Künstlerdämmerung - Klara G. Mini - E-Book

Künstlerdämmerung E-Book

Klara G. Mini

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Beschreibung

Kunst und Natur – diesem Thema widmet sich eine Kasseler Weltkunstausstellung. Zum Programm gehört allerdings nicht, dass der Künstler Daniel M. Ritzelbeck mitten in der Natur erschossen aufgefunden wird. Seine Leiche liegt neben einem Basaltblock im Habichtswald. Ist er bei der Suche nach Materialien für seinen Beitrag zur Foruminarte jemandem auf die Füße getreten? Die Ermittlungen der Soko »Ruheeiche" unter Kriminalhauptkommissarin Luise Wiese gestalten sich beschwerlich. Zahlreiche ehemalige und gegenwärtige Weggenossen des Opfers haben handfeste Motive, Dani aus dem Weg zu räumen: Künstler, Jäger, vermeintliche Freunde und offensichtliche Feinde. Kein Wunder, dass Luises Zwillingsschwester Xenia sich berufen fühlt, den Dingen auf den Grund zu gehen, obwohl sie mit Krimischreiben und Kellnern schon genug zu tun hätte. Als Ordnerin hält sie bei der Foruminarte Augen und Ohren offen. Xenia und Luise Wiese arbeiten auch in diesem Fall heiter bis zickig mit- und gegeneinander.

