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Beschreibung

Grün ist die Hoffnung. Du bist noch grün. Grün ist die Mitte. Alle wollen grün sein. Die grüne Technologie. Grüne Lungen der Städte. Grün ist das Leben. Grüngürtel. Grüne Energie. Die grüne Revolution. Bei Grün fahren wir. Grüner Kraftstoff. Grünkost. Grünzonen. Alles im grünen Bereich. Grünzeug. Grün ist die Farbe der Stunde. Nicht Giftgrün, sondern Grün. Sie klingt fast immer als Erlösung, zumindest als Lösung, wenigstens als harmonischer Horizont. Warum ist Grün die Farbe der Zeit, warum will alles grün sein, und warum sind das Grün selbst und die grüne Metapher so erfolgreich? Dieses Kursbuch kündigt kein blaues Wunder an, sondern spürt der grünen Revolution nach. Mit Beiträgen unter anderem von Peter Unfried, der erklärt, wieso Deutschland überhaupt keine ökologische Partei hat und brand eins Gründer Wolf Lotter, der die Grünen auffordert, endlich ihre Rückwärtsgewandtheit zu überkommen. Kulturwissenschaftlerin Mareike Vennen wagt sich an einige Episoden der Naturgeschichte der Stadt und Soziologin Irmhild Saake hinterfragt unser reflexives Verhalten zu Tieren.

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Inhalt

Armin Nassehi Editorial

Svenja FlaßpöhlerBrief einer Leserin (24)

Peter Unfried Das große MissverständnisDie Grünen. Ein Update

Robert Habeck»Das Grüne ist die neue Normalität«Im Gespräch mit Peter Felixberger und Armin Nassehi

Karl BruckmaierAus grüner Städte MauernChronik einer wohl enttäuschten Liebe

Wolf LotterIt’s your economy, stupid!Die Grünen leben in der Ökonomie der Industriegesellschaft

Oliver JahrausDer verkannte VordenkerErnst Jünger und die Grünen

Cordula KroppUrban GardeningGrüne Nischen als Strukturwandel von unten

Thorsten BaenschAraucaria araucanaThe Monkey Puzzle Tree

Irmhild SaakeDie Welt als ZooÜber die soziale Reflexivität mit Tieren

Mareike VennenDer grüne KomplexEpisoden zur Naturgeschichte der Stadt

Stephan RammlerMehr Grün wagenGrüne Verkehrspolitik zwischen Nachhaltigkeit und Kulturkampf

Max KochNachhaltige WohlfahrtÖkologisch-soziale Politik für die Postwachstumsära

Die Autoren

Impressum

Armin Nassehi Editorial

Der Verleger des neurechten Antaios-Verlages hat vor einigen Tagen eine Feinderklärung abgegeben. Auf seinem Blog heißt es: »Das grüne Kon­zept ist das der offenen Grenzen, der Dekonstruktion des Entstandenen, der Totalemanzipation des Ichs auf Kosten der Allgemeinheit, des Neu­baus der Gesellschaft und der moralistischen Weltordnung.« Es sei das Konzept, das das Gewachsene, das gewissermaßen Natürliche ver­nichte – auch das »Volk« als letzte Kategorie des Natürlichen, des Gewachsenen. Der Autor versteigt sich sogar dazu, an der Dekonstruktion des Volkes, an jener für ihn und seinesgleichen natürlichen Grundlage aller Kultur und Gesellschaft, den Punkt zu sehen, an dem aus dem po­litischen Gegner nicht nur ein Feind, sondern sogar ein »Todfeind« wird. Steht da so.

Aber, das muss man ihm zugutehalten, recht hat er. Das grüne Konzept ist in der Tat eines jenes Milieus, das sich in der postmaterialistischen Generation nach dem Zweiten Weltkrieg von fast allen Institutionen be­freien wollte, sie verflüssigt hat, Alternativen ausprobiert hat, Stehendes und Geltendes infrage gestellt hat. Nicht von den Grünen ist hier nur die Rede, sondern von einer gesellschaftlichen Pluralisierung, die tatsächlich dort Fragen stellt, wo man vorher nicht einmal Antworten brauchte. Es ist der angemessene Feind für diejenigen, die all das im Be­wusstsein einer quasi natürlichen Ordnung nicht wollen. Diese Feind­schaft hat sich das grüne Konzept redlich verdient. Es gibt nichts Schlim­meres, als von den Falschen zum Feind erklärt zu werden.

Aber ganz stimmt das mit dem Gewachsenen und der Natur nicht. Denn bei aller Verflüssigung klarer Bedeutungen und Zugehörigkeiten ist es gerade das Gewachsene, ist es die Natur, die dem grünen Konzept sogar seinen Namen gibt. Da geht es um Erhaltung der natürlichen Le­bensgrundlagen, um den Boden aller Horizonte, um die Frage des Bewahrens, auch einer gewissen Modernitätskritik. Nur das Volk und die Lebensformen, die haben sich nicht nur im grünen Konzept aus der Na­türlichkeit der Natur emanzipiert – und was das angeht, ist das Grüne tatsächlich zu einer neuen Normalität geworden –, so die Formulierung von einer der beiden Parteispitzen der Grünen, Robert Habeck, im Ge­spräch, das Peter Felixberger und ich mit ihm geführt haben.

