Kurzkehrt - Helga Ross - E-Book

Kurzkehrt E-Book

Helga Ross

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Beschreibung

Pferdezucht, Turnierreiten und Jagdreiten bilden das Setting der Erzählung, in der mit Detailkenntnis und Sachverstand Fakten verknüpft werden mit Fiktion: der Geschichte der Helena Frerichs und ihrer Tochter Sophie. Helena ist erfolgreiche Designerin für hochwertige Damen - Reitmode mit dem eigenem Modelabel J.C. Mit Ende 50 hat sie eine beeindruckende Karriere gemacht, ist international anerkannt, lebt alleinstehend in München. Ihr Alltag ist geprägt von Disziplin und Sorgfalt, gerade, was ihr Erscheinungsbild betrifft. Ihre Tochter Sophie, 27, ist Physiotherapeutin in einem Rehazentrum auf dem Land, führt ein sorgloses Leben unter Freunden, geht gern in die Berge und auf Partys. Die Beziehung zu ihrer Mutter ist nicht eng, aber positiv. Plötzlich wird Sophie herausgerissen aus dem Alltag durch eine völlig unerwartete Erbschaft. Sie soll den Pferdezuchtbetrieb ihrer Großeltern in Norddeutschland weiterführen. Mit Vertrauen in ihr Organisationstalent, jedoch ohne große Ahnung von Pferden sagt sie zu und verlegt ihren Lebensmittelpunkt nach Söderumstedt auf den Katharinenhof. Zunächst scheint sie zahlreiche Helfer zu finden und ist guten Mutes den überschuldeten Hof zu retten. Sie verliebt sich. Als ihre Mutter Helena davon hört, ist sie entsetzt. Die glücklichsten Jahre ihres Lebens hat Helena selbst auf dem Katharinenhof verbracht, bis sie sich durch eigene Schuld aus diesem Paradies katapultiert hat. Sophie könnte dort Wahrheiten finden, die sie völlig aus der Bahn werfen. Denn Helena hat ihr nichts von ihrer Zeit dort erzählt. Die Tochter stößt in Söderumstedt immer häufiger auf Ablehnung, dann erhält sie von offizieller Stelle eine Anzeige wegen Betrugs und schließlich treibt sie ein schrecklicher Unfall mit dem wertvollsten Zuchthengst Dubslav in den Ruin. Wird sie einen Weg aus dem Dilemma finden? Der Leser erfährt spannende Einblicke in den Alltag mit Pferden, innige Momente und grausame Verletzungen, die Mensch und Tier einander antun können. Wechselnde Perspektiven vor allem der Frauenfiguren geben Einblick in Erlebnisbereiche mit Pferden, die von außen nicht wahrnehmbar sind. Das Ganze spielt hauptsächlich vor der Kulisse der engstirnigen Dorfgemeinschaft des fiktiven Örtchens Söderumstedt. Vorurteile und festgefahrenes Traditionsbewusstsein um jeden Preis sind teilweise tödlich.

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Seitenzahl: 290

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Anmerkung:

Die Ideen zu diesem Roman wurden vor dem Ausbruch von Covid 19 entwickelt. Als die Pandemie die Welt umfassend veränderte, war das Grundkonzept bereits abgeschlossen.

Die Autorin hat bewusst entschieden, die Geschichte nicht umzuschreiben.

Man kann seinem Leben keine andere Wendung geben, wenn man am selben Punkt verharrt.

(Allyson Condie)

Das Kurzkehrt ist eine im Mittelschritt gerittene Hinterhandwendung, bei der das Pferd 180 Grad mit der Vorhand um die Hinterhand schwenkt und niemals stehenbleibt. Die Vorderbeine treten vorwärts-seitwärts auf einem möglichst kleinen Halbkreis um die Hinterhufe. Der Reiter schaut bewusst in die neue Richtung und reitet flüssig weiter.

Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch Helena

München 2017

Söderumstedt 1980/81

Ebba, März 1981

Helena, Mai 1981

Helena nach der Abschlussprüfung 1983

Helena Sommer 1984

Juni bis August 1984

Helena, Winter 1984-85

Helena 1985

Am Ammersee 2017

Söderumstedt 1985

Helena 1986

Helena 1986

Helena Sylvester 1989

Kirsten Neujahrsmorgen 1990

Helena Anfang 1990

Ebba, Frühjahr 1990

Helena 11.9.1990

Am Ammersee 2017

Turnier Moosheide, M-Springen mit Stechen

Kirsten, September 1992

Söderumstedt, 21. September 1992

Steilküste Rerik-Meschendorf, südliche Ostsee, 30. September

Söderumstedt, Oktober 1992

Am Ammersee 2017

Helena 1996

Zweites Buch

Söderumstedt, Juli 2017

München, kurze Zeit darauf.

Ebba, Winter 2017/18

München, Februar 2018

Hamburg, zur gleichen Zeit

Söderumstedt, März 2018

Söderumstedt, April 2018

Der Schock, eine Woche später

Die Wahrheit.

Am nächsten Tag

Ein Jahr später

Reitersprache

Ich bedanke mich …

Erstes Buch Helena

München 2017

Mick hechelte. Helena japste nach Luft. Der Brunnen vor der Kneippanlage ergoss davon unbeeindruckt wie jeden Morgen seit der Renovierung des Stadtparks die sieben Fontänen in das muschelförmige Auffangbecken.

Noch bevölkerten nur sparsam einzelne Frühaufsteher das weitläufige Areal. Wie jeden Morgen. Das war Helenas Stunde. Begegnungsfrei.

Mick scharrte erwartungsvoll eine Kuhle unter dem Abfalleimer. Kein weggeworfenes Wurstbrötchen. Wie jeden Morgen.

Etwas jedoch erschien verändert an diesem Morgen. Zunächst nichts Konkretes.

Die aus einem dicken Buchenstamm gearbeitete Bank neben dem Mülleimer nutzte Helena für ihre Dehnübungen. Schulter und Nacken bretthart. Wade und Quadriceps obendrein. Helena trug Sorge für ihren Körper und hielt ihr Programm mit eiserner Disziplin ein. Willenskraft, die niemand in der zarten, anschmiegsamen und auffallend attraktiven Person vermutete. Auch mit Ende fünfzig zog sie unwillkürlich bewundernde Blicke der Menschen auf sich. Elegante und seltsamerweise gütige Ausstrahlung gepaart mit selbstverständlicher Würde gingen selbst hier im verschwitzten Laufdress von ihr aus. Sie wirkte unverkrampft, nicht gezwungen. Ihr Fitnessprogramm gehörte seit ihrer aktiven Zeit im Parcours zum festen Ablauf ihres Tages.

