Kurzer Frühling - Valentin Senger - E-Book

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Valentin Senger

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Beschreibung

Wie durch ein Wunder hat die jüdische Familie Senger die Nazizeit in Frankfurt überlebt. Nach 1945 soll alles anders, alles besser werden. Valentin Senger wird Mitglied der KPD, er ist ein Querdenker und politisch engagiert. Aber im westlichen Nachkriegsdeutschland hat er es als staatenloser Jude nicht leicht, auch als er sich nach dem XX. Parteitag von seiner Partei lossagt. Das beeindruckende Zeugnis eines ungewöhnlichen Lebens, ein Stück autobiographischer Zeitgeschichte. Mit einem Nachwort von Arno Lustiger.

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Valentin Senger

Kurzer Frühling

Erinnerungen

FISCHER E-Books

Mit einem Nachwort von Arno Lustiger

Inhalt

Auf einem Stuhl ohne [...]HöhenflugEin ruiniertes BücherbordBlack StarsMein Freund MikeHenriettaHeldenÜbertreibungenHarzreise im Herbst»Brüder, in eins nun die Hände!«Ein ParteiauftragDer SumpfJohannes unter VerdachtGefährliche ReportageIrmgardVertrauen ist gut, Kontrolle ist besserDie Rehabilitation des JohannesParteidisziplinEva im BüßerhemdDer größte Feldherr aller ZeitenDie Brücke von KasselDie Metallarbeiter streikenVeränderungenPapas TodEin LiteraturpreisFrida Hockauf, die Heldin der ArbeitDer 20. ParteitagArbeitssucheDas VerhörNoch einmal ganz von vornStaatenlosNeue ÄngsteDas UnwetterNachwort

Auf einem Stuhl ohne Armlehnen sitzend, in einem großen Raum, in einem Nebengebäude des Zentralkomitees der SED in Berlin im Herbst 1958, mit Magenkrämpfen vor Aufregung und schweißigen Händen, vor mir an einem langen, quergestellten Tisch vier Männer, das Tageslicht von vorne,

mit dem Wissen, daß diese vier Männer Mitglieder der Parteikontrollkommission der illegalen KPD sind, die mich der Fraktionsbildung und des Umgangs mit parteifeindlichen Elementen beschuldigen,

blitzen mir ungeordnete Gedanken durch den Kopf:

warum ich denn, halbwegs freiwillig, hergekommen bin, obwohl ich ahnte, wer mich zu sprechen wünscht,

und warum ich nicht versuche, vor den tückischen Fragen davonzulaufen, und ob sie mich daran hindern würden,

und wer Irmgard, meine Frau, benachrichtigen werde, wenn sie mich wirklich festhielten, wäre es doch nicht das erste Mal, daß so etwas geschieht,

und wie es einmal angefangen hat, damals 1945, als wir, die Überlebenden, uns in die Arme gefallen waren im unfaßbaren Glück, davongekommen zu sein,

und uns aufs neue schworen, unsere ganze Kraft einzusetzen für eine gerechtere, friedlichere, sozialistische Welt, für uns und die, die nach uns kommen, mit dieser Partei, der kommunistischen,

und die vier Männer fragen noch immer, und ich weiß schon nichts mehr zu antworten.

Höhenflug

Jahrelang, Tag für Tag hatten wir uns in unserer Wohnhöhle im Hinterhaus nach der Befreiung gesehnt, hatten uns vorgestellt, wie dem ersten, der uns die Nachricht bringen würde, in unser aller Umarmung die Luft wegbleiben sollte.

Denn: Unter falschem Namen, mit falschen Papieren und einem Vater, der kaum ein Wort Hochdeutsch sprechen konnte, sondern nur jiddelte, hatten wir, meine Eltern und drei Kinder, eine russisch-jüdische Familie, die zwölf Jahre Drittes Reich, zwölf Jahre, die uns wie tausend Jahre vorkamen, in Frankfurt gelebt und überlebt. Außer Mama. Sie starb Ende 1944. Ihr Herz hielt die Belastung nicht mehr aus. Mein Bruder Alex und ich mußten in den letzten Kriegsmonaten noch zum Militär, obwohl wir staatenlos waren, einen Fremdenpaß hatten und damit nach geltendem Recht als Ausländer zählten.

Nun waren wir befreit, entlassen in eine Freiheit voll Dreck und Trümmer, Hunger und Sorgen. Aber wir lebten, Papa, meine Schwester Paula und ich, und vielleicht kommt auch mein Bruder Alex aus dem Krieg zurück. Wir zitterten um ihn, denn seit einem halben Jahr hatten wir keine Post mehr von ihm. Stundenlang stand Papa am Fenster und schaute in den Hof hinunter auf die Toreinfahrt vom Vorderhaus. Er wartete auf Alex.

Und stand er einmal nicht am Fenster und die Türglocke schrillte, sprang er auf und stieß heiser hervor: »Das wird Alex sein!«

Aber nicht Alex war es, sondern wieder einmal einer der alten Freunde meiner Eltern, einer der Totgeglaubten, die, der Himmel weiß von wem, gehört hatten, daß wir, durch tausend Zufälle und noch einige Wunder überlebt hatten, und die über Trümmerberge die Straße hochgestolpert waren, um sich von dem Wunder zu überzeugen.

Schon vor 1933 waren meine Eltern Mitglieder der KPD gewesen und hatten auch die Kinder in ihrem politischen Sinn erzogen. Während des Dritten Reichs gehörten sie einer illegalen Gruppe jüdischer Kommunisten an. Diese hörte auf zu existieren, als außer meinen Eltern keine jüdischen Genossen mehr in Frankfurt lebten. Sie waren entweder verhaftet worden oder emigriert. Als überzeugte Kommunisten schlossen meine Schwester und ich uns im Jahr 1938 einer kommunistischen Widerstandsgruppe an. Bis zu meiner Einberufung im Oktober 1944 war ich mit der Gruppe verbunden.

Nach der Befreiung versuchten wir mit den wenigen am Leben gebliebenen Freunden einen politischen Neubeginn. Etwa zwanzig Männer und Frauen kamen zusammen, als wir im Mai 1945 eine kommunistische Zelle bildeten. Die Leitung wurde mir und meiner Schwester übertragen. Die fast unzerstört gebliebene Wohnung unserer Familie war Anlaufstelle und regelmäßiger Treffpunkt der Gruppe.

Die Altkommunisten, zu denen auch ich mich zählte, obwohl ich erst sechsundzwanzig Jahre alt war, hatten sich für den Start viel vorgenommen. Vor allem: keine Zeit verlieren, Ärmel aufkrempeln und an die Arbeit gehen. Zuerst den Schutt beiseite räumen, den politischen wie den wirklichen. Wir hatten eine einmalige Chance.

Über neuen Antisemitismus brauchten wir uns erst gar keine Sorgen zu machen. Wie sollte es ihn geben, wo es doch keine Juden mehr gab oder nur ein paar vereinzelte, zufällig am Leben gebliebene?

Die aus der Emigration Zurückgekehrten, aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern Befreiten und die Überlebenden des Widerstands setzten sich zusammen und überlegten, was zu tun, wie in den Trümmern ein neues Leben zu beginnen sei. Aber nicht nur die Kommunisten rührten sich, auch Sozialdemokraten und Christdemokraten. Nicht mehr getrennt wie in der Vergangenheit, gemeinsam wollten wir den Grundstein für ein besseres Leben legen.

Dieser Höhenflug dauerte nicht lange. Es war ein kurzer Flirt mit der Eintracht. Schon nach wenigen Wochen verzagten die ersten, andere trug der Rausch des Neubeginns ein halbes, vielleicht ein ganzes Jahr. Spätestens dann fehlte ihnen der Aufwind, und sie setzten zur Landung an inmitten der alten Zwietracht, als hätte es nie Schwüre in den heimlichen Zirkeln der KZs und Einheitskomitees und Verbrüderungsszenen auf offener Bühne gegeben. Die Unentwegten blickten weiter in den Himmel und suchten die Thermik verheißenden Wolken. Aber die gab es längst nicht mehr. Als auch ich es merkte, war es fast zu spät, und ich trudelte den andern hinterher in die Niederungen politischer Realitäten.

Der naive Traum vom gemeinsamen Aufbau einer besseren Welt war zu Ende geträumt, noch bevor der erste Stein bewegt worden war. Und die geschworen hatten, sich nie wieder zu entzweien, standen sich unversöhnlicher gegenüber als zuvor.

Diese Enttäuschung war die erste politische Erfahrung, die ich nach dem Krieg machte. Sie erschütterte aber nicht mein Vertrauen in die Kommunistische Partei. Kräftiger Ostwind würde voll in ihre Segel blasen, der Erfolg sich fast von alleine einstellen. Wir Kommunisten brauchten uns nur an die Weisungen der Partei zu halten. Und das taten wir mit missionarischem Eifer.