Das grüne Konzept ist nicht identisch mit der politischen Partei der Grünen. Die »neue Normalität« ist das Grüne auch deshalb, weil seine Themen – die Pluralisierung von Lebensformen, die selbstbewussten Le­benskonzepte urbaner Mittelschichten, aber auch ökologische Fragestel­lungen und manchmal auch die Romantisierung des Natürlichen und die Moralisierung des Eigenen – weit über das eigentliche Milieu hinaus Geltung beanspruchen können. Das politische Grün ist auf dem Weg zur Volkspartei – da ist es wieder, das Volk. Das grüne Konzept selbst gilt weit über das unmittelbare grüne Milieu hinaus. Freilich ist das, was manche als »grüne Hegemonie« (Giovanni di Lorenzo) bezeichnen, eher ein Platzhalter für die Erfahrungen der lebensweltlichen Pluralisierungen und Liberalisierungen seit Mitte des 20. Jahrhunderts, aber die klassische industriegesellschaftliche Phase nach 1945, explizit ab Mitte der 1960er-Jahre wird auch gerne als die »sozialdemokratische Epoche« bezeichnet, ohne dass da nur Sozialdemokraten mitgewirkt hätten.

Dass das Grüne von rechts (und von richtig links) so sehr gehasst wird, ist nur konsequent. Der vielleicht interessanteste Wandel der Grü­nen und auch des grünen Konzepts – ich bleibe jetzt bei dieser Formulierung – besteht wohl darin, dass das Grüne Ende der 1970er-Jahre damit angetreten war, alle Institutionen plattzumachen, infrage zu stel­len und für überflüssig zu erklären, heute aber als große Verteidigung der klassischen staatlichen Institutionen und des bundesrepublikanischen Institutionenarrangements gilt. Das ist eine erstaunliche, aber durchaus konsequente Karriere. Übrigens gilt für die Rechten auf der Suche nach dem Feind die Kanzlerin als die grüne Amazone schlechthin.

Dieses Kursbuch hat einen Schwerpunkt auf dem politischen Grün, aber nicht nur, es befasst sich mit der Vergrünung des Denkens. Wir beginnen mit einem Beitrag des taz-Chefreporters Peter Unfried, wohl einer der besten Kenner des grünen Innenlebens, zugleich aber auch dessen schärfster Kritiker. Kaum jemand hat die inneren Wi­dersprüche zwischen hehren Idealen und dem konkreten Leben tugend­hafter Idea­­listen schöner auf den Punkt gebracht als Peter Unfried. Meine Lieb­lings­passage aus diesem Kursbuch: »Keiner hatte selbst zu Hause ein Atomkraftwerk in der Garage. Der Atomprotest war ideal mit der Vorstellung eines tugendhaften Weltbürgerlebens verknüpfbar, weil er die Alltagsnotwendigkeiten dieser Weltbürger nicht tangierte.«

Es folgt das schon erwähnte Gespräch, das die beiden Herausgeber mit Robert Habeck geführt haben. Das Gespräch changiert zwischen biogra­fischen und systematischen Perspektiven. »Uns fehlt im Moment eine Erklärung des gesellschaftlichen Zustandes«, sagt Habeck darin, und diese Einsicht ist in der Tat bereits Teil der Analyse. Biografisch ist auch der Blick von Karl Bruckmaier, der mit dem und den Grünen eine enttäuschte Liebe verbindet. Enttäuscht, weil die linke Bewegungshälfte ver­schwunden ist, immer noch Liebe, obwohl es ihm wie »eine flächen­deckende Rückbildungsgymnastik für einstige Utopisten« erscheint. Wolf Lotter nimmt den Widerspruch zwischen dem grünen Ideal der Selbstbestimmung und der gleichzeitigen Staatstreue des grünen Milieus aufs Korn, gepaart mit dem Vorwurf, diesem ökonomisch saturierten Bildungsmilieu fehle es vor allem an ökonomischer Bildung.

Einen ganz anderen Widerspruch – oder ist es gar kein wirklicher Widerspruch? – macht Oliver Jahraus aus. Er liest Ernst Jünger als einen grünen Vordenker, zumindest im Hinblick auf die modernitäts- und ent­­fremdungskritischen Elemente des ökologischen Denkens – Jahraus zieht hier Parallelen zu Martin Heidegger, aber auch zu Max Webers Perspektive auf die »Entzauberung der Welt«. Sein Beitrag kommt zu dem Ergebnis, dass man die Fragen, ob Jünger eher ein Wegbereiter des Nationalsozialismus war oder ein Vorläufer der ökologischen Bewegung, nicht isoliert voneinander betrachten dürfe.