Was war anders, überlegte sie.

Ein paar Strähnen ihres vom Laufen feuchten Haares fielen ins Gesicht. Sie bändigte die noch immer dicke, kastanienbraune Mähne mit geübtem Griff in dem braunen Haargummi und dabei erkannte sie im Augenwinkel, was an diesem Tag neu an ihrem Lieblingsplatz war: zu so früher Stunde bereits schritt ein unerschrockener Parkbesucher barfuß und mit hochgekrempelten Hosenbeinen im Storchenschritt am Mittelgeländer der Kneippanlage entlang.

Mick hatte den strubbeligen Kopf schief gelegt und beäugte das für ihn sehr ungewohnte Schauspiel.

Der Mann drehte unbeirrt Runde um Runde. Er schien sie gar nicht zu bemerken. Helena vermutete, er habe eine Verletzung oder Schwäche in den Beinen, weil ein Spazierstock am Rand des Beckens lehnte. Beinahe spürte sie Verärgerung darüber, Ort und Stunde nicht mehr ganz für sich gehabt zu haben an diesem Morgen.

Am Parkausgang leinte sie Mick an, damit nicht wieder irgendein Passant sich beschwerte. Bei ihrem Vierbeiner erschien Äußeres als das Gegenteil des Wesens. Ihr Hund war ein unvorstellbar hässliches Exemplar seiner Gattung und in seiner wuchtigen Größe tatsächlich furchterregend. Eine undefinierbare Farbe aus zahlreichen Einzelflecken, ungleich lange Fellzotteln, ein stehendes, ein hängendes Ohr und ein völlig unpassender dünner, langer, kaum behaarter Schwanz; dazu eine Kopfform zwischen Dogge und Dackel und tapsige Riesenpfoten ergaben eine Gesamterscheinung, die nicht dazu beitrug, dass andere Menschen ihn in ihr Herz schlossen. Da kommt die Schöne mit dem Biest, meinten ihre Freunde immer mit nur wenig überzeugendem Augenzwinkern.

Helena liebte ihn. Mick hatte drei Jahre zuvor beschlossen ihre Einsamkeit zu beenden.

Am Abend des grauen Tages damals hatte das Taxi vorsichtig die Pfützen am Rand der Willy-Brandt-Allee umfahren, bevor es vor dem Eingang hielt; schwere Regentropfen stellten die Scheibenwischer auf eine harte Probe. In Gedanken noch bei der erfolgreichen Präsentation ihrer neuen Herbstkollektion hatte Helena nicht darauf geachtet. Seidenhose und die curryfarbenen Highheels deshalb selbstverständlich verdreckt. Frisur? Sie mochte es sich nicht vorstellen. Nur sofort ins Taxi.

Der Fahrer hatte blitzschnell die hintere rechte Tür für sie aufgehalten. Dachte sie. Doch da schoss aus der nassen Nacht dieses Wesen noch vor ihr auf den Rücksitz. Flüche des Taxifahrers, bei denen sie rot wurde. Noch heute.

Der Schlamm aus dem verfilzten Fell hatte das Sitzpolster in braune Pampe verwandelt. Ein Schütteln des Hundes würde sie anschließend 400 Euro Generalreinigung inklusive Geruchsbeseitigung kosten. Halsband und Hundemarke? Nirgends. Schmutz und Hunger? Überall gleichzeitig.

Bis heute hatte sie keine schlüssige Erklärung dafür, warum sie zu dem riesigen Hund in das Taxi gestiegen war. Hygiene galt als ihr zweiter Vorname, so die spitzen Zungen der Mitarbeiter.

Spätestens ab dem Moment, als der verklebte, feuchte Kopf auf ihrem Schoß ruhte, sollte das für immer Vergangenheit werden. Denn die Augen, eines bernsteinfarben, das andere unter dem Klappohr hellblau, erzählten eine unausweichliche Geschichte.

Als der Taxifahrer sie vor ihrem Haus in Dietersheim abgesetzt hatte, nicht ohne auf einer unterschriebenen Erklärung zur Schadenserstattung zu beharren, war Mick ganz selbstverständlich in ihr Leben eingezogen.

Morgens Laufen zählte bereits nach kurzer Zeit zu seinen beliebtesten täglichen Beschäftigungen. Die Heckklappe des weißen SUV sprang automatisch auf und Mick schoss mit einem Satz in den Kofferraum, die Leine im Schlepptau. Morgenrunde beendet. Fressen in Aussicht. Das gleichbleibende Ritual erzeugte ein tiefes, zufriedenes Seufzen.

Helena hingegen sah einen anstrengenden Tag vor sich. Nicht der Arbeit wegen, sondern der so leicht durchschaubaren Scheinheiligkeit, welcher sie sich in ihrem Job regelmäßig ausgesetzt sah.

Im Atelier dann, geduscht und gestylt wie gewohnt, durfte sie erwartungsgemäß wohlgesetztes Gesäusel hören, doch sie hatte sich daran gewöhnt es als Teil ihres geschäftlichen Erfolges zu sehen.

Monsieur Laval tönte in schmeichlerischem Crescendo: »Sie übertreffen sich selbst, meine Liebe, stets steigern Sie Standards und Schick Ihrer Kollektion. Funktionalität trifft Klasse. Wir sind jedes Mal gespannt auf die winzigen Details, das gewisse Etwas. Wasserdicht und dennoch weich fallend, bequeme Bewegungsfreiheit und gleichzeitig figurbetont. Genial. Sie machen Ihrem Namen immer wieder Ehre. Ich gratuliere.«

Helena hasste ihren Namen. Sie empfand ihn als Fluch, als Kerker. Zeitlebens festgelegt. Die Schöne mit verführerischem Liebreiz. Die Schöne, derentwegen Männer sich bekriegen.

Zu Beginn der Achterbahn in die Selbständigkeit hatte er ihr Vorteile gebracht, dieser Name. Ihr Geschmack und ihre gestalterischen Ideen galten von vornherein als etwas Besonderes, wenn im Marketing von der schönen Helena die Rede war. Damit ließ sich arbeiten.

