Wir finden uns am Fjord - Helga Ross - E-Book

Wir finden uns am Fjord E-Book

Helga Ross

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Beschreibung

Island, die Insel aus Feuer und Eis, ist Schauplatz dieser Geschichte eines erfolgsgewohnten Mannes, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt ist. Es mangelt ihm an nichts. Oder doch? Ein schrecklicher Unfall und eine schicksalhafte Begegnung reißen ihn aus seinem fanatischen Gewinnstreben heraus und konfrontieren ihn mit seiner Vergangenheit. Er muss erkennen, dass er die wirklich wichtigen Dinge im Leben versäumt hat und im Grunde nie der Mensch geworden ist, der er sein wollte. Wird er die Chance nutzen und neue Wege riskieren, um seine wahre Identität zu leben?

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Inhalt

Teil I

Teil II

Teil III

Epilog

Ich bedanke mich

Quellen

Teil I

»Geradeaus kann man nicht sehr weit kommen«

(St. Exupery, Der kleine Prinz)

Seyðisfjörður, Island

Ende August 2016

Es war, als wanderte er durch substanzlose Watte. Dichte Nebelschleier zogen in kaum wahrnehmbarer Bewegung über den Fjord herüber und hüllten alle Orientierungspunkte entlang des schmalen Wanderpfads am Südufer ein. Seine schweren Motorradstiefel boten zwar Schutz vor der Nässe, doch glitt er beständig auf dem schwarzen Geröll, den kantigen, feuchten Felsbrocken aus und verlor mehr als einmal beinahe das Gleichgewicht. Gurgelnde Bachläufe und Rinnsale, die sich von den Wasserfällen aus ins Meer ergossen, tauchten völlig überraschend in der weißen Undurchdringlichkeit auf und erleichterten die Wanderung nicht.

Spöttisch hatte er über die Warnhinweise gleich hinter dem Ortsausgang von Seyðisfjörður gelächelt.

Is somebody watching while you cross? Use safety line. Wear warm clothing in bright colors.

Zunächst war dort die Sicht gut gewesen und als erfahrenem Bergsteiger schien ihm der ebene Wanderweg zur Landspitze nichts als ein Spaziergang. So hatte er seine BMW R1200 GS Adventure –er war sehr stolz auf seine geländegängige Reisemaschine – auf einem einsamen Platz hinter den letzten Lagerhallen, der eine Art Vorratsgelände für Kies und Bauschutt sein musste, abgestellt und war gelassen losgelaufen. Immerhin hatte er die Neonwarnweste anbehalten. Die Zeit bis zum Abflug musste irgendwie genutzt werden. Der Linienflug der Air Iceland 331 von Egilsstaðir nach Reykjavik Domestic würde erst um 13:40 starten. Fünf Stunden einfach warten? Eine Zumutung.

Ebenso wie diese abrupte Unterbrechung seiner Bike-Tour durch Island. Maximilians Mail, schnörkellos wie immer, informierte nur, seine Anwesenheit in der Firma sei für ein Kompetenz-Meeting in der Führungsetage umgehend erforderlich. Am späten Abend würde er in München landen.

Geräuschlos schob sich die Nebelwand bis an den rechts von ihm aufragenden Felsen und wurde undurchdringlicher bei jedem Schritt. Düster kreischten ein paar Wasservögel auf, als er ihre Ruhe störte. Allmählich schwand seine Selbstsicherheit und er spürte eine stumme, allgewaltige Atmosphäre von Spannung.

