Kultur und Freiheit -  - E-Book

Kultur und Freiheit E-Book

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Beschreibung

An vielen Orten der Erde werden Freiheitsrechte mit zunehmend unverblümter Offenheit eingeschränkt und verletzt. Selbst in Mitgliedstaaten der Europäischen Union wächst der Druck gegen Kunstschaffende und Intellektuelle, die sich nationalistisch grundierten Narrativen kritisch entgegenstellen. Digitale Technologien bieten staatlichen Instanzen bisher ungeahnte Möglichkeiten der Überwachung und der Zensur. Digitale Kommunikation eröffnet völlig neue Freiheitsräume, potenziert aber zugleich die Wirkung von Vorurteilen und politisch gesteuerter Desinformation. Es scheint, als greife die Beschränkung der Freiheit zunehmend auch auf die Räume über, in denen die kulturelle Selbstreflexion unserer Gesellschaften stattfindet. Die Autorinnen und Autoren aus den Bereichen Wissenschaft, Politik, Kunst und Kultur setzen sich in unterschiedlichen Perspektiven und anhand konkreter Analysen mit dieser Entwicklung auseinander. Ihre Beiträge machen die Einschränkungen deutlich, die sich schleichend, kaum verhüllt oder auch mit offenkundiger Gewalt gegen das Grundrecht auf freie Entfaltung von Kunst und Kultur richten und stellen Überlegungen an, wie die Freiheit für Kunst- und Kulturschaffende geschützt und gefördert werden kann.

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Roland Bernecker und Ronald Grätz (Hg.)

Kultur und Freiheit

Beschreibung einer Krise

Steidl

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Roland Bernecker und Ronald Grätz: Kultur und Freiheit – Einleitung

Jens Hacke: Krise der Demokratie, Krise der Freiheit?

Wolfgang Kaschuba: Die Stadt – Heimat aller Minderheiten

Tobias J. Knoblich: Kunst der Freiheit

Ulrike Guérot und Marie Rosenkranz: Freiheit unter Beschuss, Gleichheit unter dem Radar

Sara Whyatt: Die Kanarienvögel in den Kohleminen

Mary Ann DeVlieg: Wer wenn nicht wir?

Odila Triebel: Die Freiheit frei zu sein

Bernd Scherer: Laboratorien der Subjektivität

Gerhart R. Baum: Angriff von rechts

Johannes Ebert: Freier leben – weltweit

Maik Müller und Maximilian Röttger: Farbe bekennen: Die Martin Roth-Initiative

Okaka Dokotum: Eine Liaison Dangereuse – Musik und Politik in Uganda

Mohamed Anwar: Der Dorn im Auge

Jürgen Trabant: Sprache(n) der Freiheit

Olaf-Axel Burow: Von Credit-Point-Jägern zu Zukunftsgestaltern

Matthias Koenig: Religionsfreiheit und kulturelle Vielfalt

Dirk Lewandowski: Im Netz der Algorithmen

Christian Krell: Freiheit braucht Spielregeln

Heidi Schelhowe: Kulturelle Medienbildung

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Bildnachweis

Impressum

Kultur und FreiheitEinleitung

»Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, und das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.«

— Perikles

Von Ketten und Felsen

Ein Buch zum Thema »Kultur und Freiheit« herauszugeben – das kann ebenso zeitgemäß wie unbescheiden anmuten. Die Aktualität der Fragestellungen, die sich aus der Konfrontation beider Begriffe ergeben, leuchtet unmittelbar ein. Wir erleben eine Krise der Freiheit, und wir sind in mancher Hinsicht auch Zeitgenossen einer kulturellen Krise als Krise der Freiheit. Es genügt, an die informationstechnologische Transformation unserer gesamten Lebenswelt zu denken, deren tatsächliche Reichweite wir bisher nur erahnen, die aber bereits unseren Alltag und unser Lebensgefühl umfassend kolonisiert. Von welcher Kultur, von welcher Freiheit soll die Rede sein? Indem wir Kultur und Freiheit zum Thema machen, begeben wir uns in eine kritische Höhenlage der Abstraktion. Beide Begriffe sind so fordernd wie unscharf, beiden eignet eine provozierende Prätenziosität.

Es ist paradox, dass die Begrifflichkeiten umso vager und unbestimmter werden, je tiefer ihre Bedeutung für unsere Selbstvergewisserung reicht. Wir dürfen diese Begriffe und die sie umgebenden semantischen Gravitationsfelder aber nicht unterschätzen. Die Vagheit der Begriffe Kultur und Freiheit ist die Kehrseite ihrer Relevanz. Dass sie uns zunehmend unheimlich werden, liegt daran, dass wir viel in sie hineinlegen und viel aus ihnen herausnehmen. Ihre Bedeutung für unsere politischen Debatten verdankt sich nicht ihrer – zweifellos vorhandenen – rhetorischen Valenz. Sie liegt vielmehr in einem kritischen Gehalt, ohne den unsere Selbstbeschreibungen nicht auskommen. Kultur und Freiheit ziehen wir als fundamentale Kriterien für unsere Bewertung von Lebensqualität heran. Und schließlich haben sie auch einen großen Anteil an den politischen Programmen, mit denen wir unsere gesellschaftlichen Räume formatieren.

