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Beschreibung

An Phänomenen wie Pegida und der AfD zeigt sich deutlich der Rechtsruck, der zurzeit durch Deutschland geht. Die Ausbreitung rechter Ideologeme in der Mitte der Gesellschaft hat durch die aktuelle Flüchtlingspolitik einen gewaltigen Schub erhalten. Der Vertrauensverlust vieler Menschen in die politische Klasse ist aber nicht nur Ausdruck einer politischen Krise, sondern auch das Resultat der Krisenprozesse kapitalistischer Ökonomie in den letzten Jahren. Neurechte Gruppierungen und Netzwerke stehen bereit, diesen Menschen mit völkischer Ansprache Orientierung zu bieten. Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) widmet sich dem Thema ›Kulturkampf von rechts‹ in gewohnt kenntnis- und aufschlussreicher Art und Weise.

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Seitenzahl: 407

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Helmut Kellershohn/Wolfgang Kastrup (Hrsg.)

Kulturkampf von rechts

AfD, Pegida und die Neue Rechte

Edition des Duisburger Instituts für Sprach- undSozialforschung im UNRAST Verlag, Münster

Die Edition DISS wird im Auftrag des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung herausgegeben von Gabriele Cleve, Margarete Jäger, Siegfried Jäger, Helmut Kellershohn, Jobst Paul und Jens Zimmermann.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Helmut Kellershohn/Wolfgang Kastrup (Hg.)

Kulturkampf von rechts

Edition DISS Bd. 38

1. Auflage Oktober 2016

ebook UNRAST Verlag, April 2020

ISBN 978-3-95405-062-8

© UNRAST Verlag, Münster

Postfach 8020, 48043 Münster – Tel. (0251) 66 62 93

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Andreas Hollender, Köln

Umschlag: Unrast Verlag, Münster

Umschlagfoto: Ralf Hirschberger © pa/dpa

Inhalt

Vorwort

Teil I – Neoliberalismus, völkischer Nationalismus und ›Konservative Revolution‹

Zur Einführung

Helmut KellershohnNationaler Wettbewerbsstaat auf völkischer Basis. Das ideologische Grundgerüst des AfD-Grundsatzprogramms

Helmut KellershohnAutoritärer Liberalismus. Zum Zusammenhang von Neoliberalismus und ›Konservativer Revolution‹

Wolfgang KastrupFacetten des Neoliberalismus

Teil II – Kulturkampf von rechts: Akteure

Zur Einführung

Alexander HäuslerDie AfD und der europäische Rechtspopulismus. Krisensymptome politischer Hegemonie

Julian Bruns/Kathrin Glösel/Natascha StroblDie Identitären. Der modernisierte Rassismus einer Jugendbewegung der Neuen Rechten.

Helmut KellershohnGötz Kubitschek und das Institut für Staatspolitik

Mark HaarfeldtDie Rezeption von Pegida in Wissenschaft und Medien

Teil III – Kulturkampf von rechts: Themen

Zur Einführung

Jobst PaulDer Niedergang – der Umsturz – das Nichts. Rassistische Demagogie und suizidale Perspektive in Björn Höckes Schnellrodaer Rede

Andreas KemperGeschlechter- und familienpolitische Positionen der AfD

Rolf van RadenPegida-Feindbild »Lügenpresse«. Über ein massenwirksames verschwörungstheoretisches Konstrukt

Floris BiskampAntimuslimischer Rassismus als systematisch verzerrtes Kommunikationsverhältnis. Das Sprechen über den Islam zwischen Befreiung und Festschreibung

Teil IV – Was tun?

Zur Einführung

Richard Gebhardt»Bitte wählen Sie nicht AfD« – Der hilflose Antipopulismus und die gespaltene Republik

Floris BiskampDon’t Believe the Hype

Wolfgang KastrupDer enttäuschte Nationalismus der AfD

Marvin ChladaDas neoliberale Subjekt und die menschliche Würde. Erziehung zur Autonomie im Angesicht der Barbarei

Sebastian FriedrichFalsche Alternativen: Warum breite Bündnisse gegen die AfD keine Perspektive für Linke sind

Julia MeierDie AfD bekämpfen, bevor es zu spät ist. Eine Replik auf den Beitrag von Sebastian Friedrich

Über die Autor*innen

Anmerkungen

Vorwort

1. »Rechte Wutbürger im Kulturkampf«, so lautete der Titel des Kolloquiums des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS), das im November 2015 in der Akademie Frankenwarte in Würzburg stattfand. Das vorliegende Buch fußt zu einem großen Teil auf Vorträgen dieses Kolloquiums, einige aktuellere Texte sind hinzugekommen und auch der Titel wurde verändert zu »Kulturkampf von rechts«.

Es war das Ziel des Kolloquiums, die in Deutschland laut und deutlich gewordenen Protestbewegungen von rechts und die schon damals vorhandenen Wahlerfolge der AfD zu untersuchen. Erst recht durch die jüngsten Wahlerfolge dieser Partei wird die Ausbreitung rechter Ideologeme in der Mitte der Gesellschaft deutlich und signalisiert einen Rechtsruck in Deutschland. Der Verlust des Vertrauens auf Seiten vieler Menschen in die politische Klasse hat durch die Flüchtlingspolitik einen großen Schub erhalten, er war aber schon vorher, im Zusammenhang mit der Finanz-, Banken- und Eurokrise, nicht zu übersehen.

Diese Entwicklung ist nicht nur Ausdruck einer im engeren Sinne politischen Krise, sondern auch das Resultat der Krisenprozesse kapitalistischer Ökonomie in den letzten Jahren, die die durch den ›Westen‹ dominierte Weltordnung beeinträchtigen. Im globalisierten Kapitalismus wird es immer schwieriger, zwischen Zentren und Peripherie, zwischen nahen und fernen Regionen und zwischen trans- und innernationalen Krisenprozessen zu trennen. Die Folgen geopolitischer Spannungen mit regionalen Kriegen (u.a. in Syrien, Libyen, Mali und der Ukraine), bandenmäßigem Terror, zerfallenden Staaten und einem islamistischen Terrorismus erreichen daher auch unmittelbar die kapitalistischen Zentren. Millionen Flüchtlinge fliehen weltweit vor Krieg, Verfolgung, Armut und Perspektivlosigkeit, und sie fliehen, wenn sie nicht Binnenflüchtlinge sind, oftmals gerade in die Länder, in denen sie sich Schutz, Arbeit und Konsumverheißungen erhoffen. Die Menschen in den Wohlfahrtszonen des globalen Kapitalismus werden damit konfrontiert, ohne dass ihnen häufig bewusst ist, dass gerade solche Länder, wie etwa Deutschland, politisch wie ökonomisch eine große Mitverantwortung für diese Fluchtursachen tragen.[1]

In den führenden kapitalistischen Industrienationen selbst wird eine immer größer werdende Einkommens- und Vermögensungleichheit deutlich, mit prekären Berufsperspektiven, erheblichen sozialen Verwerfungen, einer sich zuspitzenden ökologischen Krise und in der Folge mit Machtverschiebungen im politischen System. In den kapitalistischen Ländern zeigen sich aufgrund dieser Unsicherheiten sowie angesichts ökonomischer und sozialer Abstiegs- und Konkurrenzängste Empörung, Wut und Hass gegenüber den anscheinend unfähigen politischen und gesellschaftlichen Eliten, es konzentrieren sich diese Affekte und Ressentiments aber häufig gegen Migrant*innen und Flüchtling*innen. Stimmengewinne für rechte, nationalistische und rassistische Parteien sind oftmals die Folge, was sich in etlichen Ländern der Europäischen Union zeigt. Spätestens nach den Wahlerfolgen der AfD im Frühjahr dieses Jahres in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt wird deutlich, dass der völkische Nationalismus auch in Deutschland auf dem Vormarsch ist. Begleitet wird diese Rechtsorientierung von gewaltsamen Angriffen auf Flüchtlinge und deren Unterbringungen durch einen radikalisierten Mob.[2] Neurechte Gruppierungen oder neonationalsozialistische Kader stehen bereit, diesen Menschen mit völkischer Ansprache Orientierung zu bieten.