Skálanes, Aussichtspunkt und Raststätte, sollte gemütlich in einer Stunde Fußmarsch zu erreichen sein, hatte die freundliche Bedienung gemeint, als er im Kaffi Lara an der Nordurgata nahe dem Hafen einen starken Kaffee getrunken hatte. Kaum nahm er die einladende Einrichtung des Lokals wahr. Auf einer einfach gezimmerten, auf Hochglanz polierten Holztheke waren verschiedene Kuchen appetitlich angerichtet, gekrönt von einer altmodisch verschnörkelten, weißen Gebäcketagère. Mit einem untrüglichen Gefühl für Details hatte die Wirtin einzelne blaulila Lupinenblüten in alten Gläsern als Tischschmuck gewählt. Eine rustikale, dunkelbraune Treppe führte ins Obergeschoss. Er jedoch zeigte nicht einmal für die gemütliche Gartenseite Interesse, wo einfache Korbmöbel, liebevoll mit pastellfarbenen Kissen ausgestattet, zum Verweilen einluden. Andere hätten hier in Ruhe die Ankunft der riesigen Fähre von Dänemark beobachtet. Mit einem schnellen Blick hatte er lediglich die Aussicht zur Seeseite überflogen. Sie sei berühmt, da The Secret Life of Walter Mitty teilweise hier gedreht wurde, auch das erfuhr er noch. Nun, es war ihm bekannt, dass Island dramaturgisch nutzbar war, sehr gewinnbringend außerdem. Düsterkeit der Felsen, der Lavafelder, der dumpfen Moosfarben im Kontrast zu strahlend blauen warmen Quellen, kreisrund von Natur aus, Gletscherabbrüchen in majestätischer Größe, helltürkis bis opalfarben glitzernd – dazu die aktiven Vulkane und Geysire – perfekte Location für die derzeit trendigen Drehbücher der mythologischen Richtung im Fantasy-Genre. Aber hier die bonbonfarbenen Häuschen im Künstlerhafenstädtchen? Diese ganze Postkartenidylle mit den bunten Holzhäusern und Fischerbooten im Hafen stieß ihn eher ab. Unbeeindruckt von allem war er auf sein Motorrad gestiegen und den Strandweg so weit gefahren, bis die riesigen Schlaglöcher und Geröllbrocken im Schotterbelag ihn gezwungen hatten zu Fuß weiter zu gehen.

Nein, eine Stunde sicher nicht, die lag längst hinter ihm und nur weiße Watte vor ihm. Sollte er einfach umkehren? Er wunderte sich, dass er auch nur den Gedanken daran aufkommen ließ. Umkehren war in seinem bisherigen Leben stets dem Aufgeben gleich gekommen und Aufgeben war keine Option.

In dieser grauen, schallenden Stille wurden die Fragen in ihm erneut laut, welche immer häufiger seit dem Debakel mit der Firma Noduleglobe.inc brennende Spuren in sein Lebenskonzept ritzten. Er hasste das. Diese Zweifel. Diese Unsicherheit.

Klare Strukturen und Berechnungen, die zielführend den Marktanteil eines Unternehmens stärken und die Gewinnspanne optimieren würden; termingerechte Vorschläge; kompromisslose Umsetzung; diese planbaren Projekte waren seine Welt. Hatte er einen solchen Auftrag erfolgreich zu Ende gebracht, erfüllte es ihn jedes Mal mit Befriedigung. So liebte er sein Leben. Denn die Herausforderung, die knisternde Spannung diffiziler Verhandlungsführung und der Mut zu unangenehmen, aber begeisternden Veränderungen – das war Erotik pur.

Der Weg schlängelte sich jetzt durch eine Furt. Waterproof AWDs only stand auf dem Warnschild. Die Fahrspur verschwand gänzlich zwischen kantigen Felsbrocken. Sehr sorgfältig zu wählende Schritte über kleine, beinahe ordentlich hin drapierte Mooskissen mit Resten blauer Lupinen erforderten seine ganze Aufmerksamkeit. Er schüttelte den Kopf, denn solche Vorsichtsmaßnahmen auf einem eben auf Meereshöhe verlaufenden Wanderweg erschienen ihm lächerlich. Im Hochgebirge, über Gletscher, ja. Aber hier? In Kombination mit dem Nebel ermüdete ihn der Weg trotz Training und bester Gesundheit.