Ein ruiniertes Bücherbord

Die amerikanischen und englischen Bomber hatten Frankfurt gründlich zerstört. Alt- und Innenstadt waren eine Trümmerwüste, aus der hie und da, wie zufällig, ein stehengebliebenes Haus sich hochreckte, dem halbzerfressenen letzten Zahnstummel eines alten Mannes ähnlich. Die Stadt lag im Koma. Es gab nichts zu essen, kein Trinkwasser, kein Gas, keinen Strom und keine Kohlen, um Tee zu kochen oder eine Suppe zu wärmen.

Papa, mittlerweile fünfundsiebzig Jahre alt, kletterte mit mir über ein zusammengestürztes Haus in der Hochstraße, ganz in der Nähe unserer Wohnung. Wir waren dabei, Brennholz aus den Trümmern zu klauben. Papa trug einen Rucksack und ich einen großen Sack, an dem ich zum besseren Halten eine kurze dicke Schnur befestigt hatte. So machten es auch die Kohlenträger.

In den Straßen, wo noch Menschen in halbzerstörten Häusern oder in Kellern wohnten, war es gar nicht einfach, Holz aus den Trümmerbergen zu holen. Viele waren entweder schon leergeräumt oder von anderen Holzsuchern besetzt.

Ich grub und zerrte die Bretter oder Balkenreste heraus, und Papa, der etwas unterhalb stand, zerkleinerte und verstaute sie. Es hatte Vorteile, daß wir zu zweit Brennholz beschaffen gingen. Der im Trümmerschutt wühlte, brauchte nicht auch ständig auf das zusammengetragene Holz aufzupassen.

Denn es gab Holzsucher, vor allem Kinder, die sich auf bequemere Art Trümmerholz beschafften. In einem unbewachten Augenblick nahmen sie es anderen weg. Den Bestohlenen wäre es nicht in den Sinn gekommen, darin etwas moralisch Verwerfliches zu sehen. Natürlich war es ärgerlich, wenn sich ein Halbwüchsiger eine Bohle, die man mit Mühe und Schweiß aus dem Schutt herausgeholt hatte, blitzschnell unter den Arm klemmte und davonrannte, aber das war Überlebenspraxis. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit warf ihm der Bestohlene fluchend einen halben Ziegelstein nach.

Um an die Reste von Dielen, Zimmertüren, Schränken und Stühlen zu gelangen, mußte man den Schutt mit Hacke und Schippe beiseite räumen. Ich grub seitlich unter einem Mauerrest und legte das Ende eines dunkelbraunen Brettes frei. Es hatte zu einem Bücherbord gehört, denn als ich es mit Mühe aus dem Mauerschutt herauszerrte, sah ich einen Haufen Bücher und Broschüren darunter, zum Teil zerrissen, einige noch fast unbeschädigt. Ich nahm ein paar Bücher hoch, klopfte den Mörtelstaub ab und las die Titel: Dr. Joseph Goebbels, »Signale der neuen Zeit«; Ernst Jünger, »Der Krieg als inneres Erlebnis«; »Kampf um Deutschland – ein Lesebuch für die deutsche Jugend«; und – mit einem dicken Hakenkreuz in der Mitte – »Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken« von Gottfried Feder. Ich legte die Bücher zur Seite. Als ich den zweiten Packen hochnahm, hatte ich einen Stoß antisemitischer Machwerke in der Hand: »Die Geheimnisse der Weisen von Zion« von Gottfried zur Beek; »Handbuch der Judenfrage« von Theodor Fritsch; »Rasse und Seele«; und eine angesengte Broschüre mit dem Titel »Kaiser, Erzbischof und Juden – eine Zusammenstellung von Tatsachen aus der Geschichte der Stadt Frankfurt am Main«. Immer mehr Bücher zog ich aus dem Schutt. Mich überkam ein Gefühl, als müßte ich nur noch ein bißchen weitergraben, um auf all die widerlichen Gestalten zu stoßen, die mir in den zwölf Jahren des Schreckens so viele Ängste bereitet hatten. Höchst lebendig, wenn auch mucksmäuschenstill und feige, saßen sie in ihren Löchern und warteten auf ihre Zeit: vom Nebenhaus der »Rübe ab!«-Luftschutzwart, welcher Juden, Kommunisten, Hundertfünfundsiebzigern und Russen »ohne langen Prozeß die Rübe absäbeln« wollte; der Gesangslehrer unserer Schule, der mit öliger Stimme von der minderwertigen Rasse tönte, die man eliminieren müsse; der Prokurist meiner Lehrfirma, der Juden und Zigeuner mit Läusen und Wanzen verglich; die Denunziantin von gegenüber, die ihre Untermieterin, eine junge Büroangestellte, wegen »Blutschande« mit einem jüdischen Freund bei der Gestapo anzeigte und sie in den Tod trieb. Und all die andern, die keine Sekunde gezögert hätten, meine Familie und mich den Nazi-Henkern auszuliefern, würden sie geahnt haben, wer wir waren.

Ich unterbrach meine Arbeit und blätterte in den verschmutzten und versengten Pamphleten. Bis ich Papa ärgerlich rufen hörte: »Walja!« Und noch einmal »Walja!«

Ich wandte den Kopf und sah ihn mit einem bösen Gesicht bei den halbgefüllten Holzsäcken stehen. Er fuchtelte mit den Armen herum, als wolle er mir jede Buchseite einzeln aus den Händen reißen.

»Hast du nichts Wichtigeres zu tun, als Bücher zu betrachten. Ausgerechnet jetzt!«

Recht hatte er. Wir schindeten uns in der Sonnenhitze, weil wir dringend Brennbares brauchten, und ich betrachtete Bücher. Ließ mich von zufällig im Trümmerschutt erhalten gebliebenen Druckwerken pathologischer Antisemiten aus der Fassung bringen und vergaß, was ich in den Resten des zerbombten Hauses suchte.

Aber ich konnte mich dennoch nicht von den Büchern losreißen. »Moment noch, Papa, gleich mache ich weiter.« Ich nahm das zerrissene Handbuch der Judenfrage hoch und blätterte ein wenig darin. Angst beschlich mich. Das Dritte Reich war zerschlagen, Hitler tot, die Judenvernichtung hatte ein Ende. Aber war damit für die Handvoll am Leben gebliebener Juden wirklich eine Zukunft ohne Angst gewonnen?

»Machst du jetzt weiter oder nicht?«

»Sofort. Ich habe ein paar Nazibücher gefunden.«

»Und darum läßt du mich hier stehen?«

Er schüttelte den Kopf und setzte sich mit einem Seufzer auf einen Stein.

Ich blickte hinunter zu Papa. Von hier oben wirkte er noch kleiner, als er in Wirklichkeit war. Die fünfundsiebzig Jahre hatten ihn zusammengedrückt. Doch nicht nur die fünfundsiebzig Jahre, auch Mamas Tod. Seit sie nicht mehr lebte, lebte auch er nur noch halb, verkroch sich immer mehr in sich, zog sich zu ihr zurück.

Dabei war er nie inaktiv gewesen. An seinem Arbeitsplatz in der Fabrik hatte er seinen Mann gestanden, es als Spitzendreher zum Einrichter gebracht, hatte an den großen Metallarbeiterstreiks 1924 und 1929 teilgenommen, in den Frankfurter Adlerwerken eine Gruppe der kommunistischen Roten Gewerkschafts-Opposition gegründet, Beiträge kassiert, Flugblätter verteilt und Zeitungen verkauft. Selbst noch in der Hitlerzeit, als jede kleinste Auffälligkeit, eine falsche Bewegung oder seine jiddische Aussprache ihm und damit auch seinen Angehörigen den Tod bringen konnte, war er nicht untätig. Jüdischen Freunden, die von der Gestapo gesucht wurden, besorgte er Verstecke, bis sie ins Ausland fliehen konnten, unserer Familie auf krummen Wegen Lebensmittel und Bezugsscheine für Schuhe und russischen Zwangsarbeiterinnen, die er zu betreuen hatte, entgegen strengen Verboten manche Erleichterungen, bis ihn deswegen die Gestapo verhaftete und einen Tag lang verhörte.

Trotzdem habe ich nur noch die Erinnerung an einen müden und immer gütigen Papa, der nie schrie, nie richtig wütend wurde. Wäre er es doch nur einmal geworden! Hätte er nur ein einziges Mal so gebrüllt wie Rektor Beyer, wenn ein Schüler ihm ein Widerwort gab, oder wie der Kohlenträger über uns im dritten Stock, wenn er betrunken nach Hause kam und seine Frau beschimpfte! Ein gezischtes »Idi k tschortu! – Geh zum Teufel!« war das Schlimmste, was er jemals zu mir gesagt hat.