»L’homme est né libre, & partout il est dans les fers« – »Der Mensch ist von Natur aus frei, und doch überall in Ketten«. Mit diesem Paukenschlag von einem Satz beginnt Jean-Jacques Rousseau seinen Traktat zum Contrat social. Es ist einer der berühmtesten ersten Sätze, mit dem je eine philosophische Dissertation eröffnet wurde. Rousseau prangert einen fundamentalen und als Skandalon kaum zu überbietenden Widerspruch an: Freiheit ist das Recht, das dem Menschen von Geburt an eignet, gewissermaßen als eine konstitutionelle Befindlichkeit. Aber sie wird ihm nicht nur gelegentlich, sondern systematisch vorenthalten. Der Absolutheit des Wertes der Freiheit entspricht das absolute Ausmaß ihrer Missachtung, für deren Vergegenwärtigung Rousseau kein Bild geeigneter erscheint als das der besonders anschaulichen Form der Ketten.

180 Jahre später, in einem berühmten Traktat von Albert Camus, verwandeln sich die Ketten als Urbild menschlicher Unfreiheit im Zuge einer Neubewertung des Freiheitsproblems in ein modernisiertes Bild, das uns heutige – im permanenten Projektmodus laufende – Subjekte mehr anspricht: Das Bild des Sisyphos, der ebenso zwanghaft wie unentwegt und vergeblich einen Felsbrocken hangaufwärts rollen muss. Die Frage der Freiheit wird von Camus in eine existenzielle Dimension gewendet. Am Ende kommt er zu einer überraschenden Schlussfolgerung, die wiederum als einer der berühmtesten letzten Sätze in die Weltliteratur eingegangen ist: »Il faut imaginer Sisyphe heureux« – »Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen«.

Die Paradoxie hat sich umgekehrt. Der politischen Empörung Rousseaus entspricht bei Camus die Akzeptanz. Bei Rousseau ist der freie Mensch angekettet, bei Camus ist er dem Zwang ausgeliefert, einen Fels zu rollen, findet aber darin seine Freiheit. Das Einwilligen in die Unausweichlichkeit ist ein Akt der Befreiung. Diese Einwilligung wurde möglich, nachdem eine ebenso radikale Befreiung erfolgte: Die Befreiung von transzendenten Autoritäten. Das Eingeständnis, dass es keine göttlichen oder wie auch immer gearteten jenseitigen Autoritäten gibt – »cet univers désormais sans maître« –, auf die wir uns als Bedingung unserer Unfreiheit berufen könnten, macht uns selbst zur letzten Instanz. Im kosmischen Maßstab ist keine Macht verblieben, die uns noch für Klagen oder Petitionen zur Verfügung stünde. Freiheit ist der Prozess dieser Bewusstwerdung, sie ist eine Haltung. Man muss sie bewusst einnehmen und stellt damit vertraute Bindungen und Gewissheiten zur Disposition. Der Kampf gegen Gipfel, sagt Camus, vermag ein Menschenherz auszufüllen.

Ganz im Sinn des Kantischen sapere aude ist eine der Voraussetzungen für Freiheit der Mut, das auszuhalten, was einem in dieser Freiheit begegnet. Der Prozess der Bewusstwerdung, den Camus beschreibt, ist ein kultureller. Sowohl die auktoriale Struktur unserer Universen als auch die Wege unserer Emanzipationen sind kulturell vermittelt. Kultur hat die doppelte Funktion, ebenso sehr ein System zu unserer Entlastung von den Zumutungen der Freiheit zu sein, wie auch das kulturelle Instrumentarium bereitzustellen, das uns zur Wahrnehmung von Freiheit erst befähigt.