Wieder auf sich zurück geworfen. Allein. Der Zweifel fraß sich tief in sein Bewusstsein. Wozu führen deine rigorosen Entscheidungen? Denkst du an die Familien der Wegrationalisierten? Warum konnte David Pearce seinen Sohn nicht operieren lassen? Und Carolin hatte ihren Vater wieder aus der gemütlichen Seniorenresidenz abmelden müssen. Marlen, allein erziehend und noch nicht drei Monate im Pharmakonzern beschäftigt als billige Laborhelferin, oft wegen des Kindes nicht da – weg mit ihr. Wie sie ihr Kind weiter groß zieht, ist ihre Sache.

War es die Landschaft, die ihn dazu buchstäblich zwang? Abweisend und in sich ruhend erlaubte die Natur ihm herablassend seine Fähigkeiten mit den ihren zu messen, doch sie wirkte siegesbewusst und überdauernd.

Ein Biber, der eine Betonwand durchbeißen will, so kam er sich hier vor. Und das widerstrebte ihm zutiefst. Er war nie den Elementen ausgeliefert gewesen, wusste genau, wie man mit ihnen umgeht und hatte sich immer durchgekämpft.

Obwohl er sich solches Mantra-artig vorsagte, durchdrang ihn die Düsterkeit beständig tiefer, er sog sie buchstäblich in sich auf. Die Felsen und schroff abfallenden Hügel zu seiner Rechten schienen in den unzähligen Wasserfällen Botschaften auszusenden; das Meer zu seiner Linken lag unsichtbar, glatt und schweigend. Zeitalter schienen ihre Bahn zu ziehen, Geheimnisse? Unsichtbare Kräfte?

Er schalt sich selbst. Nie würde er jene mystischen Stimmungen gelten lassen und geheime Vermächtnisse auch nur in Erwägung ziehen. Die Bewohner Islands mochten das tun, die Elfen seien ihnen überlassen. Manche glaubten vielleicht an einen tieferen Sinn, aber die Mehrzahl führte Scharen von Touristen damit clever an der Nase herum und verdiente gut.

Dabei hätte er wachsam sein müssen. Schon einmal war er bei einem äußerst vielversprechenden Geschäft an der unsichtbaren Welt gescheitert damals in der Bretagne. Diana hatte noch nicht zum Firmenteam gehört, sonst wäre es vermutlich besser für ihn ausgegangen. Die rigorose Kollegin mit ihrem strengen, kompromisslosen Auftreten wischte jegliche Gegenstimmen normalerweise vom Tisch. Die Übernahme jener historischen Brauerei südwestlich von Rennes durch ein internationales Brauereikonsortium war ihm nicht gelungen. Zu sehr hatte sich die stoische Verwurzelung der Bretonen in ihren Mythen seiner Welt der Zahlen und Statistiken verwehrt. Gewinnoptimierung gegen den Wald von Brocéliande? Fusion statt Vivianes Liebe zu Merlin? Die unsichtbare Welt hatte damals gewonnen.

Hinter der nächsten Wegbiegung erhob sich eine Ruine aus grauem, grob behauenem Naturstein auf einem kargen Hügel. Ein kleines Häuschen mochte es gewesen sein, ein Fischerhaus oder ärmliches Bauernhaus. Der Nebel zog dicht über den Giebel hin, wo einmal ein Holzdach gewesen sein musste, und schien durch die hohlen Fensterlöcher zu gleiten. Nur mit viel Phantasie konnte er sich vorstellen, dass diese Fjordküste im Sonnenschein wirklich malerisch war.

Ein dumpfes Geräusch durchschnitt die Ruhe. Weder Vögel noch Wasser klangen so. Zunächst glaubte er sich getäuscht zu haben. Doch als er weiter schritt, vernahm er es noch einige Male. Der undefinierbare Lärm schwoll an und verebbte schnell wieder. Dabei konnte keine eindeutige Richtung definiert werden, aus der er zu hören war.

Das ärgerte ihn wieder ungemein. Er war nicht ängstlich, doch er brauchte Klarheit. Ein Truck in der Furt? Ein schwacher Schiffsmotor? Ganz undeutlich meinte er Stimmen zu hören, aber er war sich nicht sicher.