Sonst beschwichtigte er immer nur und zog sich zurück hinter Mama. Er hatte, solange ich mich erinnern kann, nie das Bedürfnis gehabt, aus ihrem Schatten herauszutreten. Jakob, der Mann von Olga, sagte man in Freundes- und Genossenkreisen, nie umgekehrt. Und er war noch stolz darauf, stolz auf Mama.

Was mußte er für ein Kerl gewesen sein, damals, als er noch Moissee Rabisanowitsch hieß, durch Europa fuhr, ein russischer Revolutionär, um den Wind zu säen, der als Sturm die Romanows vom Zarenthron fegte. Es gab noch einige Fotos von ihm aus dieser Zeit. Da war er groß und schlank, mit einem verwegenen Schnauzbart, wie ihn der junge Trotzki und der legendäre Reitergeneral Budjonni trugen. Und wie stolz hielt er auf diesen Fotos den Kopf hoch, die Augen sprühten unter den buschigen Augenbrauen. Papa war in seiner Jugend ein schöner Mann gewesen. Wenn ich ihn je um etwas beneidet habe, dann um dieses Aussehen und den Eindruck, den er damit bei den Frauen gemacht haben muß. Ich war in diesem Lebensalter ein häßliches Entlein, nach dem sich kein Mädchen umschaute, ein Nichts, das auf Anordnung von Mama ein Nichts bleiben mußte, um nicht aufzufallen, damit die Familie in der Hölle des Faschismus überleben konnte.

Es ist eigentlich kein Wunder, daß Papa so klein und müde geworden war. Zwei Drittel seines Lebens, über fünfzig Jahre, hat er in Angst gelebt. Wer kann ermessen, was das heißt: in Angst leben?

Die Sonne brannte, Papa schwitzte, und die Schweißtropfen zogen sich unter dem Hutrand wie eine Perlenkette über seine Stirn. Er nahm den Hut vom Kopf, wischte ihn aus, tupfte sich mit dem Taschentuch die feuchte Perlenkette fort und setzte ihn wieder auf. Dann nahm er den Kopf in die gespreizten Hände und stützte die Ellenbogen auf die Knie. Sein Jackett hatte auf dem runden Rücken einen dunklen Schweißfleck.

Ich wühlte weiter in dem Schutt und holte etwa zwei Dutzend Bücher hervor. »Nimm sie, Papa, und steck sie in den Sack.« Ich hielt ihm den Stoß Bücher hin.

»Bist du meschugge, Walja! Was sollen wir mit den Büchern? Willst du sie lesen oder verbrennen?«

»Steck sie in den Sack. Bitte. Ich will sie mit nach Hause nehmen.«

Papa tat, worum ich ihn bat, obwohl er mich für verrückt hielt.

»Du schleppst sie auch selbst heim«, sagte er.

Auf dem Nachhauseweg bemerkte ich: »Ich werde sie nicht verbrennen, Papa.«

»Tu, was du willst.«

»Ich werde sie aufheben, um mich später zu erinnern.«

»Ich sagte dir: Tu, was du willst. Ich will von Nazibüchern nichts wissen.«

Darum habe ich bis auf den heutigen Tag in der oberen linken Ecke meines Bücherregals eine Reihe verdreckter und zum Teil angesengter Bücher stehen. Jetzt, nach vielen Jahren, hole ich mir einige herunter, blase den Staub zum Fenster hinaus und blättere darin. Zuerst einen gelbbraunen Leinenband. Es ist eine Hitlerbiographie, der Name des Autors Erich Czech-Jochberg. Ich klappe die letzte Seite auf und lese: »Ein einziges, herrliches Herz, das für Deutschland schlägt, erobert ein ganzes Volk. Reißt es hoch. Rettet es. Das ist der Sinn des deutschen Wunders Adolf Hitler.«

Ich nehme eine Broschüre in die Hand. »Wie die Ratten ist das Volk Israel einst aus Kleinasien aufgebrochen, um sich über Europa und die Welt zu ergießen … Immer und überall waren sie der gleiche Ahasver, der ewige Jude.«

Im nächsten Buch, das ich aufschlage, sind die schlimmsten, mörderischen Sätze unterstrichen und am Rand mit Ausrufungszeichen versehen, als hätten dem Besitzer diese Stellen besonders gut gefallen.

Ich nehme den Packen und stelle ihn wieder zurück in die linke obere Ecke meines Bücherregals. Sie sollen dort stehenbleiben und mich immer erinnern.

Black Stars

Das beste Brennholz nützt nichts, wenn der Kochtopf leer ist. Was es an Lebensmittelzuteilungen für die in der Stadt verbliebene Bevölkerung gab, war kaum der Rede wert, war, wie Papa sagte, zum Sterben zuviel und zum Leben zuwenig. Wer mit diesen Rationen auskommen mußte, konnte nur verhungern. Von Schiebern und Schwarzhändlern abgesehen, wurden damals in den Städten nur wenige Menschen satt, obwohl sie aus ihrem häuslichen Fundus alles auf den Schwarzen Markt und zu den Bauern der Umgebung schleppten, was in ein Stück Speck oder einen Sack Kartoffeln einzutauschen war. Glücklich, wer ab und zu ein Care-Paket aus Übersee bekam. Wir zählten nicht zu den Glücklichen, auch nicht zu der kleinen, privilegierten Schicht, die gelegentlich Sonderzuteilungen erhielt.

Weder Paula noch Papa noch ich hatten das Geschick, etwas Zusätzliches zum Essen zu beschaffen. Aber nicht nur das bereitete mir Kummer, besonders Papa litt unter den Entbehrungen und wurde von Tag zu Tag schwächer. Darum bemühte ich mich bald um einen der begehrten Jobs bei den Amis. Dort gab es alles, was uns fehlte, im Überfluß.

Obwohl auf jeden dieser Arbeitsplätze Dutzende Deutsche spekulierten, hatte ich das Glück, dank der Vermittlung einer Freundin eine Stelle in einem US-Offizierskasino zu bekommen. Zum Ausüben der mir zugewiesenen Arbeit bedurfte es keiner besonderen Qualifikation und keiner Eignungsprüfung.

Meine Arbeitsutensilien waren Schrubber, Bürste und Scheuersand, meine Aufgabe, die Bäder und Klos im Souterrain des Offizierskasinos sauberzuhalten. Der weiße Kittel und die weiße Hose, die ich dabei trug, täuschten darüber hinweg, daß diese Arbeit wenig appetitlich war. Aber wir brauchten nicht mehr zu hungern.

Für das deutsche Personal fielen täglich Überbleibsel aus der Küche und vom Tisch der Besatzungsoffiziere ab, beim Frühstück die Reste von Ham und Eggs, beim Mittagessen die Bratenanschnitte, die man den Militärs nicht servierte, oder beim Abendessen die Reste von den Wurst- und Käseplatten. Und bevor die Köche das Bratenfett aus den großen Elektropfannen in den Ausguß kippten, hielten die Deutschen schnell ihre Büchsen und Flaschen darunter.

Wer sich mit Resten nicht begnügen wollte, der stahl in der Küche oder in den Lagerräumen. Das war nicht sonderlich schwer, aber erwischen lassen durfte man sich nicht. Da kannten die Amerikaner kein Pardon. Wer erwischt wurde, flog auf der Stelle. Mancher US-Soldat steckte auch schon mal einem Deutschen ein Stück Dörrfleisch oder etwas Butter zu oder gab ihm eine Zigarette. Bedienstete weiblichen Geschlechts, wenn sie dazu noch jung waren, hatten es erheblich leichter, die Mildtätigkeit der Amerikaner anzuregen.

Das Offizierskasino gehörte zum Hauptquartier der Alliierten Streitkräfte in Europa, das sich in Frankfurt befand. Zweitausend Offiziere wurden hier verpflegt. Entsprechend groß war das amerikanische Kommando, das die Aufsicht über das Kasino hatte. Es mag achtzig bis hundert Mann stark gewesen sein, das in zwei Schichten den Kasinobetrieb überwachte. Unter ihnen gab es einen Juden. Das wußte ich, weil die Besatzungssoldaten über ihn sprachen. Ich kannte ihn auch, den schmächtigen Jungen mit den traurigen Augen. Er mochte höchstens neunzehn Jahre alt gewesen sein. Still versah er seinen Dienst und bemühte sich, nicht aufzufallen. Mit den Deutschen wollte er nichts zu tun haben. Wenn er zu mir in die Bäderanlage kam, wechselte ich hin und wieder ein paar Worte mit ihm, gab mich ihm aber nicht als Jude zu erkennen. In seiner Nähe war mir auf unerklärliche Weise unbehaglich, und ich war froh, wenn er wieder ging.