Zwei Begriffe von Freiheit

Die auch heute noch wirkungsmächtigste und heuristisch ergiebigste Auseinandersetzung mit der Vielschichtigkeit des Freiheitsbegriffs geht auf Isaiah Berlin zurück, der mit seiner Familie als Kind 1919 aus Riga nach London emigrierte und sich einen Namen als brillanter politischer Intellektueller machte. Seine Analysen aus den USA für die britische Botschaft veranlassten Churchill, ihn 1944 zu einem Mittagessen einzuladen, zu dem dann aber aufgrund einer berühmt gewordenen Verwechslung der Komponist von »White Christmas«, Irving Berlin, erschien. Seine Antrittsvorlesung an der University of Oxford am 31. Oktober 1958 widmete Isaiah Berlin Überlegungen zu »Two Concepts of Liberty« – zwei Freiheitsbegriffen, denen eine bemerkenswerte Wirkungsgeschichte beschieden war. Quentin Skinner nennt den Essay von Berlin »den mit Abstand wichtigsten Beitrag, der in unserer Zeit zu diesen Fragen publiziert wurde«.1 Die Wirkkraft seiner Analyse ist auch darauf zurückzuführen, dass Berlins Blick geschärft war von seiner Zeitgenossenschaft einer Epoche, die weitreichende und konkrete Anschauungen für radikale Infragestellungen des Freiheitskonzepts bot. Berlin plädiert für einen sorgfältigen Umgang mit ideellen Konzepten wie Freiheit. Zu oft würden diese unterschätzt. Ideen sind in seinen Augen ein Gefahrengut, weil »frei florierende, von ihren Hütern — den ausgebildeten kritischen Denkern — vernachlässigte Ideen eine enorme Eigendynamik erlangen und die Massen unwiderstehlich in ihren Bann ziehen können, so daß keine rationale Kritik mehr dagegen ankommt.«2 Es war die konkrete Erfahrung totalitärer Ideologien und der von ihnen ausgelösten »Eruptionen der Humangeschichte«, die Berlin veranlassten, sich mit dem »klassischen Zentralproblem der Politik zu befassen: dem Problem von Zwang und Freiheit«.3

An der Zentralität dieses Problems hat sich nichts geändert. Aber die Perspektiven haben sich verschoben. Daher ist es von Interesse, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, wie Berlin das Freiheitsproblem aufgeschlüsselt hat.

Berlin geht von der Unterscheidung in negative und positive Freiheit aus. Negative Freiheit ist die Freiheit von äußeren Zwängen. Sie ist Handlungsfreiheit als Abwesenheit von Einschränkungen, die mir von außen auferlegt werden – zum Beispiel mit den Ketten Rousseaus. Dieses Grundverständnis von Freiheit als der »Domäne ungehinderten Handelns« liegt auch dem liberalen Gesellschaftsverständnis zugrunde, wie es von Denkern wie Hobbes, Locke und Mill entwickelt wurde. Es ist grundlegend für die Offenheit der Räume zur künstlerischen Arbeit. Nach dem Prinzip der negativen Freiheit gilt, dass es keinen Grund gibt, die Freiheit von Einzelnen zu beschränken, solange daraus keinem anderen Schaden entsteht. Dies betrifft die Redefreiheit, die Bewegungsfreiheit und insbesondere auch die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks. Negative Freiheit bedeutet: Man wird nicht gehindert, etwas zu tun, das man aus eigener Entscheidung tun will. Das heißt aber noch nicht, dass man es auch tun kann. Hier öffnet sich ein Gelände mit komplexen ethischen und politischen Fragen. Ein Mangel an Ressourcen etwa ist in diesem engen und grundlegenden Verständnis der negativen Freiheit keine Einschränkung von außen. Nicht gehindert zu werden, ist eine Sache. Über notwendige Ressourcen für etwas zu verfügen, eine andere. Negative Freiheit gibt damit die Antwort auf die Frage: »Wie weit reicht die Privatsphäre – von Menschen oder Gruppen –, in die niemand eingreifen darf?« 4

Beim positiven Freiheitsverständnis geht es darum, was wir mit unserer Freiheit anfangen. Es beschreibt die Freiheit zu etwas. Welche Ziele kann und will ich mir geben, welche Zwecke will ich verwirklichen und welche Mittel will ich dazu einsetzen? Die Frage ist nicht, ob ich daran gehindert werde, etwas zu tun, sondern ob ich selbst darüber entscheiden kann, welches Leben ich führen möchte. Die »positive« Bedeutung des Begriffs »Freiheit« verdankt sich dem Wunsch, nicht von äußeren Kräften abhängig sein:

»Ich möchte meinen eigenen Willen durchsetzen, nicht den anderer; ich möchte Subjekt, nicht Objekt sein, möchte eigenen Gründen und bewußten Absichten folgen, nicht gleichsam von außen einwirkenden Ursachen. Ich möchte jemand, statt niemand, möchte ein Akteur sein, der autonom entscheidet, anstatt für sich entscheiden zu lassen.«5

Diese Dimension der Freiheit ist es, die sich der Sisyphos von Camus mit seiner Zustimmung zu einer Situation erschließt, indem er sie sich mit seiner Entscheidung zu eigen macht.