Kurz nach seinem Vertragsbruch mit Noduleglobe. inc und dem Zerwürfnis mit Diana hatte er bereits eine ähnlich unwirkliche Situation erlebt; während eines Staus im Tunnel zum Flughafen waren zwei schnittige Bikes bedrohlich nahe an seinem Mietwagen vorbeigerast. Die Fahrer hatten üble Flüche gezischt und waren unerkannt verschwunden. Nur er schien die Situation wahrgenommen zu haben.

Bereits Charlott, seine Exfrau, hatte ihn unausweichlich von einer gefühlsbetonten, faktisch nicht belegbaren Weltsicht fern gehalten. Businessplan. Rationalität. Passender Outfit für ihn. Umso weniger verständlich waren seine sonderbaren Stimmungen derzeit.

Zügiger wanderte er weiter und nach mehr als zwei Stunden Zickzack über zerklüftete Felsbrocken, durch schmierige Matschlöcher konnte er endlich schemenhaft die Umrisse von Skálanes ausmachen. Noch eine kleine Kurve, ein Holzbrett über einen Graben und es war geschafft.

Typisch für die Insel aus Feuer und Eis änderte sich das Wetter plötzlich und ohne Vorankündigung. Der Nebel wich zurück. Zwar blieb der Himmel bedeckt, doch schien die Wolkendecke durchsichtig; eine unwirkliche, durchscheinende Helligkeit tauchte die Szenerie in weiches Licht. Ein lockendes Leuchten durchdrang diesen Himmel, der sich, gesäumt von den graugrünen, hügeligen Landspitzen rechts und links des Fjords im Meer verlor.

Diesmal achtete er tatsächlich darauf, wie anschmiegsam einladend sich das Rasthaus mit seinen falunroten Holzwänden, weißlackierten Fensterrahmen und dem strahlend weißen Dach inmitten des kargen Steppenbewuchses ausnahm. Von einer Holzplankenterrasse aus blickte er sehnsüchtig durch die bis zum Boden reichenden Fenster ins Innere und lechzte nach einem Kaffee und einer warmen Mahlzeit.

Was die brünette Bedienung im Kaffi Lara verschwiegen hatte: die Öffnungszeiten richteten sich ganz nach Lust und Laune des Wirtes und der hatte offensichtlich heute wegen des Wetters nicht mit Gästen gerechnet. Das knappe Schild «Sorry, we are closed for the weekend« erboste ihn. Zornig und merklich unterzuckert stürmte er blindlings noch ein paar Meter weiter an den zwergenhaft winzigen roten Schuppen vorbei bis zum Küstenrand, der einige Meter unterhalb lag. Noch nass und glitschig bildete die Felsgeröllformation einen trügerischen Untergrund. War das röchelnde Schnaufen sein eigener Atem oder gab es noch jemanden? Er hatte in seiner Wut nicht nach links und rechts geschaut und wandte sich abrupt um. Unvorbereitet traf ihn der Schlag.

Mit zischendem Poltern lösten sich Geröllbrocken unter seinen Schritten. Er glitt aus, stürzte kopfüber, schrammte an den spitzen Vorsprüngen der Felsen entlang und überschlug sich, bis ihn eine rettende schwarze Stille von allen Schmerzen befreite.

Fähre Dänemark-Island

kurz vor Seyðisfjörður

Ende August 2016

Der Aufbruch in Hirtshals drei Tage zuvor war bei stürmischer See kaum machbar gewesen. Beinahe sah sich der erfahrene Kapitän der Norröna zu einer Verlegung des Reisebeginns nach Frederikshaven gezwungen.

Die beeindruckende Fähre der Smyril-Line erhob sich majestätisch an der äußeren Hafenmole. Gezielt konstruiert für den Einsatz im Nordatlantik wirkte sie wie eine gewaltige weiße Festung, welcher sich die dagegen winzig aussehenden Fahrzeuge fraglos anvertrauen konnten.

Trotz des Wetters plapperte Finn in lebhafter Vorfreude ohne Pause.