Wie absurd einfach es doch war, Menschen zu betrügen. Menschen glaubten an Geschichten. Nicht Tatsachen galten als Entscheidungsgrund, nicht Leistungen oder charakterliche Eigenschaften oder gar die Qualität von Produkten waren ausschlaggebend, sondern die Erfolgsgeschichte der Helena Frerichs, eine romantische Story: von Stallhilfe erst zur international erfolgreichen Springreiterin und später zur Designerin dieses extravaganten Modelabels für die anspruchsvolle Reiterin: La Jolie Cavaliere, kurz J.C. am linken Ärmel oder Hosenbein aufgestickt.

J.C.! Wenn sie wüssten …

Dass sie sehr gut zeichnete seit ihrer Schulzeit, gern kreativ war, fleißig und zielstrebig in dem, was sie tat, hatte nur Frau Schaarschmidt in der 8. Klasse bemerkt, als sie 1975 am Emil-Nolde-Gymnasium ihrer Heimatstadt eine Jubiläumsausstellung gestalteten.

Alle anderen, Schüler wie Lehrer und Eltern von sogenannten Freunden hatten in ihr stets die verwöhnte Göre in angesagten Klamotten gesehen.

Sie erinnerte sich. Das scheinheilige Getue auf dem Schulhof.

»Helena, kommst du zu meiner Party?« »Schau mal, der Typ starrt nur dich an«. »Wie machst du das?« »Du bist einfach immer spitze!« »Zeig mir mal, wie du den Eyeliner so klasse hinkriegst.«

Endlos könnte sie solche Äußerungen auflisten. Endlos auch das Getuschel im Geheimen.

Sie war das It-Girl ihrer Klasse gewesen. Ein kritischer Blick auf die angesagten Mädchen anderer Klassenstufen hatte ihr genügt. Hirnfreie Hühner hätten nicht schlimmer gackern und herumstolzieren können. – So nicht.

»Helena, sehen Sie sich den Futterstoff an – nicht ganz die wärmend atmungsaktive Qualität, die wir bestellt hatten.« Gedankensprung über 38 Jahre. Vom Abitur ins Atelier zurück.

»Ich erledige das gleich mit, wenn ich in Mailand bin.«

»Ach, Sie besuchen die Lieferanten diesmal selbst? Die Chefin on tour …« Ihre Schuhsohlen quietschten, als sie sich schnell zur Assistentin umdrehte, um von vornherein weiterer Einmischung und Kritik Einhalt zu gebieten. In letzter Zeit häuften sich derartige spitze Seitenhiebe. Sie würde Madeleine Mitterhammer schärfer im Auge behalten, sobald sie Ergebnisse aus Mailand mitbrächte. Mick würde wieder zu …

***

Beschwingt trat Sophie aus der sich automatisch öffnenden Glastür und erblickte Fiona bereits im nur den Ärzten vorbehaltenen Parkbereich. Die Wanderausrüstung war griffbereit auf dem Rücksitz verstaut. Sophies Deuter Rucksack leuchtete wie alle ihre Taschen, Körbe oder Koffer in jeansblau oder navy midnight, wie es auf dem Etikett hieß. »Passt immer, ohne Jeans geh ich sowieso nirgendwo hin«. Trotzdem musste Fiona sie regelmäßig damit aufziehen, denn jeansblau hatte bei Sophie mindestens hundert Variationen, je nach Waschung der Hose. Kurze Zeit später wechselte Fiona von der A 96 auf die A 7 Richtung Füssen, als das laute Surren einen Anruf auf Sophies Handy verkündete.

Ein flüchtiger Blick, grimmiges Stirnrunzeln: Helena, ihre Mutter, mit gewinnendem Lächeln auf dem Display. Sie wischte mit dem Zeigefinger über das Lautsprechersymbol und gleich füllte Helenas Stimme den Innenraum des Kuga.

»Ma Chère, du musst mich retten!« Seit sie ihre eigene Modelinie Jolie Cavaliere vor etwa zehn Jahren durchgesetzt hatte, bevorzugte sie französische Wortsplitter in ihre Sätze einzustreuen in einer Attitude, als sei sie mindestens Chefdirectrice bei Vogue, fand Sophie. Auch ein Hauch von Drama Queen umgab sie, als müsse sie beständig vor mittelschweren Katastrophen in letzter Sekunde gerettet werden. Markenzeichen einer Modedesignerin. Ihre Mutter hatte sich in ihrem neuen Image nach wenigen Jahren häuslich eingerichtet. In Sophies Kindheit war Mama eine andere gewesen.

Sophie überlegte kurz, ob ihr Handy just in dem Augenblick aus der Hand fallen sollte auf direktem Weg in ein Funkloch. Dann hörte sie Mick jaulen.

»Ich muss nach Mailand. Selbst. Sofort. Stoffauswahl. Mick kann nicht allein bleiben. Ich habe ihm versprochen, du kommst in spätestens einer Stunde.«

»Wir sind auf dem Weg zum Bergsteigen, bereits auf der Autobahn – heute bleibt er allein oder du zu Hause.« Immer, beinahe jede Woche, verlangte Helena spontane Hilfsexpeditionen von ihrer Tochter. Sophie hatte sich unter großer Anstrengung stahlhartes Neinsagen antrainiert. Mick allerdings war ein Fall für sich.

Ein seufzendes Winseln, ein fast zärtliches Fiepen gaben den Ausschlag. Mick würde mit zum Wandern kommen.

***

Die Frühjahrsblüher verschwanden unmerklich, als Helena aus Italien zurückkehrte. Im Vorbeilaufen fielen ihr schon Malven, Margeriten und Cosmea in der Grünanlage des Parks auf. Kornblumen fehlten.

Mick hastete voraus. Heute hing seine Zunge fast am Boden vor Durst und er schlürfte gierig aus dem Auffangbecken der Brunnenfontäne.

Ein Stirnrunzeln schlich sich auf Helenas Gesicht, als sie den Wassertreter auf »ihrer« Bank erblickte, die Füße gründlich mit einem blauweißen Frotteehandtuch trocknend. Er schien ihren Unmut nicht zu bemerken, tastete nach einer Socke, die heruntergefallen war, und wandte seinen Kopf erst, als sie direkt neben ihm die Dehnübungen am Papierkorb ausführte. Er lächelte freundlich. Mit einladender Geste bot er den Sitzplatz neben sich an und obwohl sie den Kopf schüttelte, änderte er die Haltung nicht.