2. Im Titel dieses Buches sprechen wir von einem »Kulturkampf von rechts«. Das bedarf einer Erläuterung. Es handelt sich hier nicht um einen Beitrag zur öffentlichen Debattenkultur, der »hart, aber fair« zu sein beanspruchen und eine entsprechende Gegenantwort von Seiten der Kontrahenten erwarten würde. Die rechten Protagonisten in und außerhalb der AfD wähnen sich vielmehr in »einem Kampf um die Vorherrschaft im eigenen Raum« (Götz Kubitschek), und das ist nun mal keine Debatte oder Diskussion im eigentlichen Sinne, sondern, soweit der Kampf mit intellektuellen Mitteln ausgetragen wird, ein »geistiger Bürgerkrieg«, der durch Überzeugung auf Gefolgschaft zielt. Dieser Bürgerkrieg findet in den zivilgesellschaftlichen Räumen und Institutionen, im vorpolitischen Raum statt; und hier die Oberhoheit zu gewinnen, d.h. das Denken möglichst vieler Menschen, ihre Lebensweise und Weltanschauung zu prägen, wird als Voraussetzung betrachtet, um die politische Macht zu erringen: entweder auf den Wegen, die die bestehende Verfassungsordnung bereit stellt, oder, unter Umständen, wenn die staatliche Ordnung sich auflöst und zerbricht, in einem realen Bürgerkrieg als ultima ratio. Der »Kulturkampf von rechts« ist also immer schon mehr als ein Kampf um die Werte und Normen, um den geistigen Überbau einer Gesellschaft, er ist immer schon mehr als nur ein Weltanschauungskampf, er zielt auf die Eroberung der politischen Macht und die Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne der rechten Protagonisten.

Nun wird mancher Leser bzw. manche Leserin kopfschüttelnd einwenden, was das denn mit dem einfachen AfD-Mitglied oder den ›kleinen Leuten‹, die bei Pegida mitdemonstrieren zu tun hat? Der Einwand ist berechtigt. Der »Kulturkampf von rechts« ist ein Konzept, und Konzepte werden, um Marx zu zitieren, von »konzeptiven Ideologen« entworfen. Genau das meint Björn Höcke, einer der rechten Protagonisten innerhalb der AfD, wenn er davon spricht, dass die Gruppierung, die er in der AfD verkörpert oder verkörpern will, eine »Avantgarde« sei, die sozusagen über den Tag hinaus denkt und Perspektiven entwirft, im Kampf gegen eine als »dekadent« gebrandmarkte Kultur. Das ist eine deutliche Ansage, und um die geht es in diesem Buch.

3. Der erste Teil des Buches befasst sich mit einigen ideologischen Aspekten der Rechtsentwicklung, Ausgehend von einer Analyse des ideologischen Grundgerüsts der AfD-Programmatik wird nach dem Zusammenhang zwischen der das Selbstverständnis der Akteure im real existierenden Kapitalismus derzeit dominierenden Ideologie des Neo- bzw. Ordoliberalismus und dem völkischen Nationalismus als dem gemeinsamen ideologischen Nenner rechtspopulistischer und extrem rechter Kräfte gefragt. In einer kleinen ideengeschichtlichen Untersuchung, die sich exemplarisch auf die Endphase der Weimarer Republik bezieht, wird zudem die staatspolitische Schnittstelle zwischen Neoliberalismus und ›Konservativer Revolution‹ entwickelt.

Der zweite Teil widmet sich dann einigen ausgewählten Akteuren der derzeitigen Rechtsentwicklung in Gestalt der AfD, des Instituts für Staatspolitik und der Identitären Bewegung. Ein Artikel zu Pegida beleuchtet das Bild dieser Protestbewegung in Wissenschaft und Medien.

Im dritten Teil werden konkrete Erscheinungen und Artikulationen des »Kulturkampfs von rechts« untersucht. Dies geschieht in Form einer Analyse der sehr bekannt gewordenen Rede von Björn Höcke, die er im Institut für Staatspolitik gehalten hat. Es geht im Weiteren um die Familien- und Geschlechtervorstellungen der AfD, um das durch Pegida manifest gewordene Feindbild der »Lügenpresse« und abschließend um ein differenziertes Bild des antimuslimischen Rassismus.

Die Beiträge des abschließenden vierten Teils sind der Frage nach dem »Was tun?« gewidmet, Sie thematisieren diskursive Strategien im Umgang mit AfD und Pegida, betonen die Notwendigkeit der Profilierung linker Politik. Eine Debatte über die Kampagne »Aufstehen gegen Rassismus« unter bündnispolitischen Gesichtspunkten rundet diesen Teil ab.

Zu den vier Teilen des Buches werden zu Anfang jeweils Einführungen in das Thema gegeben.

Duisburg, im Juli 2016

Helmut Kellershohn/Wolfgang Kastrup

Teil I

Neoliberalismus, völkischer Nationalismus und ›Konservative Revolution‹

Zur Einführung (Wolfgang Kastrup)

1. Die »erstaunliche Überlebensfähigkeit« des Kapitalismus liegt für Luc Boltanski und Ève Chiapello in der »Verinnerlichung der Kritik« der Gegner, die gegenüber starren Hierarchien, Konformität und traditionellen Arbeits- und Lebensweisen größere Autonomie und Individualität, mehr Kreativität, Flexibilität und Freiheit forderten. Der Kapitalismus sei »auf seine Gegner angewiesen, auf diejenigen, die er gegen sich aufbringt und die sich ihm widersetzen, um die fehlende moralische Stütze zu finden und Gerechtigkeitsstrukturen in sich aufzunehmen, deren Relevanz er sonst nicht einmal erkennen würde.« Dies habe zu einer »Entschärfung der antikapitalistischen Kräfte beigetragen.«[3] Deren Kritik bezieht sich m.E. auf Phänomene kapitalistischer Verhältnisse, die zwar nicht die Grundlagen der kapitalistischen Verwertung betreffen, die aber nichtsdestotrotz eine Relevanz für das Überleben des Systems haben. Für Boltanski und Chiapello schöpft der Kapitalismus also »aus ihm äußerlichen Ressourcen«, um seine »Mobilisierungskraft« zu erhalten.

»In der Tat ist der Kapitalismus wohl die einzige, zumindest jedoch die wichtigste historische Ordnungsform kollektiver Praktiken, die von der Moralsphäre völlig losgelöst ist. Sie findet ihre eigene Zweckbestimmung in sich selbst (Kapitalakkumulation als Selbstzweck) und nicht, indem sie auf ein Allgemeinwohl oder zumindest auf die Interessen eines Gemeinwesens in Gestalt eines Volkes, eines Staates oder einer sozialen Klasse Bezug nehmen würde.«[4] (Ebd., 58)

Dass dies in der Vorstellung der Vertreter der Marktwirtschaft völlig anders gesehen wird ist nachvollziehbar, verkörpert doch für sie eine marktwirtschaftliche Ordnung Freiheit, Leistungsfähigkeit, Erfolg, Kreativität und vor allem, richtig angewandt, Wohlstand für die Menschen. »Eine der Hauptursachen für die Gegnerschaft zur freien Wirtschaft«, schreibt Milton Friedman, »ist gerade die Tatsache, dass sie ihre Aufgaben so gut erfüllt. Sie gibt den Menschen das, was sie wollen, und nicht das, was ihnen eine bestimmte kleine Gruppe aufzwingen will. Hinter den meisten Argumenten gegen den freien Markt steckt der mangelnde Glaube in die Freiheit selbst.«[5]

Dieses Freiheitsversprechen ist symptomatisch für den Kapitalismus, gehört konstitutiv zu seiner Ideologie und hat sicherlich durch die oben angesprochene »Verinnerlichung der Kritik« der Gegner in den letzten drei Jahrzehnten einen neuen Schub erhalten. Alex Demirović beschreibt diesen Prozess wie folgt:

»Dominant in den strategischen Diskussionen sind neoliberale Argumente, die sich mit neokonservativen, autoritär-rassistischen und christlich-chiliastischen Ideologemen verbinden, die den Markt als Gott und den Wettbewerb als Heilsgeschehen feiern. Im Namen des Individuums, seiner Handlungsfähigkeit und seiner Freiheit wird die Notwendigkeit gepredigt, die Gürtel enger zu schnallen, sich den Zwängen des Marktes zu unterwerfen, dem Imperativ der Wettbewerbsfähigkeit zu entsprechen, der Logik des Standortes anzupassen. Gefordert wird Konformität, die verbunden ist mit Autonomie, Individualität, Freiheit. Offensichtlich wird das Verhältnis von bürgerlicher Freiheit und Konformismus neu austariert.«[6]

Drei wichtige Aspekte des Neoliberalismus werden hier angesprochen: erstens seine Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit, mit anderen ideologischen Strömungen Bündnisse einzugehen; zweitens die Marktgläubigkeit und damit die Überzeugung von der Überlegenheit von Wettbewerb, Privateigentum, freiem Unternehmertum, Deregulierung und Privatisierung; und drittens die Stellung des Subjekts zwischen Freiheit und Autonomie einerseits und Zwang und Unterwerfung unter die Regeln des Marktes und seinen Zumutungen andererseits. Ein vierter Aspekt, der von Demirović nicht angesprochen wird, für dieses Buch aber von Bedeutung ist, liegt darin: Der Neoliberalismus geht konstitutiv von der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Menschen aus und weist so ein Überschneidungsmerkmal mit rechten und völkischen Bewegungen auf. Weitere Schnittpunkte wie etwa die Idee des »starken Staates« kommen hinzu und werden in den folgenden Beiträgen am Beispiel der Alternative für Deutschland (AfD) näher analysiert.

