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Kursbuch 189 E-Book

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Beschreibung

Wenn Facebook gezwungen ist, über den Umgang mit Fake News nachzudenken, sogenannte Wutbürger der freien Presse Lügen vorwerfen und der Präsident von Amerika alternative Fakten präsentiert, dann ist es an der Zeit, sich mit dem Phänomen der Lüge zu beschäftigen – und genau das versuchen die Autoren des neuen Kursbuchs. Sie fragen sich, was eine Lüge überhaupt ist, welche neue Rolle Fiktion und Lüge heute in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft spielen und vieles mehr. Mit Beiträgen von Ludger Heidbrink, Alexander Lorch, André Kieserling, Claudia Pichler, Matthias Hansl, Gerhard Waldherr, Barbara Zehnpfennig, Fritz Breithaupt, Martin Kolmar, Cord Riechelmann, Walter Schels, Jan-Werner Müller, Sabine am Orde, Peter Felixberger und Armin Nassehi.

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Lauter Lügen

 

Inhalt

Armin Nassehi | Editorial

Sabine am Orde | Brief einer Leserin (17)

Matthias Hansl | Lüge, Bluff & Co. Über das Ende tugenddemokratischer Selbstbeherrschung

Gerhard Waldherr | Deutschkunde. Prolog

Armin Nassehi | Po:Pu:Lis:Mus. Fünf Motive über das Lügen

Barbara Zehnpfennig | Keine Lüge ohne Wahrheit. Zur Legitimität der politischen Lüge

Fritz Breithaupt, Martin Kolmar | Fakten oder Faketen? Eine Geschichte postfaktischer Autoritäten

Cord Riechelmann | Können Tiere lügen? Eine Reise durch die Natur

Walter Schels | Schönheitswettbewerb. Ehrliche Lügenfotografie

Jan-Werner Müller | Fake Volk? Über Wahrheit und Lüge im populistischen Sinne

Peter Felixberger | Achtung: Wahrheit! Gerechtigkeit als Semantikcontainer

Ludger Heidbrink, Alexander Lorch | Post-Truth-Management. Die postfaktische Verantwortungslosigkeit in Unternehmen

André Kieserling | Grenzschutz. Über die Lüge im außermoralischen Sinne – ein Gespräch

Claudia Pichler | Der Polt. Was Satire so überhaupts kann

Anhang

Die Autoren

Impressum

Armin NassehiEditorial

»Er lügt wie gedruckt« – das Urteil, das sich in diesem Sprichwort ausdrückt, ist erst auf den zweiten Blick plausibel. Mündlich zu lügen, müsste viel einfacher sein, weil der Sprechakt in dem Moment verschwindet, in dem er ausgesprochen wurde. Der mündliche Alltag ist ja geprägt davon, dass wir uns irgendwie durch Bewährungsräume hindurchlavieren, in denen es darauf ankommt, mit möglichst wenigen sozialen und physikalischen Kollisionen durchs Leben zu kommen. Dabei das Gesagte an Erwartungen, an Situationen, an Erfolgsbedingungen, auch an taktvolle Unwahrheiten anzupassen, ist unvermeidlich. Sollte es also heißen: »Er lügt wie gesprochen«?

Dass die Lüge eher in gedruckter Form auftaucht, liegt wohl daran, dass es erst die Schrift ist, die so etwas wie Wahrheitsansprüche formulieren kann – Wahrheitsansprüche, die kontextübergreifend auch für andere Situationen gelten als die, während derer der Satz geschrieben wurde. Wahrheit ist ein Schriftkorrelat – weil man eben auf das festgelegt werden kann, was man geschrieben hat. Beim Sprechen bedarf es der Erinnerung, die sich ihre Wahrheit bekanntlich performativ so zurechtlegen kann, dass die Dinge dann doch passen. Und mündliche Kommunikation kann sich zunutze machen, dass es unpräzise bleibt. Das Schriftliche wird zur Präzision gezwungen – wenigstens prinzipiell. Und deshalb fällt die Lüge – oder das, was wir dafür halten – auch an der schriftlichen Form eher auf. Und vielleicht hat es der politische Populismus deshalb auch so leicht, im konkreten Moment mündlich zu lügen und damit durchzukommen, zugleich aber auf das Geschriebene zu verweisen, dem die Lüge schon dadurch anhaftet, dass es Wahrheitsansprüche formuliert. Die Lügenpresse hat es schwerer als der Lügensprecher.

Dieses Kursbuch liegt in gedruckter Form vor. Es wird also auf Präzision festgelegt und vermeidet daher in seinen Beiträgen eine allzu tugendhafte Selbstfestlegung darauf, nur die Wahrheit zu sagen. Die Beiträge befassen sich vielmehr damit, in welcher Gestalt der Vorwurf der Lüge oder des flexiblen Umgangs mit Wahrheiten – was immer das sei und welcher Art auch immer – erhoben wird und in welchen Konstellationen die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge überhaupt auftaucht.