»Wollen Sie ein bisschen verschnaufen? Die Laufrunde war sicher anstrengend.«

Seine schnörkellose Stimme glättete ihre Stirn und sie nahm kurz Platz.

»Wo ist ihr Hund heute?« wollte er wissen.

»Ach Mick. Sehen Sie, er säuft dort drüben am Brunnen.«

Small Talk vor dem Bürotag gelang ihr selten, doch der Klang seiner Stimme umgriff sie wie ein Tentakel, sanft, aber zwingend. Er schien sein Gesicht auf den Hund gerichtet zu haben, schaute sie nicht direkt an.

Helena erhob sich eilig nach einem Blick auf die Uhr, klapperte mit dem Autoschlüssel, woraufhin Mick in kugeligen Sätzen angerast kam. Dass er sich genau vor dem Fremden heftig schüttelte und dessen Hosen durchnässte, war ihr unendlich peinlich.

»Kein Problem«, versicherte der Mann, »ich werde gleich abgeholt und kann mich zu Hause umziehen.«

»Falls Ihre Kleidung in die Reinigung muss: hier ist meine Karte; mein Name ist Helena Frerichs, ich übernehme das selbstverständlich.«

»Das wird überhaupt nicht nötig sein, glauben Sie mir!« Da er nicht nach der Karte griff, legte Helena sie neben ihm auf die Bank.

»Ich bin im Übrigen Xaver Loibl.«

»Das klingt bayrisch im Gegensatz zu Ihnen«, setzte sie ganz unabsichtlich das Gespräch fort.

»Ich stamme von hier«, gab er bereitwillig zu, »Abi 1981 am Wittelsbacher Gymnasium, jedoch studierte und lebte ich einige Jahre in Hannover.«

»Respekt, humanistische Bildungselite. Jetzt muss ich aber wirklich los.« Helena glaubte ein kaum merkliches Bedauern in seinen eigenartig starren Gesichtszügen zu erkennen, als sie sich endgültig abwandte.

Während der Heimfahrt verfingen sich ihre Gedanken in seinen Worten. Sie hatte ein Jahr früher Abi gemacht, das Emil-Nolde-Gymnasium in ihrer Heimatstadt zwar ohne Latein, jedoch als Jahrgangsbeste abgeschlossen. Man hatte es der schönen Helena nicht gegönnt.

Erinnerungen an die Abschlussfeier verdrängten Verkehrszeichen.

Der Sekt perlte zwar, in Goldbuchstaben glänzte »dry« auf dem Etikett. Er glich allerdings in Wahrheit dem Schulleiter. Beide waren äußerst sauer.

Helena hatte die Abiturrede voll deutlicher Kritik an der Führung des ehrenwerten Emil-Nolde-Gymnasiums mit den Worten beendet: »Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler, liebe Eltern, meine Damen und Herren. Lassen Sie uns also nicht träge dem schönen Schein weiterhin die Füße küssen, damit alles so weiter geht wie gewohnt. Wagnis der Wahrheitsfindung, der unbequemen und erschreckenden Neugier auf das, was hinter den fabelhaften Fassaden sorgfältig verborgen wird, das soll der Leitspruch für unsere Zukunft sein, wenn wir jetzt diese Schule und damit das immer Gewohnte verlassen.«

Der Applaus toste nicht überschäumend und die Gäste der Abifeier eilten betreten schweigend ins Foyer zu Sekt und Häppchen.

»Ihre Tochter, Frau Danner, hat ja sehr nett gesprochen«, lobte die Lateinlehrerin scheinheilig. Nett klang aus ihrem Mund, als würde eine Zitrone ausgepresst.

»Sie hat in vielem Recht, nur spricht das niemand gern offen aus«, warf Frau Schaarschmidt ein, erntete einen giftblauen Blick, welcher ihr Goldlaméekleid mit den riesigen Schulterpolstern einbezog. Anlass für Tratsch wieder einmal. Diese Aufmachung! Ein übler Ausrutscher. Künstler eben! Anstand für den seriösen Anlass gewaltig missachtet. Dabei war sie nur Lehrerin, nicht mal eine der Mütter oder vielleicht Stadträtin. Diese alle zeigten sich gewandet im klassischen Kostüm, farbenfrei in schwarz, grau oder dunkelblau, mit Schluppenbluse. Praktisch. Beerdigungstauglich.

Aber dieses Outfit, also nein! Wie Sue Ellen oder Pamela. Nur wenige der anwesenden Damen hätten zugegeben, dass sie als glühende Anhänger der Serie Dallas sogar einen regelmäßigen Dallas-Treff zu den einzelnen Folgen gegründet hatten. Who shot J.R. – diese Frage beschäftigte die meisten von ihnen in diesem Sommer weitaus mehr als Helenas kritische Worte zur Atomkraft.

Zwei Wochen später. Endlich auf dem Reiterhof.

Sie ließ sich mit erlöstem Lächeln rücklings aufs Bett fallen. Die schmutzige Reithose samt dem unverkennbaren Geruch beachtete sie nicht.

Egal, wie dünn und durchgelegen die Matratze, wie ächzend und knarrend der Lattenrost.

Egal das kleine Praktikantenzimmer nach hinten raus, der abgetretene Fußboden, das Bad auf halber Treppe.

Egal auch das Gejammere ihrer Mutter neben dem versteinerten Gesicht des Vaters. Jahrgangsbeste Abiturientin verdingt sich als Stallhilfe! Mit Kost und Logis! Die antiquierte Ausdrucksweise war für ihn ein Rückzugsort in nervenaufreibenden Situationen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er erbost und enttäuscht war über den Entschluss seiner hochbegabten, einzigen Tochter. Er sprach nicht mehr mit ihr.

Auf dem Katharinenhof zu sein hieß: endlich das tun zu können, was sie liebte.

Die Erinnerung begleitete sie noch bis ins Atelier an diesem Morgen.

»Helena, dein Telefon wiehert! – du hast es mal wieder auf dem Zuschneidetisch unter dem Maßband liegen lassen.«

Ihre beste Schneiderin Moni reichte ihr das Handy und holte sie mit einem Augenzwinkern in die Gegenwart. Ihr Klingelton forderte stets Erheiterung, zeitweise auch bissige Kommentare im Atelier heraus.