2. Die AfD, nach ihrer Spaltung im Frühjahr 2015 fast schon politisch abgeschrieben, erlebte mit der veränderten Flüchtlingspolitik im Sommer und Herbst des gleichen Jahres einen deutlichen Aufwärtstrend, was sich u. a. an ihren Wahlerfolgen zeigte. Unverständnis, Empörung und Ratlosigkeit waren die Reaktionen der etablierten Parteien bezüglich der Ursachen für diese Wahlerfolge und der politischen Umgangsweise mit dieser Partei, die von allen etablierten Parteien Zulauf erhalten hatte. Deutlich wird, dass in der AfD einerseits eine Bündelung eines autoritären Kulturkampfes offensichtlich wird, was sich u.a. in dem enttäuschten Nationalismus, dem anti-muslimischen Rassismus, dem Anti-Feminismus, den Lebensschützer*innen und dem Eintreten für tradierte Familienformen dokumentiert. Andererseits ist eine deutliche Betonung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik zu erkennen, die das weiterführt, was die herrschenden Parteien schon vorgemacht haben. Zu nennen ist hier z.B. der Ausbau des Niedriglohnsektors, die Zustimmung zu Hartz IV und Steuererleichterungen für das Kapital. Wie auch bei den herrschenden Parteien ist auch bei der Anhängerschaft der AfD diesbezüglich keine Empörung zu sehen, obwohl auch sie mit den Zumutungen des Konkurrenzkapitalismus konfrontiert ist. Nicht das System der Konkurrenz wird verantwortlich gemacht, vielmehr werden die Zuwanderer aus dem Ausland als Konkurrenten perhorresziert, die, weil aus einem fremden ›Kulturkreis‹ mit anderen Sitten und Gebräuchen kommend, einfach nicht hierher gehörten. Es ist dieser dem Konkurrenzkapitalismus anverwandelte völkische Nationalismus, der bei der AfD in radikalisierter Weise zum Ausdruck kommt. Mit ihrem autoritären Kulturkampf und mit ihrem Konzept eines »starken Staates« bzw. eines »nationalen Wettbewerbsstaates auf völkischer Basis« (Helmut Kellershohn) steht die AfD allerdings ›mit einem Bein‹ außerhalb des neoliberalen Blocks, mit Verbindungspunkten sowohl zur sogenannten Neuen Rechten als auch zur extremen Rechten. Ob die von Boltanski und Chiapello konstatierte ›Lernfähigkeit‹ des Kapitalismus sich – nach dem Muster der Zwischenkriegszeit im 20. Jahrhundert – auch auf diese Elemente bezieht, wird sich zeigen.

Zu den Beiträgen

1. In seinem ersten Beitrag analysiert Helmut Kellershohn das auf dem diesjährigen Bundesparteitag in Stuttgart verabschiedete Grundsatzprogramm der AfD. Es beruht auf einem Kompromiss zwischen den Flügeln der Partei. Durch das Programm zieht sich ein ›nationaler Imperativ‹, der die im Geiste des deutschen Ordoliberalismus stehenden neo(national)liberalen Komponenten mit christlich-konservativen, völkisch-nationalistischen und direkt-demokratischen Positionen verbindet. Markante Schnittmengen zwischen diesen Ideologiesträngen ist erstens die Idee eines »starken Staates«, eines »nationalen Wettbewerbsstaates« in der Tradition eines sich bereits in der Weimarer Republik entwickelnden »autoritären Liberalismus« (Hermann Heller); zweitens die Idee einer ethnisch-kulturellen Einheit der Nation in der Tradition des völkischen Nationalismus; drittens das Konzept eines Staatsumbaus, der direkt-demokratische Verfahren mit einer Stärkung der Rolle des Bundespräsidenten verbindet und auch damit an Konzepte aus der Weimarer Republik anknüpft, die in die Richtung eines plebiszitären Präsidialregimes weisen.

2. Helmut Kellershohn geht dann in einem zweiten Beitrag auf die Schnittpunkte ein zwischen der heutigen Neuen Rechten, insbesondere soweit sie sich dem Jungkonservatismus Weimarer Prägung verpflichtet fühlt, und der AfD. Dazu zählt u.a. ein »autoritärer Liberalismus« (Hermann Heller). Ideengeschichtlich gesehen liegen dessen Anfangsgründe in der Endphase der Weimarer Republik zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, als die späteren Protagonisten des westdeutschen Ordoliberalismus (Walter Eucken, Alexander Rüstow, Alfred Müller-Armack, Wilhelm Röpke) und die konservativ-revolutionären Propagandisten des »totalen Staates« wie Carl Schmitt sich in der Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft diskursiv verbanden. »Stark« müsse der Staat sein, um die kapitalistische Privatwirtschaft vor ›sachfremden‹ Eingriffen durch die sozialstaatlichen Apparaturen und die Gewerkschaften zu bewahren.

3. Wolfgang Kastrup beschreibt in seinen Ausführungen den Neoliberalismus als eine Regulationsform des Kapitalismus. Die Universalisierung des Marktprinzips ist als Reaktion auf die Krise des fordistisch-keynesianischen Modells zu sehen, da diese die notwendige Akkumulation von Kapital nicht mehr gewährleisten konnte. Eine neue »Moderationsform« des Kapitalismus war also notwendig, um seine Verwertungsprobleme zu beheben. Dies geschah durch eine Liberalisierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und einer Reduzierung des Menschen auf ein Marktsubjekt, den Homo oeconomicus. Die neoliberale Rationalität dehnt das Modell des Marktes auf alle Bereiche und Tätigkeiten aus. Theoretische Grundlagen sind im Ordoliberalismus und der Freiburger Schule (Eucken, Röpke, Rüstow, Böhm, Müller-Armack, Erhard), im evolutorischen Neoliberalismus von Friedrich August von Hayek und im Neoliberalismus der Chicagoer Schule, hier Milton Friedman und Garry Becker zu finden. In der Bundesrepublik Deutschland gab es einen neoliberalen Sonderweg von 1949 bis in die 1970er Jahre, die Soziale Marktwirtschaft, oft auch als Rheinischer Kapitalismus bezeichnet.

Überhaupt zeigt sich, dass der Neoliberalismus keine geschlossene Ideologie darstellt, im Gegenteil sehr flexibel und wandelbar ist und mit anderen ideologischen Komponenten verknüpft werden kann. Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Menschen sind Grundkonstanten des Neoliberalismus und stellen Schnittpunkte zum Rechtsextremismus dar. Neoliberale und rassistische Diskursmuster können gekoppelt werden, durch die sich eine radikale Sozialstaatskritik und das Postulat der sozialen Exklusion verbinden lassen. Der »marktförmige Extremismus« (Groß/Hövermann)[7] ist gekennzeichnet durch einen »unternehmerischen Universalismus«, durch eine »Wettbewerbsideologie« und durch »ökonomistische Werthaltungen«. AfD Sympathisanten und »sich bedroht fühlende Personen« stimmen, laut dieser Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, diesem »marktförmigen Extremismus« besonders stark zu.

Helmut Kellershohn

Nationaler Wettbewerbsstaat auf völkischer Basis

Das ideologische Grundgerüst des AfD-Grundsatzprogramms

Einleitung

Parteiprogramme sind Momentaufnahmen in der Entwicklung von Parteien. Auch im Falle der AfD könnte das neue Programm, verabschiedet auf dem Bundesparteitag in Stuttgart (30.04.–01.05.2016), durch die weitere Entwicklung der Partei schon bald überholt sein. Die Positionskämpfe in der Partei gehen weiter, so dass das Gesicht der Partei demnächst sehr viel stärker durch den völkischen Flügel geprägt sein könnte, als das Programm mit seiner derzeitigen Kompromissstruktur anzeigt. Allerdings lässt sich das Urteil Oskar Lafontaines, die AfD sei ein Bestandteil des neoliberalen Blocks,[8] auch schon am jetzigen Parteiprogramm nur bedingt verifizieren. Die ideologischen Elemente, die in die Richtung einer deutschnationalen und völkischen Bewegungspartei weisen, sind bereits im Programm enthalten und bräuchten nur weiter ausgebaut werden. Schon jetzt steht das Programm unter einem ›nationalen Imperativ‹, der sich wie ein roter Faden durchzieht. Er verbindet die im Geiste des deutschen Ordoliberalismus stehenden neo(national)liberalen Komponenten mit christlich-konservativen, völkisch-nationalistischen und direkt-demokratischen Positionen. Es geht im Folgenden um dieses ideologische Grundgerüst, nicht so sehr darum, die vielen Detailforderungen des Programms aufzulisten.[9]

»Ein schlanker, aber starker Staat«

Der neo(national)liberale Komplex setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: aus dem Plädoyer für eine Renationalisierung der Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik – gegen EU, Euro oder TTIP – sowie aus dem Eintreten für eine neoliberale Wirtschaftspolitik im Innern. Beginnen wir mit dem Letzteren.