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Inhalte

Titelangaben

15. August

17. August

23. August

1. September

2. September

3. September

4. September

5. September

6. September

7. September

8. September

10. September

11. September

12. September

13. September

14. September

15. September

16. September

17. September

18. September

19. September

20. September

21. September

22. September

23. September

24. September

25. September

Danksagung

Klara G. Mini
Künstlerdämmerung
Kassel-Krimi
Prolibris Verlag
Für meine Lieben und Liebsten,
auf dass wir heiter und mit wilder Kraft
unser Leben meistern.
Besonders für meinen Bruder.
Du weißt, warum.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2017
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto © Benjamin ['O°] Zweig, Fotolia.com
und © alphaspirit - Fotolia.com
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-159-4
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-149-5
www.prolibris-verlag.de
In Kassel hat Kunst Tradition. Und so könnte es eine Foruminarte geben, die Besucher aus aller Welt in die Fuldametropole locken würde. Die Abkürzung steht übrigens für »Forum animalium mundi in arte«. Laut Ausstellungskonzept will die Foruminarte der Natur, insbesondere den Tieren dieser Welt, einen Platz in der Kunst geben und ein Sprachrohr für sie sein.
Kunstfreunde mögen mir eine laienhafte Schnodderigkeit nachsehen, wenn ich über den Kunstbetrieb schreibe. Die erwähnten Kunstwerke sind ebenso wie die Künstler und andere Personen dieser Geschichte erfunden, Ähnlichkeiten mit noch oder ehemals lebenden wären völlig zufällig und keineswegs beabsichtigt.
Klara G. Mini
»Als ich Kind war, hatte ich zwei verschiedene Teller. Sie glauben ja gar nicht, wie schnell ich die Suppe ausgelöffelt habe, um herauszufinden, welches Bild jeweils zum Vorschein kam. Mit derselben Vorfreude gehe ich heute in Ausstellungen – besonders, wenn etwas von mir dabei ist.« – Daniel M. Ritzelbeck
15. August
Xenia:
»Kein Blitz! No flash, please.« Ich fasste den japanischen Touristen am Arm und versuchte, meiner Bemerkung durch ein versöhnliches Lächeln die Schärfe zu nehmen.
Weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hatte, mich als Aufsicht zu bewerben. »Die Abteilung Aufsichtsdienst der Foruminarte stellt für die Bewachung der Kunst weiterhin ein. Die Arbeitsstunde wird mit 8,50 Euro entlohnt. Gearbeitet wird in zwei Schichten von jeweils fünf Stunden. Absolut erforderlich ist die Bereitschaft, auch an Wochenenden zu arbeiten. Interessenten, die über Englischkenntnisse verfügen, richten ihre Bewerbung an: Foruminarte, Aufsichtsdienst, Friedrichsplatz 18b.« Falls Sie diese Adresse jemals suchen, das ist neben dem Sexshop. Hätte man mir das so erklärt, hätte ich gleich gewusst, wohin ich musste. So war ich etwas zu spät. Trotzdem wurde ich prompt genommen. Nur leicht eingestaubtes Schulenglisch, ein freundliches, zuvorkommendes Wesen. Meistens jedenfalls.
Milan, mein Freund, arbeitet wie ein Wilder, auch an den Wochenenden. Der hat nämlich ein gut gehendes Restaurant am Königsplatz in Kassel Stadtmitte. Statt dauernd im »La Paloma« zu kellnern, bewachte ich nun Kunstwerke. Und recherchierte dabei. Ich war entschlossen, einen Krimi zu schreiben. Auf so einer Kunstausstellung bekommt man eine Menge interessanter Leute zu sehen und viele Buchideen frei Haus geliefert.
»No flash, please.«
»Why?«
Warum wusste ich eigentlich auch nicht. Hier gab es ja nur wenige alte Meister, deren Farben unter Lichteinfluss leiden konnten. »It’s not allowed.«
Farid trabte herüber. Er ist 1,85 Meter groß, und das Leibchen mit der Aufschrift »Guard« spannte sich über seinen imposanten Brustmuskeln. »Everything’s okay?«
»Oh, yes.« Der Japaner packte schnell den Fotoapparat ein und ging weiter.
»Thank you, ich meine, danke.« Ich schenkte Farid ein strahlendes Lächeln. Er ist ein Schatz. Intelligent (er hat gerade sein Abi mit 1,0 gemacht), aufmerksam und zudem noch eine echte Augenweide mit schwarzen Haaren, braunen Samtaugen und durchtrainiertem Body. Etliche Besucherinnen streckten den Busen heraus und zogen den Bauch ein, wenn sie an ihm vorbeigingen. Ich dachte, dass das nicht viel nutzte. Ich beobachtete nämlich immer wieder, wie er Männerpärchen beim Herumschlendern vor den Exponaten mit Blicken verfolgte. Irgendetwas zwischen Freude, Angst und Sehnsucht.
Wir waren im ersten Raum links im Museum Fridericianum. Farid sollte »Hölle, Arsch und Hirn« bewachen, ein ziemlich wüstes Machwerk in Öl von einem Mann namens Nandor Schneider. Im Vorfeld hatte dieses Kunstwerk für großen Wirbel gesorgt. Besonders bei Fundamentalisten, die die Darstellung nackter Körper in nicht ästhetisierter Weise inmitten furchteinflößender Fabelwesen auf das Schärfste ablehnten. Gucken wollten trotzdem alle. Viele Leute standen mit blitzenden Augen davor und guckten still oder regten sich auf über den »Schweinkram«. Ich würde mir das nicht ins Wohnzimmer hängen. Aber malen konnte der Kerl.
Eines meiner Lieblingsbilder hing auf der Rückseite dieser Wand. Von Che Rubino. »L’amore che cos’è?«, eine Frage, die ich mir mitunter auch stellte. Ein Mann und eine Frau waren darauf in einem etwas surrealen Wald in verschiedensten Grüntönen zu sehen. Je nachdem wie man gerade drauf war, konnte man unterschiedliche Stimmungen in dem Bild finden. Heute war ich geneigt, ein Liebespaar zu sehen, dass der Freude an- und übereinander Raum gab. Mit Entdeckerlust. Wie Milan und ich letzte Nacht. Wir waren jetzt schon längere Zeit zusammen und immer noch schwer verknallt.