Die Unterscheidung in negative und positive Freiheit ist ein reduktionistisches heuristisches Konstrukt. Es gibt Überschneidungen zwischen beiden. Es gibt weitere mögliche Aspekte, die man differenzieren und Dimensionen, die man entwickeln kann. Es gibt neben diesen beiden dritte und vermutlich auch vierte Freiheiten. Der besondere Wert dieser speziellen binären Unterscheidung liegt darin, dass sie die deutliche Erfassung eines grundlegenden, politisch besonders relevanten Problems ermöglicht. Beide Perspektiven verhalten sich nämlich nicht einfach komplementär zueinander. Vielmehr haben sich das negative und das positive Verständnis von Freiheit »so weit auseinander entwickelt, dass sie in offenen Konflikt miteinander geraten sind«.6 Der positive Begriff von Freiheit kann nämlich so verstanden werden, dass sich mit ihm auch die Einschränkung der negativen Freiheit begründen lässt. Die angeblich höhere Freiheit politischer Zwecke lässt sich gegen den individuellen Freiheitsraum des Individuums wenden. Darin sieht Berlin eine Grundfigur der »Eruptionen der Humangeschichte« des 20. Jahrhunderts.

Vom Republikanismus zum Liberalismus

Nicht ganz 150 Jahre vor der einflussreichen Antrittsrede von Isaiah Berlin hat Benjamin Constant, eine der Gründergestalten des modernen Liberalismus7, denselben Konflikt beschrieben. Auch im Fall von Constant haben wir es nicht mit einer akademischen Sondierung zu tun, sondern mit der Verarbeitung einer außergewöhnlichen historischen Konstellation, die Constant als Zeitgenosse und zum Teil als direkt beteiligter politischer Akteur miterlebt hat. Diese reichte von der Französischen Revolution über die napoleonische Ära bis zu der dann folgenden europäischen Restauration. Interessant ist, dass auch Constant seine Analyse (»De la liberté des Anciens comparée à celle des Modernes« – »Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen«) wie Berlin als Rede vortrug, gehalten 1819 im Pariser Athénée royale.

Das antike Verständnis von Freiheit war für Constant ein republikanisch-kollektives: »Le but des anciens était le partage du pouvoir social entre tous les citoyens d’une même patrie: c’était là ce qu’ils nommaient liberté« – Ziel für die Alten war die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger desselben Vaterlandes an der politischen Selbstbestimmung.8 Dafür war man in der Antike bereit, erhebliche Opfer im Bereich der persönlichen Freiheit zu bringen. So war dieses kollektive Freiheitsverständnis kompatibel mit der »vollständigen Unterwerfung des Individuums unter die Autorität der Gemeinschaft. […] Jeder spürte mit Stolz das Gewicht der eigenen Stimme und fand im Bewusstsein dieser persönlichen Bedeutung eine reiche Entschädigung«.9

In der »Moderne« des Jahres 1819, so Constant, war diese Form der unmittelbaren politischen Partizipation nicht mehr möglich. Sie entfiel als Entschädigung für die enge Sozialkontrolle durch das republikanische Kollektiv. In der Massengesellschaft der multitude hätten wir das Gefühl dafür verloren, im politischen Geschehen noch eine Rolle zu spielen: »Das Individuum verliert sich in der Menge und spürt so gut wie nichts mehr von dem Einfluss, den es ausübt. Sein Wille prägt die Gemeinschaft nicht mehr, seine Mitwirkung ist ihm nicht mehr erkennbar. Die Ausübung unserer politischen Rechte verschafft uns also nur noch einen geringen Teil des Vergnügens, das sie den Alten bot, und zugleich haben die Fortschritte der Zivilisation, die gegenwärtige Neigung zur Handelstätigkeit und die Verständigung der Völker untereinander die Möglichkeiten des privaten Glücks zahlreicher und vielfältiger gemacht. […] Das Ziel der Modernen ist die Sicherheit in den privaten Annehmlichkeiten; Freiheit nennen sie die Garantien, die ihnen hinsichtlich dieser Annehmlichkeiten von den Institutionen gegeben werden«.10

Ein wichtiger Grund für die Verschiebung des Verständnisses von Freiheit ist nach Constant die zunehmende Bedeutung des Handels. War in der Antike noch der Krieg die politisch wichtigste Form der Interaktion zwischen Völkern, so wurde in seinen Augen in der Moderne der Krieg vom Handel abgelöst. Constant betrachtet Handel nicht nur als friedlichere, sondern auch als effizientere Form des Austauschs. Der Handel ist für ihn ein zentraler Motor der Entwicklung eines modernen, individualistischen Freiheitsbegriffs. Handel setzt auf den Unternehmergeist und verändert die Formen von Eigentum, was sich unmittelbar auf das Freiheitsverständnis auswirkt. Constant gibt dabei eine interessante Einschätzung der zunehmenden Verschiebung im Verhältnis von Macht und Geld. Die Schwächung politischer Macht zugunsten des vom Handel generierten Reichtums bringt nach seinem Urteil einen friedfertigen Kosmopolitismus hervor. Er träumt den liberalen Traum von der »guten« Globalisierung:

»Macht bedroht, Reichtum belohnt: Der Macht entkommt man, indem man sie täuscht; um dasselbe zu erreichen, muss sich die individuelle Existenz weniger mit der politischen Existenz abgeben. Die Individuen verlagern ihre Schätze in die Ferne und nehmen alle Annehmlichkeiten des privaten Lebens dorthin mit. Der Handel hat die Nationen angenähert und ihnen nahezu gleiche Sitten und Gewohnheiten gegeben: Die Oberhäupter können verfeindet sein – die Völker teilen ein Vaterland«.11

Diese optimistische Einschätzung der Ethik des globalen Handels und einer strikten Trennung von der Sphäre der Politik dürfte heute nur noch von den wenigsten geteilt werden.

Aus der zunehmenden Komplexität der sich modernisierenden Gesellschaften und ihrer hohen ökonomischen Dynamik zieht Constant die Schlussfolgerung, dass politische Mitwirkung nur noch über repräsentative Formen sichergestellt werden kann. Er verbindet die Delegation von politischer Verantwortung aber mit einer eindringlichen Warnung. Das moderne, mit der Verfolgung seiner eigenen Geschäfte vollständig ausgelastete Individuum müsse aufpassen, dass sich die politischen Autoritäten nicht zu stark in das private Leben einmischten. Hier teilt er die grundsätzlichen und ausdrücklichen Bedenken, wie sie dann in der Folge auch Isaiah Berlin aufgenommen hat:

»Die Gefahr der modernen Freiheit besteht darin, dass wir zu leicht auf unser Recht zur politischen Teilhabe verzichten, weil wir mit dem Genuss unserer privaten Unabhängigkeit und der Verfolgung unserer eigenen Interessen allzu beschäftigt sind. Die politischen Autoritäten bestärken uns in diesem Verzicht. Sind sie doch allzu bereit, uns diese Mühen abzunehmen, mit Ausnahme der, zu gehorchen und zu zahlen! Sie werden uns sagen: Was ist denn der tiefere Sinn eurer Mühen, das Motiv eurer Anstrengungen, das Objekt all eurer Hoffnungen? Ist es nicht das Glück? Nun denn, lasst uns gewähren, und wir werden euch dieses Glück verschaffen. Nein, meine Herren, wir lassen euch nicht gewähren. Wie berührt man auch von einer so wohlmeinenden Fürsorge sein könnte: Wir bitten die Autoritäten, innerhalb ihrer Grenzen zu bleiben. Sie sollen sich darauf beschränken, gerecht zu sein. Wir kümmern uns selbst um unser Glück!« 12

Kritik der positiven und negativen Freiheit

Von Jakob Taubes ist überliefert, er habe Studierende dazu angehalten, »in jedem bedeutenden Werk nach dem Satz zu suchen, um dessentwillen es geschrieben sei«.13 In Berlins Two Concepts of Liberty ist es der Gedanke: Negative und positive Freiheit sind nicht zwei Gradierungen eines Konzepts von Freiheit, »vielmehr prägt die markante Differenz zwischen ihnen den zentralen ideologischen Konflikt der gegenwärtigen Welt.«14 Dieser Konflikt besteht darin, dass die negative Freiheit zwar nur einen Ausschnitt dessen erfasst, was wir heute unter Freiheit verstehen. Es ist aber der Ausschnitt, der grundlegend ist für unseren Handlungsspielraum als Individuen und für unsere intuitive Wahrnehmung von Freiheit. Der positive Begriff von Freiheit hingegen – und das ist die unmissverständliche Pointe von Berlins gedanklich dichten Ausführungen – schlägt leicht um in die Freiheit zu einer vorgeschriebenen Lebensform, in einen Vorwand für »brutalste Tyrannei«:

»So kann man sich leicht einreden, andere zu ihrem Glück zwingen zu müssen: nicht im eigenen, sondern nur in ihrem Interesse. Damit geht häufig das Postulat einher, besser als sie selber zu wissen, was gut für sie ist, so daß sie als wahrhaft kluge, vernünftige Menschen gar nichts dagegen einzuwenden hätten. Man kann allerdings noch erheblich weiter gehen und behaupten, sie strebten eigentlich etwas an, das sie in ihrer Umnachtung vehement ablehnten. Tief in ihrem Innersten wirke nämlich etwas Okkultes – ihr latenter rationaler Wille oder ihr ›wahres‹ Motiv. Obwohl dem alles widerspreche, was sie bewußt empfänden, täten oder äußerten, sei das ihr ›wahres‹ Selbst, von dem das armselige empirische Ich in Raum und Zeit wenig oder gar nichts wisse.« 15