Die Forderung nach einem »schlanke[n] Staat für freie Bürger« (9)[10] ist wenig originell, sondern greift auf Debatten in den 1990er Jahren zurück, als etwa Wolfgang Schäuble in Und der Zukunft zugewandt (1994) die angeblich ›überfetteten‹ sozialstaatlichen Apparaturen mit dem Bild der »Milchkuh« (Arnold Gehlen) denunzierte.[11] Durch den ›ausufernden‹ Wohlfahrtsstaat würden die klassischen Funktionen des Staates in den Hintergrund gedrängt. Daran knüpft die AfD an, wenn sie eine Konzentration auf vier Aufgabenbereiche verlangt: Innere und Äußere Sicherheit, Justiz, Auswärtige Beziehungen und Finanzverwaltung. Die Übernahme sonstiger Aufgaben bedürfe »besonderer Rechtfertigung« (9). Diese Formulierung ist insofern interessant, als im Grundgesetz in Art. 20, Abs. 1 die Bundesrepublik Deutschland als »demokratischer und sozialer Bundesstaat« bezeichnet wird. Demnach bedarf es also keiner besonderen Rechtfertigung von Maßnahmen, die Ausbau und Sicherung der Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland betreffen. Der Begriff Sozialstaat taucht freilich im gesamten Programm der AfD nur ein einziges Mal (62) auf.

Zur ›Verschlankung‹ des Staates schlägt die AfD des Weiteren eine Prüfung vor, inwieweit »staatliche Einrichtungen durch private oder andere Organisationen ersetzt werden können« (9). Ziel müsse es sein, eine Senkung der Staatsquote durchzusetzen. Die AfD folgt hier der offiziellen Austeritätspolitik (Begrenzung der Nettoneuverschuldung, ausgeglichener Staatshaushalt, Verringerung der Staatsschuldenquote), will diese aber zusätzlich um eine »verbindliche« (d.h. im Grundgesetz verankerte) Abgaben- und Steuerbremse ergänzen, »um die maximale Summe der Belastung auf einen bestimmten Prozentsatz im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt festzuschreiben« (74). Der finanzielle Spielraum des Staates soll damit weiter eingeschränkt werden. Im Programm heißt es: »Steuern und Abgaben sollen in Zukunft nicht mehr beliebig erhöht werden können. Steuererhöhungen und neue Steuern darf es nur im Einklang mit der Steuer- und Abgabenbremse geben« (74).

Daneben plant die Partei einen neuen »Einkommensteuertarif mit wenigen Stufen und einen deutlich höheren Grundfreibetrag« (74), in Anlehnung an das Stufenmodell des ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof – ein Modell, von dem Besserverdienende am meisten profitieren würden, weil sie im Vergleich zum heute geltenden Recht viel mehr entlastet werden. Die Erbschafts- und Vermögenssteuer will die Partei ganz abschaffen, die für die Kommunen so wichtige Gewerbesteuer soll auf den Prüfstand gestellt werden (75). Woher die fehlenden Einnahmen kommen sollen, sagt die AfD nicht.[12]

Die Begründung für die Rückführung der staatlichen Aufgaben und die Senkung der Staatsquote greift auf die sogenannte »Ordnungsethik« (67) des deutschen Ordoliberalismus zurück. Man beruft sich explizit auf Walter Eucken, Alfred Müller-Armack und Wilhelm Röpke.[13] Deren Unterscheidung von reiner Marktwirtschaft und Kapitalismus begreift Letzteren als missratende Abweichung vom Ideal des freien Wettbewerbs und der vollständigen Konkurrenz.[14] Um zu verhindern, dass es zu einer Vermachtung der Märkte kommt, bedarf es der ordnenden Hand des Staates, der die Rahmenbedingungen setzt und sie auch garantiert, selbst aber nicht als ökonomischer Spieler auftritt und so wenig wie möglich in das System der freien Konkurrenz eingreift.[15] Er soll also ein durchaus »starker Staat« (69) sein, nämlich in Bezug auf diese Ordnungsfunktion und die zu erfüllenden Kernaufgaben sowie in Bezug auf die Aufgaben, um deren Berechtigung sich die AfD besonders bemühen will. Die Staatsfinanzen müssen folglich entsprechend umverteilt werden, wenn man bei der Abgaben- und Steuerbremse bleiben will. Es sind vor allem folgende Bereiche, in die die AfD Steuergelder fließen lassen will:

1. Innere Sicherheit: Im Innern will die AfD einen »sicherheitspolitischen Befreiungsschlag, um den Schutz der Bürger an [die] erste Stelle setzen« (24) zu können. Der Personalabbau bei der Polizei soll gestoppt und mehr Stellen eingerichtet werden. Die Justiz soll schneller, zuverlässiger und vor allem härter bestrafen (z.B. Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters auf zwölf Jahre, schärfere Bestrafung jugendlicher Straftäter). Im Widerspruch dazu steht die scheinheilige Kritik am »Überwachungs- und Bevormundungsstaat«, wenn die AfD gegen »freiheitsbeschränkende Eingriffe« (26) beim Waffenrecht plädiert.[16]

2. Äußere Sicherheit: Die Bundeswehr ist für die AfD »Eckpfeiler deutscher Souveränität« (31) und ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung nationaler Interessen, etwa im Rahmen der NATO.[17] Die Einsatzfähigkeit müsse sich an den »Herausforderungen künftiger Konflikte« orientieren und »höchsten internationalen Standards (31) entsprechen. Weltspitze soll auch die nationale Rüstungsindustrie sein. Die AfD will die Wiedereinführung der Allgemeinen Wehrpflicht für Männer (32), parallel dazu die Wiederzulassung von Kriegsdienstverweigerung und Wehrersatzdienst. Frauen soll die Möglichkeit eines freiwilligen Dienstes eingeräumt werden.

3. Mittelstandspolitik: Diese gehört zu den Aufgaben, für die die AfD eine besondere Berechtigung sieht, denn der Mittelstand sei das »Herz unserer Wirtschaftskraft« (69). Die AfD will für den Mittelstand über steuerrechtliche Korrekturen, Bürokratieabbau, Deregulierung hinaus Vereinfachungen bei der betrieblichen Statistik, beim betrieblichen Beauftragtenwesen, bei betrieblichen Sicherheitsbestimmungen und beim Mindestlohn (36), den man ursprünglich ganz abgeschafft sehen wollte. Wie man dem gewerblichen Mittelstand beim Mindestlohn entgegenkommen will, wird nicht gesagt.

4. Familienpolitik: Die Familienpolitik der AfD beruht auf drei Pfeilern: erstens auf vermeintlich sicheren Prognosen zur demographischen Entwicklung, die das Schlimmste befürchten ließen. Zweitens auf einer Ablehnung der sog. Masseneinwanderung vor allem aus islamischen Ländern, worauf ich später näher eingehe. Drittens auf einem christlich-konservativen Verständnis von Ehe und Familie als »Keimzellen der bürgerlichen Gesellschaft« (40). Die AfD will grundsätzlich »gewachsene kulturelle […] Traditionen und bewährte Institutionen« bewahren, insofern sie »Halt und Bindung« gewährleisten. Sie garantieren »den über Generationen gewachsenen gesellschaftlichen Zusammenhalt« und müssen daher unter dem »besonderen Schutz des Staates« (40) stehen. Die traditionelle Familie soll daher wieder »Mittelpunkt der Familienpolitik« (41) werden. Staatliche Erziehungsinstanzen im vorschulischen Bereich (Kita) werden als Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht betrachtet. Gender Mainstreaming,[18] die angebliche Frühsexualisierung durch neuere Bildungsprogramme und generell der Kult der Individualität untergrüben »die Familie als wertegebende gesellschaftliche Grundeinheit« (41).

