.

Ich habe mir immer vorgestellt, wie sie sich wohl anfühlt.

Nike stand auf und ging ins Bad, um die Taschen ihrer Jeans zu durchwühlen. Ein paar Schnipsel fand sie noch, doch es würde ewig dauern, sie zu sinnvollen Seiten zusammenzustellen.

Bevor sie die Blätter sortieren konnte, klingelte ihr Handy.

Sie war versucht, den Anrufer einfach zu ignorieren, aber es konnte auch ihre Chefin oder jemand anderes aus dem Mutter-Kind-Heim sein.

Doch auf dem Display erschien Nesrins Bild und Nike nahm den Anruf entgegen.

»Nesrin! Was hast du auf dem Herzen?«

Sie setzte sich mit dem Telefon auf das Sofa und legte die Beine hoch. Ein Gespräch mit ihrer langjährigen Freundin dauerte selten weniger als eine halbe Stunde. Doch heute kam Nesrin erstaunlich schnell zur Sache.

»Kannst du mir für heute Abend deine Lederhose leihen? Die du manchmal auf Konzerten anhast«, sprudelte ihre Freundin los und Nike ahnte schon, worum es ging.

»Du hast ein Date? Kenne ich den Glücklichen?«

Nesrin lachte.

Sie erzählte Nike von ihrem aktuellen Flirt, und die beiden Freundinnen kamen von einem Thema zum anderen. So wie eigentlich immer.

Nach dem Telefonat schlüpfte sie in ihre Laufsachen, um eine Runde um die nahe gelegenen Unigebäude zu drehen. Die Blätter legte sie beiseite, ohne sich noch einmal damit zu beschäftigen.

 

 

Kapitel 4

 

Malte hatte sich mit der Situation abgefunden, dass er diesmal nicht mit seinem Kumpel Jan nach Müngersdorf ins Stadion fahren konnte. Trotzdem hatte er eine grummelige Miene aufgesetzt, als wollte er sie mit schlechter Laune bestrafen.

»Da seid ihr ja endlich!«

Sie waren nicht einmal ausgestiegen, da stand Brigitte schon an der niedrigen Gartenpforte und empfing sie. »Hajo wartet schon auf euch!«

»Hallo, liebste Schwiegermutter!«

Lukas ging auf Brigitte zu, nahm sie in den Arm und gab ihr rechts und links ein Wangenküsschen. Wie immer war sie seinem Charme sofort erlegen und öffnete das Törchen, um sie einzulassen.

»Ihr könnt direkt auf die Terrasse gehen, Hajo wartet schon. Er ist nämlich schon ein bisschen aufgeregt«, fügte sie hinzu und schien nicht zu merken, wie hektisch sie selbst wirkte.

»Hallo Mama. Wir haben doch erst halb drei! Oder sind die anderen Gäste etwa schon da?«

Nike schlängelte sich an ihrer Mutter vorbei und betrat den Garten. Der Rasen war frisch gemäht, die Rosenrabatte gestutzt und von vollen Blüten in orange, gelb und weiß gerahmt. Es duftete wahnsinnig gut und Nike blieb einen Moment stehen, um das Werk ihrer Mutter zu begutachten.

»Wie du das immer schaffst«, seufzte sie. »Meine Rosen sind nicht so blühfreudig, egal, was ich mit ihnen mache.«

»Du musst dich einfach mehr darum kümmern. Die Rose ist nicht umsonst die Blume der Liebe! Und sie bedanken sich mit betörendem Duft für die Pflege.«

Brigitte strahlte sie an, als ob ihr der unterschwellige Vorwurf nicht bewusst wäre. Doch Nike hatte ihn gehört. Jahrelange Übung.

»Dann sind mir meine Rosen wohl nicht wichtig genug«, antwortete sie flapsig und ging an ihrer Mutter vorbei zur Terrasse.

»Hallo Paps! Die besten Glückwünsche zum Geburtstag! Wie geht es dir heute?«

Als sie ihn umarmte, spürte sie seine Knochen stärker als sonst. Hatte er schon wieder abgenommen? Sie richtete sich auf und betrachtete ihren Vater. Das weiße Hemd war faltenfrei, unter den kurzen Ärmeln lugten dünne, braungebrannte Arme hervor.

