Kuromori, Band 1: Das Schwert des Schicksals - Jason Rohan - E-Book

Kuromori, Band 1: Das Schwert des Schicksals E-Book

Jason Rohan

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

WENN IM WESTEN ZWEI SONNEN AUFGEHEN, STEHT DAS SCHICKSAL DER MENSCHEN AUF MESSERS SCHNEIDE. NUR EIN JUNGE KANN SIE DANN NOCH RETTEN. DOCH DAFÜR BRAUCHT ER DAS HIMMELSSCHWERT DER GÖTTER. Eigentlich wollte Kenny in Tokio nur seinen Vater besuchen. Doch kaum ist er gelandet, wird er von finsteren Männern entführt. Sie nennen ihn "Kuromori" und wispern von einer alten Prophezeiung, in der er eine entscheidende Rolle spielt. Kenny ist sich sicher, dass sie den Falschen erwischt haben. Denn wie soll er, ein ganz normaler Junge, es mit übermächtigen Göttern und einem tödlichen Drachen aufnehmen können? Kuromoris Reise zu seinem Vater nach Japan ist der Auftakt eines mehrteiligen Leseabenteuers für alle Fans von Percy Jackson, asiatischer Kampfkunst und packender Unterhaltung... Action vom Feinsten, bei der das hochtechnisierte Japan und seine fantastischen Götter- und Sagengeschichten aufeinandertreffen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 307

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Als Ravensburger E-Book erschienen 2017Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2017 Ravensburger Verlag GmbHDie Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel The Sword of Kuromori bei Egmont UK Limited, The Yellow Building, 1 Nicholas Road, London W11 4AN.The author has asserted his moral rights. All rights reserved.Copyright © 2014 Jason RohanÜbersetzung aus dem Englischen: Jacqueline CsussUmschlagillustration: Miriam WeberKatana: CanStockPhoto/oorkaRedaktion: Beate SpindlerAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47808-8www.ravensburger.de

Für Christine - um eine Kostbarkeit wie sie zu finden, musste ich nach Japan reisen

Kennys Finger krallten sich so fest in die Armlehnen des Sitzes, dass ihm die Knöchel wehtaten. Seinen ersten Flug hatte er als spannend und aufregend in Erinnerung, inzwischen fand er das Fliegen aber nur noch anstrengend.

Die Boeing 747 sackte schon wieder ab, sein Magen machte einen Satz nach oben, dann wurde sein Gewicht in den Sitz zurückgedrückt. Wie er das hasste! Es fühlte sich an wie eine verlangsamte Achterbahnfahrt, bloß nicht annähernd so lustig.

Entspann dich, sagte er sich, es ist sicherer als Autofahren. Hör auf, dir vorzustellen, dass du in einer tonnenschweren Druckkammer aus Metall festsitzt, die elftausend Meter über der Erde mit tausend Stundenkilometern dahinrast.

Im Gang neben ihm war ein Flugbegleiter in die Hocke gegangen, auf dessen Namensschild Daniel Mayer stand. Er tätschelte ihm den angespannten Arm und fragte mit einem routinierten Lächeln: »Macht dich das Fliegen nervös?«

Als Kenny den Kopf schüttelte, spürte er ein Knacken im Nacken.

»Nein«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Nur das Abstürzen.«

Der Typ namens Daniel lächelte. »Keine Sorge. Ich bin die Strecke von Seattle nach Tokio schon hundertmal geflogen und lebe immer noch. Außerdem landen wir bald.« Sein Blick fiel auf den leeren Sitz neben Kenny. »Reist du alleine?«

Kenny nickte. »Ja. Ich fliege zu meinem Vater. Er arbeitet in Tokio. Ich bleibe den ganzen Sommer bei ihm.«

»Klingt nicht so, als würdest du dich drauf freuen.«

Kenny zuckte die Achseln. »Na ja … ist kompliziert.«

Daniel tätschelte noch einmal Kennys Arm, dann stand er auf. »Zum ersten Mal in Japan?«

Kenny nickte.

»Es wird dir gefallen. Krasses Land. Einerseits voller Hightech und andererseits total traditionell.«

»Kenny Blackwood?«, erklang plötzlich eine weibliche Stimme.

Im Gang war eine japanische Flugbegleiterin mit einem Umschlag in der weiß behandschuhten Hand aufgetaucht. Auf ihrem Namensschild stand Naoko Iwamoto.

»Sitz 57C? Kenny Blackwood? Bist du das?«, fragte sie.

Wieder nickte Kenny.

Naoko reichte ihm den Umschlag. »Ich wurde gebeten, dir kurz vorm Landeanflug diesen Brief zu geben.«

Kenny drehte den Umschlag zwischen den Händen hin und her. Er war zugeklebt, aber nicht beschriftet, und in seinem Inneren ertastete er die Ränder eines gefalteten Blatt Papiers und einen kleinen zylindrischen Gegenstand von der Größe und Form eines Lippenstifts.

Seltsam, dachte er. Wer schickt mir im Flugzeug einen Brief?

Er nahm das Plastikmesser aus seiner noch nicht abgeräumten Menüschale, schlitzte damit den Umschlag auf und zog eine getippte Seite hervor. Er begann zu lesen:

An Kenneth, den liebsten aller Enkelsöhne!

Wenn alles gut geht, liest du diese Zeilen hoch über dem Pazifik, kurz vor dem Landeanflug auf Japan, wo du, so wie ich es wollte, die Sommerferien bei deinem Vater verbringen wirst.

Ich weiß noch gut, wie es mir ging, als ich zum ersten Mal allein in ein fremdes Land fuhr, aber nachdem ich mich an die lokalen Sitten und Gebräuche angepasst hatte, entdeckte ich einen Ort voller magischer Wunder. Ich könnte mir vorstellen, dass auch du jetzt eine ähnliche Reise der Selbsterkenntnis antrittst.

Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, dann diesen: Glaube an dich selbst, vertraue deinen Gefühlen, tue das Richtige, besonders dann, wenn es am schwierigsten ist. Und denke immer daran, eine Gurke dabeizuhaben, wenn du dich in die Nähe von Süßwasser begibst.

In Liebedein Großvater Lawrence

Kenny blickte mürrisch auf die Zeilen. Sein Großvater, ein ehemaliger Professor für Orientalistik und mit über neunzig Jahren längst im Ruhestand, lebte in England, in Buckinghamshire. Er galt als exzentrisch, aber das hier war selbst für jemanden wie ihn bizarr.

Nachdem Kenny das Blatt gewendet hatte, warf er einen Blick in den Umschlag. Darin lag eine kleine Holzpfeife und ein winziges Stück Papier – ein durchsichtiger quadratischer Zettel von der Größe einer Briefmarke.

Er fischte ihn heraus und hielt ihn gegen das Licht über seinem Kopf. Wie vermutet, stand da noch etwas:

Mach dir eine Kopie von dem Brief. Benutze die Pfeife nur in Notfällen. Iss diesen Zettel sofort auf.

Ein Lächeln stahl sich auf Kennys Gesicht. Sein Großvater hatte immer schon eine Vorliebe für geheime Botschaften und Verschlüsselungen jeglicher Art gehabt.

Achselzuckend zog er sein Handy aus der Hose und fotografierte den Brief. Dann biss er in den Rand des perlmuttfarbenen Zettels. Das Papier schmolz auf seiner Zunge wie eine Waffel.

Reispapier, dachte er, bevor er sich den Rest in den Mund schob.

Jetzt noch die Pfeife: Sie bestand aus einem kurzen Stück Bambusrohr mit einem Schlitz zum Hineinblasen, einem rechteckigen Loch am oberen Ende und einem runden Loch am unteren. Auf der Unterseite war etwas eingraviert:

Kenny streckte den Kopf über die Lehne, um sich zu vergewissern, dass niemand zu ihm herübersah, dann blies er vorsichtig in die Pfeife. Pfft. Sie gab keinen Ton von sich.

Er versuchte es noch einmal, diesmal etwas stärker. Pffft. Wie beim ersten Mal hörte er nur den eigenen, durch das Rohr rauschenden Atem. Überzeugt, es müsse irgendeinen Trick geben, blies er ein letztes Mal hinein, diesmal mit der ganzen Kraft, die seine Lunge hergab. Pfffff…

Mittendrin hielt er erschrocken inne, denn er war überzeugt, aus dem Gepäckfach über sich ein ungehaltenes Klopfen gehört zu haben. Die Pfeife immer noch an den Lippen, saß Kenny wie versteinert da. Das Klopfen war zwar verstummt, dafür hörte es sich jetzt so an, als würde jemand in dem Fach über ihm heftig an der Wand kratzen.

Ihm lief ein Schauer über den Rücken, und während er noch grübelte, was er tun sollte, ging mit einem Ping! der Kabinenlautsprecher an. Kenny fuhr vor Schreck zusammen.

Dann erklang die Stimme des Chefstewards. »In wenigen Minuten beginnen wir mit dem Landeanflug auf den Narita International Airport von Tokio.«

Während die anderen Passagiere wie auf ein Stichwort in Bewegung gerieten, noch einmal aufs Klo gingen, ihre Taschen in den Gepäckfächern und unter den Sitzen verstauten, sich gähnend dehnten und streckten, stand Kenny auf und starrte die Klappe zu dem Gepäckfach über seinem Sitz an. Er wollte sie öffnen und nachsehen, was da geklopft und gekratzt hatte, fürchtete sich aber auch davor. Doch dann holte er tief Luft, öffnete die Klappe einen Spalt weit und lugte hinein.

Als er die zwei glänzenden Knopfaugen erblickte, die ihn aus dem Inneren des Fachs anstarrten, stieß Kenny einen Schrei aus. Er stolperte nach hinten und landete auf einer dicken Frau, die gerade im Begriff war, sich Erdnüsse aus einer kleinen Tüte in den Mund zu schaufeln.

»Pass doch auf!«, rief die Frau, als die Nüsse auf den Boden fielen.

»Entschuldigung«, murmelte Kenny. Er machte ein paar Schritte von ihr weg, blieb jedoch auf sichere Distanz zu dem Gepäckfach.

Daniel, der Flugbegleiter, tauchte wieder auf. »Kann ich helfen?«, fragte er niemand Bestimmten.

Kenny deutete auf das Gepäckfach. »Da ist … ein … da ist … so ein Ding …«

»Ein Ding? Was für ein Ding? Ist was mit deinem Gepäck?«

»Nein, ich glaube, da drin ist ein … Tier«, sagte Kenny mit ängstlicher Stimme.

»Sag mal, bist du nicht ein bisschen zu alt für solche Scherze?«

»Das ist kein Scherz«, erwiderte Kenny. »Da drin ist ein Tier. Ehrlich, ich hab’s selbst gesehen.«

»Ein Tier, hm?« Daniel streckte die Hand nach dem Griff aus. »Dann wollen wir mal nachsehen.«

Kenny stellte sich hinter den Flugbegleiter und spähte an ihm vorbei nach oben. Die Klappe schwang hoch, und in der breiten Wanne, die Beine überkreuzt wie ein Buddha und mit dem Rücken an Kennys Rucksack gelehnt, fläzte ein fettes Tier von der Größe eines Dachses. Die lange schmale Schnauze und das dichte rotbraune Fell an Kopf und Rücken erinnerten an einen Fuchs. An den Beinen und am Bauch war das Fell schwarz. Das Schwarz zog sich weiter über die Brust, an der Schnauze vorbei und bildete schließlich einen Kreis um jedes Auge.

»Da ist nichts«, sagte Daniel. »Nur dein Rucksack.«

Kenny stand der Mund offen. »Aber … aber da ist doch … sehen Sie es denn nicht?«

Das sonderbare Tier winkte Kenny mit einer Pfote zu, mit der anderen hielt es sich einen Finger an die geschürzten Lippen. Dann gähnte es und ließ einen fahren.