»Papa, das ist der Wahnsinn! Auf so einem Riesenschiff waren wir noch nie! Mama, schau mal, das sind mindestens tausend Autos, und das Schiff geht dann nicht unter?« sein weißblonder Haarschopf wurde vom stürmischen Wind zerzaust, die Gischt katapultierte immer neue, mächtigere Schaumkronen über die Kaimauer und die Einfahrt in den Bauch des Ozeanriesen pausierte von Zeit zu Zeit, wenn das Rollen der Wellen gefährlich wurde.

»Nein, du brauchst keine Angst zu haben, das Schiff hat genug Kraft. Es bringt uns sicher nach Island.« Liam legte schützend den rechten Arm um seinen Sohn. Der schon etwas in die Jahre gekommene Pajero ächzte und quietschte ein wenig, während Anna sicher in die Spur Nr. 5 steuerte, die der Lotse ihnen zugewiesen hatte. Bis unters Dach vollgestopft mit Gepäck bot das Auto kaum Platz für die Familie. Finn ereiferte sich sogleich: »Ich hab doch keine Angst, Papa, ich find es nur so cool, alles passt da rein, auch die Sattelschlepper und die Busse da drüben. Alle schwimmen mit.«

Finn reiste häufig mit seinen Eltern, war in der halben Welt herumgekommen, weil sie beruflich unterwegs waren, ihn aber bei sich haben wollten. Nur die letzten beiden Jahre hatte er bei Oma Karin in dem alten Backsteinhaus gelebt, weil in diesem Fall die Tätigkeiten von Liam und Anna zu lange dauerten und nicht ungefährlich waren. Beide beschäftigten sich leidenschaftlich mit der Erforschung der Meeresverschmutzung und engagierten sich persönlich mit allen zu Gebote stehenden Mitteln gegen die kaum mehr zu abzuwendende Plastikvergiftung.

Beim letzten Forschungsauftrag hatten sie sich lange im Hochseebereich des Südpazifik um Hawai aufgehalten. Immer lauter wurde dort das Drängen großer Unternehmen, in der Tiefsee Manganvorkommen zu fördern. Doch die Auswirkungen auf das Ökosystem machten den Meeresbiologen und Umweltschützern große Sorgen. Bereits der Plastikmüll war für Hawai zur kaum zu bewältigenden Bedrohung geworden. Weitere massive Zerstörung galt es zu verhindern.

Omas Haus war der gemütlichere Ort gewesen, um die Grundschule zu absolvieren. Dieses Haus war wie ein Zelt, sagte Finn immer, weil das Dach an den Seiten so tief herunter reichte. Für die ganze Familie öffnete sich die kräftig blau gestrichene Holzflügeltür am Eingang, die als zusätzlicher Windschutz vor der Kassettenglastür wie Fensterläden nach außen ging, zu einem warmen Willkommen. Sie spiegelte das Wesen der Bewohnerin.

»Immer herein mit euch«, rief sie jedes Mal, auch wenn der Besuch völlig überraschend auftauchte.

Farben in leuchtend frischen Tönen und wirkungsvoll verteilter Trödel, Souvenirs und Antiquitäten umgaben jeden Besucher mit dem individuellen Flair von Karins Kreativität. Man wurde mitgerissen in ihre Sehnsuchtswelt von Nordmeer und Mythen, die sich vor allem in ihren Bildern widerspiegelte. Der Junge konnte den Zauber in diesem Haus immer spüren.

Jetzt jedoch durfte Finn ein halbes Jahr mit nach Island, deshalb auch der völlig überladene Wagen. »Diese Fähre, Mama, wenn wir drei Tage Schiff fahren, was machen wir die ganze Zeit?« besorgt prüfte Finn, ob die Kajüte einen Fernseher beherbergte. Anna lachte nur. »Komm, wir erkunden mal die Decks, du wirst staunen«. Das Schiff schien Finn unendlich lang, viel länger als Omas Garten, wo er immer mit dem Hund um die Wette rannte.

