Kursbuch 170 -  - E-Book

Kursbuch 170 E-Book

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Beschreibung

Parteien-, Finanz-, Flüchtlings- oder Lebenskrise – Krisen scheinen zum Normalzustand geworden zu sein. Neben einem Moment der gesellschaftlichen Verwerfung sind Krisen aber auch gleichzeitig Induktionsmoment von Lern- und Veränderungsprozessen. Auch das Kursbuch war nicht vor der Krise gefeit. 1965 von Hans Magnus Enzensberger in Zusammenarbeit mit Karl Markus Michel gegründet, war es über Jahrzehnte hinweg das meinungsbildende Organ der Republik, das die intellektuellen Diskurse des Landes maßgeblich mitgeprägt hat. Über die Jahre in die Krise gekommen, wird es nun wiederbelebt. Das Kursbuch will – fortsetzend mit Nummer 170 – wieder eine Institution werden. Die AutorInnen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und Medien werden darüber nachdenken, was moderne Gesellschaften prägt und verändert, was sie antreibt und hemmt, was sie befreit und behindert. "Krisen lieben" ist so also nicht nur Titel dieses Kursbuchs 170, sondern auch zentrale Diskussionshypothese des Kursbuchs selbst. Jasmin Siri argumentiert, dass die Krise für politische Parteien ein Demokratiegenerator sei, Florian Rötzner skizziert das Zusammenspiel von Medienkrise und Krisenmedien und Gunter Dueck widerspricht gar dem Titel des Kursbuchs und konstatiert: "Ich hasse Krisen."

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Inhalt

Sven Murmann

Kursbuch 170. Ein Vorwort

Armin Nassehi, Peter Felixberger

Ein Anfang

Editorial

Henning Marmulla

Verbindungen

1965/2012

Armin Nassehi

Der Ausnahmezustand als Normalfall

Modernität als Krise

Dietmar Dath

Legitimiert euch doch selbst!

Geordnete Zurückweisung der »Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus«

Werner Plumpe

Ohne Krisen keine Harmonie

Eine kleine Geschichte der Gleichgewichtsstörungen in der Wirtschaft

Gunter Dueck

Ich hasse Krisen

Denn Krisen geben Macht, die keiner braucht

Romuald Hazoumè

Europa in der Krise

Daniela Roth

Kanisterkunst

Eine Werkbeschreibung

Jasmin Siri

Die Krise organisieren

Parteien und das Politische

Florian Rötzer

Medien in der Krise. Krise in den Medien

Ein Streifzug durch neue Öffentlichkeiten

Wolfgang Schmidbauer

Mehr Hofnarr als Hofrat

Über die Krisen der Psychotherapie

Katja Mellmann

Literatur als Krisenerzählung

Von der Attraktivität des Krisenmotivs für die Literatur der Moderne

Kathrin Röggla

Frühjahrstagung, Herbsttagung

Eine Erzählung

Anhang

Autoren

Impressum

Sven Murmann

Kursbuch 170. Ein Vorwort

Das Kursbuch hat wieder einen verlegerischen Ort. Seit 1965 auf Reisen, von Suhrkamp, Wagenbach über Rotbuch und Rowohlt zum Zeitverlag, beleben wir es nach einer vierjährigen Pause in unserem Verlagshaus wieder. Mit dieser Inverlagnahme wollen wir das Kursbuch zukünftig dreimal jährlich als Periodikum entlang den Programmlinien unseres Hauses als herausgehobenen Ort für zeitkritische Autorinnen und Autoren neu etablieren.

Mit unserem Buchprogramm zeichnen wir Verbindungslinien zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Als Sachbuchverlag verstehen wir unsere Arbeit als Wissens- und Kulturvermittlung. Die Schöpfer der Verbindungslinien sind unsere Autoren, deren inneres Anliegen wir nach außen vermitteln. Unsere Autoren sind unser Programm, die Vielfalt ihrer Perspektiven auf die Vielfalt unserer Lebenswirklichkeit ergeben unsere Programmlinien. Unsere Arbeit gilt den Verbindungslinien zwischen den Sachen, die wir produzieren und organisieren, mit denen wir regulierend umgehen und die uns sozial umgeben. An den Sachen erkennen wir unsere Kultur, am Differenzierungsgrad der medialen Vermittlung der Sachen den Status unserer Kultur. Sachtexte zu verlegen bedeutet, an der Kultur mitzuarbeiten.

Wer sich früher kritisch mit dem Status unserer Kultur auseinandersetzen wollte, las die Texte des Kursbuchs. So jedenfalls kam es mir immer vor und daher fehlte mir das Kursbuch die letzten Jahre. Mir fehlte damit auch ein Ort der Hinweise auf meinen Ort.

Zwangsläufig suchte ich nach einer Möglichkeit, diesen bei uns im Haus aufzubauen, bei dieser mehrjährigen Suche dachte ich immer ans »alte« Kursbuch. Als es 2008 eingestellt wurde, hatte ich noch nicht den Mut besessen, beim Zeitverlag anzuklopfen. Gerade mal ein paar Programme mit dem eigenen Verlag unterwegs, fehlten mir damals die Mitstreiter und Seelenverwandten, um so einen kulturellen Koloss anzufassen. Ich wollte keine komische alte Säulenheilige im Haus, also brauchte ich Renovierungskünstler, die mit neuen Perspektiven an das alte Kursbuch anknüpfen können: vor allem einen Herausgeber, der eine Leidenschaft für Theorien (auch, aber nicht nur für die linken) und für das Leben in der gegenwärtigen Gesellschaft, für dessen Ambivalenzen und Überraschungen hat. Da ich selbst mich der Universität als Ort intellektueller Neugierde verbunden fühle, weiß ich, wie schwer es ist, aus den Laboratorien der akademischen Spezialisten inspirierende Texte von spezifisch engagierten Generalisten herauszudestillieren. Neben vielen anderen Kursbuch-Herausforderungen wird Armin Nassehi sich dieser Aufgabe annehmen, und dafür bin ich ihm schon jetzt dankbar. Mit unserem Programmdirektor Peter Felixberger wird ihm ein kongenialer Chefredakteur zur Seite stehen.