Es wird deutlich, dass Berlin an Constant anknüpft. Die positive Freiheit impliziert tendenziell eine asymmetrische Erkenntnissituation. Damit schafft sie die Legitimität für eine asymmetrische Machtkonstellation. Letztlich werden nur Autoritäten und politisch sanktionierte Institutionen mit ihrer höheren verbürgten Rationalität in der Lage gesehen, angemessene Zwecke der Freiheit zu bestimmen. Der Begriff der positiven Freiheit ermöglicht es ihnen, dass sie dies vorgeblich im Interesse aller Betroffenen tun. Dabei kommt es dann gar nicht mehr darauf an, zu welcher Einschätzung diese selbst bezüglich ihrer Wahl kämen. »Dieser perfide Betrug – X’s fiktive Entscheidung als jemand, der er zumindest noch nicht ist, mit dem gleichzusetzen, was er faktisch anstrebt oder wünscht – prägt alle politischen Theorien über Selbstverwirklichung.«16 Diese in ihrer Tendenz totalitäre Beherrschung der menschlichen Freiheitsräume ist es, was Berlin zufolge die rationalistische politische Theorie seit ihren Anfängen in der griechischen Antike implizit immer schon gewollt habe: »Im Prinzip könne es nur eine richtige Lebensform geben.«17

Es ist im Sinne der ideologiekritischen Intention von Berlin notwendig, sich die Gegenposition zu diesem Konzept der Freiheit zu veranschaulichen. Mit dieser Gegenposition, die heute wieder vermehrt Anklang findet, sind nicht die Erweiterungen und zum Teil auch Relativierungen seines Konzepts gemeint, wie sie Quentin Skinner mit einem Third Concept of Liberty, Axel Honneth mit einem erweiterten Konzept einer »kommunikativen Freiheit« oder Judith N. Shklar mit ihrem prägnanten »Liberalismus der Furcht« – der übrigens die Grundintention von Berlin aufnimmt: die Immunisierung gegen politische Gewalt – in Auseinandersetzung mit Berlin entwickelt haben, und die an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden können.

Es kommt hier darauf an, die Gegenposition zu erfassen, wie sie etwa Charles Taylor in seiner philosophischen Anthropologie der Selbstverwirklichung vertritt. Für Taylor ist die Differenz zwischen dem wahren, authentischen Wollen der bewussten Selbstlenkung und dem meist weit dahinter zurückbleibenden tatsächlichen Niveau unserer Selbstentfaltung ein zentrales philosophisches Problem. Taylor setzt Freiheit mit echter Selbstverwirklichung gleich und gibt zu bedenken, dass es zur Bestimmung der Freiheit nicht ausreichen könne, zu tun, »was immer wir gerade wollen«. Denn frei seien wir nur, wenn wir das wollten, was unserem »wirklichen Willen« und unserem »wahren Selbst« entspräche: »Wir sind nicht frei, wenn wir durch Furcht, durch zwanghaft verinnerlichte Normen oder falsches Bewusstsein motiviert werden, unsere Selbstverwirklichung zu vereiteln.«18 Es reicht für die Bestimmung der Freiheit nicht aus, etwas zu wollen und es dann auch tun zu können. »Es ist zugleich erforderlich, dass das, was wir wollen, nicht unseren grundlegenden Zielen oder unserer Selbstverwirklichung zuwiderläuft«.19

Nun könnte man einwenden, dies sei ein Luxusproblem zum Beispiel für eine Journalistin, die wegen eines regimekritischen Artikels zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurde. Schwerer wiegt nach unserer Auffassung der grundsätzliche Verdacht, mit dem das Subjekt in dieser Theorie prinzipiell belegt wird: Nicht authentisch zu sein. Die Kategorien des wahren Willens und des wirklichen Selbst werden gegen jede mögliche Entscheidung des Subjekts in Anschlag gebracht. Taylors Menschenbild ist das eines konstitutiv defizitären Wesens, das sich stets in einer Schuld sich selbst gegenüber befindet.

Diesen Freiheitsbegriff könnte man therapeutisch nennen. Es geht wesentlich um die Beschreibung und Behebung von Defiziten der Selbstverwirklichung. Freiheit ist in diesem theoretischen Konzept die stete Bewegung hin zu größerer Authentizität. Man mag das durchaus einleuchtend finden. Dieser Freiheitsbegriff wird aber problematisch, wo er dem Subjekt die Zuständigkeit für sich selbst abspricht. Denn die Beschreibung und Behebung von Defiziten der Freiheit ist für Taylor nicht in erster Linie Sache des Individuums selbst, sondern von therapeutischen Instanzen, auf die das Subjekt in dieser Hinsicht angewiesen ist:

»Das Subjekt selbst kann in der Frage, ob es selbst frei ist, nicht die letzte Autorität sein, denn es kann nicht die oberste Autorität sein in der Frage, ob seine Bedürfnisse authentisch sind oder nicht, ob sie seine Zwecke zunichte machen oder nicht«.20