»Gut, mein Kind. Alles ist in Ordnung. Schließlich wird man nicht jeden Tag neunundsechzig! Den Salat kannst du in die Küche bringen, Brigitte hat ein kleines Buffet aufgebaut.«

Nike kam der Aufforderung nach und betrat über die Terrasse die Küche.

Hier hatte sich in all den Jahren nichts geändert. Der Raum hatte noch den beigebraunen Charme der Achtziger, selbst die Kacheln mit dem Gänsemotiv hingen schon seit fast dreißig Jahren als Spritzschutz hinter dem Herd. Der Induktionsherd war das einzige Zugeständnis an die moderne Technik. Nike erinnerte sich noch genau daran, wie sehr sich Brigitte gegen diese Neuerung gewehrt hatte. Irgendwann war sie Lukas' Argumenten erlegen, und Vics damaliger Freund hatte irgendein Angebot »geschossen«, wie er es genannt hatte.

Ansonsten sah das ganze Haus so aus wie damals, als sie und Vic hier gewohnt hatten. Veränderungen waren ihren Eltern schon immer suspekt gewesen. Als Malte noch klein war, hatte sie oft ihre eigene Kindheit reflektiert. Kaum vorstellbar, welche Belastung das erwartbare Durcheinander von Zwillingen im Kleinkindalter für ihre auf Beständigkeit bedachten Eltern gewesen sein mochte.

»Hätte Malte nicht wenigstens heute auf sein Fußballhemd verzichten können?«

Brigitte war unbemerkt aus der Diele in die Küche gekommen und warf stirnrunzelnd einen Blick auf Nikes Nudelsalat.

»Du kennst ihn doch«, antwortete sie ausweichend. Wohl wissend, dass ihre Eltern dem einzigen Enkel sowieso alles durchgehen ließen. Sogar ein Trikot des FC Köln am Geburtstag seines Großvaters.

»Ein ordentliches Hemd wäre aber angemessen gewesen.«

Brigitte holte Salatbesteck, rührte in Nikes Salatschüssel und warf einen kontrollierenden Blick auf die kleine Menge auf dem Löffel.

»Du hast auch nicht zu viel Salz drangetan, oder? Du weißt ja, dass Hajo wegen seines Blutdrucks aufpassen muss.«

Ohne Nikes Antwort abzuwarten, holte sie ein Stück Küchenrolle, um den Rand der Schüssel sauber zu wischen. Nicht auszudenken, wenn Pestoreste am Schüsselrand das ganze Buffet verderben würden!

Nike schluckte eine Bemerkung und richtete die Servietten rechtwinklig zur Tischkante aus. Wenn pingelig, dann richtig!

»Wann kommt Vic?«

»Sie ist noch auf einem Seminar und kommt wahrscheinlich etwas später«, erklärte Brigitte. »Aber ich bin ja schon froh, dass sie überhaupt kommt. Dass sie immer so weit weg arbeiten muss.«

Zum Glück ging sie nicht weiter darauf ein, denn Nike kannte den Rest. Brigitte konnte es einfach nicht verwinden, dass Victoria sich als freischaffende Künstlerin über Wasser hielt und nicht wie ihre Eltern die Beamtenlaufbahn eingeschlagen hatte. Die ständige Sorge um die Zukunft ihrer Tochter brachte sie manchmal an den Rand der Verzweiflung. Da half auch gutes Zureden nicht.

»Habt ihr schon Getränke nach oben geholt, oder soll ich eben in den Keller gehen?«, fragte Nike, um von Victoria abzulenken.

»Ich habe Lukas und Malte damit beauftragt. Du kannst nach draußen gehen und den Sitz der Tischtücher überprüfen. Wir haben leider nicht mehr alle Tischtuchklemmen gefunden.«

»Mache ich!«, antwortete Nike und verschwand nach draußen, froh, dem Gespräch ihrer Mutter über ordentliche Tischtücher und bekleckerte Schüsselränder zu entkommen.

 

Es war lange her, dass Nike und Victoria miteinander geredet hatten. Victoria hatte zwar ein kleines Apartment in Siegen, war aber beruflich viel unterwegs.

---ENDE DER LESEPROBE---