Helenas Herz vollführte wie immer beim Läuten einen unmerklichen Hüpfer. Es war Cintas Wiehern. Mühevoll hatte sie es aus einer alten VHS Kassette digitalisiert. Nach dreißig Jahren noch sprach die Stute zu ihr, wie sie es zu Lebzeiten ganz selbstverständlich getan hatte.

Verwundert über Sophies Foto auf dem Display nahm sie den Anruf an.

»Was gibt es, ma chère?« Im Atelier bediente sie sich immer der flötenden Unnahbarkeit im Ton.

»Mama, lass das. Es ist etwas passiert.«

Helena erschrak, auch wenn sie nicht so wirkte. Sophie war die einzige Familie, die sie noch hatte.

»Erzähl, was ist los? Ein Unfall? Schlimm?«

»Nein. Ich habe hier ein amtliches Schreiben von einem Notar erhalten mit einem Termin in der Erbsache Frerichs in Söderumstedt. Es ist mir völlig schleierhaft, was das mit mir zu tun haben könnte – Vaters Tod liegt schließlich fünf Jahre zurück.«

Helena sog die stets staubige Luft im Atelier ein. Entwarnung, was einen Unfall betraf. Zugleich Alarmstufe rot.

Weichgezeichnet wie einige ihrer Werbefotos entstand vor ihrem inneren Auge der Katharinenhof, ein norddeutscher Dreiseithof, Anfang der Achtziger noch nicht renoviert. Es hatte sie überhaupt nicht gestört, dass ihr Praktikantenzimmerchen im alten Häuslingshaus, meist zugig und kühl, kaum Gemütlichkeit bot. Wohlfühlen ist eine Sache des Willens.

Sie war so aufgeregt gewesen, dass sie nur die einladende Hufeisenform der Gebäudeanlage gesehen hatte; an der Querseite hinten erhob sich das »Herrenhaus«, allerdings in einem recht desolaten Zustand, dass es diesen Namen kaum verdiente. Rechter Hand erstreckte sich die Scheune mit der Remise. Noch heute sah sie die gekreuzten hölzernen Pferdeköpfe am Giebel in dem ausgeblichenen Fachwerk. Rote Klinker, manche davon abenteuerlich schief, umrahmten das riesige Scheunentor, das damals bedenklich in den Angeln quietschte.

Die dritte Seite beherbergte die Stallungen. Dieses Gebäude als einziges strahlte restaurierte Standfestigkeit aus. In einer Reihe schauten aus achtzehn gleichmäßig verteilten Fenstern lebendige Pferdeköpfe ganz unterschiedlicher Farbe heraus. Achtzehn Gründe, warum Helena damals das Praktikum bei Frerichs auf dem Katharinenhof begonnen hatte.

»Mama, hörst du mir überhaupt zu«? Sophies vorwurfsvolle Stimme riss Helena zurück ins Hier und Heute.

»Der Termin ist vor Ort auf dem Katharinenhof in Söderumstedt am 15. Juni festgesetzt, der Notar wird allen Beteiligten – so heißt es hier – das schriftliche Vermächtnis darlegen. Ein Personalausweis sei vorzulegen.«

»Bist du allein geladen oder ist das Schreiben an uns beide?«

»Nur an mich. Ich hatte gleich angerufen, doch die Notariatsangestellte wollte mir am Telefon nicht sagen, worum es geht. Ich verstehe es nicht, denn beide, Opa und Großmama sind doch noch am Leben!«

Helena grübelte unruhig. Sophie sollte keinesfalls in Kontakt mit amtlichen Personen dort im Norden kommen. Sie würde die Wahrheit sonst bestimmt herausfinden.

»Schreib nochmal, ob du wirklich selbst erscheinen musst; 700 Kilometer für eine Strecke, um ein Schriftstück vorgelesen zu bekommen, ist übertrieben, finde ich.«

»Mutter! Glaubst du, ich lasse das auf sich beruhen? Ich werde herausfinden, was dieser Brief bedeutet. Ja, wir haben vereinbart das Thema Söderumstedt auszuklammern. Weder du noch meine Großeltern reden über deine Zeit dort; als Dad noch lebte, benahm er sich so, als sei er nie verheiratet gewesen. Aber er war der einzige Sohn. Vielleicht geht es ihnen nicht gut nach all den Jahren allein ohne ihren Kai. Ich fahre auf jeden Fall hin, Mutter.«

Wenn Sophie MUTTER als Anrede verwendete, ließ sie nicht mit sich spaßen.

»Das ist in zwei Wochen. Soll ich dich begleiten? Ich richte das ein hier in der Firma, kein Problem.«

»Mutter, darf ich dich daran erinnern, dass ich 27 Jahre alt bin und seit kurzem nicht mehr mit dem Löffel gefüttert werden muss. Ich nehme Urlaub und fahre am 14. Juni los. Der 15. ist ein Donnerstag, dann hänge ich das Wochenende dran und gönne mir einen Kurzurlaub. Denk dran: keine Rettungsaktionen meinerseits in der Zeit möglich. Weder Hund noch Wohnung noch Sonstiges.«

»In Ordnung, Sophie. Gib mir Bescheid, wenn du Näheres weißt.«

***

Am Abend des 15. Juni wieherte das iPhone wieder.

»Sophie, was war es nun?« fragte Helena schnell.

Satzfetzen, zusammenhanglose Worte, die in gestammelte Silben zerfielen. Sophies Aufruhr vibrierte in jedem einzelnen Laut.

»Ich …das … keine Ahnung … jemand anderer … einzig … Familie … du davon gewusst?«

Und erst nach einer Weile ließ sich der Sinn herausfiltern.