Publizistisch gesehen ist ein Periodikum wie das Kursbuch ein durchsichtiges Gefäß, welches über die Zeitstrecke mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt stets dasselbe bleibt, indem es mit jeder neuen Nummer als ein anderes an seinen Ort wiederkehrt.

Die Durchsichtigkeit des Periodikums schafft Zugang zur Perspektivität: Einblicke in den Wandel der Sachen und ihrer Orte. Diese Einblicke werden an verschiedenen Orten erarbeitet: in den Universitäten, in Redaktionen und think tanks, in Stiftungen und Unternehmen, in Verwaltungen und Parlamenten, Museen, Theaterhäusern und im Netz. Sie alle bilden Orte unserer mentalen Landkarte. Zwischen ihnen Verbindungslinien herzustellen, ist Ziel und Aufgabe unseres Kursbuchs. Und dass es eine Verbindungslinie zum alten Kursbuch gibt, bringen wir damit zum Ausdruck, dass wir nicht bei Nummer eins beginnen, sondern kontinuierlich weiterzählen. 1965 erschien das erste Kursbuch, wie Sie es auf der Rückseite abgebildet sehen können, und bis 2008 gab es 169 Ausgaben – die Ausgabe, die Sie in Händen halten, ist zwar das neue Kursbuch, aber in fortlaufender Nummerierung das Kursbuch 170.

Ich verbinde mit dem neuen Kursbuch den Wunsch, Kurse und Wege aufzuzeigen, an denen entlang wir denken können, um die Sachen und Orte besser zu verstehen. So ein Kursbuch benötigen wir mehr denn je, da die Sachen und Orte immer woanders liegen: in anderen Sprachen und Disziplinen, in anderen Kulturen und Nationen, in anderen Perspektiven eben.

Möge diese Art der Wegbereitung der neue verlegerische Ort des Kursbuchs sein.

Hamburg, im Februar 2012

Sven Murmann

Armin Nassehi, Peter Felixberger

Ein Anfang

Editorial

Das Kursbuch ist wieder da. Das Kursbuch war, 1965 gegründet von Hans Magnus Enzensberger, einst der zentrale Ort des Diskurses, der Kritik, des Tabubruchs, des unergründlichen Gedankens und der intellektuellen Debatte der alten Bundesrepublik. Das Kursbuch war der Ort, an dem Themen diskutiert wurden, für die es sonst kein Forum gab. Das Kursbuch war die Stimme einer Generation, die darum bemüht war, Themen, Herausforderungen und Fragen zu etablieren, für die es sonst keinen Ort gab. Das Kursbuch war eine Institution. Es war das Vehikel einer linksliberalen Denkungsart, die sich sowohl der Radikalisierung von links verweigert als auch der Vereinnahmung durch Normalisierung entzogen hat. Das Kursbuch war das Forum, das endlich thematisiert hat, worüber anderswo geschwiegen wurde. Das Kursbuch hat die alte Bundesrepublik moderner gemacht. Das Kursbuch hat getan, was an der Zeit war.

Das neue Kursbuch ist anders – und doch will es wieder ein Ort sein, an dem das geschieht, was an der Zeit ist. Es ist anders, weil es nicht mehr darum kämpfen muss, Thesen gegen das Schweigen zu behaupten, Fragen gegen ihre Tabuisierung durchzusetzen. Inzwischen wird alles thematisiert und gefragt, was möglich ist, vielleicht sogar mehr. Was aber ist nun an der Zeit?

Das neue Kursbuch wird sich womöglich mit denselben Themen beschäftigen, die sich auch das alte Kursbuch vorgenommen hatte. Die entscheidende Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist aber nicht mehr, gegen die Hegemonie eines herrschenden Paradigmas eine andere Perspektive zu setzen, in der Hoffnung, die Hegemonie zu brechen. Was wir heute erleben, ist gerade das Scheitern hegemonialer, einheitlicher Perspektiven und Problembeschreibungen. Es ist kein Zufall, dass das Kursbuch gerade jetzt wieder da ist. Mit der Krise der Finanzmärkte ist nicht nur viel Geld vernichtet worden. Vernichtet wurde vor allem jenes Narrativ, das womöglich den letzten hegemonialen Anspruch hatte: so zu tun, als sei ausgerechnet das Geld die realste aller Realitäten und als ließen sich alle Probleme der Gesellschaft ökonomisch lösen. Letztlich ist es dem neoliberalen Narrativ der Selbststabilisierung des Geldverkehrs gelungen, alle anderen Perspektiven auf die Gesellschaft, die nach den Bedingungen des Ökonomischen gefragt haben, die Zweifel an den Rendite- und Problemlösungsversprechen hatten, die brav die volkswirtschaftliche Funktion der Finanzwirtschaft betont haben, geradezu lächerlich aussehen zu lassen – als Angsthasen und Risikovermeider, als naive Konservative und so weiter. Diese hegemoniale Zentralperspektive hat sich gründlich desavouiert. Das neue Kursbuch tritt exakt in dem Moment an, in dem die Komplexität und Perspektivendifferenz der modernen Gesellschaft nicht mehr nur in akademischen Hauptseminaren auffällt, sondern zum täglichen Begleiter wird, zum Vademekum des Zeitungslesers, zum Trabanten öffentlicher Debatten. Die Finanzkrise und die daraus resultierende Krise der Staaten, die auch an die grenzenlose Problemlösungskompetenz der Geldmärkte geglaubt haben, ist nicht der Ausgangspunkt des neuen Kursbuchs, sondern der Katalysator für neue Fragestellungen und ein neues Forum, das wie das alte Kursbuch das auf den Punkt bringen will, was an der Zeit ist.