Cordula Kropps Beitrag interessiert sich für grüne Inseln in der Groß­stadt. Kropp vergleicht hier zwei unterschiedliche Begründungsebenen des Urban Gardening – sie vergleicht solche Projekte in Leipzig und Nantes. Während der deutsche Fall eher an der ökologischen Frage ansetzt, ist das Projekt in Frankreich eher sozialpolitisch motiviert. Mit dieser Spannung zwischen ökologischen und sozialpolitischen Perspek­tiven beschäftigt sich auch Max Koch, der unter dem Stichwort einer »nachhaltigen Wohlfahrt« das Zusammenspiel sozial- und ökologiepolitischer Perspektiven auslotet.

Eine ganz andere grüne Insel in der Stadt nimmt der Beitrag von Irmhild Saake auf. Saake dekonstruiert darin das romantische und sym­metrisierende Naturkonzept des großstädtischen Grünkonzepts, das die Welt zum Zoo macht: »Was also machen wir mit diesen Zootieren? Wir sehen sie an und sehen dabei vor allem die Zäune und stellen uns vor, wie gut es den Tieren ginge, wenn sie frei wären. Aber als Zootiere, nicht als Raubtiere.« Also nicht als solche, die sich in einer wohldefinier­ten Nahrungskette jagen und fressen. Diese grüne Insel holt nicht die Welt in den Zoo, sondern projiziert die symmetrischen Ansprüche eines Milieus auf die Welt. Das Motiv des Einschlusses des Grünen, der Natur in urbane Räume, hier: hinter Glas, findet sich auch bei Mareike Vennen, die Beispiele für die Domestizierung der Natur als urbanisierten beziehungsweise urban vermessenen Raum zusammenträgt. Und Stefan Rammler gibt einen Überblick über nachhaltige Verkehrskonzepte, an denen sich alle Interessen, Perspektiven und auch Widersprü­che einer ökologischen Nachhaltigkeitsstrategie ablesen lassen.

Dass eine der ältesten Pflanzen, die auf der Erde leben, eine immergrüne Pflanze ist, hätten wir uns nie zu erfinden gewagt. Aber es ist so. Der Künstler Thorsten Baensch sammelt die Araukarie (Araucaria arau­cana) – als Fotografien in ihrem Habitat. Wundervolle Bilder, die die lange Geschichte des Grüns und eine Aussicht auf eine noch lange Zukunft geradezu meditativ nähren.

Svenja Flaßpöhler sei dafür gedankt, dass sie den 24. Brief einer Leserin beisteuert. Sie setzt sich hier kritisch mit der Initiative des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn auseinander, für die postmortale Organspende die sogenannte doppelte Widerspruchslösung einzuführen. Bezug nehmend auf dessen Beitrag in Kursbuch 196rekonstruiert unsere Leserbriefschreiberin, dass diese Lösung tatsächlich durch die religiösen Motive inspiriert ist, die der Minister in seinem Beitrag aufgeführt hatte. Flaßpöhler sieht darin das Problem, nicht die Lösung.

Es ist immer wieder faszinierend, wie sich ein Kursbuch zusammenfügt – wir konzipieren zwar, wählen Autorinnen und Autoren aus, machen uns unsere Gedanken über die Inhalte, können sie aber nicht vollständig kontrollieren. Und am Ende passt dann doch alles wieder zusammen. Ist das nun eine Metapher auf die grüne Natur, in der sich alles fügt, oder auf den grünen Pluralismus, der am Ende meistens doch in allzu kollektivistischen Versöhnungsfantasien aufgeht? Nichts von bei­dem: Es ist die Evolution von Perspektiven, der wir ein wenig auf die Sprünge helfen wollen.

Svenja FlaßpöhlerBrief einer Leserin (24)

Mit Interesse verfolge ich die derzeitige Debatte um Organspende, in deren Zentrum ein Vorschlag von Jens Spahn steht, den ich für falsch halte. Vor diesem Hintergrund habe ich Spahns Text im letzten Kursbuch, »Christ und Demokrat in Union«, mit besonderer Aufmerksamkeit gelesen. Ein Text, in dem der Gesundheitsminister sein Verhältnis zur Religion mit Blick auf seine politische Profession zu fassen versucht.

»Ich bin überzeugter Katholik«, schreibt Spahn direkt zu Beginn und führt aus: »Mein Glaube gibt mir nicht nur spirituellen Halt, umhüllt mich und hält mich seelisch gesund. Die christliche Religion ist auch untrennbar mit unserer Kultur verbunden, dem Humanismus und unserem Menschenbild, das wir Europäer teilen. […] Wo kommen wir her und wohin gehen wir, wie wollen wir uns weiterentwickeln, was in die Zukunft mitnehmen? Und: Welche zivilisatorischen Standards sind uns als Errungenschaften wichtig?«