So zeigt etwa Matthias Hansl in seinem Beitrag, dass der politische Lügner durchaus einen Nerv, vor allem aber den richtigen Ton trifft. Der Vorwurf der Lüge ist performativ sehr wirksam. Ahnlich weist Barbara Zehnpfennig darauf hin, dass wir uns an die Relativierung der Wahrheit gewöhnt haben, nicht aber an eine ähnliche Relativierung der Lüge. Nur die Ideologen könnten klar zwischen politischer Wahrheit und Lüge unterscheiden – alles andere finde in einem schwierigen Graubereich statt. Für diese performative, vor allem orale Seite der Lüge interessiert sich mein eigener Beitrag – »oral« nicht psychoanalytisch gedacht, sondern medial. Jan-Werner Müller lotet das Verhältnis von Populismus, Demagogie und Lüge aus. Keineswegs sei der Populismus stets eine Lüge. Aber, so Müllers These: Die eine große Lüge, nämlich die, dass es ein homogenes Volk mit einem authentischen Willen gebe, ziehe kleinere Lügen nach sich. Die fast ironische Diagnose lautet also, dass der Populist lügen muss, um konsistent bleiben zu können.

Ludger Heidbrink und Alexander Lorch beobachten, dass die geradezu überbordende Rede von der Verantwortung in Unternehmen in einer Zeit stattfindet, in der komplexe Organisationen die Verantwortung des Einzelnen geradezu wegarbeiten. Der kommunikative Überschuss an Verantwortung sei damit etwas Postfaktisches. Fritz Breithaupts und Martin Kolmars »kleine Geschichte postfaktischer Autoritäten« beginnt mit der Beobachtung, dass das streng Faktische immer schon die Ausnahme gewesen sei, und in meinem Gespräch mit André Kieserling kommt der schöne Satz vor, von »Lüge« zu sprechen sei oft schon deswegen unangebracht, weil den Leuten mit der Wahrheit nicht wirklich gedient sei. Dieser Satz bezieht sich zwar auf den (therapeutischen) Umgang mit Lebenslügen, trifft aber tatsächlich die performative, also praktische Seite der Differenz von »Wahrheit« und »Lüge«.

Gerhard Waldherr begibt sich dorthin, wo und worüber man am besten lügen kann, ins Feld nämlich, wie man ethnologisch sagen würde. Er sucht Heimaten, Gelegenheiten, Geschichten, Widersprüche auf an unspektakulären Orten, und zeigt, wie ambivalent sich die Dinge darstellen, wann man sie wirklich darstellen wollte. Dass es ganz unterschiedliche Blicke gibt, die die Dinge wahrheitsgemäß abbilden können, zieht dem Lügenvorwurf den Zahn.

Wie sehr wir uns an die Pluralität von Wahrheiten im politischen Diskurs gewöhnt haben, zeigt Peter Felixberger am Beispiel der öffentlichen Debatte um soziale Gerechtigkeit. Auf den ersten Blick sieht die Debatte aus wie eine Kapitulation vor möglichen Ergebnissen. Aber es hat doch auch eine zivilisatorische Qualität, dass die unterschiedlichen »Semantikcontainer«, wie Felixberger sagt, durchaus einen modus coexistendi finden, oder? Ob das gerecht ist? Wenigstens lügt keiner. Oder doch?

Cord Riechelmann sucht nach Potenzialen des Lügens im Tierreich und kommt zu dem Befund, dass es durchaus Täuschungsversuche bei verschiedenen Arten gibt, dass aber die explizite Lüge wohl eine sehr menschliche Erscheinung ist. Eine allzu menschliche, wie man Claudia Pichlers Analyse von Gerhard Polts sensiblen Beschreibungen entnehmen kann. Polt hat die Gabe, auf Selbstbeschreibungen hinzuweisen, die sich selbst dementieren und die das ungewollt Gesagte sichtbar machen. In diesen manchmal tragischen Geschichten ist gar kein Platz und oft auch gar kein Potenzial für die Lüge.

Sind die Fotografien von Walter Schels Lügenbilder? Oder zeigen sie mehr Wahrheit, als man ertragen kann? Sehen Sie selbst.

Wir freuen uns über den nunmehr 17. Brief einer Leserin, diesmal verfasst von Sabine am Orde. Vielen Dank dafür.

Sabine am OrdeBrief einer Leserin (17)

»Mit der Lügenpresse red ich nicht!«, blaffte der Mann und wandte sich brüsk von mir ab. Mit Block und Stift in der Hand war ich auf einem Landesparteitag der AfD an ihn herangetreten und wollte mich gerade vorstellen, da setzte er unserem Gespräch, noch bevor es begonnen hatte, ein jähes Ende. Der Mann wusste nichts über mich, meine Berichterstattung über die AfD oder die Zeitung, für die ich schreibe. Doch offensichtlich war für ihn klar: Wer nicht für AfD-nahe Medien wie die Junge Freiheit oder das Magazin Compact arbeitet, der verdreht die Wahrheit, der lügt.