»Da ist eine runde, riesengroße Badewanne, Mama, und dort drüben noch eine.«

»Sie heißen Hot Pots, Finn, und man kann darin auch bei Regen und Kälte sitzen und sich wunderbar aufwärmen. In Island gibt es so was auch ganz echt draußen in den Bergen.« »Aber rein sitzen ist ziemlich öde, lieber schwimmen.«

Ungläubig stieß Finn im nächsten Stockwerk auf einen Swimming Pool und neben der Cafeteria auf einen farbenfrohen, freundlichen Kinderspielraum.

»Da will ich überall hin, und ihr müsst auch mit! Komm, wir holen gleich die Schwimmsachen aus dem Auto.« Überschäumend vor Begeisterung wollte Finn nicht einmal das Ablegen der Norröna abwarten. Anna folgte ihm lachend und nahm doch mit einer Spur von schlechtem Gewissen wahr, dass Finn sie beide vermisst hatte.

Beim Zwischenstopp auf den Faröer Inseln verzichteten sie auf den dreitägigen Landgang, weil sie schnellstmöglich in Island ihren neuen Wirkungsbereich kennen lernen wollten.

Die drei Tage vergingen wie im Flug; als dann tatsächlich zwischen Faröer und Island der große Wal auftauchte und Wasserfontänen in die Luft schleuderte, strahlte Finn und drückte sich fest an Liam und Anna.

Westlich von Tórshavn, dem Heimathafen der Norröna, hatte sich das Wetter etwas beruhigt. Als sich das große Schiff dem Seyðisfjörður Fjord näherte, wagten sich einzelne Sonnenstrahlen durch die milchig weiße Hochnebeldecke. Liam beobachtete mit seinem Sohn vom Oberdeck aus die zu beiden Seiten aufragenden Felsabhänge.

»Schau, dort siehst du viele verschiedene Wasservögel, die in den Felsen brüten. Jetzt ist die Hauptbrutzeit schon vorüber, die Jungen werden flügge und lernen sich selbst zu versorgen. Mama wird die Papageientaucher näher beobachten in den nächsten Wochen. Ich hab dir doch schon Bilder gezeigt, weißt du noch, wie sie aussehen?«

»Klar!« Finn hob das Kinn und gebärdete sich wie ein Fachmann. Liam schmunzelte über diese Ernsthaftigkeit.

»Sie sind am Bauch weiß und oben schwarz und haben einen scharfen, orangen Schnabel. Und sie sind nicht immer so, manchmal picken sie sich die Federn aus. Mama hat gesagt, das heißt dann Mäuse, aber ich weiß nicht warum.«

Jetzt lachte Liam lauthals. »Mausern heißt das, mein Sohn, nicht Mäuse. Aber es stimmt und die Farbe des Schnabels stimmt auch.«

»Schau mal, Papa, da ist einer, glaub ich, genau so orange wie auf dem Bild!« Finn deutete aufgeregt Richtung südliches Ufer des Fjordeingangs.

»Nein Finn, das kann nicht sein. Jetzt ist doch die Brutzeit schon vorbei und sie sind viel zu klein, diese Schnäbel. Die könntest du von hier aus ohne Fernglas nicht erkennen.«

»Da ist aber doch einer«, beharrte der Junge und wandte den Blick nicht von den Klippen ab. Liam spähte angestrengt und dann sah auch er den neon-orangefarbenen Fleck. Es war kein Boot, sondern es hing zwischen Felsen am Flutsaum.

»Das wird eine alte Boje oder eine Plastiktonne sein, nichts Besonderes«. Finn schmollte. »Papa, dann hol dein Fernglas, ich will wissen, was es ist!«

Zwar war es beinahe zu unhandlich für den Zehnjährigen, doch er stellte es fachkundig auf seine Größe ein und suchte angestrengt nach der Stelle.

»Da liegt jemand, schau!«

Liam hielt dies zunächst für Phantasterei, doch als er sich vergewisserte, erkannte auch er deutlich die Umrisse eines Menschen, zusammengekrümmt und reglos.

Nur wenige Minuten später benachrichtigte der Kapitän die Rettungsstation in Seyðisfjörðurmit genauen Angaben zur Position, nachdem auch er den Körper gesehen und festgestellt hatte, dass keine Hilfe dort in der Nähe war.