Ich schlenderte zurück zu meinem eigentlichen Standort. Vorbei an den filigranen Webarbeiten, die eine Künstlerin aus den Haaren ihrer Maine Coon Katzen in zahlreichen Naturtönen gefertigt hatte, zum Eingang. Dort stutzte ich. In der überdimensionierten »Mausefalle« saß ein Löwe, ein Plüschtier unten auf dem Metallgerüst, das in eine der leeren Bierflaschen linste, die überall herumlagen und soweit ich wusste, zur Installation gehörten. In einer befand sich tatsächlich ein Mäuseskelett und wurde in der Beschreibung des Werkes als Fundsache des Künstlers auf einem Kalkhalbtrockenrasen ausgewiesen. Den Todeskampf der armen Kreatur mochte ich mir gar nicht vorstellen und hoffte, dass ein gnädiger Herzinfarkt sie dahingerafft hatte.
»Guck mal, wie süß.« Ein kleines Mädchen zupfte seine Mutter am Ärmel und zeigte auf das Stofftier, dem man in der Tat am liebsten über die Mähne streicheln wollte. »Den würde ich gerne mitnehmen.«
»Das geht nicht, Emily.«
»Warum nicht?«
»Das ist Kunst und gehört zur Ausstellung.«
»Sieht aber genauso aus wie der von Sophie.«
»Es gibt Alarm, wenn du den wegnimmst.« Das überzeugte Emily endlich.
Als Mädel und Mutter sich den Katzenhaarstoffen zuwandten, bückte ich mich und hob den Plüschlöwen auf. Der stand definitiv nicht im Foruminarte-Katalog. Er sah billig und niedlich aus, der Typ, der mitunter in Discountern massenweise angeboten wird. Aus China, wie auf dem Streifen zu lesen war, der aus dem Ohr heraushing. Hatte ihn einer der tausendeins Landsleute von Ai Weiwei seinerzeit hier vergessen? Wohin damit? Ich konnte meinen Posten nicht verlassen. Ich beschloss, das Entsorgungsproblem zu verschieben und lagerte das Objekt hinter der Gardine auf der Fensterbank. Was kümmerte mich eigentlich die »Werktreue« der Installation? Mir sagte das Ganze mit oder ohne Kuscheltier herzlich wenig. Die Mausefalle war ein originalgetreues, allerdings etwas größeres Modell als man es im Baumarkt kaufen kann. Vielleicht zwei mal vier Meter. Innendrin hingen Fotos an durchsichtigen Fäden. Touristenhotels in der Steppe, vermutlich irgendwo in Afrika. Grinsende weiße Jäger mit ihren Trophäen, Holzfäller im Regenwald bei der Arbeit und solche Sachen. Ich hatte mir als Interpretation zusammengereimt, dass die Menschen durch ihre Eingriffe nicht nur den Löwen und Antilopen ihren Lebensraum klauten, sondern auch sich selbst. Keine Ahnung, ob das der Intention des Künstlers entsprach. Was wohl die anderen Besucher davon hielten? Gerade rollte eine Busladung an.
»Kein Blitz! No flash, please.«
Einer der Kunstbegeisterten stellte sich flink in die Installation.
»He, das geht nicht. Raus da! Würden Sie bitte aus dem Gerüst klettern!«
»Schon gut, schon gut.« Ein Kumpel hatte das Bild bereits im Kasten. Mit Blitz natürlich. Ich knirschte mit den Zähnen.
»Wissen Sie, der ist etwas impulsiv, Sternzeichen Löwe«, erklärte der Fotograf.
»Ich auch«, entfuhr es mir, »aber das ist noch lange kein Grund …«
»Henner, mach doch ein Foto von zwei Löwen vor der Mausefalle.«
Flugs hatte der Typ seinen Arm um mich gelegt und Henner die Digitalkamera im Anschlag.
»Ohne Blitz, bitte!«
Bis zum Abend blieb es turbulent. Als die letzten Besucher den Raum verließen, kam Farid herüber.
Mir fiel das Stofftier wieder ein. »Ich muss dir was zeigen.«
Als ich die Gardine zur Seite zog, war der Löwe weg. »Merkwürdig.«
Farid runzelte seine schöne Stirn, als ich ihm die Geschichte erzählte. »Kann ich mir keinen Reim drauf machen. Vielleicht wollte jemand das Kunstwerk etwas aufpeppen.«
»Es geht doch immer um die Frage: Was ist das Leben, wenn man es freilegt von allen Konventionen und Verpflichtungen?« – Daniel M. Ritzelbeck
17. August
Luise:
Von Osten her kroch ein zartoranges Licht über den Berg. Ein Versprechen für Sonnenschein? Es wurde Zeit. Die letzten Tage hatten uns nicht gerade mit sommerlichen Temperaturen verwöhnt. Ich fröstelte in meiner Leinenjacke bei gefühlten zehn Grad Celsius und hoffte das Beste.
»Komm! Wir müssen zur Arbeit.« Fricko hob die Nase vom Boden und legte den Kopf schief. Ich habe stark den Verdacht, dass er das von Kommissar Rex abgeguckt hat, dem er ohnehin ähnelt.
»Jetzt komm endlich! Wir latschen seit einer Stunde durch den Wald. Mir ist kalt.« Fricko stupste kurz die Schnauze an meine Hand und tapperte brav los. Er ist ein Drogensuchhund und bestens erzogen. Von Ferdi, meinem Lieblingskollegen. Der war jetzt schon fünf Wochen in einem Undercover-Einsatz und hatte mich gebeten, den Vierbeiner währenddessen zu betreuen. »Er kennt dich, und ich finde, es ist sowieso an der Zeit, dass er sich noch mehr an dich gewöhnt.« Wie sollte ich das denn wohl verstehen?
Von Ferdi hatte ich bisher nichts gehört. Ich hoffte, dass es ihm gutging. Seitdem ich die Verantwortung für den Hund übernommen hatte, spazierte ich viel öfter und ausgedehnter draußen herum. Ich genoss das und fuhr meist mit dem Auto ein Stück raus. Heute war ich im Habichtswald unterwegs. Als ich den Corsa aufschloss, sprang Fricko gleich auf den Beifahrersitz. Sein Lieblingsplatz. Es gibt weiß Gott sicherere Plätze für Tiere, aber da muss man die erst mal draufkriegen. Ich gab klein bei – schließlich sah Ferdi das auch locker –, schnallte den Hund an, so gut es ging.