Kenny starrte fassungslos in das Gepäckfach. Er blickte sich rasch um und stellte fest, dass ihn die anderen Passagiere neugierig musterten.

»Sieht von Ihnen … sieht das niemand?«, stammelte er und zeigte auf das pelzige Wesen.

»Kleiner, da drin ist nichts«, sagte die Erdnusslady und betonte dabei jedes Wort, als hätte er einen Dachschaden.

»Der Arme, das muss die Müdigkeit sein«, sagte ein Mann. »Er sieht schon Gespenster.«

»Also ich tippe auf Drogen«, erwiderte ein anderer.

»Das gibt’s doch nicht!« Kenny ließ seinen Blick über die Gesichter schweifen. »Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes erklären, Sie sehen da drin kein … äh … Ding?«

Reihe um Reihe beantworteten die Leute seine Frage mit ausdruckslosen Mienen, dann verloren sie das Interesse an ihm und wandten sich wieder ihren Vorbereitungen für die Landung zu.

»Okay, junger Mann, du setzt dich jetzt bitte hin und schnallst dich an«, sagte Daniel sanft, aber entschieden. »Du hast deinen Spaß gehabt, jetzt reicht’s.«

Kenny nickte benommen und warf einen letzten Blick auf das haarige Etwas, das sich an seinen Rucksack gekuschelt hatte. Es blies ihm noch schnell eine Kusshand zu, dann klappte Daniel den Deckel zu.

Völlig verwirrt ließ sich Kenny in seinen Sitz plumpsen und schnallte sich an.

Naoko, die japanische Flugbegleiterin, kam durch den Gang auf ihn zu. Sie beugte sich über ihn, um seinen Müll einzusammeln, und sagte leise: »Das Ding, das du gesehen hast, war es groß und zottelig, mit schwarzen Augen wie ein Waschbär?«

Kenny nickte. »Woher …?«

Naoko lächelte. »Also sehen konnte ich es auch nicht …« Und dann zwinkerte sie ihm zu.

Für Kenny war es schon schlimm genug, dass sein Großvater ihn ausgerechnet nach Japan schicken musste. Noch schlimmer war jedoch die Aussicht, die nächsten drei Monate bei seinem Vater verbringen zu müssen. Und als würde das alles nicht reichen, wurde er jetzt auch noch von einem schrägen Tier gestalkt, das in seinem Gepäckfach hockte und das außer ihm keiner sehen konnte.

Er schloss die Augen, versuchte sich zu entspannen und dachte an sein Leben im Internat der Oregon International School. Sein Zimmergenosse Chad war inzwischen längst in Boston. In ein paar Tagen würde er mit seiner Familie nach Namibia fahren und eine Safari machen, der Glückspilz. Kenny seufzte. Musste schön sein, eine Familie zu haben.

Als er seinen Rucksack nach der Landung aus dem Gepäckfach holte, war das Tier verschwunden.

Er ging die Gangway entlang, gelangte in einen ultramodernen, weitläufigen Terminal und folgte dem Wegweiser zur Passkontrolle. Mit festem Boden unter den Füßen fühlte er sich gleich besser. Doch das gute Gefühl sollte nicht lange anhalten.

Als er an der Reihe war, forderte ein uniformierter Japaner ihn auf, zu ihm an den Schalter zu kommen. Kenny reichte ihm seinen Pass und den Einreisezettel. Der Beamte zog den weinroten Pass durch den biometrischen Scanner, starrte auf den Bildschirm, runzelte die Stirn und zog das Dokument noch einmal durch den Schlitz.

Er winkte seinen Vorgesetzten herbei und die beiden Männer unterhielten sich kurz.

Kenny verlagerte sein Gewicht und schob die Hände in die Hosentaschen.

Der Vorgesetzte inspizierte das Passfoto und verglich es mit Kennys Gesicht.

»Ihr Name, bitte?«, fragte er auf Englisch.

»Kenneth Blackwood.«

»Wie alt sind Sie?«

»Ich bin fünfzehn.«

»Sie reisen allein?«

Kenny nickte und fing allmählich an, sich zu wundern. Was sollten diese Fragen?

Der Beamte tippte mit dem Finger auf den Einreisezettel. »Sie haben einen britischen Pass, aber diese Adresse hier ist in Amerika. Richtig?«

»Ja. Ich wurde in England geboren und bin mit acht in die Staaten gezogen. Meine Mutter war Amerikanerin, deshalb habe ich die doppelte Staatsbürgerschaft. Ist das ein Problem?«

»Die Adresse hat keine Hausnummer«, sagte der Beamte mit Blick auf den Zettel.

»Es ist ein Internat. Dort wohne ich.«

Die Augenbraue des Mannes wanderte nach oben. »Internat? Wie bei Harry Potter?«

»Nein, eben nicht. Der mochte seine Schule.«

Der Beamte musterte Kenny, als suchte er nach dem Grund für seinen verärgerten Tonfall. »Was ist der Zweck Ihres Besuchs?«, fragte er.

»Mein Vater ist Professor an der Universität von Tokio. Ich verbringe den Sommer bei ihm.«

Der Vorgesetzte nickte bei jeder seiner Antworten. »Wir haben noch ein paar Fragen an Sie«, sagte er. »Bitte kommen Sie mit.«

Kenny ließ die Schultern sinken. »Dauert das lange? Mein Vater holt mich nämlich ab und …«

»Kommen Sie. Bitte.«

Die beiden Beamten führten ihn an den gaffenden Mitreisenden vorbei.

»Also doch Drogen!«, hörte er die Erdnusslady noch sagen.

Kenny folgte den Beamten in ein kleines Büro.

»Bitte.« Der Vorgesetzte deutete auf einen von zwei Stühlen.