So lautet der Ausgangspunkt des neuen Kursbuchs: Wenn es ein Signum der gegenwärtigen modernen Gesellschaft gibt, dann ist es dies: Die Gesellschaft lässt sich nicht mehr aus einer Zentralperspektive her denken – und damit auch nicht aus einer Gegenperspektive, was das Geschäft der Kritik, der Reflexion, der Analyse schwieriger macht. Es ist keine gemeinsame Perspektive, kein Konsens, kein Fluchtpunkt mehr denkbar, den angemessen zu erreichen die Kritik und das Kritisierte miteinander streiten – nicht einmal ein gemeinsamer Dissens. Unsere heutige Erfahrung ist eher die, dass die Gesellschaft nicht nur aus unterschiedlichen Perspektiven besteht, sondern dass diese unterschiedlichen Perspektiven auch mit dem besten Willen nicht hin zu einer richtigen oder einer legitimen und alternativlosen Seh- und Sprechweise hin aufgehoben werden können.

Fast jede gesellschaftliche Herausforderung – ob es um Krisen vielfältiger Art geht, ob es um technologische Lösungen für Probleme geht, ob es um Führung und Organisationen, um das gute Leben oder seinen Sinn geht – erscheint heute aus je unterschiedlichen Perspektiven je unterschiedlich. Das war schon immer so – aber die Differenz der Perspektiven wird nun als ebenso unvermeidlich wie legitim angesehen. Kann man immer noch behaupten, dass eine politische Perspektive besser ist als eine wirtschaftliche? Dass Wissenschaft es stets besser weiß als alle anderen? Dass Religion und Kunst tatsächlich nur Beiwerk sind? Dass Moral stets gut ist oder ethische Gründe immer die besseren Gründe ins Feld führen? Dass sich unterschiedliche politische, ökonomische, wissenschaftliche oder ästhetische Entscheidungen notwendigerweise kategorial ausschließen? – Man kann schon, wird aber die ganz praktische Erfahrung machen, dass andere Perspektiven mit ihren eigenen Geltungsansprüchen und Erfolgskriterien darauf reagieren.

Das sind nicht nur neue Fragen. Es sind vor allem ganz neue Konstellationen. Die frühere linke Idee der Kritik bestand darin, die herrschende Fragerichtung durch eine andere Fragerichtung zu ersetzen, um zu Lösungen zu kommen. Das war dort nötig, wo es gelingen konnte, hegemoniale Diskurse zu etablieren, gegen die nichts anderes half als die Umkehrung, die Kritik, die letztlich revolutionäre Energie der Umwälzung der Verhältnisse. Es war die Zeit der Hauptwidersprüche.

Diese Gesellschaft ist heute eine Gesellschaft, in deren unterschiedlichen Gegenwarten sich je gegenwärtige Lösungen ausprägen – unübersetzbar in andere Perspektiven, damit aber stets aufgefordert, sich in andere Perspektiven zu übersetzen. Diese Gesellschaft ist eine diskontinuierliche Gesellschaft – sie folgt nicht mehr dem bürgerlichen Ideal einer gesellschaftlichen Gegenwart. Sie ist vielmehr eine »Gesellschaft der Gegenwarten«, die ihre Geltungsansprüche, Bedeutungen und Lösungskonzepte mit den Kontexten wechselt – und darin eine ihrer effektivsten Dynamiken entdeckt.1 Es ist eine Gesellschaft, die nicht einmal mehr an die großen Ideen ihrer früheren Selbstbeschreibungen glaubt – sie ersetzt Ideen und Ideologien durch Kommunikation, sprich: durchs Weitermachen, durch Zustandsdeterminiertheit. Es geschieht, was geschieht, daraus gibt es kein Entrinnen.

Wir sind freilich immer noch daran gewöhnt, dass es für Probleme richtige Lösungen gibt und für Ziele richtige Strategien. Unsere Denkweisen gehen immer noch von der Idee aus, dass sich gute Gründe dann durchsetzen werden, wenn sie auf entgegenkommende Bedingungen einer konsistenten, möglichst rationalen Umwelt treffen. Aber diese Gesellschaft ist eben nicht aus einem Guss, sondern ganz im Gegenteil: Sie ist vor allem dadurch geprägt, dass sich unterschiedliche Rationalitäten mit ganz unterschiedlichen Selbstverständlichkeiten gleichzeitig nebeneinander etablieren. Wer das nicht sieht, bleibt bei hegemonialen Strategien – wie wir etwa in der Wechselseitigkeit von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft angesichts der Finanzkrise gut beobachten können.

Je disparater aber diese Hegemonen bleiben, desto verbohrter bleiben ihre Kommunikationsreflexe. Jede Perspektive versucht dann nur noch, einen einzigen Lösungsschirm aufzuspannen, um darunter Argumentations- und Erörterungsschutz vor den anderen zu bieten. Doch das Streben nach einer eindeutigen Lösungswahrheit führt nur zu anschwellenden Stabilisierungsgesängen unter den Schirmen.