Es war bei Weitem nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, dass ich bei AfD-Anhängern so aufgelaufen bin. Schön ist das nicht, aber damit lässt sich umgehen. Was mich sorgt: dass ein Teil der Bevölkerung seriös und professionell arbeitenden Medien nicht mehr traut. Dass Rechtspopulisten diese Medien immer weiter diskreditieren. Und damit an einem der Pfeiler der Demokratie sägen. Das ist einer der Gedanken, die mich umtreiben, wenn ich über den neuen Kursbuch-Titel Lauter Lügen nachdenke. Der, das sei hinzugefügt, in mehrfacher Hinsicht ein Treffer ist zum Auftakt eines Jahres, in dem Donald Trump US-Präsident wird, in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland gewählt wird – und in all diesen Ländern der Rechtspopulismus auf dem Vormarsch ist.

Denn Rechtspopulisten bezichtigen zwar andere gerne der Lüge, nehmen es selbst mit der Wahrheit häufig aber nicht besonders genau. Oder, wenn man sich den Präsidentschaftswahlkampf von Trump anschaut: Sie lügen, dass sich die Balken biegen – und ihre Anhänger scheint das nicht zu stören. Als ich jüngst am Rande einer AfD-Veranstaltung gegenüber Parteimitgliedern einwandte, dass es schlicht falsch sei, dass Flüchtlinge weiterhin in so großer Zahl und unregistriert einreisen, wie es im Sommer 2015 der Fall gewesen war, entgegnete einer von ihnen: »Das glauben Sie? Sie wissen doch, man soll nur der Statistik trauen, die man selbst gefälscht hat.« So einfach geht das. Alles Falschinformationen aus der Lügenpresse oder von der Bundesregierung, die die Bevölkerung ohnehin für dumm verkauft.

Wer wie ich in sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook AfD-Politikern, Neurechten, ihren Anhängern oder auch Pegida-Organisatoren und ihren Fans folgt, wird ständig mit Halbwahrheiten und Hetze konfrontiert. Kürzlich habe ich in einem kleinen Selbstversuch einen Tag lang auf Twitter nur solche Nachrichten gelesen, die aus der rechtspopulistischen Ecke kommen. Im Laufe des Tages hat sich die Welt deutlich verfinstert. Überall bedrohten wahlweise Flüchtlinge oder Linksextremisten den gesellschaftlichen Frieden und die körperliche Unversehrtheit der deutschen Bevölkerung. In besonderer Gefahr: die weißen, deutschen Frauen, wie ich selbst eine bin. Mitschuld daran: die Kanzlerin, die Grünen und Justizminister Heiko Maas. Spätabends blieb ein beklemmendes Gefühl zurück und die bange Frage, wie dies auf Menschen wirkt, die tagtäglich ihre Informationen nur über solche Kanäle beziehen.

Wie der Rechtspopulismus eine solche Deutungs- und Wirkungsmacht entfalten kann, dazu gibt es viele Erklärungsansätze. Selbstkritisch sei hier vor allem eine Frage gestellt: Haben wir, die Verfechter einer weltoffenen, liberalen, solidarischen Gesellschaft, die gesellschaftliche Realität nicht genau genug beschrieben und analysiert? Haben wir Probleme und Konflikte, die es in der globalisierten Einwanderungsgesellschaft gibt, deutlich genug benannt? Oder haben wir aus Sorge, dies könnte dem politischen Gegner nutzen, einen Teil der Realität ausgeblendet? Also wichtige Fragen nicht gestellt und die entsprechenden Antworten nicht gegeben? Und damit Platz gelassen für die einfachen Antworten der Rechtspopulisten, die Flüchtlinge und Migranten zu Sündenböcken erklären und rassistische Ressentiments mobilisieren und schüren?

Was genau geschah in der Kölner Silvesternacht vor einem Jahr? Und was in dieser? Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn hunderttausende Flüchtlinge kommen? Könnten Terroristen unter ihnen sein? Das sind einige der Fragen, mit denen wir uns – zwar nicht alle und immer, aber doch – schwertaten.

Für den Kampf gegen Rechtspopulismus heißt das: Wir müssen genau hinsehen, benennen und erklären, was passiert. Wir dürfen nicht wegschauen, nicht beschönigen, nicht vereinfachen. Die Welt ist komplex und muss auch so beschrieben werden.

Wir müssen auch dahin gehen, wo es wehtut. Und unbequeme Fragen stellen. In die Auseinandersetzung ziehen und um Deutungsmacht streiten. Das bedeutet eben nicht, das Geschäft der Rechtspopulisten zu betreiben. Denn wir müssen all dies mit einer klaren Haltung tun: für eine weltoffene und solidarische Gesellschaft. Und damit gegen »Lauter Lügen«.