Glücklicherweise lag das Seenotrettungsboot Ingibjörg in Seyðisfjörður vor Anker und war nicht draußen auf See im Einsatz. Die freiwilligen Rettungskräfte machten das schnittige Boot mit blauem Rumpf und leuchtend orangefarbenem Aufbau sofort startklar. Ein eingespieltes Team kannte die Abläufe im Schlaf.

Gleichzeitig brach ein Notarzt mit seinem Helfer in einem wasserdicht ausgestatteten Geländewagen auf dem Landweg zur südlichen Fjordspitze auf. Wer war so dumm gewesen an dem Morgen bei Nässe und dichtem Nebel nach Skálanes zu wandern? Rumpelnd überwand der Wagen Bachläufe und Felsbrocken, nur langsames Vorankommen war möglich. Boot und Fahrzeug hielten ständig Funkkontakt. Was würden sie vorfinden?

Die Norröna glitt derweilen majestätisch langsam, fast geräuschlos zum Hafen von Seyðisfjörður. Bis alle Autos von Bord waren, verging einige Zeit. Liam und Anna waren unter den letzten, die von der Fähre rollten. Voller Ungeduld wollte der Junge wissen, was nun mit der Person geschehen sei, die er entdeckt hatte.

Eigentlich hatten sie die Reise sofort nach Egilsstaðir fortsetzen wollen, doch Finn ließ ihnen keine Ruhe. Auch sie selbst machten sich Sorgen um den Menschen, obwohl sie ihn überhaupt nicht kannten.

Im Büro der Seenotrettung teilte man ihnen mit, dass sie warten könnten, jedoch keine detaillierten Auskünfte bekämen, wenn sie nicht Angehörige seien.

Der Rettungsmannschaft war es gelungen das Unfallopfer schnell zu orten und zu bergen. Es handelte sich um einen Mann, etwa Mitte bis Ende fünfzig, der gekrümmt und verdreht unterhalb eines Felsens lag. Der Notarzt stellte noch einen sehr schwachen Puls fest, doch musste die Person zahlreiche Knochenbrüche und auch innere Verletzungen haben. Die linke Gesichtshälfte war von den spitzen, gezackten Kanten der Klippe völlig aufgerissen und bis zur Unkenntlichkeit entstellt – kein schöner Anblick. Das Rettungsboot brachte den Schwerverletzten zum Hafen, wo bereits der Krankenwagen wartete.

So sehr Finn auch drängte, sie durften den Verletzten nicht sehen. Sie erfuhren lediglich, dass der Mann noch am Leben war und nach Egilsstaðir zur Erstversorgung ins Ärztehaus gebracht werden sollte. Der begleitende Notarzt blickte Finn ernst an. »Wenn er durchkommt, hat er sein Leben dir zu verdanken. Das hast du wirklich toll gemacht.«

Seyðisfjörður,Island,

am selben Abend

»Schnell, Sauerstoff, großes Labor, Blutgruppe bestimmen, der Patient hat sehr viel Blut verloren, tiefe äußerliche Wunden im Gesichts-Hals-Bereich. Nicht ansprechbar, Gliedmaßen kaum beweglich«.

Die präzisen Angaben des Notarztes über Funk wurden mit sorgenvollen Gesichtern im Ärztehaus in Egilsstaðir quittiert. Nur ein Teil der Maßnahmen konnte durchgeführt werden.

»Kollege, wir sind hier nicht ausgerüstet für solch schwere Verletzungen. Chirurgie, Orthopädie oder Neurologie sind nur in der Klinik möglich. Bringt ihn lieber gleich dorthin.«

»Die nächste ist in Neskaupstaður – mindestens eine Stunde Fahrt bei Höchstgeschwindigkeit und guter Sicht.«

»Aber dann gibt es bis Akureyri oder Reykjavik gar keine mehr – los, wir fahren sofort.«

Blaulicht und Sirene kündigten äußerste Dringlichkeit an. Zum Glück war die Straße nach Seyðisfjörður geteert, denn den Fährhafen nutzen nicht nur PKWs, sondern auch Sattelschlepper, Busse und Großtransporter. In Egilsstaðir bog der Wagen mit quietschenden Reifen auf die R1 Richtung Süden ab und dann auf die R92 über den Pass hinunter nach Reyðdarfjörðdur, immer am Fjordufer entlang.