Die Zumutung von Hauptwidersprüchen und eindeutigen Lösungsstrategien hat vor allem moralisch induzierte Kritik auf den Plan gerufen, sie hat sich deutlich und klar politisch verortet, sie wusste, wie es geht, weil sie selbst in der Eindimensionalität ihrer Hauptwidersprüche gefangen war. Nicht umsonst bezweifeln heute klügere linke Intellektuelle wie zum Beispiel Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sogar die Möglichkeit der Gesellschaft, da sich kein zentraler Antagonismus mehr ausmachen lässt. Klüger ist diese Perspektive, weil sie die unrealistische Konzentration auf den einen Hauptwiderspruch nicht durch Moral ersetzt, sondern wenigstens einen Phantomschmerz spürt. Schon das Kursbuch der 1960er-Jahre war von diesem Phantomschmerz geprägt. Es gehörte – schon vor 1968! – zu seiner Programmatik, nicht immer schon genau zu wissen, wie sich Lösungen ableiten und deduzieren lassen. Enzensberger hat weniger die Welt, sondern vor allem die Wahrnehmung der Welt revolutionieren wollen. Henning Marmulla, der die frühen Jahre des Kursbuchs analysiert hat und auch in diesem ersten Heft des neuen Kursbuchs schreibt, spricht von einer »Wahrnehmungsrevolution«2.

Das neue Kursbuch: ein Forum der Perspektivendifferenz

Das neue Kursbuch wird – ganz im Sinne einer Wahrnehmungsrevolution – ein Forum für die Perspektivendifferenz sein. Dies meint nicht die Differenz von Meinungen und Auffassungen, sondern die Differenz unterschiedlicher Denkungsarten und Logiken, welche die Dynamik unserer Gesellschaft ausmachen. Deshalb ist unser Anspruch eindeutig: Das neue Kursbuch wird politische und ökonomische Perspektiven, kulturelle, religiöse und künstlerische, natur- und geisteswissenschaftliche Perspektiven aufeinander beziehen. Es wird nicht auf schnelle Versöhnung setzen, sondern braucht Leserinnen und Leser sowie Autorinnen und Autoren, die diese Differenzen und Widersprüche aushalten. Es geht um Übersetzungsleistungen. Wer aus politischer Perspektive nichts um die Restriktionen des Ökonomischen weiß und umgekehrt, wer nicht weiß, welche Probleme Wissenschaft lösen kann und welche nicht, wer nicht versteht, warum Bildung und Politik langsamer sind als die Wirtschaft, und wer nicht versteht, dass sich Wirtschaftliches am Ende immer wirtschaftlich rechnen muss, sei es auch moralisch oder politisch anders wünschenswert, kann im Diskurs nur naiv für eindeutige Lösungen streiten. Das neue Kursbuch wird deshalb auf der Suche nach einem neuen Typus von Intellektuellen sein. Die neue Intellektualität des neuen Kursbuchs wird eine Intellektualität sein, die sich auf die Perspektivendifferenz der modernen Gesellschaft einlässt. Sie wird nicht versuchen, die Differenzen einer Gesellschaft der Gegenwarten zu heilen; sie empfindet diese Differenzen weder als Chance noch als Defekt, sondern als schlichte Realität der Moderne – ob wir wollen oder nicht. Insofern ist Perspektivendifferenz auch kein Programm, keine Heilsidee, keine Zauberformel, sondern ein empirischer Fall, mit dem gerechnet werden muss.

Es geht uns um ein Denken, das nicht elitär immer schon weiß, was zu tun ist. Es geht um Formen des Denkens, die in der Lage sind, sich darauf einzulassen, die entscheidenden Fragen gerade aus der Perspektive anderer, konkurrierender Logiken zu verstehen. Das neue Kursbuch wird deshalb Autoren miteinander konfrontieren, die wissenschaftliche, politische, kulturelle, künstlerische, religiöse, rechtliche Perspektiven auf den gleichen Gegenstand richten – und auch wirtschaftliche Perspektiven. Das muss für den Fall des Wirtschaftlichen deshalb besonders betont werden, weil es bis heute eben nicht im Kanon intellektueller Debatten vorkam – allenfalls als Gegenstand von Analysen und Vorurteilen, oftmals ohne wirklichen ökonomischen Sachverstand, nicht aber als Diskurspartner auf gleicher Augenhöhe. Das dürfte auch an der Qualität der akademischen Ökonomie liegen. Was sie in der gegenwärtigen Krise erlebt, ist das, was Sieger stets erleben: Sie fangen an, darunter zu leiden, dass der Sieger nicht über die eigenen Grenzen schauen muss, weil er vermeintlich keinen Reflexionsbedarf hat. Und Sieger waren die ökonomischen Reflexionstheorien bis vor Kurzem, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass die selbst erzeugten Welten des grenzenlosen Risikomanagements tatsächlich nur an selbst gemachten Sicherheiten hingen. Wie all diejenigen es immer schon gewusst haben, die noch vor Kurzem alle Kritik als zaudernde Risikovermeidung gebrandmarkt haben. Es ist exakt jenes Siegersyndrom: es zu genau gewusst zu haben. In Hegels Herr-Knecht-Dialektik kann man das schön nachlesen. Der Herr hat das Nachsehen, weil er gar nicht wissen kann, was der Knecht wissen muss, um den Herrn einen Herrn sein zu lassen. Wenn diese Konstellation zerbricht, bleibt dem Herrn nichts anderes übrig, als zu lernen – was letztlich nicht vorgesehen war.

Vielleicht wird an diesen Andeutungen schon sichtbar, worum es uns auch geht. Das neue Kursbuch wird demonstrieren, wie sehr unsere Diagnosen und analytischen Perspektiven durch sich selbst, durch ihre Perspektiven und Gewohnheiten limitiert sind. Wenn man das weiß, drehen sich Diagnosen womöglich um, werden Selbstverständlichkeiten brüchig und tauchen neue Strategien auf.