Kenny setzte sich hin und trommelte mit den Fingern nervös auf die Tischplatte, während die Männer den Raum wieder verließen.

Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufschwang und ein anderer Mann hereinkam. Er hatte einen dunklen Anzug an, trug eine Sonnenbrille und sein schwarzes Haar war mit Gel nach hinten frisiert.

»Mr Blackwood«, sagte der Neue und streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. »Mein Name ist Sato.« Er schob eine Visitenkarte über den Tisch und setzte sich Kenny gegenüber. »Ich bin hier, weil ich Ihnen helfen möchte.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte Kenny. »Ich dachte, ich brauche kein Visum für Japan.«

»Sie sind Ken Blackwood, richtig? Der Sohn von Charles Blackwood und der Enkel von Lawrence Blackwood?«

»Ja, stimmt«, sagte Kenny verblüfft. »Woher wissen …?«

»Ihr Großvater ist ein bedeutender Mann. Für einige Menschen in Japan sogar ein Held. Wussten Sie das?«

Kenny blinzelte. »Nein.«

Sato lehnte sich zurück und legte die Finger aneinander. »Ich bin nicht sicher, wie viel ich Ihnen verraten darf – ob ich Ihnen überhaupt etwas verraten darf –, aber ich will versuchen, Ihnen zu helfen. Und dann helfen Sie mir, einverstanden?«

Aus dem Augenwinkel nahm Kenny hinter der Milchglasscheibe der Tür einen riesigen Schatten wahr.

»Ihr ojisan, also Ihr Großvater, kam nach dem Zweiten Weltkrieg nach Japan, ja?«

Kennys Blick ruhte wieder auf Sato. »So hat er es mir jedenfalls erzählt.«

»Und hat er Ihnen auch erzählt, dass er hier war, um den Japanern nach dem Krieg zu helfen?«

»Ja, so ähnlich.«

Sato lächelte. »Ihr Großvater – verzeihen Sie, wenn ich das sage – ist ein Lügner und ein Dieb.«

Bevor Kenny etwas erwidern konnte, klopfte jemand leise an die Tür.

»Herein!«, rief Sato.

Als die Tür aufging und ein anderer Beamter den Raum betrat, folgte ihm eine riesige Gestalt. Sie war locker drei Meter groß und strotzte vor Kraft. Das wäre an sich schon beängstigend genug gewesen, doch was Kenny noch viel beunruhigender fand, waren seine ziegelrote Haut, die aus dem Unterkiefer ragenden Stoßzähne und die beiden Hörner auf seinem Kopf.

Mit einem Satz war Kenny auf den Beinen. Er packte seinen Stuhl, um ihn als Waffe einzusetzen, und kauerte sich damit an die Wand.

»Taro! Ike!«, bellte Sato und wies zur Tür.

Das Monster verneigte sich und eilte wieder hinaus.

»Mr Blackwood, bitte setzen Sie sich. Sie haben nichts zu befürchten.« Sato trat auf Kenny zu, um ihm aufzuhelfen.

»Was … war … das denn?«, krächzte Kenny.

»Beschreiben Sie mir, was Sie gesehen haben.«

»Oh nein, nicht schon wieder. Sagen Sie jetzt nicht, Sie haben ihn nicht gesehen.« Kennys Herz schlug wie ein Hammer in seiner Brust.

Sato fasste sich an die Sonnenbrille. »Doch, doch, ich habe ihn gesehen. Ich möchte mich nur überzeugen, dass wir beide das Gleiche gesehen haben.«

»Sie meinen den roten Riesen mit den Hörnern? Der aussieht wie eine Kreuzung aus Shrek und Hellboy?«

Sato legte den Kopf schief. »Sie haben also die Gabe. Interessant. Ich dachte immer, gaijin können oni nicht sehen.«

»Oni? Heißt er so?«

»Ich nenne ihn Taro, aber es stimmt, er ist ein oni.«

»Und was ist eine guy-jean?«

»Das sind Sie. Ein Außenseiter, ein Ausländer.« Sato setzte sich wieder hin. »Mr Blackwood, was Sie soeben gesehen haben, bleibt den meisten Menschen verborgen. Sie haben gerade einen Blick in eine geheime Welt geworfen.«

»Das kapier ich nicht.«

»Das musst du auch nicht. Du gestattest, dass ich dich duze? Dein Großvater hat dich nach Japan geschickt, damit du einen Auftrag für ihn zu Ende bringst. Davon bin ich fest überzeugt. Und ich bin hier, um dir zu helfen.«

»Einen Auftrag? Was denn für einen Auftrag? Ich besuche doch bloß meinen Vater. Darf ich jetzt endlich gehen?«

»Leer bitte deine Taschen aus. Hat dir dein Großvater etwas mitgegeben?«

»Sekunde … Sie haben diesen oni absichtlich hereingeholt. Wieso?«

»Nennen wir es einen Test. Die Tatsache, dass du Taro sehen kannst, sagt mir, was ich wissen muss. Bitte leer jetzt deine Taschen aus.«

»Und was, wenn ich mich weigere?«

»Dann tut Taro es für dich.«

Kenny fluchte im Stillen, während er den Inhalt seiner Taschen auf den Tisch legte: seinen Schlüsselbund mit dem Anhänger von Newcastle United, etwas Kleingeld, eine angebrochene Packung Kaugummi, sein Handy, einen Packen Spielkarten, der mit einem Gummiring zusammengehalten wurde, und die Bambuspfeife.

»Ist das alles?«, fragte Sato und erhob sich wieder.

Kenny nickte. Als Sato zu ihm trat, verspannte sich sein Körper. Der Mann war ihm unheimlich.

»Steh auf und streck die Arme aus.« Sato tastete ihn ab. Als er auf Brusthöhe Papier rascheln hörte, langte er in Kennys Jacke und zog den Umschlag hervor. »Da hast du wohl etwas vergessen«, sagte er, während er den Brief herausnahm und ihn rasch überflog.