»Ich bin völlig überwältigt, Mama. Der Notar hat mir eröffnet, dass ich erstens die General- und Vorsorgevollmacht für Opa und Oma bekomme. Großpapa hatte einen Herzinfarkt schon im April; er ist wieder in der Klinik und Großmama völlig überfordert. Jetzt wurde sie am Fuß operiert wegen irgendeiner Knochengeschichte. Sie braucht mich.«

»Verständlich, jedoch kann ich mir die Anwesenheit eines Notars dabei trotzdem nicht erklären.«

»Das ist der absolute Hammer, ich erbe den Hof. Gleich! Stell dir bloß mal vor! Ich als Gutsbesitzerin! Keine Ahnung, was ich dazu sagen soll. Deshalb der Notar. Das Anwesen soll mir sofort übertragen werden mit allen Rechten und Pflichten, damit sie ihr gesamtes Lebenswerk beizeiten in der Familie weitergeben. Seit fast 400 Jahren hätten die Besitzer den gleichen Familiennamen und Großmama besteht darauf, dass die Tradition fortgesetzt wird. Es scheint ihr wichtiger als die Tatsache, dass ich vom Hofgeschehen kaum einen Schimmer habe.«

Helena ließ vor Erschütterung das Handy fallen. Sie beeilte sich die Verbindung nicht abbrechen zu lassen.

»Bitte überstürze nichts, Sophie. Unterschreibe nicht. Lass es dir durch den Kopf gehen und vor allem einen Anwalt darüber schauen. Das ist eine umwälzende Entscheidung. Stellt dein ganzes Leben auf den Kopf, deine Pläne, deine Ziele. Du willst spätestens in fünf Jahren deine eigene Praxis haben, vergiss das nicht. Sie können dir nicht eine solche Verantwortung aufbürden. Noch dazu, wo du überhaupt keine Ahnung von Pferdezucht oder auch nur Landwirtschaft hast.«

Stille.

Dröhnende Stille.

»Ich habe schon unterschrieben, Mutter. Ich bin, wie sie sagen, einziger Nachkomme dieses Zweigs der Frerichs –Familie. Gerko und Ebba zählen auf mich und ich darf sie jetzt nicht enttäuschen.«

Helena schnappte nach Luft und strich über den Screen, kommentarlos das Gespräch beendend, um nicht zu schreien. Sie hatten Sophie also nicht darüber aufgeklärt. Warum gaben sie ihr, ausgerechnet ihr, das Erbe?

***

»Mick, los, gehen wir laufen!«

Ein verständnisloses Ohr hob sich.

»Auf, wir machen die Runde heute nochmal, da musst du durch!«

In aller Gemächlichkeit eine Pfote nach der anderen streckend stand der Hund von seinem Kuschelplatz auf und bequemte sich mitzugehen.

Kurz vor Ende der großen Parkrunde überholte sie den Herrn, der gemessenen Schrittes dem Takt seines Spazierstocks folgte.

»Sie laufen heute ein zweites Mal?« Die Frage war an sie gerichtet und überrascht bemerkte sie, dass es der morgendliche Wassertreter war.

»Es ist nicht Ihre übliche Zeit, Frau Frerichs. Ist etwas vorgefallen?«

Unwirsch wegen seiner dreisten Neugier wollte sie sich abwenden, doch Mick schnupperte schwanzwedelnd an den Hosenbeinen des Mannes und beabsichtigte unverkennbar Beute zu machen in Gestalt des Stocks. Notgedrungen entspann sich eine knappe Unterhaltung, die an Helena vorbeirauschte, während sie nur Sophies Unterschrift im Kopf hatte.

Unversehens fand sie sich neben dem Fremden auf der Bank wieder. Nicht ihr Stil, fuhr es ihr durch den Kopf. Doch was bedeutete Stil in solch einer Situation!

Der halsbrecherische Balanceakt zwischen Harmonie und Katastrophe, wie würde der für ihre Tochter enden? Der Grund dafür, dass sie im Alter von zwei Jahren vom Katharinenhof wegmusste, glich einem Minenfeld.

»Möchten Sie darüber reden?«

Ein »Nein, das geht Sie überhaupt nichts an« blieb ihr stumm im Hals stecken. Stattdessen glitten Tränen über ihr Gesicht. Dann sprang sie abrupt auf.

»Heute nicht, Herr Loibl. Meine Tochter bei den Großeltern im Norden, das regt mich zu sehr auf. Doch lassen Sie uns nächste Woche nach der Morgenrunde einen Kaffee zusammen trinken, wie wäre es am Dienstag?«

Sein zustimmendes Nicken wartete sie kaum ab. Im Auto fragte sie sich, warum diese Verabredung zustande gekommen war. Niemals sonst agierte sie derart spontan. Was sollte eine Unterhaltung mit einem Wildfremden? Er konnte nett wirken, doch das Gegenteil sein; er mochte zuhören können, doch war ihr Geheimnis für seine Ohren bestimmt?

Die Fahrt nach Hause verlief wie auf Autopilot. Im Hexenkessel ihrer Gedanken schwappten Einzelheiten von damals an die Oberfläche. Cintas Fohlen und ihr eigenes Kind; Ebbas gütige Worte: »Pass auf, wenn du Pläne machst – das Leben kommt meistens dazwischen«. Kai-Uwe und Gerko wutentbrannt nach dem Fiasko: »Ich kann mich nirgendwo mehr blicken lassen! Wie soll ich das je … Ich werde nicht zulassen … Ich will dich nicht mehr in der Familie … Ich habe dir alles geboten …. Tausende Ichs krabbelten aus seinem Mund wie giftige Spinnen. Dieses Bild hatte sie noch deutlich im Kopf. Dann der entsetzliche Abschiedsbrief von Kirsten. Und schließlich Jan-Christian. Barbarisch charmant. Verantwortungslos, verlockend, hassenswert. Sexy. Von der Karte gestrichen. Und doch war da eine Lücke geblieben, die keiner je schließen würde.

***

Das Meeting am Montag verlangte ihr alles ab; das dazwischen liegende Wochenende hatte nur noch mehr gedanklichen Wirrwarr gestiftet. Die anwesenden Schneiderinnen, der Produktionschef und die Assistentin erwarteten die genaue Agenda für die Woche. Doch Helena sah sich außerstande. Ein Schilfrohr im Wind schwankte weniger.

Welch eine glitzernde Fassade hatte sie erbaut. Seit vielen Jahren hatte sie sich verboten über den Sinn ihrer Designerkarriere nachzudenken; ihre einstigen Träume lagen eingetuppert in der Kühltruhe ihrer Gefühle. Die Pferde waren Geschichte. Sie produzierte für die Reichen und Schönen unter den Reitern; das war ein Spiel mit genauen Regeln. Lächeln, gut aussehen, kapriziös und unverwechselbar. Die Gewinnspanne wuchs stetig, daher spielte sie dieses Spiel mit. Das finanzielle Polster war dem Image zu verdanken, das sie sich zugelegt hatte. Ein passformgenaues Gewand, die Fehler der Vergangenheit kaschierend.