Ein Blick auf die Uhr. Recht spät. Ich startete zügig, musste jedoch nach der nächsten Kehre wieder bremsen. Ein LKW zog mit etwa siebzig Stundenkilometern eine Kolonne hinter sich her. Natürlich konnte man auf der kurvenreichen Piste nicht überholen. Ich schaltete einen Gang zurück und fügte mich in das Unvermeidliche. Der alte braune Mercedes vor mir spuckte eine schwarze Rauchwolke aus dem Auspuff. Stinker. KS-VM-irgendwas.
Fricko neben mir bellte aufgeregt. Sekundenbruchteile später wusste ich warum. Instinktiv bremste ich etwas. Ein dackelgroßes rotbraunes Tier lief, von rechts aus dem Graben kommend, in das Vorderrad des Mercedes. Tock. Es prallte ab und fiel am Straßenrand nieder. Armer Fuchs. Nach circa zehn Metern schaltete der Fahrer die Warnblinkanlage ein, fuhr an den Rand und rollte langsam aus. Kurz spielte ich mit dem Gedanken anzuhalten. Vielleicht brauchte der Mann Hilfe. Ich sah ihn im Rückspiegel aussteigen. Aber ich war sowieso schon zu spät. Sollten doch die Kollegen vom Streifendienst übernehmen.
Als Polizistin hatte ich eine Menge gesehen. Trotzdem ließ mich das Bild von dem hübschen Tier, das sich in Sekundenbruchteilen von einem springlebendigen in ein totes Wesen verwandelt hatte, eine ganze Weile nicht los. Mittags in unserem »Betriebsrestaurant« wurde ich wieder daran erinnert.
Ein schmaler, von Kunstlicht beschienener Gang führt dorthin. Unser Küchenmeister und Diätkoch bietet ab sechs Uhr morgens verschiedene Köstlichkeiten an, auch einen durchaus trinkbaren Cappuccino aus einem neuen Kaffeeautomaten. Mir war gerade noch rechtzeitig eingefallen, dass die Kantine freitags eine Stunde früher als sonst schließt. Und so stellte ich mich um zehn vor zwei in die Schlange. Etwas weiter vor mir unterhielten sich lautstark Schulze, Krause und ein anderer Streifenbeamter.
»Da kam dieser Spinner aufs Revier. Wollte eine Bescheinigung wegen ’nem Wildschaden an seinem alten Porsche nachts auf der Rasenallee. Die Kollegen, die vor Ort der Sache nachgegangen waren, hatten aber kein Wild gefunden, auch keine Spuren und keine Haare. Also habe ich ihm erklärt, die Versicherung würde einen Gutachter bestellen, der ermittelt, ob er mit seinem Auto auf einen harten oder weichen Gegenstand geknallt ist. Da wurde der Typ fuchsteufelswild. Wollte Anzeige erstatten, gegen unbekannt. Ein Mercedesfahrer hätte angehalten und das tote Tier einfach geklaut, während er geguckt hat, was am Porsche kaputt war.«
»Jemand hat das Vieh aufgelesen? Na ja, wundert mich nicht. Wisst ihr, was man hinlegen muss für ein anständiges Wildschweingulasch?«
»Hör uff! Nahezu unbezahlbar. In diesem Fall war es aber wohl kein Sonntagsbraten, sondern ein Waschbär. Der Porschefahrer hat das ganze Revier zusammengebrüllt. Den Mercedesfahrer würde er zusammenschlagen. Der sei schuld, wenn er auf seinem Schaden sitzen bliebe, weil er das Beweisstück geklaut hat. Und uns, die Bullen, wollte er versohlen, weil wir die Bescheinigung nicht so einfach ausstellen würden. Dabei hatte ich einen Moment lang überlegt, ob ich ihm den Zettel gebe – die Spuren am Auto sahen ziemlich typisch aus –, aber als der so anfing, habe ich natürlich auf stur geschaltet. Nun hat er eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung am Hals.«
»Die Wilderei haben wir auch zu den Akten genommen. Rauskriegen können wir da nichts. Die Angaben zum Täter waren zu vage. Ein älterer Mann. Ein dunkler Mercedes mit Kasseler Kennzeichen. Da müsste er uns schon etwas mehr bieten.«
»Und jetzt?«
»In ein paar Wochen kriegt der Porschefahrer einen Brief, dass die Ermittlungen eingestellt sind, und fertig.«
Die drei lachten herzlich und trugen ihre Brötchen mit Rührei und Räucherlachs zu einem Tisch.
Ich drückte gedankenverloren auf den Knopf und beobachtete, wie zuerst Milch und dann eine verschwindend kleine Menge starker Kaffee in den Becher lief.
»Alles ändert sich immerzu, so einfach ist das. Manche nennen das den Fluss des Lebens und behaupten, sich nicht hineinzutrauen, weil sie das Wasser zu kalt finden. Dabei merken sie nicht, dass sie eigentlich schon drin sind und ständig gegen die Strömung schwimmen.« – Daniel M. Ritzelbeck
23. August
Xenia:
Kurz vor der Schließung des Museums saß der Löwe wieder da. Elektrisiert musterte ich die Leute. Zur Bewachung der Kunstwerke im hinteren Teil des Raumes war heute Moritz eingeteilt, ein schlaksiger Kerl, der Mathe und Physik auf Lehramt studierte und von einer etwas weltfremden Aura umgeben war. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Eine Horde Senioren lauschte andächtig den Ausführungen einer Kunststudentin über die verwobenen Katzenhaare. Es habe bei einer der letzten Weltkunstausstellungen eine Künstlerin gegeben, berichtete die Expertin, die die eigenen Haare zu Stickgarn umfunktioniert habe. Ungläubig schüttelte die ein oder andere Frau den silbergrauen Kopf, auch eine sehr junge ihren hellbraunen. Sie hörte heimlich zu, führte ihre Hand nach oben, vielleicht um zu sehen, ob die Frisur noch komplett war. Ein Mann machte ein Foto von »L’amore che cos’è?«, sogar ohne Blitz. Die Familie stand daneben und wartete geduldig. Ein älterer Herr wäre beinahe über die auf dem Boden stehenden niedrigen Skulpturen »Traumtiere« von Grace Collister gestolpert, wurde aber in letzter Sekunde von seiner Begleiterin am Arm zurückgehalten. Der tönerne Lindwurm mit außenkiemenartigen Ausbuchtungen und einem weit aufgerissenen Schlund konnte unversehrt weiterschlängeln, ebenso wie verschiedene andere Wesen, die allesamt einem Albtraum entsprungen zu sein schienen.