Ganz andere Empfindungen hatte ich, wenn gelegentlich Offiziere der sowjetischen Militärmission in Frankfurt, die zu der Zeit noch in dem Kasino verkehrten, zum Händewaschen zu mir in die Bäderanlage kamen. Dann schlug mein Herz höher. Auf ihren Mützen und Uniformröcken prangte der fünfzackige rote Stern, der mir, solange ich mich rückerinnern konnte, Leitstern meines politischen Handelns war. Sie waren meine Genossen, meine heimlichen Verbündeten. In jedem einzelnen von ihnen verkörperte sich ein Stückchen wahrgewordener Traum von Sozialismus. Allein schon der Wohlklang ihrer russischen Sprache war in meinen Ohren wie eine schöne Melodie. Was war dagegen schon das breitgekaute Englisch der Amerikaner! Doch die Russen gaben sich noch reservierter und abweisender als der jüdische Soldat, und ich versuchte nie, mich ihnen zu nähern oder gar meine Sympathie zu bekunden.

Unter dem amerikanischen Aufsichtspersonal waren auch drei Soldaten, die sich als Hitlersympathisanten bezeichneten und aus ihrer antisemitischen Einstellung keinen Hehl machten. Sie zeigten heimlich den deutschen Kasinoangestellten Naziabzeichen, andere faschistische Embleme und pornographische Pamphlete gegen die Juden in englischer Sprache, die dem »Stürmer« glichen. Sie nannten sich Black Stars. Wovon sie diesen Namen ableiteten und was sie damit ausdrücken wollten, weiß ich nicht. Aber sie versicherten jedem, der es hören wollte, es gäbe viele Black Stars in der US-Army. Unentwegt schimpften sie über die verfluchten Juden, redeten, wie einst die deutschen Faschisten, vom Weltjudentum und den Marxisten, die zusammen die Weltherrschaft antreten wollten. Sie priesen Hitler als einen großen Staatsmann, weil er mit den Juden und Marxisten – für sie waren Juden und Marxisten eins – gründlich aufgeräumt hätte.

Diese drei Soldaten schikanierten ständig den jüdischen Jungen oder machten ihn bei den anderen Amerikanern und dem deutschen Personal lächerlich. Das Harmloseste war noch, wenn sie Kaugummi in sein Spindschloß drückten oder ihm unbemerkt einen papiernen Davidstern auf dem Rücken anhefteten. Schlimmer wurde es, wenn sie seine Spindtür mit Exkrementen beschmierten oder noch glühende Zigarettenkippen in den Luftschlitz des Spindes warfen.

Es schien, als ob der jüdische Soldat alles ergeben hinnahm und sich nie bei Vorgesetzten beschwerte. Bestimmt hatte er, genau wie ich, Angst vor diesen Rowdies und fürchtete, wenn er Meldung machte, würde es nur schlimmer werden. Eines Tages schlugen ihn zwei Faschisten in der Bäderanlage zusammen. Wie es begann, weiß ich nicht. Als ich seine Hilferufe hörte und in den Vorraum lief, lag er bereits blutend vor den Waschbecken. Andere Soldaten kamen hinzu, bald auch der Kommandoführer, ein Sergeant.

Die beiden Schläger erklärten ihm, der jüdische Soldat habe sich ihnen sexuell angebiedert und sie hätten sich ihn mit Faustschlägen vom Leib gehalten. Wer den Verprügelten kannte, wußte, daß das eine Lüge war. Aber der Sergeant glaubte es. Ich weiß, er hat es gerne geglaubt. Später erfuhr ich, man habe den jüdischen Soldaten in das Militärlazarett bringen müssen, weil ihm das Nasenbein zertrümmert war.

Er tat mir leid. Wenn sie ihn demütigten oder lächerlich machten, stockte mir der Atem. Ich spürte seine Schmerzen. Dennoch stand ich ihm nicht bei. Er war mir unangenehm in seiner Armseligkeit und Verschüchterung. Nach diesem Vorfall kam er nicht mehr ins Kasino zurück.

Das war meine erste Wiederbegegnung mit Antisemitismus nach dem Krieg. Amerikaner führten ihn vor. Doch das war zeitbedingt, denn die deutschen Antisemiten und Faschisten waren keineswegs eines Besseren belehrt. Aber noch saßen sie still in ihren Mauselöchern, in die sie nach dem Zusammenbruch gekrochen waren.

Mein Freund Mike

Die amerikanischen Soldaten waren in aller Regel unpolitisch. Einen einzigen habe ich im Offizierskasino kennengelernt, der sich selbst als Antifaschisten bezeichnete und keinen Hehl aus seiner Sympathie für Kurt Schumacher und die deutschen Sozialdemokraten und vor allem für Pietro Nenni und die italienischen Sozialisten machte. Es war Sergeant Mike. Er kam öfter in die Bäderanlage, um sich mit mir zu unterhalten.

Sergeant Mike war Küchenchef, ein Italo-Amerikaner von gedrungener Gestalt, mit kugelrundem Kopf und Apfelbäckchen, braunhäutig, schwarzhaarig und mit kurzen Beinen. Eine doppelte Ordensspange schmückte sein khakifarbenes Militärhemd, bunt und auffallend wie die Qualitätsbanderole auf einer ungarischen Salami. Diese militärischen Auszeichnungen trug Mike immer auf der Brust, selbst wenn er sich, mit Küchenschürze und Kochmütze angetan, an den Suppenkesseln, Gemüsetöpfen und Brattiegeln zu schaffen machte.

Zu seinen Pflichten gehörte außer der Zubereitung der Mahlzeiten für zweitausend Offiziere auch die Oberaufsicht über das Lebensmitteldepot des Kasinos. Das war eine profitable Vertrauensposition, denn von Mike konnte man alles haben, was eigentlich für die amerikanischen Offiziere bestimmt war: Schinken und Butter, Milch- und Eipulver, Kaffee und Tee, Whisky und Zigaretten. Zu Schwarzmarktpreisen, versteht sich.

Zum Zeichen seiner Würde als Chef de cuisine hatte er für seine Abschmeckproben und das mit einer unnachahmlichen Handbewegung verbundene, obligatorische Nachwürzen zwei kleinere Silberlöffel im Etui bei sich. Schmatzend probierte er die Speisen, mit dem einen Löffel die Suppen, mit dem andern die Soßen. Wenn er die Küche verließ, verwahrte er seine Degustierlöffelchen wie einen wertvollen Familienschmuck sorgsam in einem verschließbaren Wandschränkchen, das eigens zu diesem Zweck angebracht worden war.

Wollte Mike mit amerikanischen Offizieren oder deutschen Angestellten der Besatzungsmacht geschäftliche Gespräche führen über den Verkauf von Lebensmitteln, die ihm nicht gehörten, ging er der Einfachheit halber in die Bäderanlage, in der ich arbeitete. Sie lag nur wenige Schritte von der Küche entfernt.

Auch ich kaufte manchmal Zigaretten, Butter oder Schnaps von ihm. Er gab seine Ware nur gegen echte Dollars oder sogenannte Scriptdollars ab, das amerikanische Besatzungsgeld. Die Soldaten erhielten ihre Löhnung in dieser Währung. Wenn ein Deutscher mit ihm Geschäfte machen wollte, mußte er sich zuerst Scriptdollars beschaffen. Das konnte er bei Mike – zu einem schlechten Kurs. Dagegen war nichts zu machen. Bei anderen Amerikanern war der Wechselkurs womöglich noch schlechter. So verdiente der Sergeant an jedem Geschäft mit Deutschen zweifach, zuerst am Umtausch des Geldes und dann an dem Handel selbst.

Aber er brauchte auch viel Geld, immerzu. Mindestens einmal in der Woche kam er mit beschwingtem Schritt, soweit das mit seinen kurzen Beinen möglich war, einem pfiffig-fröhlichen Gesicht und einem Paket unterm Arm zu mir in die Bäderanlage. Dann wußte ich, daß er wieder einmal im Tauschhandel etwas für seine Familie in den USA erworben hatte. Ich mußte es begutachten und ihm versichern, daß er ein gutes Geschäft gemacht habe. Mal war es ein altes, ziseliertes Silberbesteck, mal ein Goldschmuck, ein Familienerbstück, oder eine Porzellanfigur, auf deren Unterseite das Signum der Meißner Porzellanmanufaktur, die gekreuzten Schwerter, sie als besonders wertvoll kennzeichnete. Für die Kinder hatte er eine elektrische Eisenbahn, einen Märklin-Baukasten oder eine schöne Puppe beschafft. Hinten, wo sein Spind stand, verpackte er sorgfältig seine Neuerwerbungen, außer dem Schmuck und den Wertsachen, und schickte sie nach Hause.

Küchenchef Mike brauchte das viele Geld aber nicht nur dafür, seiner Frau und den beiden Kindern Freude zu bereiten. Eine beträchtliche Summe gab er auch für seine deutschen Freundinnen aus. Mehrere von ihnen gehörten zum Personal des Offizierskasinos, und sie berichteten im Kollegenkreis recht freimütig von ihren amourösen Abenteuern mit ihm.