Ausgerechnet an diesem Morgen glänzte die Assistentin mit einer schonungslosen Präsentation. In einer strategisch geschickten Performance stellte sie das gesamte Label J.C. in Frage. Exklusivität bedeutete darin nicht mehr schick, einzigartig und teuer. Ökologisch nachhaltig, sozial verträglich, Arbeitsplätze, outsourcen – die Schlagworte zerschnitten das bisherige Konzept. Die Mitarbeiter reagierten zunächst zögerlich, doch dann fasziniert. Madeleines Strategie: am Chefsessel nagen wie ein Biber.

Helena hatte plötzlich die Stimme des alten Ludy wieder im Ohr: »Aufrecht, Oberkörper straffen, atmen und vorwärts.« Sie setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf, das allerdings die goldgesprenkelten grünen Augen nicht erreichte. Mit einstudiertem Schwung warf sie ihre schimmernde braune Mähne zurück.

»Frau Mitterhammer: ich, wir alle, danken Ihnen für Ihren mustergültigen Einsatz bei der Vorstellung innovativer Ideen für unser Unternehmen. Monsieur Laval und ich versichern Ihnen diese eingehend zu prüfen. Ich lasse Sie das Resultat zu gegebener Zeit wissen.«

Vollmundig im Abgang, darin war Helena kaum zu übertreffen.

***

Füße hoch, Gedankenfeuerwerk an. Vielleicht noch einen leichten Rosé. Doch bevor Helena die Flasche öffnen konnte, trommelte das iPhone unzählige Male, um ausgewählte Fotos zu übermitteln. Sophie hatte versucht tausende Einzelheiten der weitläufigen Anlage auf dem Katharinenhof im besten Licht festzuhalten.

Helena war sehr überrascht.

Seit 1992 hatte sich unglaublich viel verändert. Das gereinigte rote Mauerwerk leuchtete im Kontrast zu den sorgfältig weiß abgesetzten Fugen. Das schwarzbraune Fachwerk war überholt worden, teils erneuert, und gab nicht nur optisch Halt und Sicherheit. Selbst die Rossgoschen, die gekreuzten Pferdeköpfe an den Giebeln, schienen neu. Über den Stallungen hatte man Apartments ausgebaut mit sehr viel Glas, so dass die Innenräume einladend hell wirkten. ›Ferien auf dem Reiterhof‹ war Kai-Uwes Plan gewesen und hätte sicher Erfolg gehabt, wäre nicht der Unfall geschehen.

Vor dem offenen Bogeneingangsbereich des Haupthauses erkannte sie alte Futtertröge wieder. Sie waren bunt bepflanzt, Cosmea und Petunien gediehen darin, sogar Kornblumen. Helena seufzte unwillkürlich. Ebba dachte also noch an sie. Die zurückgesetzte, zweiflügelige Missentür war in einem zarten blaulila Farbton gestrichen, welcher genau zur seitlich rankenden Glyzinie passte. Seit damals war sie beinahe so groß wie ein Baum geworden.

Auf allen drei Hauptgebäuden prangten die Dächer neu gedeckt. Anschließend an den Reitplatz erhob sich nun imposant eine Reithalle in Topqualität. Darin wollte Kai-Uwe die Feriengäste unterrichten – darin war er zu Tode gekommen. In einer Art und Weise, die sie keinem wünschte, auch nicht dem Mann, der sie aus seinem Leben ausradiert hatte.

Noch hatte sie nicht alle Bilder durchgescrollt, als das Wiehern ertönte. Sophie.

»Hi. Ich schaue mir nach und nach alles an. Seit Vaters Beerdigung vor fünf Jahren ist der Umbau leider nicht weitergegangen. Viele halbfertige Arbeiten rotten vor sich hin, auch wertvolles Material. Der Speicher und die alte Schmiede sind schon entkernt, doch der Innenausbau fehlt. Im Kartoffelhaus ist auch ein winziges Einzimmerapartment geplant, doch Dusche und Kochnische muss man erst einbauen. Gottseidank ist alles nur innen unfertig; das Wetter konnte dem nichts anhaben. Da gibt es eine Menge zu tun. Oma und Opa hatten sich mit dem Bankberater besprochen; für ihr Alter sei das Projekt zu groß, sagte er, es gab kein Geld mehr, also Baustopp. Ich habe mir sofort einen Termin geben lassen. Von Pferden und Zucht verstehe ich zwar nicht viel, aber ein Bauvorhaben einfach mittendrin liegen lassen – es ist kein Experte nötig, um zu sehen, dass hier Geld zum Fenster rausgeworfen wird. Herr Ebbinghaus muss mir das erklären.«

Neue Töne bei ihrer Tochter – so hatte Helena sie noch nie gehört. Ihr Job in dem Rehazentrum – ein paar Leute durchkneten und wieder auf die Beine bringen, spottete sie zuweilen selbst – und nette Wochenenden mit Freunden. Unkomplizierte Leichtigkeit, das war Sophies Leben bislang gewesen.

Das blau gerahmte Foto auf dem Sideboard zeigt sie am See mit Fiona, beide braungebrannt und mit diesem einstudierten Kussmund Cocktails in fantasievollen Farben durch dicke Herzchenstrohhalme schlürfend. Helena musste unwillkürlich schmunzeln. Sophie hatte eine eckige, breite Brille auf der Nase, obwohl ihre Augen hervorragend waren. Sie liebte große Brillen, sie würden ihrem Aussehen eine kantige Note geben, meinte sie, und kaufte welche mit Fensterglas. Nach solchen Cocktailnächten allerdings verbarg die Brille die schlimmsten Nachwirkungen. Spaßeshalber hießen sie deshalb Cocktailbrillen. Helena wollte dieses unbeschwerte Mädchen zurück und in Sicherheit wissen.