Ich nahm das Plüschtier heraus und erschrak. Jemand hatte mit Nadel, Faden, Schere und Farbe das Maul verändert.
»Das sieht ziemlich echt aus, so als hätte der Löwe gerade was gefressen«, befand Grete, als wir in meiner Küche bei einem Tee zusammensaßen. Sie ist meine beste Freundin, Geigenlehrerin und wohnt in der Etage über mir. Uneingeweihte halten sie oft für meine Mutter. Seelenverwandt sind wir auf alle Fälle. Und sehen uns auch etwas ähnlich. Beide haben wir braune Augen und Haare, Grete kurze und ich lange. Das Jugendstilhaus in der Pestalozzistraße, in dem wir leben, habe ich von meiner Oma Xenia geerbt. Außer uns wohnen hier noch mein Freund Pünktchen, ein Computerspezialist, und Familie Maier, die zudem die Metzgerei im Erdgeschoss betreibt.
»Vielleicht wäre es besser gewesen, das Tierchen deinem Chef zu übergeben.«
»Und was soll der dann damit machen?«
Kasimir, mein weißpfotiger schwarzer Kater, sprang auf den Tisch und wollte erkunden, was wir für Pralinen aßen. Ich nahm ihn auf den Schoß und streichelte ihn. Er leckte meine Hand.
»Ich frage mich, welchem Zweck das Ganze überhaupt dient. Anfangs ein niedliches Tierchen und heute ein blutrünstiger Jäger? Was kommt als Nächstes?«
Ich verschluckte mich fast am Tee. »Als Nächstes?«
»Das sieht verdammt nach Progression aus. Erst ein scheinbar harmloses Wesen, das sich dann als reißende Bestie entpuppt.«
»Gegen die Bilder von Nandor Schneider ist das gar nichts.«
»Mag sein, aber der hat im Gegensatz zu dem Stofftierliebhaber die Erlaubnis, seine Ölschinken auf der Foruminarte auszustellen. Was, wenn hier jemand unter Einbeziehung der vorhandenen Kunstwerke eine nicht genehmigte Performance durchzieht, die sich sukzessive steigern wird?«
»Meinst du nicht, dass du etwas übertreibst? Vielleicht will irgendwer die Mausefalle beleben. Und Löwen fressen nun mal andere Geschöpfe.«
»Hoffen wir, dass du Recht hast. Aber ich habe da meine Zweifel, denn warum stellt er ihn dann nicht sofort als blutrünstigen Jäger dar? Ich glaube, dahinter ist eine Botschaft verborgen. Der Löwe, König der Tiere.«
»Dieser nicht«, meinte ich, »vor so einem Plüschteil hat doch niemand Respekt.«
»Stimmt, aber warte mal ab, was noch kommt. Allerdings, fällt mir gerade ein, jagen Löwenmännchen überhaupt? Lassen die nicht die ganze Arbeit von den Frauen machen?«
»Manche Leute behaupten ja, jedes noch so banale Bildchen der zeitgenössischen Kunst würde stets von Kritikern hochgelobt. Also, mit meinen Erfahrungen deckt sich das meist leider nicht.« – Daniel M. Ritzelbeck
1. September
Xenia:
»Due Cafe latte.« Antonio grinste, als er uns die zwei Tassen über den Tresen reichte. »Die Brote kommen gleich.«
Wir balancierten unseren Kaffee zu einem Tisch und ließen uns nieder. Ich war heute Spätschicht-Ordnerin. Da konnte ich mal wieder mit Grete in der Markthalle bei »Busuito Pizza und Pasta« frühstücken gehen. Jemand hatte die HNA liegen gelassen. Aufgeschlagen die tägliche Foruminarte-Seite.
»Da vergeht einem ja der Appetit.« Voll Abscheu studierte Grete das Farbfoto, das die Installation von Daniel M. Ritzelbeck zeigte. Es handelte sich um einen alten BMW, dessen ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war, da er übersät war mit Gemälden überfahrener Tiere. Im Untertitel wurde darauf hingewiesen, dass entsprechende Farbfotos die Vorlage für dieses Werk gewesen seien. Das Ganze stand auf einem grauen PVC-Bodenbelag, der asphaltmäßig gestylt und mit Mittel- und Randstreifen versehen war.
»Das Foto ist harmlos gegen das Original«, befand ich. Ich musste es wissen, denn schließlich hatte ich das Machwerk schon öfter bewacht. »Der Typ hat angekündigt, im Laufe der Foruminarte das Szenario durch ausgestopfte Viecher zu ergänzen. Zum Glück ist er damit noch nicht so recht vorangekommen.«
»Der hat sie doch nicht alle.« Energisch legte meine Freundin die Zeitung auf den Tisch.
»Wer?«, fragte Antonio, duftende Brote vor uns abstellend.
»Der Ritzelbeck. Großer Foruminarte-Künstler.« Grete tippte auf das Foto des Herrn. Schüttere, längere, ziemlich graue Haare, schwarze Klamotten. »Hast du nichts davon gehört?«
»Der war hier und wollte, dass ich ihm seine Würstchen mit Rosinen und Fenchelsamen und den Rotwein spendiere, weil er plötzlich so berühmt ist.«
»Und, hast du?«
Antonio grinste und ging zum Tresen zurück.
Grete rührte gedankenverloren in ihrem Milchkaffee und konnte es nicht lassen, den Artikel zu überfliegen.
»Sag mir wenigstens, was drin steht«, forderte ich.
»Ritzelbeck ist ein Kasseläner. Deshalb ist ihm die HNA äußerst wohl gesonnen. Vor Jahren wurde er entdeckt mit einer Fotoserie von Kasseler Ansichten. Die außergewöhnlichen Perspektiven sollen für eine neue Sicht auf bekannte Sehenswürdigkeiten gesorgt haben. Mit zwei Bildern, die er nach nächtlichen Fotos vom Bergpark gemalt hatte, war er noch ziemlich erfolgreich. Dann wurde es still um ihn, bis er in der letzten Zeit erneut auf sich aufmerksam machen konnte. Seine umweltpolitischen Werke werden in Kunstkreisen geschätzt. Ritzelbeck will darauf hinweisen, wie zerstörerisch Menschen mit Mitgeschöpfen umgehen, und drängt auf eine Verhaltensänderung hin zu mehr Gleichberechtigung der Tierwelt.«