»Hey!«, protestierte Kenny. »Das ist privat. Die Briefe anderer Leute gehen Sie …«

Weiter kam er nicht. Eine blitzschnelle Handbewegung in der Luft und Sato hatte Kennys Stimme zum Verstummen gebracht. So als hätte er einen Knopf gedrückt.

Trotz seiner Verblüffung protestierte Kenny jetzt erst recht und kam sich dabei vor wie eine Figur in einem Stummfilm.

Sato las den Brief ein zweites Mal, dann wandte er sich mit einem verwirrten Gesichtsausdruck an Kenny. »Das ist ein merkwürdiger Brief. Nicht sehr aussagekräftig. Ich mache mir eine Kopie davon. Du bleibst zu deiner eigenen Sicherheit so lange hier – Taro wacht vor der Tür.« Er warf den Umschlag auf den Tisch und verließ den Raum.

Kennys Gedanken überschlugen sich. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Vor noch nicht einmal zwölf Stunden war er ein ganz normaler Teenager gewesen, der sich auf den Weg nach Japan gemacht hatte. Kaum angekommen, schien er in eine Art Albtraum geraten zu sein.

Er nahm sein Handy vom Tisch und fluchte leise, als er feststellte, dass es keinen Empfang hatte. Er ließ es in seine Tasche gleiten, dann steckte er auch die anderen Habseligkeiten wieder ein. Als er den Umschlag aufhob, rollte etwas darunter hervor: die Pfeife.

Was hatte Opa geschrieben? Benutze die Pfeife nur in Notfällen. Noch so ein Witz. Andererseits, wenn das hier kein Notfall war …

Kenny blies so fest er konnte in die Pfeife. Sie gab auch diesmal keinen Ton von sich. Er wollte gerade noch einmal hineinblasen, als er über sich ein Poltern hörte. Die Deckenplatte wurde ein Stück angehoben, dann schob sich eine spitze Schnauze hindurch und gleich darauf tauchte ein Paar glänzender Knopfaugen auf.

Beim Anblick des dicken Pelztiers aus dem Flugzeug machte Kenny unwillkürlich einen Schritt zurück. Es war also doch keine Einbildung gewesen.

Kenny sah dem Wesen gebannt dabei zu, wie es sein Hinterteil durch die Lücke zwängte, kurz an den Vorderbeinen in der Luft baumelte und dann ungelenk auf den Tisch plumpste. Jetzt erhob es sich auf die Hinterbeine und streckte die Arme aus, als wollte es umarmt werden.

Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, hob Kenny das Tier auf. Doch anstatt die Arme um ihn zu legen, langte es mit den Pfoten nach seinem Hemd, öffnete geschickt vier Knöpfe und schlüpfte unter seine Kleidung.

Kennys Mund öffnete sich zu einem stummen »Hey!«. Er wollte das Wesen wieder herauszerren, spürte aber, wie es sich an seinen Bauch schmiegte und immer flacher wurde. Es hatte sich binnen weniger Sekunden in einen Pelzschal verwandelt und um Kennys Unterleib gewickelt. Als sich von draußen Schritte näherten, knöpfte Kenny rasch das Hemd zu.

Taro trat von der Tür weg und Sato kam zurück in den Raum.

»Es hat sich etwas geändert«, sagte er. »Du bist verhaftet und wirst zum Verhör in die Stadt gebracht.«

»Aber ich hab doch gar nichts angestellt!«, wollte Kenny schreien, konnte die Worte aber nur mit den Lippen bilden.

Zwei Polizisten betraten den Raum, und ehe er wusste, wie ihm geschah, war er mit Handschellen an einen der beiden gefesselt und marschierte zwischen ihnen aus dem Büro und zum Ausgang.

Als sie ins Freie traten, warteten am Bordstein bereits zwei Streifenwagen und zwei weitere Polizisten auf Motorrädern. Sato stieg in den vorderen Wagen, Kenny wurde in den hinteren bugsiert. Sirenen heulten auf, sie fuhren mit quietschenden Reifen los und nahmen Kurs auf die in der Ferne glitzernden Lichter von Tokio.

Kenny drehte sich noch einmal zum Flughafen um. Sein Vater wartete dort auf ihn und fragte sich wahrscheinlich gerade, warum sein Sohn nicht auftauchte.

Sie fuhren im Konvoi über den kurzen Zubringer, der den Flughafen mit dem Higashi-Kanto-Expressway, einer sechsspurigen Autobahn, verband. Am Horizont zeichneten sich die runden Kuppen einer niedrigen Hügelkette ab und die untergehende Sonne tauchte alles in ein leuchtendes Rosa.

Kenny starrte aus dem Fenster. Er blickte überhaupt nicht mehr durch. Er wusste, dass sein Großvater früher in Japan gelebt und gearbeitet hatte, aber das war ein halbes Jahrhundert her. Mindestens. Was auch immer damals passiert sein mochte, es konnte unmöglich etwas mit ihm, seinem Enkelsohn, zu tun haben. Was hatte Sato bloß gemeint, als er sagte, sein Großvater hätte Kenny geschickt, um einen Auftrag für ihn zu Ende zu bringen?

Kenny zuckte kurz zusammen, als das Tier unter seinem Hemd seine Position veränderte und ihm dabei die Krallen in die Rippen bohrte.

Der Fahrer sagte etwas auf Japanisch. Seine Stimme hatte einen tiefen, warnenden Ton angenommen. Der Polizist, an den Kenny gefesselt war, fuhr herum und sah aus dem Rückfenster. Irgendwas stimmte nicht, also drehte Kenny sich ebenfalls um.

»Honto, da!«, rief der Polizist aufgeregt.

Kenny fiel nichts Ungewöhnliches auf, bis hinter einem Schwertransporter eine schwarze Maschine auf die Überholspur ausscherte und dem Streifenwagen hinterherraste. Das Motorrad war schwarz, glänzend und schmal, und so schnell unterwegs, dass es bereits an ihnen vorbeigeflogen war, noch ehe Kenny es richtig wahrgenommen hatte.