»Sophie, langsam. In erster Linie, wenn ich das richtig sehe, müssen Pferde versorgt, geritten, verkauft werden und die dazugehörige Landwirtschaft muss reibungslos klappen. Davon hast du so viel Ahnung wie ich von Quantenphysik. Wie willst du das schaffen? Du kannst nicht mal Traktor fahren.«

»Das ist das Wenigste! Ein großer steht hier rum, ein Hightechmodell wie dein Auto. Computersteuerung für alles.«

Helena fragte sich, ob wohl der kleine Fendt von 1980 noch existierte, mit dem sie ihre ersten holpernden Fahrversuche gemacht hatte. Immer mehr Details ploppten auf in ihrem Kopf, obwohl sie das Vergessen 25 Jahre lang eisern exerziert hatte.

»Und der Rest, Mutter, der wird schon laufen, lass mich mal machen!«

Ludys Worte. Helena sah ihn vor sich mit Hut und Stock bei Ebba am Kaffeetisch.

Sie schüttelte sich, stellte das iPhone auf laut und öffnete jetzt doch energisch den Rosé.

»Für die Pferde gibt es jemand. Er heißt Lars. Ist ganz ok, nur ein bisschen langsam. Mit seinen 20 Jahren wirkt er wie 13 und redet auch so. Irgendeine Behinderung. Gabi, seine Mutter, holt ihn und bringt ihn manchmal; dabei checkt sie offenbar auch die Maschinen durch. Ich habe das noch nicht alles durchschaut.«

»Gabi, sagst du? Wie alt ist die denn?« Helena war hellhörig geworden. »Ich würde sagen, ein paar Jahre jünger als du. Sieht so aus, als sei sie schon als junges Mädchen hier ein und ausgegangen.«

»Dann kenne ich sie. Und sie hat einen behinderten Sohn? Das wusste ich nicht«, doch im Stillen schalt sich Helena über die Äußerung, hatte sie doch selbst jeglichen Kontakt zu allen Personen in Söderumstedt abgebrochen damals, selbst zu Gabi, deren ganze Familie ihr in der schlimmsten Katastrophe hilfreich die Hand geboten hatte.

»Großmama sagt, er wird immer ein Kind bleiben und deshalb immer gut zu den Pferden sein. Ich habe eher den Eindruck, sie sind gut zu ihm. Die sind so vorsichtig, wenn er ungeschickt herumwerkelt, das solltest du sehen!«

Wenigstens ein Niklas und ein Heiner würden Sophie erspart bleiben. Wieder ein Backflash – warum nur? Warum funktionierte »Delete« nur bei Laptop und Smartphone, nicht bei der innerlichen Festplatte?

»Gestern bekam ich ein erstklassiges Hilfsangebot: von einem anderen Hof rief jemand an, ein gewisser Lennart Johannsen. Seine Großeltern seien befreundet gewesen mit Oma und Opa, aber beide schon verstorben. Seit Großvater krank ist, hat er Großmama hin und wieder unterstützt, gerade bei der Arbeit mit dem Hengst und den Züchtern. Ich habe nicht genau verstanden, worum es geht, doch er kennt sich aus. Wenn er mir helfen könne, werde er selbstverständlich mit Rat und Tat zur Seite stehen. Das ist doch nett und ein guter Anfang! Ich muss jetzt Schluss machen, Mum, ich melde mich.«

»Du kannst nicht einfach dortbleiben!«

»Nein, keine Sorge, ist bereits mit Fiona und meinem Chef besprochen. Morgen findet der Termin mit Herrn Ebbinghaus in der Bank statt, dann komme ich erstmal nach Hause. Fiona schaut sich schon nach einer neuen Mitbewohnerin um – dürfte kein Problem sein. Und mein Chef meint, ich kann ab Monatsende meinen Urlaub nehmen, wenn nötig mit unbezahltem Urlaub verlängern. Ich soll mir erst klar werden, ob ich diese Kehrtwende wirklich will. Jetzt tschüss!«

Helena versank in einem Strudel aus Ängsten und Schuldgefühlen. Lennart! Ausgerechnet Jan-Christians Sohn! Das Glas Rosé leerte sie in einem verzweifelten Zug.

Auf seine Hilfe angewiesen zu sein, musste Ebba furchtbar kränken.

***

In der Nacht zog ein Sturm auf und steigerte sich zum orkanartigen Unwetter. Großflächig verwandelte der Regen die Straßen in Bäche; frühmorgendliche Passanten hasteten in Regenmäntel gehüllt mit eingezogenem Kopf zu ihren Arbeitsstellen. Selbst langsam fahrende Autos verwandelt die großen Pfützen in Fontänen. Fußgänger, die bis dahin noch verschlafen waren, wachten spätestens jetzt auf.

Helena schlug müde und zerknittert die Bettdecke zurück, an der Mick bereits energisch zupfte. Auf dem Beistelltisch im Wohnzimmer fand sie die leere Weinflasche inmitten einer Wolke zerknüllter Taschentücher. Sie strich sich die Haare aus der Stirn und sah an sich hinab: nicht einen ihrer Satinpyjamas trug sie, sondern nur Unterwäsche – einzig dazu war sie noch fähig gewesen nach ihrem Ertrinken am Abend zuvor. Im Wein und in Erinnerungen.

À la recherche du temps perdu, würde Monsieur Laval sagen. Spöttisch verzog sie die Mundwinkel.

Und dieses Wetter. Keine Chance zu laufen gegen Kater und Kopfweh. Sie ertappte sich dabei, wie sie mit Bedauern an die Verabredung mit Xaver denken musste, die nun nicht stattfinden konnte. Zwei Espressi und eine ausgiebige heiße Dusche später wieherte das iPhone. Unbekannter Teilnehmer. Puh, um die Zeit?

Sie strich über das Display.

»Guten Morgen, Frau Frerichs. Xaver Loibl hier. Ich habe mir erlaubt die Daten auf Ihrer Karte zu nutzen wegen des geplanten Kaffees. Bei dem Wetter werde ich nicht da sein, Sie auch nicht, vermute ich?«

Helenas Halbschlafmodus war belebender Verblüffung gewichen.

»Nein, diese Nässe ist nicht verlockend. Danke, dass Sie deswegen extra anrufen.«

»Nun, um es zu präzisieren: ich hatte mich auf das Treffen gefreut und schlage vor, dass wir es am Wochenende nachholen. Vielleicht können wir nachmittags ein Stück aus der Stadt hinausfahren, ein Gartencafé finden?«

»Gern, Herr Loibl. Ich hole Sie ab am Parkeingang um 14 Uhr, in Ordnung?«