»Ziemlicher Blödsinn«, befand ich kauend. »Wenn er Tiere schützen will, sollte er lieber wie einige Buddhisten mit einem Besen den Weg fegen, um keine Ameisen totzutreten, statt Würstchen zu essen.«
Um zehn traf ich im La Paloma ein. Zur Zeit der Foruminarte war schon morgens geöffnet. Der Laden brummte wie verrückt. Milan hatte Ringe unter den blauen Augen.
»Da bist du ja endlich«, begrüßte er mich und gab mir einen flüchtigen Kuss. Ich hörte einen Unterton von Du-könntest-mir-ruhig-mehr-Helfen heraus. Vorsichtshalber sagte ich nichts, sondern band meine Servierschürze um.
»Sie wünschen?«, fragte ich den Herrn an Tisch dreizehn, während ich mit einer Handbewegung unauffällig ein paar herumliegende Krümel auf den Boden beförderte.
»Die Frühstücksplatte nach Art des Hauses, bitte.«
»Was darf ich Ihnen bringen?« Drei amerikanische Touristen an Tisch zwölf verstanden mich nicht. »What do you want to eat?«
Sechs Bestellungen in der Küche abliefern. Enzo stöhnte. Frühstücksplatte nach Art des Hauses enthielt ein kleines Steak, was zusätzliche Arbeit bedeutete. »Wie?«
»Wie was?«
»Das Steak.«
»Medium«, vermutete ich. Hatte glatt vergessen, danach zu fragen. Wenig später verteilte ich nach Gutdünken die verschiedenen Bestellungen auf die Tische.
»Ich wollte eigentlich Brötchen mit Quitten-Zitronen-Gelee«, sagte eine zierliche Frau schüchtern, als ich ihr das Fleisch vor die Nase stellte.
»Oh, Entschuldigung.« Ich hätte mir das alles lieber aufschreiben sollen.
»Das ist das Foruminarte-Frühstück«, behauptete ich, als ich einem mittelalten Herrn einen Teller servierte.
»Beim letzten Mal war aber Lachs dabei.«
Es gibt so Tage. Der Herr von Tisch dreizehn winkte mich heran. Strengen Blickes. »Das Steak hatte ich rare bestellt.«
Zum ersten Mal guckte ich mir den Typen genauer an. Das war doch – Ritzelbeck! Sofort war mein Widerspruchsgeist geweckt. »Haben Sie nicht. Sie haben gar nichts gesagt. Ich habe daraufhin angenommen, dass Sie Ihr Steak medium wünschen.«
»Nein, ich möchte …«
»Neunzig Prozent unserer Kunden wünschen ihr Steak medium, neun Prozent well-done«, improvisierte ich unerschrocken, zeigte noch einmal meine Zähne und schritt von dannen.
»Lass den mal in Ruhe essen. Hat er sich gerade ausbedungen«, informierte ich Luca, den festangestellten Kellner. Milan und Enzo waren zum Glück mit Kochen und Anrichten beschäftigt. So konnte Ritzelbeck herumwinken, wie er wollte. Erst als er brav aufgegessen hatte, ging ich zu seinem Tisch. »Hat es Ihnen geschmeckt?«
»Danke«, knurrte der Meister. »Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich das voll bezahle.«
»Aber selbstverständlich. Die Qualität ist bestens. Frühstücksplatte plus Kaffee und Mineralwasser, macht achtzehn Euro.«
»Wissen Sie, wer ich bin?«
»Daniel Ritzelbeck. Und Sie sitzen nicht auf Einladung von Roger Buergel im el Bulli, sondern auf eigenen Wunsch im La Paloma.«
»Holen Sie mal Ihren Küchenchef. Vielleicht kann ich das mit ihm klären.«
»Nichts dergleichen. Achtzehn Euro bar auf die Kralle. Sonst gebe ich dem Extra-Tip einen kleinen extra Tipp. Und der bringt dann einen Bericht über die Essgewohnheiten großer Künstler.« Ich gab mir Mühe, »groß« mit einem ironischen Unterton zu versehen.
Auf einmal wurde er kleinlaut. »Ich bin im Moment nicht so flüssig. Tut mir leid. Ich gebe Ihnen, was ich habe. Wenn Sie wollen, kann Ihr Chef ein Selfie mit mir machen. Oder soll ich in die Küche gehen und Teller spülen?«
Er lächelte zerknirscht, erstaunlich charmant. Ich guckte mir den Mann genauer an. Sah ziemlich abgerissen aus. Abgestoßene Schuhe, schwarze, ausgebeulte Hose, schwarzer Pullover, schwarzes Jackett, an den Ellbogen fast durchgescheuert. Aber bei Künstlern muss das nichts zu bedeuten haben. Die finden es womöglich chic, so herumzurennen. Hatte der wirklich keine Kohle, oder wollte er mich verklapsen?
»Wie viel bieten Sie denn?«
Ritzelbeck kehrte seine Hosentaschen um. »Fünfzehn Euro fünfundsiebzig.«.
»Na, okay. Ausnahmsweise. Jeden Tag eine gute Tat. Falls Sie noch mal kommen, lasse ich Sie vorher bezahlen, das schwöre ich Ihnen.«
Er ging hinaus, ich unterließ es, ihm einen schönen Tag zu wünschen. »Kein Trinkgeld. Manieren hat der Kerl«, sagte ich kopfschüttelnd zu Luca, der an einem Kaffeefleck auf seinem Hemdärmel herumrieb.
Caro und Paolo trafen ein, um dem Mittagsstress tatkräftig zu trotzen. Ich nahm ein paar Bestellungen auf, gab Essen aus und trank einen megastarken Kaffee. Schließlich sollte mich das Tief, das mich immer am frühen Nachmittag ereilte, nicht davon abhalten, pünktlich zur zweiten Schicht den Besuchern der Ausstellung die Blitzfotos zu verbieten. Milan schenkte mir einen Blick, in dem ich einen stillen Vorwurf zu lesen glaubte. Gut, war gerade totales Chaos, aber meinen Foruminarte-Job konnte ich deswegen nicht vernachlässigen. Als Kellnerin war ich, streng genommen, sowieso noch im Anfangsstadium. Mehr als zwei Teller schaffte ich nicht unfallfrei. Manchmal riskierte ich es, drei zu transportieren. Jedoch nur, wenn nicht so viel Soße drauf war.