Während der Lektüre dieser Ausführungen wurde mir immer klarer, wie sehr auch Spahns Position zur Organspende von seinem Glauben beeinflusst und getragen ist. Der Christdemokrat ist Befürworter der sogenannten doppelten Widerspruchslösung. Weil die Zahl der Organ­spenden sehr gering, der Bedarf an Organen aber ungleich höher ist, soll dieser Lösung zufolge jeder automatisch Organspender sein, so er nicht zu Lebzeiten ausdrücklich widersprochen hat. Der Gedanke, der dahinter steht, lässt sich wie folgt umreißen: Als Tote habe ich von mei­nen Organen nichts mehr, sehr wohl aber unter Umständen ein anderer Mensch, der meine Niere oder mein Herz zum Weiterleben notwendig braucht. Dass nur so wenige Menschen ihre Organe spenden, ist deshalb nicht auf eine innere, gut begründbare Überzeugung, sondern schlicht auf Trägheit zurückzuführen – und genau die soll mit der doppelten Widerspruchslösung ausgehebelt werden.

So weit, so nachvollziehbar, möchte man meinen und sieht den chri­s­tologischen Aspekt sogleich klar vor sich: Ist es nicht schlicht ein Ausdruck von Nächstenliebe, wenn ich durch meinen Organspendeausweis potenziell Leben rette? Und steht die doppelte Widerspruchslö­sung nicht eindeutig im Dienst dieses Ideals? Allein, ganz so einfach ist es dann doch nicht. Eine Organspende, die durch die doppelte Widerspruchslösung erfolgt, ist keineswegs notwendig ein Ausdruck von Nächs­­tenliebe. Denn von einer solchen Liebe getragen ist eine Handlung schließlich nur dann, wenn sie bewusst gewollt wird, was aber bei einem nicht erfolgten Widerspruch keineswegs zwangsläufig der Fall ist. Tatsächlich greift ja bei der doppelten Widerspruchslösung das Träg­­­heitsmoment gleichermaßen: Ein Mensch, der aus welchen Gründen auch immer verpasst, eine Bereitstellung seiner Organe nach dem Tod abzulehnen, ist ja noch lange nicht spendenbereit. Vielleicht hat er sich schlicht nicht mit der ethischen Vielschichtigkeit der Organspende aus­einandergesetzt, die Spahn als überzeugter Katholik leider ebenfalls übersieht.

Womit wir beim springenden Punkt wären. Es ist der Leib-Seele-Dua­lismus, der tief im christlichen Glauben wohnt und für die doppelte Wi­derspruchslösung ebenfalls grundlegend ist. Leib und Seele sind diesem Dualismus zufolge nicht nur klar voneinander unterschieden, die Seele ist dem Leib auch übergeordnet. Christologisch gesehen gilt es, den Leib schon zu Lebzeiten beständig zu transzendieren, nach dem Tod ist er nicht mehr als eine identitätslose Hülle. Unsterblicher Träger von Iden­ti­tät ist einzig die Seele, die dem Leichnam entfleucht. Von diesem Dua­lis­mus ist es nicht mehr weit zu jener Enteignung, die durch die doppelte Widerspruchslösung faktisch erfolgt: Meine Organe gehören nach mei­nem Tod nicht länger (zu) mir, sondern sie gehen über in den Besitz des Staats, der sie für die Organspende freigibt – es sei denn, ich widerspreche.

Schaut man sich das Phänomen Organspende jedoch genauer an, wird schnell klar, dass ein solcher Dualismus die Realität verfehlt. Das Problem beginnt damit, dass ein Körper, dem Organe entnommen wer­den, ja nicht wirklich tot ist, denn dann wären die Organe überhaupt nicht zu gebrauchen. Das Herz-Kreislauf-System eines hirntoten Menschen wird durch künstliche Maßnahmen für eine gewisse Zeit noch aufrechterhalten. Was konkret bedeutet, dass ein hirntoter Mensch zwar nie wieder ins Leben zurückkehren kann, der Körper aber zur Zeit der Organentnahme noch warm ist, die Lunge atmet, das Herz schlägt.

Daran schließt sich die Frage an, ob ein funktionstüchtiges Organ, das transplantiert wird, tatsächlich nur neutrale Materie ist – oder eben nicht doch Träger von Identität. Wenn eines Tages mein Herz in einem anderen Menschen weiterschlagen und dieser Mensch also nur durch mich am Leben bleiben sollte: Werde ich dann nicht unweigerlich zu ei­nem Teil von ihm? Fragen, die tief in die Philosophie des Geistes ­hineinreichen und einen kruden Leib-Seele-Dualismus als klar überholt ausweisen. Vor diesem Hintergrund riet der Deutsche Ethikrat 2015, mit dem Thema Organspende sehr sensibel zu verfahren: »Jeder Mensch muss die Möglichkeit haben, seine individuelle Entscheidung zur Or­gan­spende auf der Grundlage hinreichender Informationen zu treffen«, so heißt es in der Erklärung. Dies unter anderem auch deshalb, weil ein Organspendeausweis schwerlich zu vereinen ist mit dem – durch­aus nachvollziehbaren – Wunsch, nach einem schweren Unfall nicht künstlich am Leben gehalten zu werden.