Die AfD fordert daher eine erhebliche Ausweitung der politischen, moralischen und finanziellen Unterstützung der traditionellen Familie. Zugespitzt kann man sagen: Familienpolitik nimmt im Wesentlichen die prominente Stelle ein, die der Sozialpolitik im AfD-Programm ansonsten verwehrt wird. Zugleich wird eine pronatalistische Familienpolitik[19] als Hebel betrachtet, um durch die Anhebung der Geburtenrate – zusammen mit anderen Maßnahmen – der »krisenhafte[n] Zuspitzung der demografischen Entwicklung« (43) entgegenzuwirken. So sollen etwa finanzielle Nachteile gegenüber Kinderlosen korrigiert werden. »Insbesondere muss es auch in den bildungsnahen, mittleren Einkommensschichten wieder möglich sein, zukunftsgerichtet für eine große Familie zu sorgen, ohne sich dabei einem Armutsrisiko auszusetzen.« (42)[20] Empfohlen werden z.B. zinslose Immobiliendarlehen, deren »Schuldsumme« ›abgekindert‹ werden kann (42), die Einführung des Familiensplittings im Steuerrecht (74), ausreichende Rentenansprüche unter Berücksichtigung von Kinderzahl und Erziehungsleistung (37), die Erlassung der Rückzahlung von Bafög-Darlehen für Studenteneltern und eine spezielle Förderung für Mehrkindfamilien (42)

Zwischenfazit

Die herausragende Rolle der Familienpolitik wirft ein bezeichnendes Licht auf die neo-bzw. ordoliberale Schlagseite des AfD-Programms. Auf der einen Seite wird der freie Wettbewerb, die freie Konkurrenz als Fundament einer optimalen Wirtschaftsordnung gefeiert und damit der freie Bürger – idealerweise der Mittelständler als Privateigentümer und Produktionsmittelbesitzer – in den Mittelpunkt gestellt. Dieser verfolgt im Wettbewerb seine egoistischen Privatinteressen. Es steht ihm frei, »Eigentum an Gütern und Produktionsmitteln erwerben« und/oder »zwischen verschiedenen Anbietern, Angeboten oder Arbeitsplätzen« zu wählen.[21] Er trägt aber auch das Risiko. Er kann »ertragsbringende Chancen nutzen«, muss aber auch »für ein mögliches Scheitern« einstehen. Obwohl also die Existenz des freien Bürgers zwischen Erfolg und Niederlage prekäre Züge aufweist, hält die AfD daran fest, dass insgesamt »durch marktwirtschaftlichen Wettbewerb […] sich die besten ökonomischen Ergebnisse« (67) ergäben.

Auf der anderen Seite bedarf nun dieser eigennützig handelnde und zugleich vom Scheitern bedrohte Bürger eines Halts und solcher Einrichtungen, die ihm die Möglichkeit der Bindung geben, wie z.B. aus der Sicht der AfD die Familie. Das konservative Familienbild ist daher auch ein grundlegendes Moment des Neoliberalismus. In der deutschen Tradition des Ordoliberalismus hat besonders Wilhelm Röpke die Notwendigkeit betont, dass man den System des Wettbewerbs kulturell und speziell durch Gemeinschaftsinstitutionen wie der Familie oder dem Staat einhegen müsse:

»Die Gesellschaft als Ganzes kann nicht auf dem Gesetz von Angebot und Nachfrage aufgebaut werden, wie es ja auch seit Burke immer beste konservative Überzeugung gewesen ist, daß der Staat mehr ist als eine Aktiengesellschaft. Wir machten den Wettbewerb zur Achse einer neuen Marktwirtschaft. Aber im selben Augenblick legen wir Nachdruck darauf, daß Menschen, die auf dem Markte sich miteinander im Wettbewerb messen und dort auf ihren Vorteil ausgehen, […] umso stärker durch die Bande der Gemeinschaft verbunden sein müssen, andernfalls auch der Wettbewerb selber aufs schwerste entartet.« (Röpke 1965, 231; Hervorh. v. Vf.) [22]

Röpke offeriert hier eine, seiner Meinung nach, konservative Synthese zwischen Individualismus (alter Liberalismus) und Kollektivismus, indem er einen außerökonomischen Gemeinschaftsbezug als normativen Überbau kapitalistischer ›Wettbewerbsordnung‹ einfordert. Die Marktwirtschaft könne nur »als Stück einer bürgerlichen Gesamtordnung und in ihrem Schutze gedeihen« (ebd., 235). Das deckt sich dann mit den Überlegungen (jung-)konservativer Soziologen wie Hans Freyer, die fast schon marxistisch die moderne Industriegesellschaft als Entfremdungszusammenhang (»sekundäres System«) beschreiben, demgegenüber man nach Gegenhalten suchen müsse, nach einem konservativen Widerlager (Freyer 1955). Paradoxerweise aber, weil der Kapitalismus ja weiterhin existiert, würde dieses Widerlager zum ›Schmiermittel‹ des besseren Funktionierens, jedenfalls, wenn man dieser Sichtweise folgt.

Halten wir fest: Das Gesellschaftsbild der AfD ist zunächst neo- bzw. ordoliberal geprägt. Gesellschaft ist in ihren Augen vor allem eine Wettbewerbsgesellschaft mit marktradikalen Zügen, aber auch – siehe Röpkes konservative Synthese – mit Gemeinschaftsinstitutionen, die die prekäre Konkurrenz der Marktsubjekte durch »Halt und Bindung« kompensieren sollen. Der Staat soll sich zwar weitgehender Eingriffe enthalten und seine Aufgaben qualitativ wie quantitativ begrenzen, also schlanker Staat sein, andererseits aber so stark sein, dass er die Sicherheit der Marktteilnehmer nach innen und außen garantieren, die Gemeinschaftsinstitutionen und den Mittelstand erhalten kann. Die Verlagerung der staatlichen Aufgaben und Ressourcen in diese Bereiche konstituiert den Staat, um einen Ausdruck von Joachim Hirsch zu gebrauchen, als »nationalen Wettbewerbsstaat« (Hirsch 1995), dessen Aufgabe nach außen hin darin besteht, die Nation für die Konkurrenz der Nationalstaaten zu mobilisieren und ›fit‹ zu machen.

Konturen des völkischen Nationalismus im AfD-Programm

Aus der Sicht der AfD ist freilich die Transnationalisierung der Nationalstaaten, wie sie in Europa zur Herausbildung der EU und zur Bildung einer Währungsunion geführt hat, eine Fehlentwicklung, die revidiert werden muss. Es geht der AfD um die Rückentwicklung von Kompetenzen (17), die auf die zentralen Institutionen der EU und der Währungsunion übertragen worden sind. Als Ziel schwebt der AfD eine Rückkehr zu einer Wirtschaftsgemeinschaft (Freihandelszone) vor, wie sie vor Maastricht bestanden hat,[23] und die Abwicklung des Euro bzw. der Austritt Deutschlands aus dem Eurowährungsverbund, gegebenenfalls nach vorheriger Volksabstimmung (20).[24]

Die politische Gestalt eines zukünftigen Europas ist folglich auch nicht die eines europäischen Bundesstaates. Ziel ist vielmehr ein »Europa der Vaterländer« oder explizit völkisch gewendet, wenn auch nicht im Programm stehend, ein »Europa der Völker« (17). Letzteres ist aber intendiert, wenn die AfD die Rückkehr zu einem Staatsbürgerschaftsrecht verlangt, das auf dem Abstammungsprinzip beruht.[25] Im völkisch-nationalistischen Sinne ist damit ein ›Volk‹ imaginiert, das sich durch eine genealogische Kontinuität und ethnisch-kulturelle Homogenität über Jahrhunderte hinweg auszeichnet. Das ›Volk‹ ist aus dieser Sicht eine Art Kollektiv-Subjekt und bildet als solches die Grundlage der Nation. ›Volk‹ ist aber auch im völkischen Sinne eine ›Zeugungsgemeinschaft‹, weshalb die oben skizzierte Familienpolitik problemlos auch völkisch interpretiert werden kann, nämlich in Hinblick auf die qualitativ-quantitative ›Pflege‹ des ›Volkskörpers‹.

Nun kann man die völkische Idee der Abstammung durchaus unterschiedlich verstehen. Je stärker das Reinheitsprinzip betont wird, desto mehr gerät die Existenz des Volkes in den Rang einer natürlichen, biologisch gesicherten Tatsache und kann problemlos, wie in der um 1900 entstandenen Völkischen Bewegung mit dem Rassengedanken kombiniert werden (vgl. Puschner 2001). Anders das AfD-Programm, das mit einem flexibleren, kulturalistisch gewendeten Volksbegriff aufwartet. Hier hat eine ›Modernisierung‹ stattgefunden, die allerdings an ältere ideenpolitische Entwürfe der Neuen Rechten, die unter dem Stichwort Ethnopluralismus bekannt geworden sind,[26] anknüpfen kann. Ethnische Homogenität wird hier also primär als »kulturelle Einheit« verstanden, die auf »unverwechselbaren Eigenheiten« (47) beruhe. Sie speise sich aus drei Quellen: »erstens der religiösen Überlieferung des Christentums, zweitens der wissenschaftlich-humanistischen Tradition, deren antike Wurzeln in Renaissance und Aufklärung erneuert wurden, und drittens dem römischen Recht, auf dem unser Rechtsstaat fußt« (47).[27] Von großer Bedeutung sei zudem die deutsche Sprache, sie sei das »Zentrum unserer Identität« (47), sie beruhe auf einer »natürlich [!] gewachsene[n] Kultur und Tradition« (55).