Kenny drückte sein Gesicht an die Scheibe und beobachtete, wie es Satos Wagen überholte und sich den beiden Polizeimotorrädern an die Fersen heftete.

Der Fahrer in seinem Wagen griff nach dem Funkgerät und sprach hastig hinein.

Der Typ auf dem schwarzen Motorrad trug schwarze Lederkleidung und einen Helm mit verspiegeltem Visier. Nachdem er die Motorradpolizisten überholt hatte, drosselte er kurz das Tempo, langte in eine der seitlichen Gepäcktaschen und holte eine Handvoll kleiner Gegenstände heraus, die er hinter sich auf dem Asphalt verstreute. Dann beschleunigte er wieder.

Plötzlich knallte es, gleich darauf noch einmal, und Kenny realisierte, dass die Reifen einer der beiden Polizeimaschinen geplatzt sein mussten. Und tatsächlich kippte eine von ihnen nach vorne und überschlug sich. Die andere wich ihr schlingernd aus, doch Satos Wagen war bereits so dicht aufgefahren, dass er scharf bremsen musste, um nicht mit dem Motorrad zusammenzustoßen, das Funken schlagend auf ihn zuschlitterte.

Durch das Manöver geriet Satos Wagen ins Schleudern und war plötzlich unmittelbar vor ihnen. Der Fahrer in Kennys Wagen schrie auf und riss das Lenkrad herum. Er wich nach links aus, rasierte das Hinterteil von Satos Wagen und zerstörte die Bremslichter. Doch dadurch befand er sich jetzt selbst auf direktem Kollisionskurs mit dem Motorradwrack des gestürzten Polizisten.

Kurz bevor das Auto auf das Motorrad auffuhr, schnellte Kenny vor und schlang seinen Arm um den Vordersitz. Der Wagen hob mit den Vorderreifen vom Boden ab, schrammte mit einem markerschütternden Kreischen des Unterblechs über die Maschine und schien kurz in der Luft zu hängen, ehe er wieder mit allen vier Reifen auf dem Asphalt aufsetzte und weiterraste.

Hinter ihnen war das Quietschen bremsender Reifen zu hören, und als Kenny einen Blick zurückwarf, war die Fahrbahn mit glitzernden Glasscherben und verbogenen Blechteilen übersät.

Satos Wagen fuhr wieder vor ihnen und beschleunigte, um die Motorräder einzuholen. Kennys Fahrer drückte ebenfalls das Gaspedal durch und schrie dabei in sein Funkgerät.

Das intakte Polizeimotorrad raste der schwarzen Maschine hinterher, die sich wie ein Slalomläufer zwischen den Autos und Lastern hindurchschlängelte.

Kenny reckte den Hals, um die Jagd besser verfolgen zu können. Die schwarze Maschine verlangsamte und wartete, bis das Polizeimotorrad aufgeholt hatte und mit ihm gleichauf fuhr. Dann sprang der Biker mit beiden Füßen auf den Sitz, behielt die Hände an der Lenkstange, holte aus und traf den Polizisten mit gestrecktem Bein am Helm. Der verlor das Gleichgewicht, die Maschine rutschte unter ihm weg und Fahrer und Fahrzeug schlitterten in Richtung Seitenstreifen.

Jetzt trat Sato in Aktion. Er hatte plötzlich ein kurzes Maschinengewehr in der Hand, schlug mit dem Kolben sein Beifahrerfenster ein, umwickelte die andere Hand mit dem Anschnallgurt und schob sich aus dem Fenster. Er hob die Waffe an und feuerte mehrere kurze Salven auf das schwarze Motorrad ab.

Als der Biker merkte, dass auf ihn geschossen wurde, duckte er sich und schwang die Maschine vor einen Sattelschlepper. Fassungslos beobachtete Kenny, wie Sato seinem Fahrer bedeutete, den Sattelschlepper zu überholen, und dann gleich noch ein paar Salven in Richtung Motorrad abfeuerte. Der Biker lag jetzt flach auf der Maschine, bremste scharf und verriss das Lenkrad. Das Motorrad kippte weg und rutschte knapp über dem Boden unter dem fahrenden Laster hindurch zur anderen Seite.

Satos Wagen verlangsamte, wartete, bis der Sattelschlepper an ihm vorbeigedonnert war, und nahm die Verfolgungsjagd wieder auf. Der schwarze Biker wich nach rechts aus, langte mit der Hand nach hinten und bremste abrupt.

Kenny sah die lange schwarze Bremsspur, über der ein Hauch von Gummistaub aufwirbelte. Und in der Sekunde, in der der Streifenwagen an dem Motorrad vorbeibretterte, bemerkte er auch das Blitzen einer durch die Luft sausenden Klinge, die den Lauf von Satos MG köpfte, als wäre das Ding aus Butter. Der Biker schob die schwarze Klinge zurück in die Schwertscheide auf seinem Rücken und gab sofort wieder Gas.

Der noch immer aus dem Fenster ragende Sato zeichnete mit seiner freien Hand etwas in die Luft. Das Motorrad geriet ins Schlingern, als wiche es unsichtbaren Hindernissen aus, doch dann holte Sato zu einem größeren Muster aus und plötzlich stieg quer über der Fahrbahn eine Wand aus sechs Meter hohen Flammen auf. Der Biker ließ den Motor aufheulen und schoss wie ein schwarzer Pfeil durch das lodernde Inferno hindurch.

Kennys Fahrer sprang laut schreiend und mit voller Wucht auf die Bremse. Nichts geschah. Er drückte das Pedal noch einmal durch. Wieder nichts. Sie fuhren geradewegs auf die Feuerwand zu.

Kenny hielt sich mit dem Arm die Augen zu und hatte den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen, bis ihn der Polizist, an den er gekettet war, von der Seite anstieß und erleichtert kicherte.