In unregelmäßigen Abständen erklärten die Besatzungsbehörden die Scriptdollars für ungültig. Sie tauschten sie gegen neue Scheine mit anderen Farben und anderen Nummern ein. Damit glaubten sie, dem Schwarzhandel zwischen den amerikanischen Soldaten und der deutschen Bevölkerung Grenzen setzen zu können – ein kapitaler Irrtum. Nichts änderte sich dadurch auf dem schwarzen Markt, einzig das Besatzungsgeld wurde für einige Tage knapp.

Beim Morgenappell erfuhren die GIs, daß innerhalb der nächsten Stunden der Umtausch der bisherigen in neue Scheine erfolge, danach war das im Umlauf befindliche Geld ungültig.

Eines Morgens, kurz nach Arbeitsbeginn, kam Mike zu mir in die Bäderanlage, um mir zu sagen, daß noch am gleichen Vormittag wieder ein Umtausch des Besatzungsgeldes stattfinde.

»Verdammt! Ausgerechnet jetzt!«

»Warum regst du dich auf, boy? Hast du etwa noch Scriptdollars?« fragte Mike scheinheilig. Er wußte ja, daß ich immer welche besaß.

»Na klar hab’ ich – und gerade heute sehr viele.«

Er schlug mir freundschaftlich auf die Schultern. »Take it easy, ich tausch sie dir um.« Er machte eine Pause und zwinkerte mir zu: »But fifty-fifty, o.k.?«

»O.k., o.k. Aber da gibt es noch ein Problem: Ich hab mein Geld nicht hier.«

»Wo ist es?«

»Zu Hause.«

»Das ist nicht gut.« Mike wurde ernst. »Da mußt du selber sehen, was du machst. Ich kann dir nicht helfen.«

»Dreitausend Dollar, Mike!«

»Ich bin im Dienst.«

»Das ist mein ganzes Geld. Mehr hab ich nicht.«

Er winkte ab. »Sorry.«

Ich wußte, Mike hatte ein gutes Herz. Darum versuchte ich es noch einmal: »Das ist mein ganzes Geld, Mike. Kannst du mir wirklich nicht helfen?«

Verlegen kratzte er sich am Kopf. »Wie weit ist es zu deiner Wohnung?«

»Mit deinem Jeep höchstens zehn Minuten.«

Einen Augenblick zögerte er noch. Dann aber wurde er munter, boxte mich in die Seite und sagte: »Come on, boy!« Er stürmte vor mir die Kellertreppe hoch, rannte in die Lagerhalle und schwang sich auf seinen Jeep. Fast schon im Anfahren sprang ich auf. Wir jagten den Reuterweg hinunter, hielten nur kurz zur Ausweiskontrolle am Tor des Sperrgebiets und rasten weiter in die Kaiserhofstraße. Mit quietschenden Rädern lenkte er den Jeep in die Toreinfahrt. Dort hätte er um ein Haar die Horex-Seitenwagenmaschine des Spenglermeisters Otto Reiter gerammt, denn der wollte im gleichen Augenblick aus dem Hof, wo er seine Werkstatt hatte, herausfahren. Direkt vor dem Eingang zum Hinterhaus hielt er an und blieb mit laufendem Motor stehen. Ich nahm drei Treppenstufen auf einmal hinauf in unsere Wohnung.

Zu der Zeit arbeiteten die KPD-Leitungen der drei Westzonen noch getrennt, aber häufig trafen sich die Spitzenfunktionäre der englischen und französischen Zone in der Frankfurter Zentrale der US-Zonenleitung in der Gutleutstraße zu Sitzungen. Der prominenteste westdeutsche Kommunist war damals Max Reimann, der bald Vorsitzender der Gesamtpartei wurde. Max Reimann wohnte in der englischen Zone in Düsseldorf. Frankfurt lag in Trümmern, es gab kaum Hotels. Darum, und vielleicht auch aus Sicherheitsgründen, quartierte man Max Reimann, wann immer er in der hiesigen Parteizentrale zu tun hatte, bei einem vertrauenswürdigen Genossen unserer Stadt ein. Dieser Genosse mußte außer Vertrauenswürdigkeit auch noch eine intakte Wohnung haben. Unsere Familie war das eine, vertrauenswürdig, und hatte das andere, eine vom Krieg fast unversehrte Wohnung.

Ausgerechnet an dem Tag, da die Umtauschaktion mit den Scriptdollars stattfand, wohnte Max Reimann wieder einmal bei uns. Er schlief, wie immer, auf der Couch im Wohnzimmer. In dieses Wohnzimmer mußte ich hinein. Der Besitz von Scriptdollars war streng verboten. Verstöße wurden von den Schnellgerichten der Besatzungsmacht mit drakonischen Strafen belegt. So war man gezwungen, wenn man verbotenes Geld besaß, es gut zu verbergen, damit es bei Hausdurchsuchungen nicht entdeckt würde. Mein Versteck war die Fenstergardine des Wohnzimmers. Mit einer Sicherheitsnadel hatte ich den Briefumschlag mit dem Geld an der Gardine zur Wand befestigt, ganz oben, fast an der Decke. Vor der Gardine war noch ein schmaler Volant, der den wertvollen Briefumschlag zusätzlich verdeckte.

Es war gerade acht Uhr. Ich öffnete ganz langsam und leise die Tür. Doch meine Vorsicht war umsonst. Mit offenen Augen und hellwach lag Max Reimann unter der Bettdecke, ruckartig setzte er sich auf und starrte mich fragend an, ohne ein Wort zu sagen. Ich hatte den Eindruck, als ob das ohnehin blasse Gesicht noch blasser und das in die Länge gezogene kantige Profil noch kantiger waren. Seine grauen Haare, die er sonst bei öffentlichen Auftritten mit einer schönen Bewegung der gespreizten Hand immer wieder aus der Stirn nach hinten strich, standen wirr um seinen Schädel.

»Guten Morgen, Genosse Reimann«, sagte ich laut und verkrampft fröhlich, ging auf den schweren eichenen Ausziehtisch in der Mitte des Zimmers zu und schob ihn zum Fenster. Wie Lanzenstiche fühlte ich Max’ Blicke in meinem Rücken.

»Kann ich dir helfen, Genosse?« fragte er.

»Nein, nein, kannst ruhig weiterschlafen. Ich geh gleich wieder.« Ich zog die große Tischdecke weg, eine handgeklöppelte Arbeit meiner Mutter, nahm einen Stuhl, stellte ihn auf den Tisch und auf den Stuhl noch einen Fußschemel. Die Altbauwohnung im Hinterhaus war so hoch, daß man anders nicht an die Decke kam. Dann kletterte ich hinauf.

Max Reimann schwieg. Ich mied seinen Blick und machte mir am Vorhang zu schaffen. Im gleichen Augenblick öffnete Papa die Zimmertür. Er hatte mich kommen gehört und ahnte, daß ich an die Scriptdollars wollte.

»Walja! Was tust du da?« rief er mit gespielt vorwurfsvollem Ton. Er wußte genau, was ich tat. Er hatte mir ja schon öfter den Stuhl festgehalten, wenn ich wieder einmal Besatzungsgeld in der Gardine versteckte oder welches herunterholte.

»Alles in Ordnung, Papa. Ich brauche dich nicht.«

Er verstand den Wink, zog sich zurück und schloß leise die Tür hinter sich. Ihm mußte die Situation noch peinlicher sein als mir. Welchen Eindruck hatte der Parteivorsitzende von ihm, von unserer Familie! Die treuen Genossen, so makellos in ihrer Haltung und Gesinnung, daß der Parteivorstand ihnen Max Reimann zur Übernachtung anvertraute, ausgerechnet die machten auch Schwarzmarktgeschäfte. Das etwa mag Papa gedacht haben, als er die Tür zuzog und zurück in die Küche schlurfte.

Papa war gleichzeitig mit mir und meiner Schwester Paula in die neugegründete Zelle der KPD eingetreten. Mitglied der Partei zu sein, war für ihn so selbstverständlich wie Essen und Trinken. Seit seiner Jugend hatte er sich politisch betätigt. Trotz seines hohen Alters nahm er an allen offiziellen Veranstaltungen der Partei und der Gewerkschaften teil. Jeder kannte ihn. Man grüßte ihn respektvoll, und Veranstaltungsleiter und Funktionäre bedankten sich mit Handschlag und Schulterklopfen bei ihm, daß er gekommen war, und oft wies man ihm einen Ehrenplatz zu.

Er genoß die Hochachtung in vollen Zügen. Sie tat ihm gut. Er straffte den Körper, und ein zufriedenes Lächeln legte sich um seine Lippen. Für Stunden war er wieder wer.

