Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge - Daniel Defoe - E-Book

Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge E-Book

Daniel Defoe

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Zeitzeugnis ohnegleichen Am 11. August 1709 erscheint in England ein Text, der die unbedingte Aufnahme deutscher Flüchtlinge fordert. Das Argument: Die Aufnahme werde England zu nationaler Ehre gereichen und einen beträchtlichen wirtschaftlichen Gewinn mit sich bringen. Der Autor: Daniel Defoe. Zu Zehntausenden kommen die Menschen aus der Pfalz, um Armut und religiöser Verfolgung zu entgehen. Rufe nach Obergrenzen, Kontingenten und Flüchtlingskolonien werden laut, und auch damals gibt es gute Gründe dagegen. Defoe verschafft sich Zugang zu offiziellen Dokumenten und Statistiken, führt zahlreiche Interviews. Was er in Erfahrung bringt, ist erschütternd, aber nicht aussichtslos. Er berichtet von fremdenfeindlicher Hetze gegen die Deutschen ebenso wie von der Zivilcourage vieler Privatleute, die versuchen, den Heimatlosen neue Hoffnung zu geben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 80

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Daniel Defoe

Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge

Aus dem Englischen von Heide Lipecky

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Mit einem Vorwort von John Robert Moore

Vorwort

von John Robert Moore

Im Frühsommer 1709 trafen weiterhin Flüchtlinge aus der Unterpfalz in England ein – des Englischen nicht mächtig und ohne Aussicht auf Broterwerb, fast oder völlig mittellos. Ein Hungerjahr, die Verheerungen durch die französischen Truppen oder religiöse Verfolgung hatten viele aus ihren Orten in der Rhein-Neckar-Region vertrieben.

Über ihre Religion und ihre Herkunftsländer bestand Unklarheit. Ein englischer Beobachter, der ihr Lager auf Blackheath bei London besucht hatte, berichtete, sie »kamen nicht wegen religiöser Verfolgung herüber, denn die meisten von ihnen lebten unter der Herrschaft protestantischer Fürsten«. Eine beträchtliche Anzahl der aus der Unterpfalz Gekommenen erwies sich als katholisch; und da viele von ihnen vermutlich ehemalige Protestanten waren, die ihren Glauben aufgrund von Zwang oder Überredung seitens des Kurfürsten gewechselt hatten, legte man ihnen nahe, der Church of England beizutreten, anstatt sich zurückschicken zu lassen. Doch im Sommer 1709 war die allgemeine Meinung, dass die meisten Flüchtlinge aus der Unterpfalz stammten und wegen ihres protestantischen Glaubens Verfolgung gelitten hatten.

Als Pfälzer bezeichnete man alle, die den Rhein hinunter zur holländischen Kanalküste zogen und von dort nach England übersetzten. Mit einer einfachen Alliteration nannte man sie »poor Palatines«, arme Pfälzer. Bei den Anhängern von Godolphins Ministerium – zumeist Whigs, Low-Church-Mitgliedern und Dissentern – deutete diese Bezeichnung auf Mitgefühl mit ihrem Ungemach. Bei Godolphins Gegnern – zumeist Tories und High-Church-Mitgliedern – war sie mehr eine Erinnerung, dass sie keinen materiellen Reichtum nach England gebracht hatten und Objekte öffentlicher und privater Wohltätigkeit waren.

Viele Engländer (darunter Defoe), erinnerten sich daran, dass eine wunderschöne und beliebte englische Prinzessin vor fast hundert Jahren den Kurfürsten von der Pfalz geheiratet hatte und dass sie und ihr Mann die Kurwürde durch die Feigheit und Torheit ihres Vaters, Jakobs I., verloren hatten. Eine Tochter des unglücklichen Paares lebte noch als Sophie, Kurfürstin von Hannover, designierte britische Thronfolgerin und Mutter Georgs, des künftigen Königs von Großbritannien. Im Spanischen Erbfolgekrieg, in dem Großbritannien von der deutschen Grenze bis zu den Feldern Spaniens operierte, hatten pfälzische Soldaten einen glänzenden Ruf.

Für die Ankunft der Pfälzer wurden damals unterschiedliche Gründe genannt. In den Vorjahren hatte William Penn um deutsche Siedler für Pennsylvania geworben; doch in letzter Zeit war er in juristischen und finanziellen Schwierigkeiten gewesen, sodass er 1709 nicht in der Lage war, sie wirkungsvoll zu unterstützen, obwohl das Einbürgerungsgesetz, das er vor allem wegen der französischen Hugenotten befürwortet hatte, am 23. März in Kraft getreten war. Agenten der Carolina Proprietors luden deutsche Auswanderer auch dann noch ein, als London die Pfälzer bereits zur Rückkehr drängte. Königin Anne selbst hatte durch ihr Wohlwollen gegenüber in Not geratenen Lutheranern den Glaubensgenossen ihres verstorbenen Mannes Zuspruch erwiesen. Nach dem Sturz von Godolphins Ministerium berichtete ein feindlich gesonnener Unterhaus-Ausschuss, in der Pfalz werde ein Buch mit dem Porträt der Königin als Frontispiz verbreitet, als Ermutigung, nach England zu kommen, um sich nach Carolina oder in eine andere Kolonie schicken zu lassen.