Matthias HanslLüge, Bluff & Co.Über das Ende tugenddemokratischer Selbstbeherrschung

Dass falsch gewählt wird, ist mittlerweile kein Alleinstellungsmerkmal einer vermeintlich rückständigen arabischen Welt mehr.1 Machen wir uns nichts vor: Mit der demokratisch lupenreinen Inthronisierung des New Yorker Immobilienmilliardärs, politischen Quereinsteigers und notorischen Wahrheitsverdrehers Donald J. Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten ist der liberaldemokratische Westen am Ende einer Politik angelangt, so wie wir sie kennen und sie uns in den Lebensstilfeuilletons der Qualitätspresse lange Zeit schöngemalt haben. Das Ausgangsszenario der trashigen US-Politserie »Designated Survivor« wirkt deshalb wie eine hochaktuelle Groteske. Der Hollywoodstar Kiefer Sutherland verkörpert darin Tom Kirkman, den gleichermaßen smarten wie sympathischen Typ von nebenan, der als kompetenter und prinzipientreuer Sozialpolitiker im Washingtoner Politdschungel bisher nicht über den vergleichsweise bedeutungslosen Posten als Minister für Wohnungsbau und Stadtentwicklung hinausgekommen ist.

Kirkman wurde vom amtierenden Präsidenten zu allem Überfluss gerade auch noch politisch kaltgestellt, weil er es sich mit der reformresistenten Ministerialbürokratie verscherzt hat, und steht deshalb kurz vor seiner Entlassung aus dem Kabinett. Anders als sein machiavellistisches Pendant Francis Underwood (alias Kevin Spacey) in der Erfolgsserie »House of Cards« nimmt Kirkman seine Degradierung sportlich und freut sich auf mehr Zeit mit seiner Familie. Während sich die wirklich wichtige Politelite des Landes im Capitol versammelt, fällt dem künftigen Privatier bei der jährlichen Ansprache zur Lage der Nation durch den Präsidenten nur mehr die historisch bedeutungslose Rolle des designated survivor zu, der an einem geheimen und sicheren Ort verweilt, damit er im mehr als unwahrscheinlichen Ernst- und Katastrophenfall als personelle Notlösung kommissarisch die Regierungsgeschäfte übernehmen kann. Wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind kommt, stolpert Kirkman tatsächlich durch einen hinterhältigen Bombenanschlag, bei dem das Capitol mitsamt der amtierenden Regierung in die Luft fliegt, in das wichtigste politische Amt der westlichen Welt. Kirkman wird Präsident, weil schlichtweg kein anderer übrig geblieben ist.

Die Ironie der Geschichte besteht nun darin, dass die Alternativlosigkeit, die in der liberalen Demokratie ja vermeintlich ein Unding darstellt, dem land of the free in diesem fiktiven Fall keineswegs zum Nachteil gereicht. Denn wie es anno 2017 keine demokratische Wahl, sondern nur noch der Zufall wollen kann, navigiert fortan ein Bilderbuchpräsident sein nie zu großes Schiff in aller Besonnenheit durch ein stürmisches Wellenmeer aus zahllosen innen- wie außenpolitischen Krisen. Kirkman ist der perfekte Präsident, eben weil er kein gewählter Präsident ist.

Der Lügner trifft den richtigen Ton

Vor der amerikanischen Präsidentschaftswahl waren sich noch alle einig, größere Aussetzer in der politischen Selbstdarstellung seien in der sensibelsten Mediendemokratie der modernen Welt unweigerlich selbstzerstörerisch. Wer hier in Amt und Würden gelangen will, lautete die rückblickend naive Botschaft, muss über ein Mindestmaß an Stilsicherheit auf politischem Parkett verfügen und doch wenigstens auch den Eindruck erwecken, halbwegs zur rationalen Argumentation fähig zu sein. Als wählbar galt, wer kompetent wirkte, sich nicht blamierte und in der Debatte den richtigen Ton traf. Dafür hatte selbst der personifizierte Ausrutscher George W. Bush ein Gespür, zählte er mitsamt seiner Entourage doch immerhin zum ausgefuchsten Establishment der Republikanischen Partei. Man wusste, wie in Washington die Dinge laufen. Dem Außenminister der Bush-Regierung Colin Powell mussten seine Lügen erst aufwendig nachgewiesen werden, nachdem er vor dem UN-Sicherheitsrat anhand gefälschter Beweise behauptet hatte, Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen. Dass die amerikanischen Neocons schließlich aufflogen, war auch dem institutionellen Druck einer halbwegs funktionierenden prozeduralen Demokratie geschuldet. Deren Segnungen führte Jürgen Habermas auf einen »sich selbst korrigierende[n] Lernprozess«2im Anschluss an die Französische Revolution von 1789 und die seither geschärften Argusaugen der politischen Öffentlichkeit zurück. Auf der entgegengesetzten Seite gingen auch die Apologeten der Staatsräson stets davon aus, dass Lügen zumindest gut kaschiert werden müssen. In der Tradition Machiavellis skizzierten sie den idealen Homo politicus als Kreuzung zwischen Fuchs und Löwe: Politischer Erfolg und Durchsetzungsstärke beruhten demnach zu einem guten Teil auf der Einsicht in die Mechanismen eines selbstreferenziellen politischen Betriebs, in dem die Moral, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielte.