Woraus folgt, dass die Organspende das Resultat einer sehr bewussten Entscheidung für diese Maßnahme sein sollte – und keine quasi­natür­liche Grundannahme, gegen die ein Mensch Einspruch erheben muss. Die Organspende als ethisch hochkomplexe Praxis ist nicht able­h­nungs- sondern zustimmungsbedürftig. Weitaus sinnvoller wäre es da­her, dem menschlichen Trägheitsmoment durch eine »Entschei­dungs­lösung« zu begegnen, wie auch Kritiker im Bundestag vorschlagen: Jeder, der einen Personalausweis beantragt, muss sich entscheiden: Organspende ja oder nein? So würde die Spenderzahl erhöht und gleichzeitig der Kern menschlicher Autonomie gewahrt: nämlich die grundsätzliche Verfügungsgewalt über den eigenen Körper.

»Religion soll keine Grundlage von staatlichen Handlungen mehr sein«, schreibt Jens Spahn im Kursbuch und betont das Neutralitätsgebot, »wonach der Staat sich aus der transzendentalen Deutung der Welt und dem Streben nach Glück, Glaube und Wahrheit des Individuums herauszuhalten hat.« Spahn ist sich folglich durchaus klar darüber, dass sein Katholizismus nicht seine Politik bestimmen, gar in Moralismus ausarten darf. Unklar ist mir aber, wie Herr Spahn dann ganz selbstverständlich von »unserem Menschenbild« sprechen kann, das sich christlicher Prägung verdanke. »Unser Menschenbild«. Was soll das sein? Kaum etwas ist so umstritten und historisch wandelbar wie das viel beschworene Menschenbild. Leib-Seele-Dualismus versus Materia­lismus: Das Bild bildet sich um, verändert sich, wird beeinflusst durch Kultur, Erkenntnis, Technik und ist Gegenstand eines nie endenden Streits darüber, was uns im Innersten ausmacht oder, um Spahns eigene Worte zu gebrauchen: woher wir kommen, wohin wir gehen. Es ist dieser Streit, der die Debatte um bioethische Themen wie die Organspende vorantreibt. Und kein überzeugter Katholizismus, der den Streit immer schon gewonnen zu haben glaubt. Und das Recht auf Selbstbestimmung systematisch untergräbt.

Peter Unfried Das große MissverständnisDie Grünen. Ein Update

Nach vielen und durchaus schönen Jahren im Illusionismus bin ich zu drei grundsätzlichen Erkenntnissen über Deutschland gekommen: Es gibt keine ökologische Gesellschaft. Es gibt keine ökologische Kultur. Es gibt keine ökologische Partei.

Jetzt kann man erwidern: Was will er denn? Ich trenn doch meinen Müll und wir reden hier seit 40 Jahren über die Grünen, Atomausstieg haben wir, und meine Tochter ist Vegetarierin. Oder man kann sich als rechtsdriftender Rebell sogar in einer Ökodiktatur wähnen. Oder als öko­­logisch Engagierter auf die vielen Fortschritte in den letzten Jahrzehnten verweisen.

Ich will meine Erkenntnis also etwas differenzierter begründen.

Selbstverständlich gibt es eine gesellschaftliche Minderheit, die man als echte »Ökos« bezeichnen kann und die gesellschaftliche Impulse ge­geben hat und versucht, die Energie-, Mobilitäts- oder Landwirtschafts­wende anzutreiben. Es gibt auch Leute, die keine Ökos sind, aber grü­nes Unternehmertum voranbringen. Und es gibt ein Bundesland, in dem man unter anderem mit dem Versprechen ökologischer Modernisierung Mehrheits- und Orientierungspartei geworden ist: Baden-Württemberg. Diese 30 Prozent Grünen-Wähler haben wie andere Teile der Gesellschaft eine gewisse ökologische Grundausstattung in ihrem Bewusstsein und Lebensstil.

Man kann vermutlich sogar sagen, dass es mehr Ökologie in der eu­ropäischen Gesellschaft gibt als Europäertum, wenn das die Überwindung der Nationalstaaten meint. Die zentrale Europapartei CDU hat mit Kohl und (zum Teil) Merkel ihre progressive europäische Politik eher undercover gemacht und sie im Sprechen und Scheinen mit nationaler Ästhetik verbrämt. In der Klimapolitik dagegen ist es genau anders­herum: Es wird gern und viel darüber gesprochen, aber nichts Relevan­tes getan.

Symbolisch und machtpolitisch dafür steht: Während das Klimapro­blem immer dringlicher wurde, ist das Bundesumweltministerium in den letzten 15 Jahren immer mehr marginalisiert worden. Dazu hat Bundes­kanzlerin Merkel viel beigetragen, genauso viel aber auch die SPD und ihr langjähriger Vorsitzender Sigmar Gabriel. Er und Merkel zogen sich 2007 orangene Winterjacken an, flogen an den Nordpol und schauten ernst auf die schmelzenden Eisberge. Das legendäre Foto kann man heute als Ikone der Klimadarstellungspolitik verehren.