Flüchtlinge strömten weiterhin nach England, im Ungewissen über ihren letztlichen Bestimmungsort. Königin Anne beteiligte sich großzügig an den Kosten für Beförderung und Ernährung. Und fast zum letzten Mal verschaffte Godolphins zu Ende gehendes Ministerium der Königin eine persönliche Befriedigung, indem es zur Unterstützung der Pfälzer die Finanzen der Regierung schwer belastete. Am 14. Juni ließ der britische Sekretär in Den Haag verlauten, »bei Fortsetzung von Ihrer Majestät Freigebigkeit oder irgend sonst einer Ermutigung, kann man, wenn man möchte, halb Deutschland haben, denn sie fliegen alle weg, nicht nur aus der Pfalz, sondern auch aus allen anderen Staaten im Rheinland«.

Den Vereinigten Niederlanden fiel es schwer, ihre zahlreichen Gäste zu ernähren, die auf die Beförderung nach England warteten. Und der Kurfürst von der Pfalz, ein Verbündeter Großbritanniens im Krieg gegen Frankreich, empörte sich über die Flucht so vieler Untertanen. Im Juli war der Strom der Auswanderer am Rhein und in den Niederlanden weitgehend eingedämmt; doch England stand vor dem Problem von 10000 Ausländern, die auf Blackheath und in Camberwell in Hütten oder Heereszelten kampierten. Öffentliche oder private Subskriptionen hatten reichliche Spenden erbracht, und die offizielle Gazette rief zu Vorschlägen für die Unterbringung der Flüchtlinge auf. Doch für deren ständige Ansiedlung oder Beschäftigung waren keine geeigneten Regelungen getroffen worden.

Godolphins Ministerium und die Sympathisanten der Pfälzer mussten auf Schritt und Tritt Schwierigkeiten gewärtigen. Die meisten Flüchtlinge wollten nach Amerika – doch dies war nicht die Zeit zum Entsenden der üblichen Flotten, Begleitschiffe waren in Kriegszeiten hoffnungslos knapp, und 10000 Pfälzer zu befördern, war schlicht unmöglich. Großbritannien blockierte rivalisierende Industrien in der Neuen Welt, und amerikanischer Tabak traf auf einem übersättigten europäischen Markt auf neue Konkurrenz vom Kontinent. Einige Arbeitskräfte konnte man für besondere Projekte wie die Herstellung von Teer und anderem Marinebedarf in den Wäldern New Yorks hinüberschicken. Doch solche geringfügigen lokalen Tätigkeiten boten keine wirkliche Lösung. Defoe befürwortete jahrelang eine englische Ansiedlung am Unterlauf des Rio de la Plata in Südamerika. Doch die Ansiedlung derart vieler Flüchtlinge in so großer Entfernung war in Kriegszeiten unerschwinglich, und deutsche Flüchtlinge (die kein Englisch konnten, das Projekt ablehnten und mit Großbritannien nicht durch Treuebande verknüpft waren) wären von Anfang an eine ausländische Kolonie.

Viele Flüchtlinge pochten darauf, sie hätten sich nach Nordamerika eingeschifft und kein Interesse, woandershin geschickt zu werden. Wenn man sie in etablierten Industrien in England unterbrächte, wären sie eine Konkurrenz für die einheimischen Arbeiter. Auf Gütern würden sie die Löhne der Landarbeiter drücken und (in künftigen guten Erntejahren) vermutlich einen Überschuss produzieren, den die englischen Landwirte gerade zu vermeiden suchten. Das meiste Ackerland lag in traditionellen Sprengeln, deren Amtsträger jede neue Verpflichtung für die Armen oder Arbeitslosen fürchteten. Öffentliche Besitzungen wie der New Forest waren durch Übergriffe immer mehr beschnippelt worden, sodass die Grundherren Futter und Brennstoff aus den umliegenden Wäldern in den Pachtzins einrechneten.