Mittlerweile liegen die Dinge völlig anders. Eine Revolution ist im Gange, die Idealisten und Realisten gleichermaßen alt aussehen lässt. Lüge, Bluff, Durchtriebenheit und Zynismus werden dabei vom raunenden Demos geradezu offensiv eingefordert und bei ausreichendem Einsatz im Wahlkampf postwendend akklamiert. Die Lüge gehört auf einmal zum guten Ton. Sie ist kein machiavellistisches Mittel der Politik mehr, das man vor den Augen der Öffentlichkeit besser verborgen hält. Durchtriebenheit und Ruchlosigkeit gelten nun als Ausweis von Cleverness. Dieser Trend, in dem ein Bedürfnis nach sofortiger Befriedigung situativer Bedürfnisse zum Ausdruck kommt – man könnte dies auch im Sinne kollektiv-infantiler Regression als Verlangen nach politischer instant gratification bezeichnen –, entspringt den Untiefen der Gesellschaft selbst und indiziert einen Verfall bürgerlicher Maßstäbe. Politische Klugheit kann nicht mehr im Modus der longue durée gedacht werden, da dies unweigerlich die Tugenden von Abwägen und Kompromiss erfordert. Das unmittelbare Ausagieren politischer Reflexe ist in dem Sinne auf die Lüge angewiesen, um seinerseits das bereits ad nauseam erwartbare Argument der Gegenseite zu kontern. Eine gesellschaftliche Konstellation, in der die klassische bürgerliche Gesellschaft zunehmend in fragmentierte Verwalter gesellschaftlicher Pfründe, mit einem Begriff Max Horkheimers, in »Rackets« zerfällt, begünstigt diese toxische Ökonomie politischer Unmittelbarkeit, für welche die Kommunikationstechnologien weniger als Informationsmittel denn als verstärkende Durchlauferhitzer fungieren.

Die neue Kraft der Lüge mutet auf den ersten Blick paradox an. Niemals zuvor war es möglich, so leicht und schnell an Informationen zu kommen, nie war verfügbares Wissen derart ausgereift, breit gestreut und offen zugänglich wie heute. Gleichzeitig verfängt eine postfaktische Politik, die auf bloße Effekte setzt und sich nicht einmal mehr darum bemüht, ihre perfiden Botschaften durch Pseudoargumente abzusichern, bei den demokratischen Massen mehr denn je. Es wirkt gerade so, als stellten Fakten, Argumente und Begründungen für die wahlkämpferisch umworbenen Mehrheiten mittlerweile einen Affront dar. Daran zeigt sich, dass auch der öffentliche Umgang mit der Wahrheit heute den Gesetzen einer »regressiven Modernisierung« unterliegt, die der Sozialwissenschaftler Oliver Nachtwey in seinem Buch Die Abstiegsgesellschaft eingehend analysiert hat: Einerseits indiziert das »hohe Maß an Konfabulation, also des pathologischen Glaubens an objektiv falsche Aussagen«3, dass »Gegenwartsgesellschaften hinter das in der sozialen Moderne erreichte Niveau an Integration zurückfallen«; andererseits werden »wir nicht Zeugen eines eindeutigen Rückschritts hinter das in vermeintlich besseren Zeiten Erreichte«4, weil das verfüg- und verwertbare Wissen ja tatsächlich anwächst.

Vom rationalen Liberalismus zur irrationalen Demokratie?

Der Publizist und Netzexperte Sascha Lobo, der in den vergangenen Jahren eine erfreuliche Wandlung vom Apologeten einer »digitalen Bohème«5 zum luziden Kritiker des digitalen Anarchismus durchlaufen hat, bezeichnet den demokratischen Gegenwartsmodus vor dem Hintergrund der Digitalisierung als »Sofortpolitik«. Der rasend schnelle Verfall von Neuigkeiten in der digitalen Demokratie erfordere »die Inszenierung des Augenblicks«, wohingegen »historische, soziale, faktische Hintergründe« immer weniger zählten: »die Wahrnehmung, der ›Social Spin‹ des Moments entscheidet«. Für Lobo markiert die »Sofortpolitik« auch den »Backlash zur Politikverdrossenheit, der inzwischen harmlos wirkenden Geißel der Neunzigerjahredemokratie«. Die optimistischen Zeiten, in denen selbstbewusste Abgeordnete der Piratenpartei ein Loblied auf die liquid democracy anstimmten, sind folglich vorbei. Im Gestus eines Tocqueville 2.0 gelangt Lobo vielmehr zu dem pessimistischen Schluss, dass »sich alle in der digitalen Fußgängerzone für Politik [interessieren], aber zu oft auf eine Weise, die unter Demokratie die Diktatur der (vermeintlichen) Mehrheit versteht und unter Mehrheit Lautstärke«.6