Plötzlich tragen Krisen zum Fortschritt bei, sorgt Optimierung für Zerstörung und funktioniert gutes Leben nur auf Kosten anderer. Krisen sind dann nicht mehr nur negativ, Optimierung und gutes Leben nicht mehr nur positiv konnotiert – das sind übrigens die drei ersten Themen des neuen Kursbuchs: Krisen lieben (Kursbuch 170), Optimieren (Kursbuch 171) und Gut leben (Kursbuch 172).

Schon kleine Verschiebungen unserer Kategorien erzeugen Lernprozesse. Ist das größte Potenzial für Entscheidungen nicht eher Nicht-Wissen als Wissen? Ist Wissen stets die Lösung oder bisweilen auch das Problem? Lebt Demokratie nicht von der Limitierung von Partizipation? Und ist die Langsamkeit politischer Entscheidungen nicht doch ein Potenzial, das gegen die Geschwindigkeitserpressung durch ökonomisch so eindeutig wirkende Sachzwänge durchgesetzt werden muss? Stabilisieren Reformen womöglich das, was da reformiert wird?

Das neue Kursbuch jedenfalls will der Ort sein, an dem solche Experimente möglich sind. Und es will der Ort sein, an dem solche Fragen zwar mit analytischer Schärfe, auch mit akademischer Gelehrsamkeit und ohne die üblichen Vereinfachungen behandelt werden. Aber es begnügt sich nicht damit, subtiler gefragt, cooler beobachtet, paradoxer hergeleitet zu haben. Das neue Kursbuch wird sich nicht damit begnügen, mit der Geste der dekonstruktiven Überlegenheit so zu tun, als reiche ein distanzierter Blick. Es geht um etwas! Es geht dabei auch um uns selbst. Denn auch der distanzierteste Blick ist Teil des Spiels, ist Teil des Diagnostizierten, ist Teil des Gegenstandes, den er erblickt. Was hier geschieht, soll Konsequenzen haben – nur ist nicht einmal wirklich ausgemacht, was Konsequenzen sind.

Das neue Kursbuch: ein Ort kompetenter Gelassenheit

Eine mögliche Konsequenz wäre die Frage nach Kompetenz. Es gehört zum Kanon moralisch-kritischer Perspektiven, dass Akteure, Eliten, Entscheider vor allem die falschen Interessen haben. Das stimmt sicher bisweilen, aber diese Diagnose tut so, als genügte es, diese Interessen zugunsten anderer, »besserer«, angemessenerer Interessen fahren zu lassen. Wir wissen, wie schwierig schon das zu bewerkstelligen wäre. Aber letztlich glaubt eine solche interessenkritische Perspektive mehr an die Kompetenz der »Herrschenden« als diese selbst. Diese Art Kritik ist oft sehr affirmativ, weil sie so tut, als wollten die Herrschenden nur nicht, als könnten sie, wenn sie nur wollten.

Die Kritik der klassischen Eliten war damit geradezu fasziniert vom Elitismus der Eliten selbst. Was Lösungskompetenz und Strategien heute können müssen, ist aber nicht mehr alles. Die klassischen modernen Eliten waren (zumeist männliche) Helden, denen man vielleicht nicht zugetraut hat, dass sie alles können, von denen man aber erwartet hat, dass sie sich so gerieren, als könnten sie es. Was heute gebraucht wird, ist ein Verständnis für Perspektivendifferenz, für ein Nicht-alles-Können. Das operative und auch das normative Versagen der Eliten ist kein Versagen aus Gründen der Wissensknappheit und mangelnder Konzepte. Das Versagen resultiert eher aus zu viel, zu genauem, zu eindeutigem Wissen und dem tiefen Glauben daran, zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält – und das normative Versagen aus daraus resultierenden naiven Sicherheiten darüber, was Erfolg und Gelingen bedeutet. Es ist auch ein Ergebnis dessen, dass Eliten immer weniger als Intellektuelle, als denkende Menschen angesprochen werden.

Exakt das will das neue Kursbuch tun – und es ist in diesem Sinne postelitär und postheroisch. Das neue Kursbuch beginnt mit einem naiven Gedanken: Es beginnt mit dem naiven Gedanken, dass Konzepte und Lösungen besser werden, wenn sie darum wissen, dass sie unentrinnbar in ihren je eigenen Logiken und Perspektiven gefangen sind. Das neue Kursbuch ist nicht so naiv, zu meinen, die Perspektiven aufheben zu können. Es ist aber so naiv, zu glauben, dass Lernprozesse und Einsichten nicht das Ergebnis vorgespielter, bis zur Lächerlichkeit inszenierter Sicherheiten sind, sondern stets Verunsicherung benötigen.

1965, als das erste Kursbuch erschien, schrieb Hans Magnus Enzensberger im Editorial: »Kursbücher schreiben keine Richtungen vor. Sie geben Verbindungen an, und sie gelten so lange wie diese Verbindungen. So versteht die Zeitschrift ihre Aktualität.« Zur Aktualität des neuen Kursbuchs gehört, dass es nicht einmal mehr Kursbücher gibt und damit die Verbindungen noch temporärer, noch instabiler, noch unerzählbarer werden – und gerade deshalb braucht es das neue Kursbuch.