An dieser Stelle würde man einen Hinweis darauf erwarten, wer oder was diese letzte Autorität ist, wer diese Position gegenüber dem an chronischem Authentizitätsdefizit leidenden und daher therapiebedürftigen Subjekt einnehmen kann. Die Gesellschaft? Die Politik? Der Priester oder die Therapeutin? Die Frage bleibt offen. Vielleicht sind es die Philosophen. In dieser Konstellation muss man hoffen, dass die beratenden und helfenden Kräfte tatsächlich freundschaftliche und wohlmeinende sind und in ihrer präsumtiven Kenntnis der wahren Verwirklichungsziele des Subjekts weniger systematisch irren als dieses selbst. Letztlich ist aber nur schwer erkennbar, wie eine Instanz, die nicht das Subjekt selbst ist, diesen Prozess verantwortlich steuern und internalisieren soll. Denn der Schlüssel auch von erfolgreichen Therapien ist es, dass das betroffene Subjekt diese sucht, annimmt und den sich ihm anbietenden Einsichten zustimmen kann und will. Dem in dieser Hinsicht tatsächlich bedrängten und wie ein Sisyphos ringenden Subjekt ist jedenfalls nicht damit gedient, wenn man es mit schlechten Nachrichten aus der klinischen Praxis der angewandten Philosophie vollends entmutigt. Es ist viel menschenfreundlicher, das Subjekt zu der Beherztheit zu ermutigen, wie sie Camus im Sinn hatte.

Kann Freiheit überfordern?

Taylors Kritik der negativen Freiheit trifft sich mit einem konservativen Denken, das man etwas ungenau als kommunitaristische Tugendlehre bezeichnen könnte. Es sieht in dem erweiterten und auf den Handlungsspielraum des Individuums zielenden Freiheitsbegriff der Moderne und darüber hinaus in den Erscheinungsformen der kulturellen Moderne ein grundsätzliches Problem der westlichen Gesellschaften. Das Individuum sei mit der ihm zugewiesenen Freiheit überfordert. Daher ist die Insistenz auf dem persönlichen Freiraum, der dem Individuum im Konzept der negativen Freiheit zugesichert werden soll, für dieses Denken ein Irrtum und die Quelle des Übels. Sprach Taylor in diesem Sinne noch von einem »Irrtum der negativen Freiheit«, so steigert sich das in dem in dieser Hinsicht expliziten Text »The Politics of Virtue«21 von John Milbank und Adrian Pabst zu einer »Tyrannei der negativen Freiheit«.22 Interessanterweise hat die Tyrannei hier seit Isaiah Berlin die Seiten von der positiven zur negativen Freiheit gewechselt.

Diese zugespitzte Variante der Liberalismuskritik geht davon aus, dass die westlichen Gesellschaften zurzeit von manipulativen Eliten geführt werden. Das passt im Übrigen zu der ihr zugrunde liegenden Auffassung von der Unmündigkeit der Menschen im Allgemeinen. Hinter den liberalen Ideologien der Gegenwart und ihrer zersetzenden Wirkung auf die öffentliche Moral sehen Milbank und Pabst oligarchische Verbünde am Werk, die mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln diese degenerative Dynamik am Laufen hielten und dabei auch darauf achteten, dass ihr Einfluss nicht offenkundig werde.23 Es handelt sich hier nicht um krude Verschwörungstheorien, sondern um akademisch substantiierte, wenn auch insgesamt wenig stringente Analysen. Ganz im Sinne der Taylorschen Subjektdefizienz gehen Milbank und Pabst davon aus, dass es klarer gesellschaftlicher Hierarchien bedürfe und dass es Eliten geben müsse, die in diesen die Führung übernehmen. Es sind nach ihrer Auffassung nur offenbar die falschen Eliten, die sich im gegenwärtigen liberaldemokratischen System der westlichen Welt an die Spitze der Geschichte gesetzt und die Führung übernommen hätten. Kritiker von Eliten vermuten oft nur andere an der Stelle, an der sie sich selbst gerne sähen.

Wenn man von einer Krise der gegenwärtigen Gesellschaften ausgeht, die auch eine Krise der Freiheit wäre – und die Krise ist bekanntlich der Normalzustand jeder Gesellschaft – dann stellt sich die Frage, welches Bildungsprogramm als Perspektive für die Zukunft vielversprechender ist: Ein kommunitaristisches Tugendprogramm, in dem sich das Freiheitsstreben des Individuums den gesellschaftlichen Zwecken unterzuordnen hat, da ohnehin davon auszugehen ist, dass das Individuum nicht die oberste Autorität in der Frage sein kann, welches seine wahren Bedürfnisse sind, oder ein Bildungsprogramm, das auf das Erlernen des bestmöglichen Umgangs der modernen Subjekte mit ihrer größtmöglichen individuellen Freiheit und der selbstbewussten Wahrnehmung dieser Freiheitsräume setzt. Auch wenn man die beste Antwort irgendwo in der Mitte vermutet, so muss man sich im Klaren darüber sein, dass es sich um Perspektiven mit einer konträren und nicht durchweg zu vereinbarenden Logik handelt.