Union und SPD aber haben Klimapolitik nicht aus moralischem Ver­sa­gen marginalisiert, sondern weil es eine stillschweigende Vereinbarung mit der Mehrheitsgesellschaft gibt, dass man gerne öko daherredet, aber selten ökologische Politik macht. Das ist Teil des ausgeprägten Wunsches nach ewiger Gegenwart, der eine Grundlage für die Ära Merkel war. Die Kanzlerin verlor ja nicht wegen Passivität die Gunst von Teilen der Gesellschaft und ihrer Partei, sondern weil sie sich 2015 dann doch erkennbar bewegte, als die Realität aus ihrer Sicht nichts anderes mehr zuließ.

Es gibt im Journalismus die Angewohnheit, die Grünen beim zweiten Nennen in einem Text aus Gründen sprachlicher Abwechslung mit »die Ökopartei« zu paraphrasieren. Gleichzeitig pflegt man dort und auch in der Gesellschaft gern eine definitorische Schwammigkeit des Begriffes »grün«. Immer wieder gern behaupten Leitartikler wie Zeit-Chef Giovanni di Lorenzo, es gäbe eine »grüne Hegemonie« im Land.1 Was sie damit meinen, ist eine geschlechter-, identitätspolitische und staatsbürgerrechtliche Liberalisierung in der Verlängerung der Befreiungsbewegung von 1968 – plus Atomausstieg und Biosupermarkt. Bewegt haben sich vor allem die Konservativen – weshalb die Union heute vom reaktionären Rand geschrumpft wird. Nun ist es sicher richtig, dass die Grünen viel dazu getan haben, dass sie auf Identitätspolitik festgelegt werden und nicht auf Ökologie. Eine »grüne« Hegemonie ist die gesellschaftliche Liberalisierung jedenfalls nicht, sie ist – im Gegensatz zur Ökologie – in breiten Teilen der Gesellschaft verankert.

Ich sehe die Fehleinschätzung zwischen dem »Grün«, das wir zu haben glauben, und dem »Grün«, das es gibt, jedenfalls nicht als das Ende, sondern als den notwendigen Moment der Erkenntnis, durch den das Denken über »Grün« neu justiert werden kann, weil man die alten Täuschungen und Selbsttäuschungen beiseiteräumt. Das will ich im Folgenden ergründen. Und verstehen, wie sich die von 1968 inspirierte Teilgesellschaft und die ihr Erbe verwaltende grüne Partei wurden, was sie sind. Und zeigen, welche Rolle die Ökologie spielt, die oft fälschlich mit dem Wort »grün« gleichgesetzt wird.

Das grüne Gefühl

Die Vorstellung wird gerne gepflegt, dass Deutschland das umweltbewussteste Land der Welt sei. (Man hat es hier auch nach der Reeducation immer noch mit Superlativen.) Ich würde es »das grüne Gefühl« einer Mehrheit nennen. Das wurde und wird mit zwei nachrangigen Punkten begründet: dem Atomausstieg, einem Thema, das in den linken und grünen Milieus viele Jahrzehnte eine große emotionale Rolle spielte, aber fälschlich oft mit einer klimaschützenden Energiewende gleichgesetzt wird. Der Atomausstieg zeigt, wie engagierte Bürger und Politik zusammen etwas voranbringen können. Aber dass der Atomausstieg nicht vollzogen ist, erreicht viele Bürger als Tatsache gar nicht mehr und auch nicht, dass für die bereits abgeschalteten AKW deutlich klimaschädlichere Kohlekraftwerke laufen. Das grüne Gefühl ist: Das haben wir erfolgreich erledigt.

Das zweite grüne Gefühl ist, dass wir in Deutschland unseren Müll trennen und unsere Joghurtbecher auswaschen wie blöde – und dass es dann doch irgendwann auch mal reichen muss. Der Berliner Kulturlinke weist noch darauf hin, dass er »ja gar kein Auto« habe – was aber kein heldenhafter Verzicht ist, sondern ein Vorteil, weil man in Berlin kein Auto braucht. Dafür nimmt er das moralische Recht in Anspruch, mit dem gesparten Geld drei- bis fünfmal im Jahr in den Urlaub zu fliegen. Dass der jährliche CO2-Ausstoß eines Autos um ein Vielfaches geringer ist als ein Kalifornien- oder Maledivenflug, ist den meisten gar nicht mehr bekannt, und wenn doch, wird es ignoriert.

Das größte und kontraproduktivste grüne Gefühl aber ist die Annahme, wir seien doch im Grunde alle im Kampf gegen den Klimawan­del – Trump, Putin und andere Autokraten ausgenommen. Klar muss man was machen, heißt es. Aber nicht auf Kosten der Freiheit, der Arbeitsplätze, der Armen und so weiter.