Um so mehr mußte es ihn bekümmern, daß durch meine Kletterübungen am frühen Morgen vor den Augen Max Reimanns ein häßlicher Schlagschatten auf die Patina des ehrwürdigen Altgenossen und damit zugleich auf die ganze Familie gefallen war. Er hatte oft genug gesagt, ich solle es nicht übertreiben. Aber er billigte meine Schwarzmarktgeschäfte. Für ihn waren sie, wenn nur die Partei damit nichts zu tun hatte, nicht unehrenhaft. Er zitierte gern ein russisches Sprichwort: Wenn man satt ist, ist es leicht, ein anständiger Mensch zu sein. Doch hätte er das dem obersten Parteifunktionär sagen können? Max Reimann hätte es schwerlich verstanden. Die Partei hatte ihre eigenen Moralbegriffe, die mit unseren familiären nicht immer übereinstimmten. Diese Divergenz hatte jedoch keinen Einfluß darauf, daß Papa, Paula und ich überzeugte Kommunisten waren und fest zur Partei standen.

In wenigen Sekunden hatte ich die Sicherheitsnadel gelöst und den Umschlag mit dem Geld in die Tasche gesteckt. Doch war ich durch die Eile, Mike stand ja mit laufendem Motor im Hof und wartete auf mich, und die Anwesenheit des Parteivorsitzenden etwas nervös geworden. Ich kam beim Hinunterturnen ins Wackeln, hielt mich an der Gardine fest, sie riß, fiel mir auf den Kopf und schmückte mich wie der Brautschleier die junge Braut. Eine so lächerliche Szene hätte in einer schlechten Komödie nicht besser gespielt werden können. Fluchend wickelte ich die Gardine zusammen, legte sie aufs Fensterbrett, stellte Fußschemel und Stuhl wieder an ihren Platz, rückte den Tisch an seine Stelle, legte die Tischdecke auf und versuchte, das Wohnzimmer zu verlassen, als sei nichts geschehen.

Mein Zögern beim Hinausgehen und meine Verkrampftheit in der Stimme, die ich nicht verhindern konnte, als ich »Nichts für ungut, Genosse Reimann« stammelte, straften meine gespielte Unbekümmertheit Lügen.

Er saß noch immer aufrecht in seinem Bett und sagte keinen Ton. Es fiel mir nicht leicht, an ihm vorbeizukommen. Sein Schweigen stand wie ein dichtes Dornengestrüpp zwischen mir und der Zimmertür. Doch es half mir nichts, ich mußte hindurch.

Ich zog die Tür hinter mir zu und wäre fast mit Papa zusammengestoßen, der seitlich an der Tür gestanden und gelauscht hatte. Ich hätte es mir denken können, daß es ihn nicht in der Küche hielt, während ich mein Schwarzmarktgeld von der Gardine holte. Wortlos gestikulierte er mit Kopf und Armen und verzog das Gesicht, als wolle er sagen: Bist du denn von allen guten Geistern verlassen, vor den Augen des Parteivorsitzenden die Wände hochzugehen und uns derart bloßzustellen? Und er zischte in seinem russisch-jiddischen Idiom leise »Du Idiott!« Dann griff er sich mit beiden Händen an den Kopf, was ausdrücken sollte: O Gott, was muß ich auf meine alten Tage noch alles ertragen! Ich versuchte, ihn zu beruhigen, indem ich ihm pantomimisch zu verstehen gab: es ging leider nicht anders und es tut mir auch leid, aber glaube mir, ich hatte wirklich keine andere Wahl. Ich legte den Arm um seine Schultern, führte ihn, während er die Hände am Kopf behielt, zurück in die Küche und rannte die Treppe hinunter.

Das war das letzte Mal, daß Genosse Max bei uns wohnte.

Mike gab Vollgas und jagte zum Kasino zurück.

Die Hälfte meines Schwarzmarktkapitals war gerettet. Über die andere Hälfte aber ließ er nicht mit sich reden. Mike hatte ein weiches Herz, wenn es jedoch ums Geschäftliche ging, hatte er seine Prinzipien, da war er knochenhart. Er blieb bei fifty-fifty. Letzten Endes mußte ich ihm noch dankbar sein dafür, daß er überhaupt während der Dienstzeit gefahren war. Er war längst mein Freund geworden, der einzige im Offizierskasino. Ich war froh, gelegentlich auch etwas für ihn tun zu können. Es gab ja genug Deutsche, die sich schweren Herzens von der einen oder anderen Pretiose trennen mußten, einem Ring, einer Perlenkette, einer goldenen Uhr, um für kurze Zeit wieder einmal satt zu werden. Aus meinem Bekanntenkreis, in dem man wußte, daß ich bei den Besatzungstruppen arbeitete, bat man mich wiederholt um Vermittlerdienste für solche Tauschaktionen. So bekam der Küchenchef durch mich manches wertvolle Stück für seine Gina und einige seltene Münzen für seine ausschließlich auf Kaffee-, Whisky- und Butterbasis aufgebaute Münzsammlung.

Um so schmerzlicher traf es mich, als ich einige Monate nach dem spektakulären Scriptdollarumtausch hörte, daß Mikes Leben eines frühen Morgens abrupt geendet hatte. Erst am andern Tag erfuhr ich, wie. Der Goldesel, den er im Souterrain des Offizierskasinos verwaltete und der sich, wann immer Mike wollte, für ihn streckte, hatte ihn übermütig gemacht.

Es sollte ein ganz großer Coup werden, ein einmaliger Geniestreich. Mike lenkte selbst den auf dem Frankfurter Militärflughafen mit hochwertigen Lebensmitteln aus den USA beladenen schweren Lkw. Doch lenkte er ihn an diesem Morgen nicht wie gewöhnlich zum Offizierskasino, für das die Ladung bestimmt war, sondern in Richtung Zeilsheim, einen westlichen Vorort Frankfurts. In dem dortigen Camp für Displaced persons, das in den Jahren nach dem Krieg ein Hauptquartier des Schwarzhandels war, wartete bereits ein Aufkäufer darauf, die Ware in Empfang zu nehmen.

Ich gehe davon aus, daß Mike, bei der Umsicht, die er bei seinen illegalen Transaktionen stets walten ließ, fest davon überzeugt gewesen sein muß, auf seinem Weg in die falsche Richtung die vielen militärischen Kontrollstellen überlisten zu können. Aber seine Rechnung ging nicht auf. In einer Hauptstraße von Höchst geriet er wider Erwarten in eine Kontrolle der amerikanischen Militärpolizei. Statt zu halten, gab er Gas, was zu verstehen ist; gab etwas zuviel Gas, schleuderte in einer Kurve und stieß mit einem entgegenkommenden Omnibus zusammen. Mike war auf der Stelle tot. Es ist möglich, daß eine Whiskykiste, die beim Aufprall auf den Omnibus von der Ladefläche des Lkw ins Führerhaus rutschte, ihm das Kreuz brach. Zumindest wäre das für Mike ein standesgemäßes Ende gewesen.

 

Das frühmorgendliche Erlebnis in unserer Wohnung hatte für mich noch ein Nachspiel. Als ich am gleichen Tag von der Arbeit nach Hause kam, saß Papa in seiner Ecke am Ofen, begrüßte mich nur mit einem kurzen Kopfnicken und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Was hast du?« fragte ich. »Was ist los?«

»Was soll los sein?« gab er unwirsch zur Antwort und wandte den Kopf ab. »Nichts.«

»Natürlich hast du etwas. Sag es schon.«

Papa stellte sich taub. Ich schleuderte meine Tasche in die Ecke, setzte mich an die andere Seite des Tisches und wartete. Ich wußte, daß seine Verärgerung mit meinem Kletterunternehmen zusammenhing.

Nach einer ganzen Weile, als ich schon glaubte, er wolle mich durch sein Schweigen strafen, sagte er unvermittelt: »War das wirklich nötig, ihm zu zeigen, daß wir verbotenes Geld im Hause haben?«

»Du meinst Max Reimann?«

»Wen sonst? Wie stehen wir jetzt vor der Partei da! Nach dem, was er heute früh in unserer Wohnung gesehen hat, können die Genossen doch kein Vertrauen mehr zu uns haben.«

Obwohl ich wußte, daß er recht hatte, erwiderte ich: »Du übertreibst wieder einmal maßlos. Und außerdem: Ich mache die Geschäfte mit Scriptdollars nicht zu meinem Vergnügen.«

»Habe ich das gesagt? Ich sage nur: Max Reimann hätte es nicht sehen dürfen.«

Was sollte ich ihm darauf antworten? Ich schwieg.