Heute sollte ich den »Brückensaal« und die Nebenräume bewachen. Für alle Nicht-Foruminarte-Kenner: »Dieser Raum setzt sich mit Übergängen auseinander. Transparente Polycarbonatplatten und gebogene Stahlrohre überspannen verschiedene Kleinräume, die unsere Lebenswirklichkeit symbolisieren. Hierbei spielt der Künstler geschickt mit der Wahrnehmung des Betrachters, lässt optische Täuschungen entstehen, Verunsicherung, wenn man sich auf die Ausstellungsplattformen begibt und den Blick in die Tiefe wagt.« So steht es im Foruminarte-Katalog. Das Kunstwerk hatte schon im Vorfeld für Furore gesorgt. Ob die kleinen Plattformen dem Ansturm der Besucher gewachsen wären? Diese Anfrage eines pensionierten Diplomingenieurs in der lokalen Presse, verbunden mit der Androhung einer Klage, hatte eine Überprüfung der statischen Gegebenheiten bewirkt und zu einem verzögerten Aufbau geführt. Schließlich hatte man sich darauf geeinigt, dass nicht mehr als fünf Menschen gleichzeitig eine Metallplatte erklimmen sollten. Es gehörte zu den Pflichten der Ordner, für die Einhaltung dieser Vorschrift zu sorgen, wobei man bei dünneren Gestalten oder Kindern ein Auge zudrücken durfte. Ich hatte die Aussichtsplattformen auch schon betreten. Es gefiel mir. Durch spezielle Beleuchtung wurde beispielsweise die Illusion erzeugt, man befände sich auf einer schwankenden Lianenkonstruktion mitten im Urwald über einer tiefen Schlucht. Quasi auf Augenhöhe mit einer Affenhorde.
In einem Nachbarraum – alt neben neu – hing ein Monet: »Seerosen«. Beeindruckend. Ich habe was übrig für den Zauber eines Augenblicks, das Zusammenspiel von Licht und Farbe. Gegenüber das teuerste Kunstwerk der Ausstellung: »Gänseliesel«. Jedenfalls das teuerste gegenständliche. Vegeta(b)le, der Besuch von hunderteins veganen Spitzenköchen, als Gegenprogramm zum Bratwurstkrieg, war noch kostspieliger. Da schlug das kostenlose Tofugrillen für halb Kassel zu Buche. Natürlich kombiniert mit gesunden Salaten, Gemüse und Sprossen. Wie man hörte, wurde das Event von einer Firma gesponsert, die Biosoja in Italien und Frankreich anbaute.
Eine Führung nahte. Finde ich immer spannend. Ich pirschte mich in Hörweite, nicht ohne weiterhin strenge Blicke um mich zu werfen.
»Hier haben wir Claude Monets Seerosen aus dem Jahre 1899«, erläuterte eine knapp fünfzigjährige, gut gekleidete Rothaarige ihren jungen Zuhörerinnen und Zuhörern. »Dieses Motiv taucht öfter in seinem Schaffen auf, seit er 1883 Paris verlassen und sich im Dörfchen Giverny in der Normandie eingerichtet hatte. Monet hat es zu allen Jahres- und Tageszeiten gemalt, es sieht immer wieder anders aus. Jeder Moment ist einzigartig. Diese besonders üppige Darstellung entsteht auch dadurch, dass die Pflanzen im Wasser gespiegelt werden und der Raum so nach unten erweitert wird. Der Betrachter wird regelrecht in das Bild hineingezogen, in die grüne Fülle, nur an der Brücke kann er sich noch orientieren. Und hier wird es interessant. Schaut euch die Brücke mal an. Wo meint ihr, müsste der Betrachter stehen?«
Mittlerweile war ich zu dem Schluss gekommen, dass es sich um Schüler und ihre Lehrerin handelte. Mit ihnen konzentrierte ich mich auf das Gemälde. Eine lebhafte Diskussion war entbrannt, an der sich ein etwas gelangweilt wirkender, hoch aufgeschossener Junge im schmuddeligen T-Shirt bisher nicht beteiligt hatte. »Was meinst du, Jonas?«, wurde er angesprochen.
»Ist doch klar«, sagte er widerstrebend. »Die Brücke geht quer über das Bild. Es gibt ein linkes und ein rechtes Brückengeländer, das von Pfeilern getragen wird. Wenn man direkt davorsteht, überlagern sich beide Pfeiler und sehen aus wie einer. Also müsste der Betrachter dem zweiten Pfosten von links gegenüberstehen.«
»Prima.« Die Rothaarige nickte aufmunternd, ein Lächeln breitete sich vorsichtig über das Gesicht des Jungen aus.
»Gleichzeitig gibt es noch eine andere Perspektive. Da Monet die Brücke genau quer zur Längsachse des Bildes verlaufen lässt, hat man das Gefühl, mitten im Bild zu stehen. Vielleicht hat der Maler in einem Boot gesessen und ist immer hin- und her gefahren«, meinte Jonas. Alle lachten.
»Das könnte gut sein«, unterstützte ihn die Lehrerin.
»He, kommen Sie mal da runter!« Auf der Plattform standen sieben recht korpulente Leute. Zum Glück nahmen sich zwei von ihnen meine Ermahnung sofort zu Herzen, und ich konnte weiter zuhören. Die Gruppe hatte sich zum nächsten Bild bewegt.
»Das teuerste Kunstwerk hier ist die Gänseliesel. Fünfzehn Millionen hat ein amerikanischer Sammler dafür geboten«, erläuterte die Lehrerin. Einige Schüler lachten. Ich grinste. Fünfzehn Millionen für das Ölporträt einer Gans mit durchaus menschlichen Zügen. Der Bieter hatte wohl sehr spezielle Vorlieben. »Der Künstler Adrian Wilkes hat sich auf einem alten Bauernhof einquartiert, der in der Schleife einer geplanten Autobahnerweiterung stand. Er war von den Besitzern verlassen worden. Bevor nun die Abrissbirne anrückte, kam ein Gänsezüchter auf die Idee, die Wiesen letztmalig für seine Zwecke zu nutzen. Eine große Herde bevölkerte also das Grün, schnatterte herum und wuchs Wilkes so richtig ans Herz. Kurz vor Sankt Martin wurde er dann eines Morgens unsanft aus dem Schlaf gerissen. Wild lamentierende Gänse, laute Stimmen, das bohrende Kreischen einer Kreissäge. Aus dem Fenster schauend bot sich folgendes Bild, das Wilkes seitdem, wie er beteuerte, nicht mehr losgelassen hat: Ein Mann stand an dem Gerät, andere trieben ihm die Vögel entgegen. Er packte mit der rechten Hand den Kopf eines Tieres, mit der linken den Rumpf und führte den Hals an das rotierende Sägeblatt. Zack. Die nächste Gans. Binnen kürzester Zeit war die Weide entvölkert.«