Gerade linke Sozialdemokraten tun sich besonders schwer mit ökologischer Politik, weil sie spüren, dass das Neue ihre Marginalisierung beschleunigt. Letztlich summiert sich das große Ja zu einer klaren und durchaus menschlichen Botschaft: nicht auf Kosten der Gegenwart und schon gar nicht auf meine Kosten. Das gesellschaftliche Bewusstsein für die globale Problemdimension von Klimawandel, Erderhitzung, den da­mit zusammenhängenden sozialen und freiheitlichen Verwer­fun­gen und dem menschlichen Elend ist durchaus vorhanden, aber auch dieses Bewusstsein wirkt sich fatal aus, weil es das Handeln nicht befördert, sondern ersetzt. Es ist wie ein Gebet, das aufzusagen die eigentliche Sache erledigt. Wir tun viel zu wenig, weil wir alle davon aus­gehen, dass wir wahnsinnig viel tun und es in Deutschland womöglich sogar mal wieder übertreiben.

Keine ökologische Kultur

Die Motive der zentralen Grünen-Gründer waren stark ökologisch geprägt und deutlich weniger »links«, als man vermuten könnte. Doch als die desillusionierten und versprengten Superlinken und emanzipa­to­rischen Minderheiten merkten, dass bei und mit den Grünen etwas zu holen war, sprangen sie auf.2 So wurde die grüne Partei zu einem Zusammenschluss von benachteiligten Minderheitsbewegungen, die ihre Gleichstellungsansprüche gegen einen vermeintlich moralisch minder­wertigen Mainstream durchsetzen wollten und das auch in einem nicht unerheblichen Maße schafften. Ihr kultureller und emotionaler Kern ist Identitätspolitik. Mit der grünen sprich ökologischen Frage können diese Minderheiten schwer umgehen, weil sie nicht in ihr kulturelles und moralisches Beuteschema passt.

Man muss allerdings als Nachgeborener wissen, dass die Grünen 1980 wirklich aus einem »Crosby, Stills, Nash & Young«-artigen Gefühl des »We can change the world« gegründet wurden und mit Hoffnungen besetzt und von Energien angetrieben waren, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann.3

Selbstverständlich ging es den Minderheiten um Anerkennung, Repräsentation und Machtumverteilung. Es ging auch um das Ganze, aber eher im universalistischen Sinn, vom pazifistischen Feldherrnhügel aus betrachtet. Es ging seltener um Ökonomie oder darum, die harte Arbeit der Weltveränderung im politischen Alltag zu organisieren. Die Idee war auch nicht, Kompromisse mit Andersdenkenden oder Anderslebenden zu erreichen. Die Idee war, dass die anderen einsehen werden, falschzuliegen, wenn man es ihnen nur oft oder streng genug sagt und die Utopie dann Realität wird. Beziehungsweise auch nicht, denn so konkret war das nicht gedacht. Und die blöden anderen waren letztlich die Voraussetzung für anpolitisierte Bürgerkinder, um sich selbst gut und besser fühlen zu können und das als feindlich empfundene Establishment, das ästhetisch verachtete Schrankwand-Kleinbürgertum und auch die eigenen Eltern mit antibürgerlicher Ästhetik und progressiver, also »linker« Minderheitenpolitik herauszufordern.

Der historische Irrtum besteht darin, dass der »Öko« ihnen faktisch nur als eine weitere Minderheitenidentität galt, die unter dem Sammel­begriff »Grün« auch ihr Anliegen vertreten konnte. Kulturell sind die Ökos den anderen zudem die entfernteste Minderheit. Was die von 1968 geprägte Teilgesellschaft nicht verstanden hat und womit sie nicht umgehen konnte, war die komplett unterschiedliche Beschaffenheit: Öko ist ein Mehrheitenthema, es betrifft alle, und man kann es nicht gegen böse Besitzstandswahrer durchsetzen, indem man ihnen etwas wegnimmt. Der Atomprotest war auch deshalb erfolgreich, weil er an die Protestkultur des Gut gegen Böse anschließen konnte: Alle guten Bürger formierten sich gegen ein paar kapitalistisch-oligarchische Atomkon­zerne. Keiner hatte selbst zu Hause ein Atomkraftwerk in der Garage.

Der Atomprotest war ideal mit der Vorstellung eines tugendhaften Weltbürgerlebens verknüpfbar, weil er die Alltagsnotwendigkeiten dieser Weltbürger nicht tangierte. Kurzstreckenflüge gehören nun mal zu den Normalitätsvorstellungen von einem mobilen Berufsleben, die von der politischen, kulturellen, beruflichen und konsumistischen Realität unterstützt werden. Ich kenne Grünen-Wähler, die von Frankfurt nach Berlin fliegen, um abends um halb acht statt um halb neun zu Hause zu sein und als guter Vater die Kinder ins Bett bringen zu können. Das gilt in der Peergruppe eben nicht als barbarisch, sondern als vorbildlich und auch normal. Zur Normalitätsvorstellung der ganzen Gesellschaft gehören bis heute noch nicht schadstoffarme Innenstädte. Trotz 10 000 Schadstofftoten im Jahr gehört zur Normalität das Abwenden von Fahrverboten im Namen der Freiheit und des Status quo.