Wir halten es nicht für einen Zufall und schon gar nicht für einen Fehler im historischen Betriebssystem, dass sich die Lust zur Freiheit und an der Freiheit als unversiegliches und drangvolles Motiv menschlichen Handelns erwiesen hat. Die hochfliegende Freiheitsrhetorik all der Präambeln, Verfassungen und politischen Beschwörungen lügt insofern nicht, auch wenn die Wirklichkeit nur wenig davon tatsächlich einlöst. Die Last der Freiheit kann Sisyphos an niemanden abtreten. Camus’ relevanteste Erkenntnis aus der Reflexion des Mythos war schließlich die, dass es für unser Glück wesentlich ist, uns von den Meisterinnen und Meistern und all den Autoritäten zu befreien, die uns die Last unserer Einzigartigkeit abnehmen wollen.

Kultur und Freiheit

Die Begriffe der Kultur und der Freiheit verbindet nicht nur ihre Unschärfe und ihre Beliebtheit in den rhetorischen Höhenlagen. Beiden ist auch eine spezifische Problemstellung zwischen einer individuellen und einer kollektiven Perspektivierung eigen. Wie Benjamin Constant zeigte, hat sich unser Freiheitsverständnis von einem republikanisch-kollektiven der Antike hin zu einem individualistischen Verständnis der Moderne entwickelt, bei dem es mehr um die Freiräume geht, die die bürgerliche Person für sich selbst in Anspruch nimmt. Man kann von einer ähnlichen Entwicklung im Kulturverständnis sprechen. Auch das Kulturelle zerfällt bei näherer Betrachtung in die widerstrebenden Funktionen, zugleich das Kollektiv stützende Bindungswirkungen zu entfalten wie die kreativen Potenziale des sich singularisierenden Individuums zu valorisieren.

1982 wurde in Mexiko City auf einer UNESCO-Weltkulturkonferenz eine seither vielzitierte Erklärung verabschiedet. Es war auch die Konferenz, bei der ein kämpferisch gestimmter Jack Lang als Kulturminister der noch jungen Mitterand-Ära die Staatengemeinschaft für den Widerstand gegen den kulturindustriellen Imperialismus der USA zu mobilisieren versuchte. Diese von 129 Staaten formal indossierte Erklärung von Mexiko City enthielt eine gleich zweifache Erweiterung des Kulturbegriffs.

Kultur umfasse die »Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte« einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch »Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen«. Diese Ausdehnung der kulturellen Valorisierung zum sogenannten »erweiterten Kulturbegriff« bezog sich auf die Gegenstände und Elemente, die der kulturellen Sphäre eines Kollektivs zuzurechnen sind. Nicht mehr nur noch die musealen Höhenkämme der Kulturproduktion, die kanonischen, schulbildenden Werke, sollten als kulturell relevant betrachtet werden. Auch die Codes der Ebenen, das, was Michel de Certeau zuvor an anderer Stelle als kulturelle Taktiken des Everyday Life beschrieben hatte,24 seien als Bestandteil einer Kultur anzuerkennen. Dieses Verständnis, das alles andere als neu war und von der UNESCO lediglich formal registriert wurde, hat sich heute vollständig durchgesetzt. Die Kulturalisierung aller Dimensionen unserer Lebenswelt hat sich im Zuge des sogenannten cultural turn, also einer Betrachtung unserer Gesellschaften als letztlich vom Menschen selbst kulturell kodifizierter Systeme, nicht nur durchgesetzt, sondern auch noch weiter vervollständigt.

Interessant an der Kulturdefinition von Mexiko ist vor allem der zweite Teil. In ihm wagt sich die UNESCO als zwischenstaatliche Organisation an eine Erfassung der zentralen Rolle, die die Kultur für die Einzelnen spielt und die Einzelnen für die Kultur spielen. Die kritische Transzendierung vorfindlicher kultureller Setzungen durch individuelle Kreativität ist nicht das Lieblingsthema von Regierungsdelegationen oder von strukturellen Eliten, die im Status quo ihr Auskommen finden. Die Mexiko-Definition zielt in diesem zweiten Teil aber genau auf die Bedeutung, die Kultur für das Individuum in der unermüdlichen Exploration seiner unsicheren Freiheitsräume hat – wobei natürlich nicht unbemerkt bleibt, dass immer wieder Formulierungen eingeschleust werden, die eine teilweise Neutralisierung dieser subversiven Tendenz bewirken sollen.