In Irland hatten das Parlament und Einzelpersonen Hunderte Pfälzer zur ständigen Ansiedlung eingeladen, doch Ausländer zum Einschiffungshafen nach Chester zu bringen, war schwierig. Nur wenige Sprengel waren bereit, den Fremden ohne Garantie, sich nicht aufzuhalten, den Durchgang zu erlauben; jeder Konflikt mit den Einheimischen wurde aufgebauscht und den Auswanderern angelastet. Der Bericht eines High-Church-Mitglieds von einer Auseinandersetzung zeigt die Vorurteile des waschechten Engländers:

»26. Aug. (Frei) Da die Regierung es für richtig befunden hat, viele Tausende armer Pfälzer im Königreich aufzunehmen, damit sie hier durch Abgaben unterhalten und in allen Sprengeln Englands angesiedelt werden, können wir uns auf die Folgen dieser Gewährungen anhand eines kürzlichen Beispiels vom Betragen etwa 40 dieser armen Menschen in einer Ortschaft, etwa 2 Meilen von Harrow on the Hill, gefasst machen: Als dort offenbar 3 oder 4 rechtschaffene Engländer zusammensaßen und ein oder zwei Kannen Ale tranken, sahen sie besagte Pfälzer vorbeikommen, und natürlich machten sie ein paar Bemerkungen über die Aufnahme dieser Leute im Königreich; und als einer der Pfälzer das hörte, gab er seinen Gefährten ein Zeichen, und sogleich kamen alle in den Raum, verprügelten die Personen grausam und unmenschlich und hätten ihnen die Kehle durchgeschnitten, aber da der Konstabler gerufen und eine Anzahl Leute geholt wurde, wurden sie bei ihrem Anschlag überwältigt; aber anstatt eine angemessene Bestrafung zu erhalten, als sie von einem Friedensrichter vernommen wurden, kamen sie mit einer Verwarnung davon, und die Begründung für ihre milde Strafe war, dass sie als Ausländer die englischen Gesetze nicht kennen und es eine Unmenschlichkeit wäre, sie denselben dennoch zu unterwerfen.«

Die »Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge« erschien am 11. August 1709 bei John Baker, der seit Kurzem Defoes hauptsächlicher Verleger war. Ein Jahr später übernahm Baker die Review, und bis 1717, als er starb, war er an mindestens 88 weiteren Publikationen Defoes beteiligt. Dieses Traktat ist für Defoe besonders typisch und, abgesehen von seinen eher fragmentarischen Bemerkungen in der Review, der zeitgenössischen Diskussion dieses Themas einzigartig überlegen. Das ursprüngliche Traktat ist nur in dem Exemplar des British Museum bekannt. Die Lilly Library der Indiana University besitzt einen Nachdruck aus Dublin vom selben Jahr.

 

In seinen ökonomischen und politischen Schriften präsentierte Defoe sein Material gern von einem von zwei ganz bestimmten Standpunkten – was er oft »ohne Türen« und »innerhalb von Türen« nannte. 1709 beschäftigte sich seine Review wochenlang vor allem mit der vorgeschlagenen Ansiedlung der Pfälzer, und seine Aussagen zeigen, dass er hierfür viele derselben Notizen verwendete wie für die »Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge«. Als intelligenter Engländer mit Erfahrung im Kaufmännischen und in öffentlichen Angelegenheiten behandelte er allgemein bekannte und beachtete Dinge, und er schlug Lösungen vor, die auf offensichtlichen Wahrheiten der Ökonomie und Staatslehre beruhten. Aber als anonymer Autor dieses Traktats hatte er Zugang zu offiziellen Dokumenten und Insiderinformationen. Er zitierte eine exakte Statistik der Pfälzer mit Zahlen der in allen Gewerken und Berufen Beschäftigten; er wusste, welche Engländer in Ausschüssen mitgewirkt hatten und zu welchen Entscheidungen man gelangt war; er kannte Namen, Daten und Vorschläge. Er erhob nicht den Anspruch auf offizielle Zustimmung, doch selbst ein flüchtiger Leser müsste in der »Kurzen Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge« ein Weißbuch erkennen, das von Lord Godolphins Ministerium, ebenjenem, das Defoe als seinen aktivsten Pamphletisten und Agenten beschäftigte, genehmigt – oder zumindest gebilligt – worden war.

Wer mit Defoes Traktaten vertraut ist, erkennt zwei Merkmale seines Werkes: (1) Als praktizierender Journalist schrieb er in »Clustern«, und man darf daher erwarten, dass er einen Stoff unter verschiedenen Aspekten erörtert, solange er ein Thema von allgemeinem Interesse bot; (2) als Sozialhistoriker bewahrte er in seinem Denken und Schreiben eine Kontinuität, sodass dieselben Probleme und oft dieselben Lösungen wiederkehren, solange er das Wort an die Öffentlichkeit richtete. In beiden Punkten ist dieses Traktat typisch für Defoe. Aber wenn 1709