Wir fühlen uns Enzensbergers Sentenz heute besonders verpflichtet. Es bildet sich Publikum, je nach Perspektive. Und es bildet sich Perspektive, je nach Publikum. Der archimedische Punkt normativer und moralischer Wahrheiten interessiert uns nicht. Gesellschaft als Ganzes ist sowieso nicht mehr darstellbar. Nur die Verbindungen zwischen den Perspektiven können erzählt und als Kommunikationsofferten platziert werden. Gesellschaft lässt sich nicht als eine Einheit aus einem Guss denken – sie ist multizentrisch und polykontextural. Daraus folgt die Einsicht, dass das neue Kursbuch wie das alte sich nicht von der schnellen Lösung, vom verwertbaren Konzept und von heroischen Versprechen vor sich hertreiben lässt. Unsere Haltung ist deshalb die einer heiteren Gelassenheit, einer gelassenen Kompetenz und kompetenter Gelassenheit – Gelassenheit nicht im Sinne von Indifferenz oder apatheia, sondern Gelassenheit im Sinne dessen, mit unterschiedlichen Verbindungen zu experimentieren. Ganz wie Enzensberger es mit der Kursbuch-Metapher gemeint hatte.

Eine letzte Bemerkung noch: Im Vorfeld der Neuerscheinung des Kursbuchs wurde der neue Herausgeber des Kursbuchs immer wieder mit derselben Frage konfrontiert: Wo steht das neue Kursbuch politisch? Gemünzt war diese Frage auf zweierlei: Zum einen waren die Debatten des klassischen Kursbuchs durch und durch politisierte Debatten. Zum anderen hat der neue Herausgeber sich bis dato nicht wirklich politisch im engeren Sinne zu erkennen gegeben. Bei Zweiterem soll es auch bleiben. Vielleicht manifestiert sich genau an dieser Stelle der entscheidende Unterschied zum alten Kursbuch. Das alte Kursbuch musste darum kämpfen, Themen auf die Agenda zu setzen. Es musste dies einem herrschenden Diskurs abtrotzen, wollte und musste gerade deshalb das Medium kollektiv bindender, appellativer, darin eben politischer Kommunikationsformen wählen. Die Folge war eine phänotypische Politisierung aller Debatten und Topoi.

Das neue Kursbuch ist politisch in dem Sinne, weil es zu verstehen versucht, dass politische Perspektiven nur Perspektiven unter anderen sind. Diesbezüglich geht es auch um die Restriktionen und außerpolitischen Bedingungen des Politischen – und womöglich nimmt man damit die Potenz des Politischen viel ernster. Für den Herausgeber jedenfalls wäre das die entscheidende Antwort auf die Frage, wo er und das neue Kursbuch politisch stehen: Das ist keine politische Frage. Oder so: Weder muss noch kann sie trivial beantwortet werden. Wo stehen wir also? Dort, wo es gelingt, sich allzu sicheren Selbstverständlichkeiten zu entziehen. Früher wäre das mal links gewesen. Aber wenn das nicht stimmt, wovon soll man es unterscheiden? Man kann es weder so nennen, noch gibt es eine tragfähige Unterscheidung dafür.

Die erste Ausgabe 170: Krisen lieben

In der ersten Ausgabe also »Krisen lieben«. Wir haben Wissenschaftler, Intellektuelle und Publizisten gebeten, die widersprüchliche Differenzierung und Codierung von Krisen aus unterschiedlichsten Perspektiven zu betrachten. Armin Nassehi beginnt mit einer Perspektive auf die moderne Gesellschaft, in welcher der Ausnahmefall längst der Normalfall geworden ist. Die Moderne erlebt sich stets als krisenhaft – und wird dann tatsächlich krisenhaft, wenn sich einfache Lösungen für ihre Krisenbewältigung durchsetzen.

Der Psychotherapeut Wolfgang Schmidbauer bezeichnet seine Berufskollegen als krisengeschüttelte Hofnarren im System berufsständischer und ökonomischer Zurichtung. Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe betrachtet Wirtschaftskrisen als harmonische Gleichgewichtsstörungen, die weder von Politikern noch von Unternehmern beeinflusst werden können. Der Wirtschaftsphilosoph Gunter Dueck hasst Krisen, weil sie nur jenen Managern in Unternehmen Macht verleihen, die davon profitieren und im unendlichen Regress wieder Krisen produzieren, um davon zu profitieren. Die Literaturwissenschaftlerin Katja Mellmann identifiziert in ihrem materialreichen Beitrag moderne Krisenerfahrungen geradezu als Movens literarischer Texte. Die Soziologin Jasmin Siri nimmt sich der beklagten Krise der politischen Parteien an und kommt zu dem Ergebnis, dass der Krisendiskurs Parteien geradezu stabilisiert. Der Doyen des deutschen Online-Journalismus Florian Rötzer verfolgt den Widerspruch zwischen einer scheinbar bunten, vielfältig neuen Medienwelt und der zunehmenden Einfalt, Konformität sowie dem Hochjazzen von Verschwörungen und Krisen in den neuen Öffentlichkeiten.

Jedes Kursbuch soll aber weiterhin auch ein Ort der Literatur und Kunst bleiben. In jeder Ausgabe wollen wir Künstler einladen, sich auf unser Thema völlig losgelöst von jeder Heftdramaturgie zu nähern. In dieser Ausgabe sind es die Schriftstellerin Kathrin Röggla, die sich in ihrer Erzählung auf Glanz und Elend ausufernder Krisentagungen einlässt. Und der afrikanische Künstler Romuald Hazoumè, dessen Krisenkanister in einer Bildstrecke abgebildet und von der Soziologin und Kunsthistorikerin Daniela Roth als Perspektive eines Afrikaners auf krisengeschüttelte Europäer beschrieben werden.