Letztlich indiziert die postfaktische Politik auch in der von Lobo beschriebenen Variante einer demokratischen »Sofortpolitik« im digitalen Zeitalter einen wiederkehrenden »Zug vom Rationalismus zum Irrationalismus, vom Liberalismus zur Demokratie«7, wie ihn der antiliberale Staatsrechtler und »Kronjurist des Dritten Reichs« (Reinhard Mehring) Carl Schmitt schon in den frühen 1920er-Jahren diagnostiziert hatte. Dass sich aus seinem Abgesang auf den Liberalismus und die parlamentarische Demokratie Rückschlüsse auf die Gegenwart ziehen lassen, hat auch damit zu tun, dass »der sich heute ankündigende europäische Bürgerkrieg« wie zu Zeiten der Weimarer Republik auf der Folie einer »großen Krise des Liberalismus, diesmal des Neoliberalismus«8 abspielt. Analog zu Schmitt stellt auch der prototypische neurechte Schwärmer in Europa sich und sein Denken heute offen in den Dienst eines heraufziehenden Zeitalters des demokratischen Despotismus und stilisiert damit »die Krise der Zeit zum Pathos seines Lebens«9. Schmitt wollte die Instabilität des Weimarer Parlamentarismus als Beweis einer gegenaufklärerischen Geschichtsphilosophie verstanden wissen, mit der er seine antihumanistischen, ja bald auch offen antisemitischen Ressentiments rechtfertigte. Dabei lieferte er zugleich eine der wirkmächtigsten Begründungen für das Ende rationaler Begründung in der Politik und erhob das Ressentiment und die mangelnde Urteilsfähigkeit in den Rang demokratischer Grundtugenden. Sein Primat der Demokratie vor dem Liberalismus manifestierte sich nicht zuletzt in der Affirmation einer verrohenden Bürgerschaft, die im »Zeitalter der Extreme« (Eric Hobsbawm) schlichtweg aufgehört hatte, überhaupt noch etwas wissen zu wollen. Schmitts politischer Existenzialismus kann somit als Ideologie der postfaktischen Politik avant la lettre bezeichnet werden.

In seiner knappen Broschüre Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus stellte er schon im Jahr 1923 die Prognose auf, der liberale Rationalismus ende bald »in einem Fieber, und unmittelbar vor sich sieht er nicht mehr das idyllische Paradies, das der naive Optimismus der Aufklärung […] vor sich sah«, sondern »eine furchtbare Negation«10. Bolschewismus und Faschismus traten zu dieser Zeit gerade ihren Siegeszug an. Deshalb musste sich jemand wie Schmitt in der instabilen Weimarer Republik regelrecht dazu ermuntert fühlen, die dumpfe Volksbewegung gegen das aufklärerische Erbe des klassischen Liberalismus auszuspielen. Wie er ausführte, hatte die kurze Hochphase der parlamentarischen Demokratie – die ihre besten Zeiten bekanntlich noch vor sich hatte – auf dem kollektiven Glauben an die Prinzipien der öffentlichen Deliberation und der Gewaltenteilung beruht. Diese geistesgeschichtlichen Fundamente implizierten laut Schmitt für die politische Entscheidungsfindung »die Vorstellung einer gewissen Konkurrenz, aus der sich als Resultat das Richtige«11 ergebe. In Anlehnung an Max Webers Legitimitätsbegriff postulierte Schmitt sodann einen unauflöslichen Funktionszusammenhang zwischen dem kollektiven Glauben an die kritisch-rationalistische, relativistische Geisteshaltung der Aufklärung einerseits und einer parlamentarischen Praxis andererseits, für die dieses geistige Fundament überlebenswichtig gewesen sei. Folgen wir seiner Argumentation weiter, lag das Hauptproblem der parlamentarischen Demokratie nun in einem Grundwiderspruch, der diese von Anbeginn begleitet habe, aber erst jetzt, am Ende eines liberalen »Zeitalters der Entpolitisierungen und Neutralisierungen«12, seine volle Sprengkraft entwickle. Die in der Öffentlichkeit und im Parlament ermittelte »Veritas« qualifizierte er dabei unumwunden als »etwas Intellektualistisches« ab, um sie in ein unauflösliches Spannungsverhältnis zur exekutiven »Auctoritas«, »die wesentlich auf Handeln angewiesen«13sei, zu stellen. Solange das »Gerechtigkeitsgefühl einer ganzen Epoche« noch auf den geistesgeschichtlichen Grundlagen des Parlamentarismus, auf öffentlicher Deliberation und Gewaltenteilung beruht hatte, konnte dieser Widerspruch Schmitt zufolge latent gehalten werden, ja die Liberalen hätten sogar geglaubt, »die bloß tatsächliche Macht und Gewalt […] überwinden und den Sieg des Rechts über die Macht herbeiführen zu können«.14 In der auf Propaganda und Personenkult ausgelegten, irrationalen Massendemokratie seiner Zeit sah Schmitt die komplizierte liberale Wahrheitssuche, diese rationalistische »Balancierung der Meinungen in öffentlicher Rede und Gegenrede«, nun aber endgültig an ein Ende kommen und bezeichnete die parlamentarische Öffentlichkeit deshalb kurzerhand als »Fassade«.15