Weil nun aber nur die ärmsten Opfer der Ungerechtigkeit nicht Auto fahren und fliegen (können) und unsereins leider fliegen muss – im ab­­surdesten Fall zu einem Klimawandelsymposium –, fehlt es bei diesem zentralen Thema an der handelsüblichen Gut-böse-Konstellation der kulturell und emotional eingeübten identitätspolitischen Themen. Daraus entsteht der Versuch, das Problem in Trump, Putin und den Saudis zu sehen. In der letzten Konsequenz führt das dazu, dass Trumps mi­so­­gyner Proletensatz »Grab women by the pussy« einen stärkeren emo­tio­nalen und damit diskursiven Impact auslöst als die Aufkündigung des Pariser Klimaabkommens zur globalen Eindämmung der Erd­erhit­zung.

Trumps anti-emanzipatorische und xenophobe Verfehlungen markieren unseren emanzipatorischen und identitätspolitischen Fortschritt. Wir sind auf dem richtigen Weg und müssen dranbleiben und dafür kämpfen. Stimmt ja auch.

Nur sozialökologisch gesehen ist es eben genau nicht so. Trump ist hier zweifellos eine große Bedrohung, aber wir selbst sind halt in Wahr­heit auch nicht auf dem richtigen Pfad. Wir sind – in diesem Denken – gegenüber zeitlich und räumlich Entfernten in diesem Bereich auf dem inakzeptablen Niveau von Trump. Nicht schön diese Einsicht – also drü­cken wir sie weg.

Die grüne Protestkultur

Bevor die AfD in der Folge der flüchtlingspolitischen Frage durchstartete, hatte sich eine Reihe von langjährigen Grünen-Wählern nach und nach von der Partei abgewandt, häufig in Richtung Linkspartei. Sie hatten viele Jahre gedacht, sie selbst und die Grünen stünden gemeinsam auf der anderen Seite der Gesellschaft, also der richtigen. Nun schien es ihnen, als stünden die Grünen auf der von ihnen aus gesehen falschen Seite. Also bei den anderen.

Generationell gesprochen erfolgt diese Trennung, um den eigenen Ro­man zu retten, das meint die Autobiografie eines Teils der westdeutschen Babyboomer, der sich seinen in der Folge von 1968 entstan­denen ra­dikalen, nonkonformistischen, kapitalismus-, staats- und elite­­kri­tischen Universalismus bewahrt haben will – auch in Jahrzehnten stinknormal-bürgerlichen Lebens und auch Funktionierens für die Gesellschaft, für kapitalistische Unternehmen oder gleich im Staatsdienst. Diese Menschen profitieren von einzigartigem Frieden, Wohlstand, gesellschaftspolitischem Fortschritt und wissen das auch – in schwachen, also ehrlichen Stunden.

Aber grundsätzlich ist ihnen danach, so zu tun, als stünden sie außerhalb oder bestenfalls am Rand der Gesellschaft, im fest angestellten Off und als sei im On alles eine einzige Abstiegsgeschichte.

Wenn man mit solcherart desillusionierten Ex-Grünen spricht, dann merkt man, wie sehr sie die baden-württembergische Mehrheitspartei nicht als Fortschritt, sondern als moralische Bankrotterklärung und Niedergangsgeschichte in sich spüren. Mehrheitsfähige Positionen sind für sie »Schwammigkeit«, Asylkompromisse im Bundesrat immer ein »Rechtsschwenk«, und Ministerpräsident Kretschmanns Standortpolitik mit rhetorischer Ökowirtschaftsperspektive läuft bei ihnen unter »Daimler-Hörigkeit«. Das ist nicht lustig, denn sie leiden ja wirklich und auch sie wünschen sich eine heile Welt zurück, in der die Fronten noch klar waren.

Wenn man mit diesem Typus im Partygespräch über Präsident Trump spricht, dann kann es passieren, dass er seufzend sagt: »Oh ja, die Kohl-­Jahre bei uns waren auch schlimm.« So dachte ich früher auch. Schlimme Kohl-Jahre.

Der Ort in Deutschland, der diese Kultur bis heute zu leben scheint, ist Berlin-Kreuzberg. Die dort regierenden Grünen gedenken nahezu wöchentlich Sophie Scholl und Anne Frank. Vorbildlich. Aber sie kriegen halt in der Gegenwart keinen vernünftigen Fahrradweg hin. Das ist das Erbe von Hans-Christian Ströbele, dem linksgrünen Helden, der diese Sehnsucht nach radikalem Universalismus fleißig bediente mit For­de­run­gen nach muslimischen Feiertagen, Kreuzzügen gegen eine McDonald’s-Filiale oder auch mit einem spektakulären Flug nach Moskau zu Edward Snowden. Für den Alltag seiner Wähler wäre der Fahrradweg eine wirkliche Verbesserung gewesen, aber dafür sei er nicht zuständig, pflegte Ströbele zu sagen.

War er auch nicht. Er wurde ausschließlich symbolpolitisch gewählt und gebraucht.