Nicht zuletzt beschäftigen wir uns in einer dritten Kontextspur natürlich mit der Neupositionierung und Reformulierung der Kursbuch-Idee. Wir haben deshalb Henning Marmulla eingeladen, seine Erkenntnisse über die Kursbuch-Gründerzeiten aus seinem wunderbaren Buch Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68 im Spiegel des Wiederanfangs 2012 zu wenden. Dietmar Dath wiederum hat die Einladung, die in den 1970ern so kontrovers diskutierten »Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus« von Jürgen Habermas zu spiegeln, »geordnet« zurückgewiesen und fordert stattdessen den Aufbau einer Gesellschaft als selbst legitimierte Gemeinschaft – jenseits hegemonialer Geld- und Machtdisziplinierung.

Wir blicken gespannt darauf, wie das neue Kursbuch aufgenommen wird. Ihnen als Leser wollen wir deshalb die direkte Möglichkeit geben, zu kommentieren, zu reagieren und zu formulieren. Unsere E-Mail-Adresse [email protected] freut sich auf rege Inanspruchnahme. Womit wir nur noch den Hinweis auf unsere neue Website www.kursbuch-online.de geben wollen. Wir freuen uns auf Ihren digitalen Besuch.

München/Hamburg, im Februar 2012

Armin Nassehi & Peter Felixberger

Anmerkungen

1 Vgl. Nassehi, Armin: Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft II. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.

2 Marmulla, Henning: Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2011, S. 263.

Henning Marmulla

Verbindungen

1965/2012

Gemeinplätze, das Kursbuch betreffend

Das Kursbuch war die wichtigste kulturelle und politische Zeitschrift in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort erschien diese von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene und zwischen 1965 und 1970 von Siegfried Unseld verlegte Zeitschrift. In den fast fünf Jahren, in denen sie im Suhrkamp Verlag erschien, begleitete die Zeitschrift die Formierung und Mobilisierung sowie den Zerfall der deutschen 68er-Bewegung. Das Kursbuch war, ohne eine Bewegungszeitschrift zu sein, ihr Forum, der Herausgeber Enzensberger war ein Vermittler zwischen den internationalen 68er-Bewegungen, teilweise wurde er selbst zum Akteur, indem er die richtigen und wichtigen, ja die notwendigen Themen setzte, die von Bedeutung für den globalen Protest waren.

Enzensberger und sein Redakteur Karl Markus Michel griffen Vorstellungen und Texte wichtiger Vordenker und Ideengeber der internationalen 68er-Bewegungen auf, verbreiteten sie, rekonstruierten sie, spitzten sie zu und dynamisierten damit schließlich den Prozess, den die Soziologie als Mobilisierungsprozess der 68er-Bewegung beschreibt. Der italienische Verlag Mondadori identifizierte die Zeitschrift sogar mit der Bewegung und veröffentlichte 1969 eine über 270 Seiten umfassende Kursbuch-Anthologie unter dem Titel Kursbuch. Die Außerparlamentarische Opposition.1

Es ist heute unbestritten, dass das Kursbuch in jener Zeit wichtig war. Es zirkulierte, lag auf den Nachttischen, neben den Matratzen, kursierte in den Universitäten. Kaum eine antiquarisch erworbene Ausgabe lässt sich finden, in der nicht zahlreiche Leserkommentare aufzufinden wären. Das Kursbuch war kein Organ für das Regal. Man arbeitete mit und in ihm. Die Kursbögen, die ihm seit November 1968 beilagen, sucht man heute in den alten Ausgaben vergeblich. Sie hingen in den Küchen der Wohngemeinschaften. Die Leser verwandten sie ganz im Sinne der von Enzensberger schon 1957 formulierten Benutzungsordnung für seine Lyrik: »Hans Magnus Enzensberger will seine Gedichte verstanden wissen als Inschriften, Plakate, Flugblätter, in eine Mauer geritzt, auf eine Mauer geklebt, vor einer Mauer verteilt; nicht im Raum sollen sie verklingen, in den Ohren des einen, geduldigen Lesers, sondern vor den Augen vieler, und gerade der Ungeduldigen, sollen sie stehen und leben, sollen sie wirken wie das Inserat in der Zeitung, das Plakat auf der Litfaßsäule, die Schrift am Himmel. Sie sollen Mitteilungen sein, hier und jetzt, an uns alle.«2 Die Kursbögen und die Kursbücher waren Mitteilungen des Hier und Jetzt, ihnen haftete etwas Dringliches und Drängendes an, sie wurden gebraucht.

Der Anfang vom Anfang

Die Geschichte des Kursbuchs will ich hier nicht erzählen. Ich will auch nicht rekonstruieren, wie sich die Zeitschrift nach der Trennung vom Suhrkamp Verlag und mit Gründung des Kursbuch Verlags weiterentwickelte, will nicht beleuchten, wie sie bei Rotbuch, Rowohlt und dem Zeitverlag aussah. Wohl aber will ich schildern, welche Ereignisse, Situationen und Konstellationen zur Gründung der Zeitschrift im Jahre 1965 führten und was sie in den ersten Jahren ihres Erscheinens so besonders machte. Es wird sich zeigen, dass viele Dimensionen, die in den Anfangsmomenten und bereits vor der Gründung des Kursbuchs von Relevanz für ihren Herausgeber waren, Eingang in die Grundstruktur dieser Zeitschrift fanden. Danach veränderte sich nicht nur das Kursbuch, sondern auch die Gesellschaft, in der es erschien. 1970 war das Jahr, in dem die Zeitschrift sich vom Suhrkamp Verlag trennte, in dem sie seit 1965 erschienen war. 1970 war das Jahr, in dem die 68er-Bewegung endgültig – nach schmerzhafter Demobilisierung – sich in zahlreiche K- und Splittergruppen galvanisiert und der Bundesverband des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) sich aufgelöst hatte.

Nun aber zum Anfang, besser: zum Anfang des Anfangs. Los geht die Spurensuche im Jahr 1960, und zwar in Frankreich.