Papa fuhr erregt fort: »Hast du vergessen, was man mit Georg Rohleder gemacht hat?«

»Das war etwas anderes.«

»Nichts anderes. Da ist kein Unterschied. Er hat auf dem schwarzen Markt Geschäfte gemacht, und du machst Geschäfte. Ihn hat man ausgeschlossen, und dich wird man eines Tages auch ausschließen. Ich habe genug von deinen Schwarzmarktgeschäften!« Brüsk stand er auf und schlurfte hinaus in die Küche.

Mit Georg Rohleder hatte es eine besondere Bewandtnis. Er war seit Gründung der Partei 1919 deren Mitglied und einer, der vor 1933 von sich sagte, er sei ein Proletarier und Klassenkämpfer, und den man gemeinhin als treuen Genossen bezeichnete. Er war viele Jahre arbeitslos und gehörte zum Troß der unteren Stadtteilfunktionäre. Tag und Nacht war er für die Partei unterwegs. Ohne ihn gab es keine Parteiveranstaltung, keine Demonstration und keine Haus- und Hofagitation. Wenn sich Arbeitslose mit Polizisten prügelten, war er dabei. Wo Parteizeitungen verkauft, Flugblätter verteilt, nachts heimlich Plakate geklebt oder Parolen an Mauern oder auf Straßen geschrieben wurden, dort traf man Georg Rohleder.

Er kam oft in unsere Wohnung, denn mit Mama verband ihn ein besonders herzliches Verhältnis. Noch nach 1933 war er ihr gelegentlich behilflich, von der Polizei gesuchte Genossen aus dem illegalen jüdischen Kreis, dem Mama angehörte, in Sicherheit, das heißt über die Grenze ins Ausland zu bringen. Dann verlor ich ihn aus den Augen und hörte später nur, daß er in einem politischen Prozeß zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden war.

Nach dem Zusammenbruch des Hitlerreichs tauchte Georg Rohleder wieder auf. Er half beim Aufbau der Parteiorganisation. Auch jetzt war ihm, wie vor 1933, nichts zuviel. Nebenbei oder genauer gesagt: hauptsächlich machte er Geschäfte auf dem Schwarzmarkt. Davon lebte er.

Wenige Wochen zuvor war er von der deutschen Polizei beim Schwarzhandel erwischt, von einem Schnellgericht zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt und noch im Gerichtssaal zur Verbüßung seiner Strafe verhaftet worden. Das war für die Frankfurter Parteileitung Anlaß, ihn aus der KPD auszuschließen. Sein Ausschluß und der Grund dazu wurden außerdem in der KPD-Zeitung bekanntgegeben. So streng verfuhr die Parteileitung mit Schwarzhändlern.

Georg Rohleders Hinauswurf aus der Partei war für uns schockierend, denn er war seit den zwanziger Jahren ein Freund der Familie. In seinem Falle, so meinte ich, hätte die Parteikontrollkommission doch einen Unterschied zu anderen Schwarzhändlern machen müssen. Sie tat es nicht. Die Genossen hatten ihre Prinzipien. Und sicher waren sie richtig. Wie sollten sie abwägen, wo die Grenzen ziehen? Wer den moralischen Grundregeln der Partei zuwiderhandelte, mußte damit rechnen, daß er sich eines Tages dafür zu verantworten habe. Das galt auch für mich. Ich sah in meiner Handlungsweise kein Abweichen von der Parteilinie, sondern ein ganz privates Unternehmen, dessen Risiken ich persönlich trug.

Eine etwas absonderliche und verquere Moral, die von der Not und den Entbehrungen der Nachkriegsjahre geprägt war und nur aus dem damaligen Zeitgeist verständlich ist. Die meisten Mitglieder der KPD handelten wie ich und fühlten sich keinesfalls als schlechtere Kommunisten im Vergleich zu den Puritanern und Prinzipientreuen in ihren Reihen oder denen, die aufgrund ihrer politischen Verfolgungen Sonderzuteilungen an Lebensmitteln erhielten, mit diesen einigermaßen satt wurden und es darum nicht nötig hatten, ihr Gewissen zu strapazieren.

Daß die Partei so handelte, hielt ich für in Ordnung. Sie mußte nach innen diszipliniert sein und nach außen ihr Ansehen wahren, ihre politische und damit auch sittliche Untadeligkeit unter Beweis stellen.

Henrietta

Es war im März 1946, der erste Frühlingstag nach Kriegsende. Ich arbeitete bereits im amerikanischen Offizierskasino, und Papa und Paula konnten sich endlich wieder jeden Tag satt essen, dank meiner nicht immer ganz korrekten Lebensmittelbeschaffung im Proviantlager und des Küchenchefs Mike tatkräftiger Mithilfe auf Scriptdollarbasis.

Der Wiederaufbau Frankfurts hatte noch nicht begonnen. Der Trümmerschutt war erst in wenigen Wohnvierteln beseitigt. Durch die Straßen zu gehen, war schon am Tage sehr mühevoll, erst recht in der Nacht. Und überdies sehr riskant. Zum einen wegen der Löcher im Asphalt und der schlechten Beleuchtung, zum anderen wegen der vielen Entwurzelten, von Taschendieben bis Totschlägern, die in die Mainmetropole geschwemmt wurden. In den Nächten waren sie die Herren der Stadt.

Ich befand mich auf dem Nachhauseweg von einer Zusammenkunft mit Funktionären der benachbarten KPD-Stadtteilgruppe Innenstadt in einer Straße hinter dem Hauptbahnhof. Nach Einbruch der Dunkelheit tat man gut daran, diese Gegend überhaupt nicht oder nur auf dem kürzesten Weg und so schnell wie möglich zu durchqueren. Die anderen Genossen wohnten in den Trümmern oder in einem der wenigen noch erhalten gebliebenen Häuser dieses Stadtteils und waren in wenigen Minuten zu Hause. Ich aber hatte mindestens zwanzig Minuten zu laufen und mußte mich beeilen, nicht nur aus Angst vor dem Strandgut des Tausendjährigen Reichs, sondern auch, weil in einer knappen halben Stunde die Sperrstunde begann. Da sah ich in der Dunkelheit einen Schatten auf mich zu rennen. Bevor ich ausweichen konnte, packte mich jemand am Arm und stieß atemlos hervor: »Helfen Sie mir, ich werde verfolgt!«

Es war eine junge Frau, die mich am Arm festhielt. Ohne lange zu überlegen, zog ich sie in die Trümmer der nächsten Ruine. Mir blieb gar keine andere Wahl, denn sie zerrte gleichermaßen an meinem Ärmel. Ich spürte ihre große Angst. Sie simulierte nicht. Als wir schon fast hinter einem schützenden Mauerrest angelangt waren, verklemmte sich mein Fuß in einem verbogenen Eisengitter. Wir stolperten und kamen rückwärts auf einem Steinhaufen zu Fall. Ich hätte schreien können vor Schmerzen, als mein Fußgelenk durch den Sturz gewaltsam abgeknickt wurde. Im gleichen Augenblick rannte jemand vorbei, offenbar ein amerikanischer Soldat.

Das Mädchen flüsterte mir im Liegen zu: »Das war er.« Ich mußte laut stöhnen, so weh tat mir der Fuß. Sie legte mir die Hand auf den Mund und sagte: »Um Gottes willen! Leise!« Und nach einer Weile: »Wir müssen warten, können noch nicht raus.«

Fünf oder zehn Minuten blieben wir liegen. Der stechende Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen und den Schweiß auf die Stirn. Dennoch spürte ich, wie mir die Kälte in die Glieder kroch. Das Mädchen lag neben mir und rührte sich nicht. Mir wurde das Groteske der Situation bewußt und auch die Gefahr, in die ich ohne mein Zutun hineingeraten war.

Sie sagte: »Jetzt können wir gehen.« Sie stand auf und klopfte den Staub aus ihren Kleidern.

»Sie vielleicht, ich kann unmöglich«, entgegnete ich und versuchte, vorsichtig meinen Fuß aus dem engen Gitter zu befreien. Das war nicht einfach, denn bei der geringsten Bewegung schmerzte er wahnsinnig.

»Tut mir leid, das hab ich nicht gewollt«, sagte das Mädchen.

Zum ersten Mal schaute ich ihr ins Gesicht. Es war lang und schmal. Ein Stirnband hielt die schulterlangen Haare zurück. Mehr konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen. Ich schätzte sie auf höchstens achtzehn Jahre.

»Bleiben Sie ganz ruhig«, sagte sie, löste unter dem Gitter den Schnürsenkel von meinem Schuh und zog ihn aus. Sie half mir aufzustehen, mich auf den Sockel zu setzen und zog mir den Schuh wieder an. Es war mir nicht möglich, aufzutreten.

»Verdammt, wie soll ich nach Hause kommen?« fluchte ich.

»Es wird schon gehen. Stützen Sie sich auf mich.«

»Auf Sie?« Ich sah sie an.