Aus diesen Bestimmungen leitet die AfD Forderungen ab, die die ethnisch-kulturelle Identität durch eine Reihe von Abgrenzungen und Exklusionen konkretisieren sollen:

1. Erforderlich sei die Stärkung der deutschen Sprache weltweit (z.B. in den EU-Institutionen), erst recht im Inland. Deutsch als im Grundgesetz zu verankernde Amts- und Lehrsprache dürfe in Behörden und Universitäten nicht durch Englisch ersetzt werden; das »Gendern« sei grundsätzlich abzulehnen, »politisch korrekte Sprachvorgaben« (55) z.B. in den Medien oder in der Kriminalstatistik seien zu unterbinden.

2. In geschichtspolitischer Hinsicht soll die »aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus« (48) revidiert und das Geschichtsbild dem Kriterium der nationalen Identitätsstiftung unterworfen werden.

3. Die AfD tritt für eine deutsche Leitkultur ein. Die »Ideologie des Multikulturalismus, die importierte kulturelle Strömungen auf geschichtsblinde Weise der einheimischen Kultur gleichstellt und deren Werte damit zutiefst relativiert«, sei eine »ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit.« (47)

4. In aller Deutlichkeit grenzt sich die AfD vom Islam ab. Dabei konfligiert die grundsätzliche Ablehnung des Islams (»Der Islam gehört nicht zu Deutschland« – 49) mit der im Grundgesetz verankerten Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit. Im Leitantrag der Bundesprogrammkommission behalf man sich damit, dass man einerseits von einem orthodoxen Islam sprach, »der unsere Rechtsordnung nicht respektiert oder sogar bekämpft und einen Herrschaftsanspruch als alleingültige Religion erhebt«. Ein solcher Islam sei »mit unserer Rechtsordnung und Kultur nicht vereinbar.« Andererseits sprach man mit Blick auf die Scharia von einer islamischen Glaubenspraxis, »die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, unsere Gesetze und gegen die jüdisch-christlichen und humanistischen Grundlagen unserer Kultur richte«.[28] Man gab also indirekt zu, dass es auch einen anderen Islam gibt (oder geben könnte), als den hier beschriebenen und kritisierten. Im ursprünglichen Programmentwurf hatte es denn auch noch geheißen, dass man einen Reformislam[29] durchaus unterstützen wolle.

Auf dem Parteitag kam es dann zu einer Verschärfung, die von der Patriotischen Plattform lanciert wurde. Der einschränkende Verweis auf den orthodoxen Islam entfiel ebenso wie die Unterstützungserklärung für einen reformierten Islam. Praktisch wird nun dem Islam jedwede Reformfähigkeit abgesprochen, was im Prinzip bedeutet, dass der Islam eigentlich aus Deutschland verschwinden sollte. Der Islam wird damit in Gänze zum Hauptfeind erklärt. Sanktionen gegen ›verfassungsfeindlich‹ agierende Imame, Abschaffung islamtheologischer Lehrstühle, das Verbot von Minaretten, des Muezzinrufs, der Vollverschleierung oder des Kopftuchs bei Lehrerinnen und Schülerinnen in staatlichen Bildungseinrichtungen (49 f.) u.Ä. können insofern als Minimalforderungen verstanden werden, die jederzeit durch weitergehende Forderungen ergänzt werden könnten.

5. Die Haltung der AfD zur Zuwanderung ist, gerade mit Blick auf die Zuwanderung von Muslimen, äußerst restriktiv. Das Asylrecht als Grundrecht soll abgeschafft und durch eine institutionelle Garantie ersetzt, ein internationales Abkommen wie die Genfer Konvention »an die globalisierte Gegenwart mit ihren weltweiten Massenmigrationen« (60) angepasst werden. Die EU-Personenfreizügigkeit soll nach Maßgabe nationalstaatlicher Interessen ausgerichtet, legale Einwanderung aus Drittstaaten nach »qualitativen Kriterien«, orientiert am kanadischen Modell, »maßvoll« gestaltet und Integration im Prinzip als Assimilationsleistung eingefordert werden (62). Die imaginierte ›völkische Ordnung‹ des nationalen Wettbewerbsstaates, so die Quintessenz, darf eben nicht durch eine »Multi-Minoritätengesellschaft« (42) ersetzt werden.

Umbau des Staates

Das Konstrukt eines nationalen Wettbewerbsstaates auf völkischer Basis ist im Prinzip mit der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar. Die AfD muss daher einen Umbau des Staates wollen. Das Vehikel dazu ist die Forderung nach einer direkten Demokratie, wobei man sich auf das Schweizer Vorbild beruft. Die AfD geht davon aus, dass in Deutschland die Volkssouveränität eine Fiktion sei. »Heimlicher Souverän« sei »eine kleine, machtvolle politische Führungsgruppe innerhalb der Parteien«, eine »politische Klasse von Berufspolitikern«, die sich um ihr eigenes »Wohlergehen« und ihre Macht kümmert und den Staat beherrscht (8). Ein »politisches Kartell« sitze an den Schalthebeln der staatlichen Macht, es kontrolliere die politische Bildung und die Informationspolitik (8). Generell will man die Macht der Parteien beschränken, da sie die »Ausbeutung des Staates« (11) betrieben. – Paradoxerweise konstituiert sich die AfD selbst als Partei, will aber ein ganz anderer Typ Partei als die von ihr kritisierten »Altparteien« sein. Wie geht das?

Es gibt im Programm eine interessante Formulierung: Die Abgeordneten seien »Mandatare« (11) der Bürger, nicht der Parteien. Das widerspricht natürlich dem Grundgesetz, das von einem freien Mandat der Parlamentarier ausgeht, auch wenn in der Praxis der Fraktionszwang überwiegt. Allerdings fordert die AfD auch nicht das imperative Mandat, wie es aus der Rätebewegung bekannt ist. Und wir kennen aus der athenischen Demokratie das Prinzip des Losverfahrens bei der Besetzung von Ämtern. Soviel Radikalität traut sich die AfD offensichtlich nicht zu.

Die Idee des Mandatars verweist auf etwas anderes, nämlich auf den oben angesprochenen völkischen Volksbegriff. Das Volk als Kollektiv-Subjekt ist keine empirische Größe, das man gewissermaßen am Stammtisch oder in der Fußballarena vorfindet. Das Volk ist vielmehr eine Art metaphysische Größe, die aber mit Willen (Volkswille) und Geist (Volksgeist) ausgestattet ist. Wie aber kann man den Willen des Volkes erkennen? In Wahlen können lediglich empirisch Mehrheiten festgestellt werden. Mehrheiten sind aber nicht gleichbedeutend mit dem Willen des Volks (als metaphysischem Subjekt), sondern immer nur Bestandteil eines plural zusammengesetzten Meinungsspektrums. Wenn dagegen der völkische Nationalist (oder Rechtspopulist) sich auf das Volk beruft, es gegen die Eliten in Stellung bringt, dann kann er das nur, weil er einen »moralisch-politische[n] Alleinvertretungsanspruch« (Müller 2016, 42) erhebt. Mit anderen Worten: Der Populist weiß immer schon, was das Volk denkt und was des Volkes Wille ist. Er repräsentiert das, ob er nun gewählt wird oder nicht. Er ist eben Mandatar des Volkes bzw. der Bürger, was bedeutet, dass er dem sogenannten ›Volk‹ das unterschiebt, was er als Volkswille behauptet. Gewinnt er damit Abstimmungen, umso besser.

Geht man von diesen Überlegungen aus, so ist das, was die AfD zur direkten Demokratie schreibt, ein Fake. Es geht gar nicht darum, den Bürgern eine größere Teilhabe am politischen Geschäft zu verschaffen. Vielmehr geht es darum – erinnert sei an die Weimarer Republik –, Volksbegehren und Volksentscheide gegen das System der parlamentarischen Demokratie, gegen das Parteiensystem in Stellung zu bringen und damit die Angriffspunkte zu vervielfältigen, von denen aus gegen das ›System‹ agiert werden kann. In dieser Hinsicht ist eine weitere Forderung auf dem AfD-Parteitag in das Programm aufgenommen worden, nämlich die Direktwahl des Bundespräsidenten (13), um diesen in seinem Amt aufzuwerten. Das erinnert ebenfalls an die Weimarer Republik, denn die parlamentarische Demokratie wurde nicht nur von der Seite direktdemokratischer Verfahren, sondern auch von der Rolle des Reichspräsidenten in der Verfassung in die ›Zange‹ genommen. Und wir wissen, dass die extreme Rechte in der Weimarer Republik sich die Stärkung der Autorität des Reichspräsidenten (plebiszitär abgesichert) auf die Fahnen schrieb, um die Republik aus den Angeln zu heben. Davon ist die AfD sicherlich noch weit entfernt, aber sie strebt, getragen vom angeblichen ›Volkswillen‹, parlamentarische Mehrheiten an, mit denen sie möglicherweise den Umbau des Staates in diese Richtung betreiben könnte. Um die Relevanz des Konzepts der direkten Demokratie zu unterstreichen, wird es im Programm zum »nicht verhandelbaren Inhalt jeglicher Koalitionsvereinbarungen« (21) erhoben.