Zahlreiche betroffene Äußerungen aus der Schülerschaft. »Krass.«
»Das ist ja wohl voll der Hammer.«
»Ich ess nie wieder Gans.«
»Wilkes machte Fotos, die er später unter Tränen, wie er sagte, für das eigentliche Kunstwerk in Öl auswertete. Herausgekommen ist die Gänseliesel. Sie liegt auf einem gedeckten Tisch. Ein Tier, das deutlich menschliche Züge trägt. Über den Hals verläuft der Schnitt. Und weil die Gänseliesel liegt, müsst ihr, wenn ihr in ihre Augen schauen wollt, den Kopf neigen, euch quasi selbst verletzlich machen. Im Gegensatz zum Vorbild ist die Gänseliesel auf dem Bild sehr lebendig. Probiert es aus: Egal, wo ihr steht, sie folgt euch mit den Augen.« Ahs und Ohs ließen darauf schließen, dass es funktionierte. Musste ich unbedingt austesten. Zwei Girlies im Randbereich der Gruppe plauderten. »Sonst ist Kunst echt Scheiße, aber die Frau Macke ist voll cool.«
»Stimmt. Nur, dass sie Leon eine Sechs gegeben hat, war total unfair.«
»Wollt ihr auch mal Blickkontakt mit Liesel aufnehmen?«, fragte die Lehrerin und lächelte sie freundlich an. Beide nickten. Die Frau war von ihrem Unterrichtsstoff überzeugt. Das sah man gleich.
»Forscher haben sich die Abmessungen des Gänsegesichtes mal etwas genauer angeschaut, und jetzt wird es ein bisschen merkwürdig. Sie haben nämlich festgestellt, dass die Proportionen Ähnlichkeit haben mit dem Gesichtsschnitt eines etwa vierzehnjährigen Mädchens. Wir kommen also nicht umhin, einen gewissen Lolita-Effekt zu konstatieren.« Die Lehrerin grinste unverhohlen, die Jugendlichen lachten lauthals.
»Das ist doch Quatsch, oder?«, fragte eine Schülerin.
»Nicht ganz«, sagte die Rothaarige. »Ich habe vor Jahren mal über eine Untersuchung gelesen, in der man Männer bat, die Attraktivität von Frauengesichtern einzuschätzen. Am besten fanden sie ein computererzeugtes Bild, das dem Gesicht eines etwa vierzehnjährigen Mädchens entsprach. Diesen Ergebnissen zufolge müssten sich also alle männlichen Wesen um euch reißen«, wandte sie sich an die Mädels in ihrem Kurs.
»Oh, nein«, meinte ein Junge. »Da ist mir doch die Gänseliesel lieber.« Viele lachten.
Mir fiel auf, dass Moritz sich ebenfalls herangepirscht hatte und hochinteressiert lauschte. Cora zupfte ihn am Ärmel. »Los, Kumpel, Kunstwerke bewachen! Ich habe keine Lust, alleine auf Silvian Forsts Punktbilder aufzupassen.« Sie zwinkerte mir zu. »Wenn ich so was seinerzeit im Kunst Leistungskurs abgegeben hätte, hätte ich die Versetzung nicht gekriegt.« Cora war ebenso klein wie resolut. Obwohl sie das zarte Aussehen ihrer asiatischen Mutter geerbt hatte, wirkte sie wenig fügsam. Eigentlich wollte sie Turnerin für die Performance in der Collister-Installation werden – in der Presse als ebenso ästhetische wie artistische Höchstleistung gelobt –, hatte aber die Bewerbungsfrist verpasst. Nun ordnerte sie tapfer Tag für Tag und hoffte darauf, dass sich eine der Athletinnen eine fette Zerrung zulegte und sie einspringen konnte. War bisher nicht eingetreten.
»Man müsste die Gänseliesel klauen.«
»Wie bitte?« Gretes Hand mit dem Vanilletrüffel verharrte kurz über der Pralinenschachtel. Wir saßen gemütlich zum Tee in meiner Küche zusammen.
»Nur im Krimi natürlich. Ich habe gehört, das sei das teuerste Exponat auf der Ausstellung. Fünfzehn Millionen. Wäre doch spannend, einen Kunstraub zu planen.«
»Und wie willst du das machen? Ist wahrscheinlich mordsmäßig gesichert.«
»Ich habe es mir heute genau angeschaut. Nur der Rahmen ist an die Wand geschraubt. Wenn es gelänge, die Glasscheibe vorne zu zerschneiden, könnte man das Bild einfach herausnehmen.«
»Dann ginge bestimmt Alarm los.«
»Vielleicht. Aber nur der Rahmen ist verkabelt. Fragt sich, wie stark der erschüttert werden muss, damit es schrillt.«
»Kleiner Stromausfall?«
»Ich fürchte, die haben ein Notstromaggregat.«
»Also mir geht es immer so: Wenn ich etwas nicht weiß, suche ich Leute, die mir das erklären können.« – Daniel M. Ritzelbeck
2. September
Xenia:
»Milan, wie könnte man ein Notstromaggregat sabotieren?« Ich weiß, das ist nicht das optimale Gesprächsthema, wenn man mit dem Liebsten am sehr späten Sonntagabend – oder war es eher frühmorgens am Montag – in verknüllten Laken kuschelt. Mein Schatz war halbwegs ausgeglichen. Montags hatte das La Paloma zu. Zwar hatte Milan erwogen, in der Zeit der Foruminarte sieben Tage die Woche zu öffnen – er mutierte manchmal zum Workaholic – aber zum Glück hatte Enzo Haare auf den Zähnen, wenn es sein musste. Er hatte erklärt, da stünde er nicht zur Verfügung, die anderen seines Wissens ebenfalls nicht. Die nickten erst schüchtern, dann immer überzeugter, und Milan gab nach. Er konnte den freien Tag gut gebrauchen, wie er sich ungern selbst eingestand. Einkaufen, planen, zum Karatetraining gehen und mit mir im Bett liegen.
»Wie könnte man ein Notstromaggregat sabotieren?«, wiederholte ich.
»Ich überlege. Vielleicht die Zündkerzen herausdrehen oder den Diesel ablassen. Warum?«
»Im Fridericianum, da ist das Aggregat doch bestimmt gesichert.«
»Extraraum im Keller vermutlich. Abgeschlossen. Was hast du eigentlich vor?«
»Die Gänseliesel klauen. Keine Angst. Nur im Roman.«
»Da bin ich ja ungemein beruhigt. Du müsstest nur noch dem Hausmeister den Schlüssel entwenden. Kaum ein Problem bei deinem Charme.«
»Gibt es ein kleines handliches Gerät, mit dem man Glas schneiden kann?«
»Glasschneider.«
»Kriegt man damit auch Sicherheitsglas kaputt?«