Schon in der Politischen Theologie hatte er bemerkt, dem Parlamentarismus »im Zeitalter einer intensiven Verkehrswirtschaft«, in dem »der Verkehr in zahllosen Fällen häufig weniger Interesse an einem bestimmt gearteten Inhalt als an einer berechenbaren Bestimmtheit«16habe, keine Überlebenschancen einzuräumen. Die Zeichen der Zeit lehrten doch, dass es nicht länger darauf ankam, wie über etwas, sondern allein dass entschieden wurde. Die öffentliche Suche nach guten Gründen galt Schmitt nur mehr als Überbleibsel einer liberalen Schönwetterphase im 19. Jahrhundert, die Institutionen der parlamentarischen Demokratie kamen ihm folglich »wie eine überflüssige Dekoration, unnütz und sogar peinlich« vor, so »als hätte jemand die Heizkörper einer modernen Zentralheizung mit roten Flammen angemalt, um die Illusion eines lodernden Feuers hervorzurufen«17. Auf die an ihrem eigenen institutionellen Grundwiderspruch zwischen Wahrheit und Macht zugrunde gehende parlamentarische Demokratie musste in den Augen des konservativen Gegenrevolutionärs eine in der charismatischen Figur des Reichspräsidenten inkarnierte »plebiszitäre Führerdemokratie« (Max Weber) folgen. Dieser Hegelianismus von rechts war die antiszientistische Version der naturalistischen Geschichtsphilosophie des orthodoxen Marxismus. Während der politische Existenzialismus in der Tradition von Marx immerhin noch versuchte, den Gang der Geschichte zur Diktatur des Proletariats pseudowissenschaftlich zu begründen, gebärdete sich Schmitt hingegen gleich als volksnaher diabolischer Beschwörer eines postfaktischen Zeitalters der identitären Demokratie.

Auf verlorenem Posten: Aufklärer in der erschöpften Aufklärung

Damit sich Schmitts selbsterfüllende Prophezeiung nun nicht wiederholt, richtete der renommierte Historiker und Totalitarismus-Experte der Yale University Timothy Snyder unmittelbar nach dem überraschenden Ausgang der US-Präsidentschaftswahl einen leidenschaftlichen Appell an seine amerikanischen Landsleute und leitete seinen Facebook-Post vom 15. November 2016 mit der geschichtsträchtigen Bemerkung ein, die Amerikaner seien zwar »nicht klüger als die Europäer, die ihre Demokratien Faschismus, Nazismus und Kommunismus Platz machen sahen«, besäßen aber den entscheidenden Vorteil, aus der europäischen Geschichte »lernen zu können«. In seiner darauffolgenden Anleitung »zur Bewahrung der Freiheit in der Unfreiheit« in 20 Punkten beziehen sich zwei seiner besseren Vorschläge auf den richtigen Umgang mit Trumps postfaktischem Politikstil, der von dessen Chefberater Stephen Bannon, dem ehemaligen Betreiber der verschwörungstheoretischen rechten Nachrichtenplattform Breitbart News, im Wahlkampf gegen die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton perfektioniert worden ist.

Snyder verkörpert den prototypischen amerikanischen Linksliberalen, der gegen den Trumpismus auf die klassischen Kontrollmittel der Aufklärung und republikanische Tugendhaftigkeit setzt. An achter Stelle seines Anti-Trump-Katalogs legte er seinen Lesern einen emphatischen Gestus der Aufklärung ans Herz, um den wahrheitsfeindlichen Narzissmus des drohenden Cäsars vom Tage seiner Vereidigung an zu unterlaufen: »Glauben Sie an die Wahrheit. Sich von der Wahrheit abwenden heißt sich von der Freiheit abwenden. Wenn nichts wahr ist, lässt die Macht sich nicht kritisieren, weil es keine Grundlage für diese Kritik gibt. Wenn nichts wahr ist, ist alles Spektakel. Und die dickste Brieftasche bezahlt die blendendsten Scheinwerfer.« Gleich darauf empfahl Snyder die dazu passende investigative Haltung: »Gehen Sie den Dingen auf den Grund. Verwenden Sie mehr Zeit auf lange Artikel. Unterstützen Sie den investigativen Journalismus, indem Sie Printmedien abonnieren.« Abschließend forderte er seine Landsleute noch offen dazu auf, in diesen schwierigen Zeiten »ein Patriot« zu sein: »Der neue Präsident ist das nicht.«18 Am 31. Dezember 2016, dem Ende eines politischen Seuchenjahrs, auf das ein regelrechtes Schicksalsjahr zu folgen droht, drückte der President-elect in seinen via Twitter ausgesandten Silvestergrüßen in hämischer Manier aus, dass er sich dem Alarmismus liberaler Ostküstenintellektueller vom Schlage Snyders durch sein demokratisches Mandat längst enthoben fühlte: »Happy New Year to all, including to my many enemies and those who have fought me and lost so badly they just don’t know what to do. Love!«19 Snyder konterte am 3. Januar 2017 über Twitter, seine Facebook-Intervention trage bereits Früchte, weil sich das amerikanische Volk längst mit einschlägigen Bücherkäufen gegen den drohenden Autoritarismus wappne: »Americans are getting ready: right now Orwell’s 1984, Huxley’s Brave New World, and Bradbury’s Fahrenheit 451 are all bestsellers on Amazon.«20