Fazit

Das AfD-Programm enthält im siebten Kapitel, in dem es um »Kultur, Sprache und Identität« geht, eine bemerkenswerte Formulierung: »Unser aller Identität ist vorrangig kulturell determiniert. Sie kann nicht dem freien Spiel der Kräfte ausgesetzt werden. Vielmehr soll ein Bewusstsein gestärkt werden, welches kulturelle Verbundenheit wahrnimmt, fördert und schützt.« (46) Man kann diese Passage unterschiedlich lesen. Die erste Lesart bestünde darin, sie vor dem Hintergrund der Flügelkämpfe innerhalb der AfD als eine Art Formelkompromiss aufzufassen, der Grenzen markiert und das Abgegrenzte zugleich nebeneinander bestehen lässt. Die Sorge um »kulturelle Identität« und »kulturelle Verbundenheit« wäre dann, zumal wenn man sie völkisch versteht (und dazu gibt die Lektüre des Programms genügend Anlass), das Hauptkampfgebiet des völkischen Flügels (Der Flügel); die Sorge um das »freie Spiel der Kräfte«, d.h. der Marktkräfte, wäre demgegenüber das Kampfgebiet des neoliberalen Flügels.

Nun ist aber deutlich geworden, dass speziell der Ordoliberalismus selbst Gemeinschaftsbindungen (Röpke) einfordert, um das »freie Spiel der Kräfte« nicht zu einer zerstörerischen Angelegenheit werden zu lassen. Dann wäre – zweite Lesart – das hier durchscheinende Misstrauen gegen die freie Marktwirtschaft und ihre Funktionsweise, die man gleichwohl bejaht, das verbindende Element zwischen den Flügeln – und die konservative Synthese à la Röpke, institutionell verkörpert durch den »starken Staat«, der Haltepunkt in einem insgesamt prekären Zusammenspiel zwischen den Kräften des Marktes und dem notwendigen Maß an kollektiver »Verbundenheit«. Am Beispiel der Familienpolitik hat dies Alexander Gauland wie folgt zum Ausdruck gebracht: »Nur wenn Familienpolitik künftig ebenso kraftvoll wie die der Familie widrigen Kräfte des Marktes agiert, hat sie eine Chance, die gesellschaftliche Basis jenes Wirtschaftens zu bewahren, das Institutionen zerstört, Traditionen aufzehrt und Werte verbraucht, die es nicht ersetzen kann.« Und generalisierend fährt er fort: »Die Familie ist neben dem Heimatbegriff, der nationalen Identität, der Kunst und der Religion das kräftigste Widerlager, sein stärkster Gegner.« (Gauland 2002, 74)

Dritte Lesart: Die angestrebte Synthese ist in Wirklichkeit gar keine Synthese, sondern sie hält nur einen Gegensatz fest, dessen Überwindung auf einem nichteinlösbaren Versprechen beruht. Tatsächlich rekurriert Gauland hier auf ein lediglich funktionalistisches Verständnis von Familie, Heimat und Religion und nationaler bzw. »kultureller Identität«. Anders ausgedrückt: Die Berufung auf Gemeinschaftliches ist allenfalls ein berechnendes Mittel, ein Kalkül, von dem angenommen wird, dass es den Kapitalismus als System vor den multiplen Krisen, die dessen Existenz immer wieder aufs Neue in Frage stellen, bewahren könne.

In diesem Zusammenhang ist die Formulierung im AfD-Programm aufschlussreich, »unser aller Identität [sei] vorrangig kulturell determiniert«, so als ob Kultur, um Alain de Benoist zu zitieren, Kultur »die Befehls- und Ausgabestelle für die Werte und Ideen« (Benoist de 1985, 46) einer Gesellschaft bzw. »unser aller« sei. Dieses deterministische Verständnis von Identität ersetzt Identität durch Identifikation mit einem Komplex von in sich widerspruchsfreien, nur dieser Kultur eigentümlichen Werten und Ideen, die den Individuen quasi-ontologisch vorgegeben sind. Im Prinzip eröffnet diese Perspektive keine konservative Synthese, sondern eine autoritäre Lösung für die Bestandsprobleme einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Nichts anderes intendiert der im Programm der AfD implementierte völkische Nationalismus, der allerdings über das hinausgeht, was Gauland 2002 noch als konservatives Widerlager gegen das »freie Spiel der Kräfte« offerierte. Er ist notwendigerweise exklusiv, richtet sich tendenziell gegen alles Fremde (auch wenn aus realpolitischen Erwägungen ›Ausnahmen‹ zugelassen werden können) und ebenso gegen alle ›Undeutschen‹, die nicht bereit sind, sich mit vorgegebenen »Werten und Ideen« zu identifizieren. Um dies durchzusetzen, bedarf es in der Tat eines »starken Staates«, ein Begriff, der immer als Kritik gegen den bestehenden Staat und seine Verfasstheit gemünzt ist und auf einen als notwendig erachteten »Umbau des Staates« zielt.

Diese autoritäre Lösung wird im AfD-Programm mit der Ausweitung direkt-demokratischer Verfahren einerseits und der Stärkung der Position des Bundespräsidenten angedeutet, die ansatzweise in die Richtung eines plebiszitär gestützten Präsidialregimes weist, wie sie in der Endphase der Weimarer Republik vor allem von Carl Schmitt propagiert wurde. Der damals intendierte »starke Staat« wurde sowohl von damaligen Neo- oder Nationalliberalen wie Walter Eucken, Alexander Rüstow, Alfred-Müller-Armack oder Wilhelm Röpke (die sich später, nach 1945, als Ordoliberale verstanden)[30] eingefordert (Haselbach 1991, 40-54) als auch von konservativ-revolutionärer Seite unter dem Label des »Neuen Staates« (Schotte 1932) oder »qualitativ totalen Staates« (Schmitt 1932) zum Programm erhoben. Der sozialdemokratische Staatsrechtslehrer Hermann Heller hat die ideologische Schnittmenge zwischen diesen beiden Strömungen als »autoritären Liberalismus« (Heller 1933) gekennzeichnet und deutlich gemacht, dass es sich hierbei um ein klassenpolitisches Projekt handele, das gegen die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften gerichtet sei.[31] Heute wiederholt sich dasselbe Spiel in der Zusammenarbeit zwischen AfD und den Adepten der Konservativen Revolution, der Neuen Rechten.

Literatur

Benoist de, Alain 1985: Kulturrevolution von rechts. Gramsci und die Nouvelle Droite, Krefeld.

Freyer, Hans 1955: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart.

Gauland, Alexander 1991: Was ist Konservatismus? Streitschrift gegen die falschen deutschen Traditionen. Westliche Werte aus konservativer Sicht, Frankfurt a. M.

Gauland, Alexander 2002: Anleitung zum Konservativsein, Stuttgart.

Gehlen, Arnold 1969: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a. M./Bonn.

Haselbach, Dieter 1991: Autoritärer Liberalismus und Soziale Marktwirtschaft. Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus, Baden-Baden.

Heller, Hermann 1971: Autoritärer Liberalismus [zuerst 1933], in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Leiden, 643-653.

Hirsch, Joachim 1995: Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus, Berlin.

Kellershohn, Helmut 1998: Vom »totalen« zum »schlanken Staat«. Zur Kontinuität konservativen Staatsdenkens: Ernst Forsthoff und Wolfgang Schäuble, in: Buntenbach, Annelie/Kellershohn, Helmut/Kretschmer, Dirk (Hg.): Ruck-wärts in die Zukunft. Zur Ideologie des Neokonservatismus, Duisburg, 52-97.

Magiros, Angelika 2004: Kritik der Identität. ›Bio-Macht‹ und ›Dialektik der Aufklärung‹. Werkzeuge gegen Fremdenabwehr und (Neo-)Rassismus, Münster.

Müller, Jan-Werner 2016: Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin.

Puschner, Uwe 2001: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt.

Reinfeldt, Sebastian/Schwarz, Richard 1994: ›Ethnopluralismus‹ made in Germany, in: Kellershohn, Helmut (Hg.): Das Plagiat. Der Völkische Nationalismus der Jungen Freiheit, Duisburg, 213-232.