»Ja, stützen Sie sich nur.«

Jetzt war sie ganz ruhig, hatte sich schnell wieder gefangen, die atemlose Aufgeregtheit war wie weggeblasen. Ich legte den linken Arm um ihre Schulter. Da wir beide etwa gleich groß waren, mußte ich mich ein wenig recken. So humpelte ich mit ihr Schritt vor Schritt die Baseler Straße entlang in Richtung Bahnhof. Wir hatten uns nichts zu sagen. Nur einmal bemerkte sie: »Können Sie noch?« Und ich antwortete: »Ich muß ja.«

Wie wir uns dem Bahnhofsvorplatz näherten, wurde sie unruhig.

Sie fragte: »Geht’s nicht etwas schneller?«

»Noch schneller? Nein.«

Ihr Gesicht war, soweit ich es erkennen konnte, wieder ängstlich angespannt, mit aufgerissenen Augen versuchte sie, die Dunkelheit zu durchbohren. So kaltschnäuzig, wie sie getan hatte, als sie mir half, den eingeklemmten Fuß zu befreien und wieder aufzustehen, war sie nicht.

Sie schaute zu mir herüber: »Wir gehen nicht über den Bahnhof.«

»Dann müssen wir einen Umweg machen.«

»Egal. Dann machen wir ihn.«

Der Bahnhofsplatz war nicht nur ein bevorzugter Umschlagort der Schwarzhändler, sondern auch Treffpunkt der »deutschen Frolleins« und ihrer überseeischen Freier. Am späten Abend, wenn sich wegen der eingeschränkten Ausgehzeit für Deutsche schon lange keine »Frolleins« mehr blicken lassen durften, standen noch immer Gruppen amerikanischer Soldaten auf dem Platz herum, tranken Whisky aus Flaschen und Bier aus Dosen, unterhielten sich und prügelten sich auch zuweilen.

Sie sagte: »Wenn er noch da ist, erkennt er mich wieder.«

Das leuchtete mir ein. »O.k. Wir gehen diese Straße nach rechts und machen einen Bogen um den Bahnhof.«

»Ist recht.«

Als wir einige Zeit später in die Kaiserstraße einbogen, fragte sie: »Wie spät ist es?«

Ich schaute auf meine Armbanduhr, »Zehn Uhr vorbei.«

»Sperrstunde«, sagte sie nur. Sie legte den rechten Arm um meine Hüfte und hielt mich fest. »So läuft sich’s besser.«

Ich hatte tatsächlich einen besseren Halt, und wir konnten etwas schneller laufen.

»Wohin soll ich Sie bringen? Wo wohnen Sie?«

»In der Nähe vom Opernplatz.«

»Das ist noch ein langer Weg.«

»Sie müssen nicht mitkommen. Ich schaff’ es auch allein.« Aber eigentlich wollte ich schon, daß sie mitkam.

»Ist gut. Ich war ja dran schuld.«

Wir liefen in Richtung Hauptwache. Trotz der Schmerzen, die ich bei jedem Schritt hatte, war es angenehm, so nahe bei ihr zu sein und ihre Körperwärme zu spüren. Wegen des Vorfalls mit dem Amerikaner war ein Mißtrauen in mir wach und gebot, vorsichtig zu sein. Sie erriet meine Gedanken und sagte: »Sie wissen, was der Ami von mir wollte!? Alle sind sie so, alle wollen dasselbe. Aber ich bin keine Nutte. Ich mach’s nicht für Geld.« Sie schaute mich von der Seite an, und unsere Blicke begegneten sich.

»Darum bin ich auch weggelaufen.«

Ich erwiderte nichts. Ihr Bemühen, mir ihre Anständigkeit zu versichern, war nicht echt.

Etwas Nebensächliches erregte meine Aufmerksamkeit: Sie siezte mich. Das war in dieser Gegend und dazu noch in dieser Zeit nicht üblich. Da duzte man sich, jeder jeden. Man fiel auf, wenn man die Konvention wahrte. Sie aber sprach mit mir per Sie. War das vielleicht ihre Masche, mich am Ende um so leichter ausnehmen zu können? Ich wies den Gedanken von mir, denn ich bildete mir ein, die Paradiesvögel und Sumpfblüten rund um den Bahnhof ein wenig zu kennen. Sie gehörte nicht zu ihnen, sie benahm sich anders.

Nach einer Weile fuhr sie fort: »Bin auf der Durchreise und nur ein paar Tage in Frankfurt. Meine Familie wohnt in Süddeutschland, in Berchtesgaden. Ich mache Station hier, weil ich meine Ausweise und mein Geld verloren hab, alles geklaut.«

»Sie haben kein Geld mehr?«

»Nichts mehr.«

»Was wollen Sie jetzt machen?«

»Weiß ich noch nicht.«

Sie faßte mich ein wenig fester um die Hüfte und versuchte, schneller zu gehen. Ihr schien noch immer die Angst vor dem Amisoldaten in den Knochen zu stecken. Ich bemühte mich ebenfalls, so schnell ich mit dem verknacksten Fuß überhaupt konnte, etwas schneller zu gehen. Nur hin und wieder huschte ein verspäteter Heimkehrer an uns vorbei. Lange schwiegen wir.

Dann fragte sie: »Können Sie mir etwas Geld leihen? Für die Reise. Kriegen’s bestimmt wieder. Sofort, wenn ich daheim bin. Mein Vater hat genug Geld. Das ist wahr.«

Kein Wort stimmte von alledem. Ihre Geschichte war zu fadenscheinig, sie floß ihr zu glatt und schnell von den Lippen. Wie einstudiert. Ich überlegte, warum sie mir das alles erzählte. Unmöglich, um mir ein paar Mark herauszulocken. Wenn sie wirklich auf den Strich ging, konnte sie das Geld schneller haben und zudem in bester Währung, in harten Dollars. Um was redete sie herum? Mit den Rätseln, die sie mir aufgab, begann sie mich allmählich zu interessieren. Ich schaute zu ihr hinüber, um in dem Licht der wenigen Laternen irgend etwas an ihr zu entdecken, was vielleicht eine Erklärung sein könnte für ihr seltsames Verhalten. Doch weder an ihrer Figur noch in ihrem Gesicht fand ich eine Besonderheit, an der sich das Auge hätte festhalten können.

Plötzlich blieb sie mitten auf der Straße stehen und wandte mir ihr Gesicht zu. »Warum reden Sie nicht mit mir?« fragte sie. »Sie glauben mir nicht? Ist auch egal.« Mit einem Ruck ging sie weiter. »Geht’s hier lang?«

»Ja. Geradeaus. Dort ist der Opernplatz.«

Nach einigen Schritten sagte sie: »Sie brauchen mir nichts zu leihen. Hab nur gedacht – hätt’ es Ihnen ja wiedergegeben.«

Es schien, als wolle sie sich mit dem unaufhörlichen Redefluß selbst etwas vormachen. Wir waren in der Kaiserhofstraße angelangt. An der Gaslaterne vor dem Haus Nummer zwölf blieben wir stehen.

»Hier bin ich zu Hause«, sagte ich.

»Dann kann ich ja gehen«, gab sie zur Antwort. Doch sie zögerte.

»Kommen Sie auf einen Sprung mit hinauf?«

»Auf keinen Fall. Ich geh zurück.«

»Wo wollen Sie übernachten?«

»Im Bahnhofsbunker. Da war ich auch die letzte Nacht.«

»Um diese Zeit bekommen Sie dort keinen Platz mehr.«

»Doch, ich krieg immer noch einen Platz.«

»Ich will Sie nicht bedrängen. Wenn Sie unbedingt zurück wollen in den Bunker …«

»Natürlich will ich. Ich hab Ihnen ja gesagt, ich bin keine, die mit jedem Mann mitgeht.«

Das klang genausowenig glaubwürdig wie alles andere zuvor. Sie bemühte sich offensichtlich, das Gespräch zu verlängern, denn meine Einladung, mit hinaufzukommen, war ihr schon recht. Aber sie wollte sich erst noch bitten lassen, wollte mir gegenüber ihr Gesicht wahren. Ich fuhr fort: »Es ist längst Sperrstunde. Wenn Sie jetzt eine Militärstreife erwischt, sperrt man Sie ein, und Sie kriegen noch eine Geldstrafe.«

»Stimmt, ich muß aufpassen. So spät war ich noch nie unterwegs.«

»Wollen Sie nicht doch mit hinaufkommen?«

»Weiß nicht …«

»Dann können wir noch mal nach meinem Fuß sehen. Er tut sehr weh, ich kann kaum noch auftreten.«

Das war ein Argument für sie, mein Angebot ohne Gesichtsverlust annehmen zu können. Mit diesem Haken zog ich sie aus ihrer Verlegenheit.

Ich stützte mich auf ihren Arm, und wir gingen durch die Toreinfahrt und über den Hof in das Hinterhaus. Papa und Paula waren bereits zu Bett gegangen.