In Snyders sympathischem Pfadfinderaktivismus wirkt die Aura des Postfaktischen letztlich wie eine fremde Macht, die gewissermaßen von außen über eine unschuldige demokratische Bürgerschaft hereinbricht. Es bleibt indes zu befürchten, dass er mit dem Demos, der bekanntlich nicht nur Bücher liest, auf das falsche Pferd setzt. Denn die Gründe für die Wiederkehr des demokratischen Narzissmus liegen nicht zuletzt in der prinzipiellen Erschöpfung einer liberalen Aufklärung, die sich zu Tode aufgeklärt hat. Der zeitgenössische Roman fungiert im besten Fall als literarische Verdichtung einer solchen epochalen Zäsur. Dazu muss es dem Autor gelingen, aus moralinsauren Abziehbildern, den »Charaktermasken« im marxschen Sinne, waschechte Figuren zu entwickeln, in deren Gedankenspielen und Dialogen die drängenden Fragen der Zeit zum Leben erweckt werden. Der Schweizer Schriftsteller und Philosoph Jonas Lüscher hat in seinem schwarzhumorigen Debütroman Kraft kürzlich den kunstvollen Drahtseilakt vollführt, das Ende der liberalen Aufklärung in der Figur seines Protagonisten Richard Kraft anzukündigen und mit den uneingelösten Versprechen der Sozialdemokratie und des Neoliberalismus politikgeschichtlich zu verknüpfen. Der Tübinger Rhetorikprofessor Kraft steht dabei gewissermaßen stellvertretend für den aussichtslosen Versuch, dem Verlust der sinnerfüllten Wirklichkeit im postdemokratischen Finanzmarktkapitalismus des 21. Jahrhunderts noch mit den bewährten Mitteln der systematischen Theologie und politischen Philosophie beizukommen.

Der einstmals glühende Verfechter der neoliberalen Wende Margaret Thatchers und Ronald Reagans ist mittlerweile in die Jahre gekommen und reist an die Stanford University, um an einem hoch dotierten Essaywettbewerb teilzunehmen, den ein windiger Philanthrop und vormaliger Finanzspekulant namens Tobias Erkner ausgelobt hat. Erkner erhofft sich von einigen ausgewählten Fachmenschen des Geistes hochtrabende Antworten auf die letztlich tautologische Preisfrage, warum die Welt gut ist, so wie sie ist. Für den gewieften Argumentationsprofi Kraft eigentlich eine lösbare Aufgabe, würde man denken. Doch dem weltpolitisch ernüchterten und privat zudem völlig ausgelaugten Professor fehlt mittlerweile schlichtweg die ideologische Verve aus vergangenen Tagen, die ihn dazu in die Lage versetzt hätte, Erkner nach dem Mund zu reden und zu einer halbwegs überzeugenden Apologie des Status quo auszuholen. Seine einzige Motivation zur Teilnahme am Preiswettbewerb war die beträchtliche Siegprämie von einer Million US-Dollar, mit der er sich von seiner frustrierten Ehefrau im heimischen Tübingen freikaufen will. Dass Kraft am Ende auf ganzer Linie scheitert, liegt an seiner himmelschreienden Ohnmacht, die argumentativen Versatzstücke seiner alten Schriften überhaupt in eine einigermaßen kohärente Form zu bringen, um der postliberalen Geschichtsphilosophie Erkners doch wenigstens noch aus strategischen Gründen gerecht zu werden. Erkners Forderung, sich nach den »fatalen Zeiten des unkonkreten Optimismus«, in denen »der Anwalt und der Banker die Leitfiguren« gewesen seien, auf einen »konkreten Optimismus« zu besinnen und wieder »an eine planbare Zukunft« zu glauben, zeugt von einem absurden Ideen-Recycling. Ins kalifornische Silicon Valley sind die schal gewordenen Ideen des technokratischen Konservatismus eingezogen. Erkner begibt sich auf den Friedhof der Geistesgeschichte, um die comtesche Utopie von der illiberalen Herrschaft des Positivismus wieder auszugraben: »am Ende dieser Kulturrevolution, mit der der Mensch das Joch des Zufalls abschütteln werde«, so lässt Lüscher den Investor vollmundig prophezeien, »werde wieder der Ingenieur die Speerspitze der Menschheit bilden«21.

Die von Lüscher karikierten Fantasien der Tech-Hipster im Silicon Valley erscheinen genauso illusorisch wie die technokratische Planungseuphorie der industriellen 1960er-Jahre. Wie kommt es aber, dass die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien die noch in den 1990er-Jahren euphorisch an sie gerichteten Erwartungen nicht nur