Röpke, Wilhelm 1965: Marktwirtschaft ist nicht genug [zuerst 1957], in: Ders.: Fronten der Freiheit, Stuttgart, 227-243.

Rüstow, Alexander 2001: Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus [zuerst 1950], Marburg.

Schäuble, Wolfgang 1994: Und der Zukunft zugewandt, Berlin.

Schmitt, Carl 1995: Starker Staat und gesunde Wirtschaft [zuerst 1932], in: Ders.: Staat, Großraum, Nomos, hrsg. von Günter Maschke, Berlin, 71-91.

Schotte, Walter 1932: Der neue Staat, Berlin.

Helmut Kellershohn

Autoritärer Liberalismus

Zum Zusammenhang von Neoliberalismus und ›Konservativer Revolution‹

Einführung

Als Herbert Marcuse 1934 in der Zeitschrift für Sozialforschung seinen Artikel Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung veröffentlichte, legte er seinen Ausführungen drei Überlegungen zugrunde. Erstens ging er, so der Soziologe Heinz Gess, von einer »Kontinuitätsthese« (Gess 2005, 1) aus, der zufolge »die Wendung vom liberalistischen zum total-autoritären Staat sich auf dem Boden derselben Gesellschaftsordnung« (Marcuse 1934, 174) vollzogen habe und der Faschismus trotz heftigster Kritik am Liberalismus wesentliche Elemente der kapitalistischen Gesellschaftsordnung bejahe. »Der total autoritäre Staat« verkörpere nur »die dem monopolistischen Stadium des Kapitalismus entsprechende Theorie und Organisation der Gesellschaft« (ebd., 175). Zweitens beruhe diese ›Theorie‹ darauf, dass aus dem Weltbild des Liberalismus »entscheidende Momente aufgegriffen und in der von den veränderten ökonomisch- sozialen Verhältnissen geforderten Weise umgedeutet und weiterentwickelt« (ebd., 168) würden. Ja, der Liberalismus habe selbst, gewissermaßen in einer Phase der Selbstkritik (vor dem Hintergrund der Krise) autoritäre Ideen aus sich selbst heraus »erzeugt« (ebd., 174), so dass also Umdeutung und Selbsttransformation Hand in Hand gingen. Drittens beabsichtigte Marcuse diesen diskursiven Prozess auf dem Feld des Kulturellen und speziell in der zeitgenössischen Philosophie nachzuvollziehen.

Rückblickend fällt auf, dass Marcuse 1934 bei seinem Parforceritt durch die relevante Weltanschauungsliteratur der damaligen Zeit nicht differenzierte zwischen dem, was heute, sicherlich problematisch, mit dem Begriff ›Konservative Revolution‹ bezeichnet wird, und den im engeren Sinne faschistischen Ideologieproduzenten. Beide Ideologiestränge firmieren bei ihm unter dem Titel »heroisch-völkischer Realismus« (ebd., 161). Er betont also das gemeinsame weltanschauliche Gerüst, das es in der Tat ja auch gegeben hat und das ich idealtypisch mit dem Begriff des völkischen Nationalismus belegen würde, ohne dass er die verschiedenen Ausdifferenzierungen und politischen Optionen der jeweiligen Repräsentanten dieser Ideologiestränge berücksichtigt.

Im Folgenden geht es mir darum, den genannten Prozess der Selbsttransformation und Umdeutung beispielhaft und innerhalb eines weit enger begrenzten Rahmens (als bei Marcuse) zu untersuchen. Aus ideengeschichtlicher Perspektive soll der Zusammenhang zwischen den Anfängen des Ordoliberalismus in Deutschland während der Weltwirtschaftskrise und einigen Argumentationsfiguren der sogenannten ›Konservativen Revolution‹ und insbesondere des Jungkonservatismus, speziell Carl Schmitts herausgearbeitet werden. Dem liegt die These zugrunde, dass in dem, was Hermann Heller 1933 als »autoritären Liberalismus« bezeichnen sollte, ein Schnittpunkt zu suchen ist, der sich heute zwischen den dominanten Strömungen der Neuen Rechten und Teilen der AfD wiederfinden lässt.

Anfänge des Ordoliberalismus

Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, im Jahr 1932, sind einige Schlüsseldokumente des (später so genannten) Ordoliberalismus erschienen – von Autoren, die nach 1945 die wirtschaftspolitische Debatte rund um die sogenannte ›soziale Marktwirtschaft‹ bestimmt haben: Walter Eucken, Alexander Rüstow, Alfred Müller-Armack, Wilhelm Röpke.[32] Das Interessante an den von diesen Autoren produzierten Texten sind erstens die Übereinstimungen in ihrer Krisendiagnose der kapitalistischen Ökonomie und – mit Einschränkung – auch in ihren politischen Schlussfolgerungen (die Einschränkung bezieht sich auf Müller-Armacks Anleihen beim faschistischen Modell in Italien); zweitens zeigen sich eindeutige Parallelen zu Carl Schmitts Rede vor dem Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen (Langnam-Verein) im November 1932 und zu der Formel »Gesunde Wirtschaft im starken Staat«, wie der Titel der Veranstaltung des einflussreichen Schwerindustriellen-Vereins lautete.

Carl Schmitt, der ja eigentlich Staats- und Verfassungsrechtler war, steht – so Louis Dupeux (1994) – für die dominant im Jungkonservatismus vertretene Bejahung einer privatkapitalistisch organisierten Industriegesellschaft (z.T. ergänzt um berufsständische Organisationsformen). Davon abzugrenzen sind solche, sich als antikapitalistisch verstehende Konzeptionen, die auf eine Neubegründung des kapitalistischen Interventionsstaates zielten, mit Autarkiemodellen und planwirtschaftlichen Ansätzen operierten und partielle Verstaatlichungen empfahlen. Diesbezüglich ist vor allem der damalige Kreis um die Monatszeitschrift Die Tat von Bedeutung (vgl. Hock 1960),[33] sodann sei auf die ›Reformer‹ um Gregor Strasser verwiesen, der sich als Schüler Moeller van den Brucks, des herausragenden Vertreters der ›Konservativen Revolution‹, verstand. In diesem Zusammenhang tauchen auch neuartige konjunktur- und finanzpolitische Ideen auf, die von John Meynard Keynes, z.T. auch von den äußerst zweifelhaften Thesen des Zinskritikers Silvio Gesell beeinflusst sind (vgl. Barkai 1988).

Dieser grobe Überblick über wirtschaftspolitische Konzepte der Konservativen Revolution und der nationalsozialistischen ›Linken‹ ist deshalb von Interesse, weil sich die heutige extreme Rechte im Wesentlichen an den hier angesprochenen Differenzierungen orientiert: die heutigen Jungkonservativen an der Schmitt-Linie (einschließlich der ordoliberalen Zuarbeiter), die Neonationalsozialisten an der anderen Linie,[34] wobei Überschneidungen durchaus möglich sind. Ich konzentriere mich im Weiteren auf Eucken, Schmitt und abschließend auf die Kritik bei Hermann Heller. Was Eucken anbetrifft, stütze ich mich auf die profunde Arbeit von Dieter Haselbach Autoritärer Liberalismus und Soziale Marktwirtschaft von 1991.[35]

Walter Eucken: Krisis des Kapitalismus

Eucken knüpft in seinem Artikel Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus (Eucken 1932) an Joseph Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung an, die erstmals 1912 erschien. Schumpeter hatte hierin versucht, die Dynamik der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung zu erklären, und sie an der innovativen Funktion des Unternehmers festgemacht. »Die Leistung des Unternehmers« (bzw. die Funktion, soweit er sie verkörpert) »ist es, die vorhandenen wirtschaftlichen Beziehungen zu transzendieren, Neues in die Welt zu bringen« (DH, 26) und insbesondere vermittels des Kreditsystems eine »neue Kombination von Produktionsmitteln« (Schumpeter, zit. nach DH, 27) durchzusetzen. Eucken stellt nun fest, dass es in Deutschland trotz der enormen Kartellierung und Monopolisierung der Wirtschaft, in der eine Tendenz zur »Erstarrung oder Feudalisierung« (Eucken, 298; DH, 29) des Unternehmertums liege, genügend unternehmerisches und technisches Potential für Innovationen gebe. Daher sieht Eucken, um die »Krisis des Kapitalismus« zu erklären, die Ursachen in der hinderlichen »staatlich-gesellschaftliche[n] Organisation« (Eucken, 301; DH, 29), d.h. im »institutionellen Arrangement des Kapitalismus im 20. Jahrhundert.« (DH, 29) Letztendlich geht es ihm um die Rückgewinnung der unternehmerischen Gestaltungsfreiheit und es geht um ein Verhältnis von Staat und Gesellschaft, das dieser Gestaltungsfreiheit förderlich ist.