Kenny lugte hinter seinem Arm hervor. Die Flammen waren verschwunden und sie preschten immer noch Satos Wagen und dem mysteriösen Biker in Schwarz hinterher.

Satos Hand wollte wieder etwas in die Luft zeichnen, doch da blitzte erneut Metall auf und traf ihn am ausgestreckten Arm. Ein Enterhaken! Er hing an einer Leine, das andere Ende lag in der Faust des schwarzen Bikers. Satos Gegner stand aufrecht auf den Fußstützen und zog mit aller Kraft an der Leine. Sato hatte gerade noch Zeit, einen Schrei auszustoßen, dann wurde er aus dem viel zu schnell fahrenden Wagen gerissen, knallte auf den Asphalt und überschlug sich mehrmals.

Der Motorradfahrer ließ die Leine los und beschleunigte wieder. Kenny sah, dass Sato aufstand. Er schien vollkommen unverletzt zu sein. Wütend pfefferte er seine zerfetzte Jacke auf den Boden.

Der Fahrer in Kennys Wagen versuchte abermals zu bremsen, doch es half nichts – das Pedal musste sich gelöst haben. Er warf Kenny im Rückspiegel einen verzagten Blick zu und zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Weiter vorne fuhr der schwarze Biker jetzt auf einer Höhe mit dem anderen Streifenwagen. Er schleuderte einen kleinen schwarzen Kanister durch das eingeschlagene Beifahrerfenster und sah zu, dass er wegkam. In dem Wagen blitzte es und gleich darauf füllte sich das Fahrzeug mit dichtem weißem Rauch.

Der Fahrer bremste und verriss den Wagen zur Seitenlinie, wo dieser schlitternd anhielt und seine Insassen ausspie, die hustend und würgend in die Knie gingen.

Kennys Mund war staubtrocken, sein Puls raste und er rang nach Luft. Er war in Handschellen, hatte keine Stimme und schlingerte mit hundert Sachen und kaputten Bremsen auf einer stark befahrenen Autobahn dahin – gejagt von einem durchgeknallten Ninja auf einem Motorrad.

Der Fahrer trat ein letztes Mal auf das Bremspedal, dann gab er es auf.

»Keine Bremsen!«, rief er Kenny zu. »Du springen vor Crash!« Und damit lösten sich seine Gesichtszüge in Luft auf und die leere Uniform sackte auf dem Sitz in sich zusammen.

Kenny traute seinen Augen nicht: Aus dem Hosenbund der leeren Uniform lugte die gestreifte Schnauze eines braunen Waschbären, der sich aus dem Kleiderhaufen schälte, mit einer Pfote nach der Tür langte, sie öffnete und aus dem Wagen hechtete.

»Okubyomono!«, schrie jetzt der Polizist neben Kenny. Er sprang vor, hielt mit der freien Hand das Lenkrad fest und rüttelte mit der anderen an der Handschelle, bis sein Handgelenk weich wie Knetmasse wurde, sich in die Länge dehnte und aus dem Metallring glitt.

Kenny hatte das Tier an seinem Bauch vollkommen vergessen. Nun spürte er, wie es in Bewegung geriet und wieder dicker wurde. Es kam unter seinem Hemd hervor und sprang in dem Moment auf den Boden, als das schwarze Motorrad auftauchte, seine Geschwindigkeit an den Streifenwagen anpasste und mit Kennys Tür gleichauf war.

Der Typ auf dem Motorrad zeichnete ein Symbol in die Luft und Kenny spürte ein Zucken in der Kehle, doch bevor er sich fragen konnte, was das jetzt wieder zu bedeuten hatte, sah er, dass der Biker sein Schwert gezogen hatte und ihn durch das Fenster hindurch ins Visier nahm.

Kenny warf sich mit einem panischen Schrei quer über die Rückbank. Das Schwert sauste herunter, die Tür löste sich mit einem lauten Kreischen aus den Scharnieren und flog Rad schlagend davon.

»Nicht gut!«, schrie der Polizist, der den Wagen lenkte.

Kenny drehte sich zu ihm um. Sie näherten sich den hellen Lichtern einer Mautstelle. In circa zwanzig Sekunden würde der Wagen in eine der davor wartenden Fahrzeugkolonnen krachen. Er musste hier raus, und zwar schleunigst.

Das Pelztier war offenbar derselben Meinung, denn es hüpfte aufgeregt auf und ab, packte Kenny mit beiden Pfoten am Kragen und gestikulierte in Richtung des schwarzen Motorrads.

Kenny blickte hoch und sah, dass der Fahrer ihm die Hand hinstreckte und mit wackelnden Fingern bedeutete, sie zu ergreifen.

»Nie im Leben!«, gellte auf einmal seine Stimme durch den Wagen. Seine Stimme! Er hatte sie wieder und das bedeutete, dass der Biker …

»Vertrau mir!«, schallte es verzerrt durch den Lautsprecher.

Kenny blieben jetzt nur noch wenige Sekunden. Hastig schnappte er seinen Rucksack, schob sich so schnell er konnte über die Bank und ergriff die Hand. Der Biker packte fest zu und Kenny war drauf und dran zu springen, als jemand an seinem Hemd zog. Der Polizist hielt ihn fest und wollte ihn zurückzerren.

»Du Gefangener!«, rief er. »Verhaftet!«

»Loslassen!«, schrie Kenny.

Sie würden jeden Moment in einen Laster mit Anhänger krachen.

Plötzlich schoss ein rötlich brauner Pelzstreifen durch sein Blickfeld und vergrub seine Zähne im Arm des Polizisten, der kreischend losließ. Kenny sprang, der Biker schwang ihn hinter sich auf den Sitz und gab Gas, um von dem Streifenwagen wegzukommen. Eine Sekunde später raste das Fahrzeug in den Lastwagen und explodierte.