Die Ära der Manifeste

»La libre communication des pensées et des opinions est un des droits les plus précieux de l’homme: tout citoyen peut donc parler, écrire, imprimer librement, sauf à répondre de l’abus de cette liberté, dans les cas déterminés par la loi.« Dieser im August 1789 in der französischen Nationalversammlung verkündete Satz wurde im nämlichen Land im September 1960 mit Füßen getreten, als ein Erlass es der Regierung ermöglichte, jeden Beamten zu suspendieren, der eine Kampfverweigerung oder gar Desertion von im Algerienkrieg kämpfenden Soldaten rechtfertigte. Dieser Erlass reagierte auf ein Manifest, das bereits seit Juli 1960 zirkulierte und unter das bis zu seinem ersten Erscheinen 121 Schriftsteller, Professoren und Künstler ihre Unterschrift gesetzt hatten.

Italienische und deutsche Solidaritätsaktionen, vor allem in Form von offenen Briefen und Co-Manifesten, erschienen prompt. Eine von Hans Magnus Enzensberger federführend vorbereitete Erklärung erhob »Einspruch gegen die Maßnahmen der französischen wie jeder anderen Regierung, die darauf abzielen, die freie Meinungsäußerung zu unterbinden«. Das Argument für diesen Einspruch war die Überzeugung einer »Pflicht, mit derselben Rückhaltlosigkeit wie unsere französischen Kollegen politisch Stellung zu nehmen, wann immer es uns nötig scheint. Wir werden kein Gesetz anerkennen, das uns dieses Recht abspricht.«3

Manifeste sind wichtig, Manifeste waren wichtig. Im Fall des französischen Beispiels aus dem Spätsommer 1960 sehen wir, als wie gefährlich der Staat solche intellektuellen Einlassungen einschätzte. Indes, oft, ja zumeist geht die einem Manifest zugeschriebene Wirkung weit über ihre faktischen Effekte hinaus. Nicht erst im digitalen Zeitalter der im Sekundentakt aktualisierten Liveticker-Meldungen verpuffen bestimmte Einlassungen schneller, als sie den Weg in die Aufmerksamkeit einer mal kritischen, mal lethargischen Öffentlichkeit finden können. Das merkten bereits die Zeitgenossen um 1960. Das wussten auch die engagierten Schriftsteller der beginnenden 1960er-Jahre. Manifeste bringen Unterstützung bei denjenigen, die sowieso die Meinung der Unterzeichner teilen, und sie erregen Unmut bei denjenigen, die anderer Meinung sind. Selten führen sie Meinungsänderungen herbei. Wenn man auf nachhaltigen Wandel zielt, muss man größer ansetzen. Und so kam bei einigen französischen, italienischen und bundesdeutschen Schriftstellern der Plan auf, etwas Neues in einer neuen Form zu versuchen: eine internationale Zeitschrift. Franzosen, Italiener und Deutsche taten sich zusammen und versuchten über einen Zeitraum von zwei Jahren, etwas auf die Beine zu stellen, das die Welt so, wie es geworden wäre, wäre es geworden, noch nicht zu sehen bekommen hatte. Aus dem Geist des kollektiven und – durch die deutschen und italienischen Solidarisierungen auch – internationalen Protestes gegen den französischen Krieg in Algerien und gegen die staatlichen Reaktionen auf die reine Äußerung der freien Meinung speiste sich dieses Zeitschriftenprojekt, das eine wunderbare Idee blieb, eine Idee, die sich nie materialisierte.

Dieses Projekt verband die Italiener Elio Vittorini, Francesco Leonetti, Pier Paolo Pasolini, Alberto Moravia, Franco Fortini und Italo Calvino mit den Franzosen Maurice Blanchot, Dionys Mascolo, Louis-René des Forêts, Robert Antelme, Marguerite Duras, Maurice Nadeau, Michel Butor, Michel Leiris und Roland Barthes und den Mitgliedern der deutschen Redaktion: Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger, Ingeborg Bachmann, Martin Walser, Helmut Heißenbüttel, Günter Grass, Walter Boehlich und Peter Rühmkorf. Auch Verlage waren relativ schnell für das Projekt gefunden. In Italien war es Einaudi, in Frankreich zunächst Gallimard, später Julliard, in Deutschland zunächst S. Fischer, dann Suhrkamp. Langfristig sollten weitere Schriftsteller anderer Länder zur Mitarbeit bewogen werden: Es gab Sondierungsgespräche mit Iris Murdoch, Leszek Kołakowski, Carlos Fuentes, Ernesto Sábato und Richard Seaver. Welche Idee aber steckte hinter diesem Projekt? Worum ging es? Was war das Neue?

Alle zwei bis drei Monate sollte eine neue Ausgabe der Zeitschrift erscheinen, in jedem der drei beteiligten Länder in der jeweiligen Landessprache – aber mit identischem Inhalt. In einem Memorandum gab Maurice Blanchot die Marschrichtung der Zeitschrift vor, formulierte die Maximen, nach denen man, wenn man wirklich etwas Neues und gesellschaftlich Sinnvolles fabrizieren wollte, sich zu richten hatte. Das Projekt sollte vom Wesen her international und kollektiv sein, jeder Beitrag sollte aus der spezifischen Verantwortung des Schriftstellers heraus entwickelt sein, das Literaturinteresse der Beteiligten sollte kein kunstimmanentes sein, sondern aus dem Interesse für Wahrheit und Gerechtigkeit heraus abgeleitet werden, und, last, but not least, sollten Struktur und Ton der Zeitschrift an eben diesen Maximen ausgerichtet sein. Alles, was nicht der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Realität diente, galt es auszuschließen.