Kenny starrte wie vom Donner gerührt auf die Flammen hinter ihnen, die an der Rückseite des Anhängers leckten. Ihm wurde schaudernd bewusst, wie haarscharf er dem Tod entgangen war, als ihn eine verschwommene Bewegung aus seiner Erstarrung holte: das Pelztier! Es kam ihnen im Galopp hinterher.

Das Motorrad wurde langsamer, das Tier kletterte mit qualmendem Fell auf den Sitz und quetschte sich zwischen Kenny und den Fahrer.

Dann glitt das Motorrad durch eine der Absperrungen und fuhr weiter in Richtung Tokio.

Kenny hatte beide Arme um die Ledermontur des Bikers geschlungen, lehnte mit dem Kopf an seiner Schulter und überließ sich der Wärme des Pelztiers an seinem Bauch. Er war todmüde, und obwohl es in seinem Kopf vor Fragen nur so surrte, vertraute er darauf, dass weder das sonderbare Tier noch der Fahrer Böses mit ihm im Sinn hatten. Zumindest nicht jetzt gleich.

Ab und zu öffnete er seine bleischweren Lider. Über seinem Kopf flogen Straßenschilder in japanischer und englischer Sprache vorüber und die hell erleuchteten Hochhäuser Tokios wurden immer deutlicher. Einmal dachte er sogar, einen in weißer und orangeroter Farbe bemalten Eiffelturm zu erkennen, dessen Lichter den Abendhimmel anstrahlten. Das Einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass sie die Autobahn verlassen hatten und auf Nebenstraßen fuhren.

Nach einer gefühlten Stunde wurde das Motorrad langsamer und umrundete ein großes, hinter einer hohen Mauer gelegenes Anwesen. Nachdem sich der Fahrer vergewissert hatte, dass die Luft rein war, näherte er sich einem gusseisernen Tor. Es war mit zwei miteinander kämpfenden Drachen verziert, die mit erhobenen Pranken und ausgefahrenen Krallen zum nächsten Schlag ausholten. Ein Mann im dunklen Anzug wartete, bis das Motorrad näher kam, dann signalisierte er einem anderen, das Tor zu öffnen. Es glitt auf gut geölten Schienen auseinander und beendete den Kampf der Drachen.

Das Motorrad fuhr hindurch und folgte der langen Auffahrt zu einem prachtvollen Haus, das genau in der Mitte des Grundstücks zu liegen schien.

Kenny sah hinauf zu den anmutig gebogenen Giebeldächern mit den schieferfarbenen Schindeln und den Säulen aus schwarzem Holz. Warmes Licht fiel durch die Fenster ins Freie.

Das Motorrad hielt an, der Biker kickte den Seitenständer herunter, stieg ab und ging auf die Haustür zu.

»Hey! Warte!«, rief Kenny. »Wo bin ich? Wer bist du?«

Der Biker verschwand im Haus.

»Na super«, murmelte Kenny.

Das Pelzwesen glitt vom Sattel und watschelte dem Biker hinterher. Als Kenny nun ebenfalls abstieg, zuckte er zusammen. Ihm war, als würde jeder Muskel in seinem Körper wehtun. Um seine steifen Glieder und den tauben Rücken wiederzubeleben, machte er ein paar Kniebeugen und wackelte mit den Hüften.

Da spürte er ein Zerren an der Hose. Er blickte hinab in das Gesicht des kleinen Tiers. Es war zurückgekommen und gab ihm mit einer ungeduldigen Geste zu verstehen, endlich ins Haus zu gehen.

»Okay, okay. Mal sehen, was das alles soll«, sagte er und folgte dem Wesen durch die offene Tür.

Verborgene Leuchten tauchten den Hausflur in ein schummriges Licht. An einer der hellgrün tapezierten Wände hing eine Rolle mit japanischen Schriftzeichen. Der Biker war nirgends zu sehen, dafür erwartete ihn ein Hüne von einem Mann mit einem Paar weißer Stoffslipper in den tellergroßen Händen.

Als er zu Boden blickte, bemerkte Kenny, dass er in einer Art Kuhle stand. Der Biker hatte seine Stiefel hier abgestellt, und zwar so, dass die Schuhspitzen zur Tür zeigten.

Kleine Füße, dachte Kenny, bevor er achselzuckend aus seinen Turnschuhen schlüpfte und dem Riesen die Slipper abnahm.

»Danke«, sagte Kenny. »Ich vermute, Sie sagen mir auch nicht, was …«

Der Riese drehte sich wortlos um und bedeutete Kenny, ihm zu folgen.

Kenny seufzte. »Dacht ich’s mir.« Er zog die Slipper an, stieg über eine hölzerne Stufe zum Eingang hinauf und folgte dem Riesen ins Haus.

Der Mann trat an eine Schiebetür aus Stoff und schob sie auf. Dahinter lag ein großer Raum, der bis auf einen niedrigen Tisch mit einem Kissen davor leer war. Der Hüne winkte Kenny herein und verschwand wieder.

Kenny zog sein Handy aus der Tasche. Er wollte seinen Vater anrufen, hatte aber wieder keinen Empfang.

Und das mitten in Tokio?, dachte er mit einem wütenden Blick aufs Display. Das darf doch nicht wahr sein!

Er hockte sich auf die Tischkante und rieb seine vor Müdigkeit brennenden Augen. So hatte er sich seinen Empfang in Japan nicht vorgestellt. Nach dem endlos langen Flug hatte er nur einen Wunsch gehabt: eine heiße Dusche zu nehmen. Und vielleicht noch etwas zu essen und ein paar Worte mit seinem Vater zu wechseln.

Sein Finger wischte träge über den Touchscreen. Er öffnete Bilder von zu Hause – seinem neuen Zuhause in Oregon und seinem echten in London. Es war schon irgendwie seltsam: Obwohl er seit sieben Jahren in den USA lebte, war England für ihn immer noch sein Zuhause. Chad, sein Zimmergenosse, zog ihn deshalb auch ständig auf. Er machte sich über seinen Akzent lustig und über seine britischen Manieren.