Die Rettungsmannschaft musste mit äußerster Anstrengung zusammenarbeiten, um die Vitalfunktionen des Unfallopfers zu erhalten. Kaum stand der Wagen, stürzten Helfer herbei, Schläuche und Infusionsflaschen, Sauerstoffmaske, EKG an sich reißend schoben sie die Trage in Windeseile in den Notversorgungsraum.

Das Gesicht wölbte sich grauenvoll. Die eine Hälfte leichenblass, die andere bis hinters linke Ohr nur ein blutiger, zerfetzter Fleischkrater. Eine junge Schwesternschülerin erlag um ein Haar einer Ohnmacht, gerade noch vermochte sie sich an einem Pfeiler zu fangen. Grün im Gesicht bändigte sie eilig ihre kupferfarbene Lockenpracht wieder mit einem Haargummi. Dieser Dienst würde nicht so schnell aus ihrem Gedächtnis verschwinden. Im OP nach dem Röntgen schlüpfte sie umgehend in sterile Kleidung, nahm Mundschutz und Handschuhe, um zusammen mit der Oberschwester nun zu assistieren. »Klemme«, stieß der Chefarzt hervor, »Tupfer, schnell. Wie ist der Druck?«

Für ihn und den Anästhesisten bedeutete die Versorgung beinahe schon Routine. Wie oft kam es zu Unfällen hier im rauen, einsamen und gefährlichen Ostteil Islands! Meist verschätzten sich abenteuerlustige Outdoor-Aktivisten mit dem Wetter. Der rasante Wechsel forderte jedes Jahr Tribut. Ein Schweizer war in diesem Jahr bereits tödlich verunglückt im Bergland um die Ostfjorde herum.

Gezielt und fachkundig liefen erste chirurgische Eingriffe im Gesicht ab.

»Wir werden nicht umhin kommen, Hauttransplantationen vorzunehmen, wenn die tiefere Schicht abgeheilt ist.« Stumm nickte die Oberschwester.

»Die Infektionsgefahr ist sehr groß. NPWT?« So der Vorschlag des Chefarztes. Der Anästhesist war sich völlig im Klaren über die gefährlichen, ja lebensgefährlichen Folgen einer Sepsis; die moderne Methode der Wundheilung mit Unterdruck könnte eine Chance für das Opfer sein. Er stellte daher die Frage zurück, ob die komplizierte Schlüsselbeinfraktur ebenfalls sofort verschraubt werden sollte. Die Wundheilung hatte Vorrang.

»Wir lassen ihn zunächst stabil werden, Kreislauf und Atmung müssen erst selbständig funktionieren, dann gehen wir die Frakturen an. Er hat wahnsinnig Glück gehabt. Innere Organe sind unverletzt, die Rippen- und Schlüsselbeinbrüche und den mehrfach gebrochenen Knöchel wird er schmerzhaft spüren, aber das schwere Schädel-Hirntrauma hat keine Hirnblutung verursacht.«

Die Oberschwester bedeutete ihrer Schwesternschülerin, Schwammmaterial, Gaze, Folie und VAC-Pumpe samt sterilem Drainageschlauch bereit zu legen. In mehreren Operationen würde diese Vorrichtung zur Erzeugung eines Unterdrucks in die hoffentlich immer kleiner werdende Wunde eingebaut, um eine schrittweise Heilung ohne Blutvergiftung zu erreichen. Geduld und ein starker Stoffwechsel würden unabdingbar notwendig sein.

Nach zwei Stunden äußerster Konzentration und Fingerfertigkeit überließ das Behandlungsteam dem Pfleger die Intensivüberwachung.

»Haben Sie die Daten bereits aufgenommen?« mit einem strengen Unterton richtete die Oberschwester diese Frage an die junge Kollegin. »Nein«, flüsterte die, auf eine unausweichliche Ermahnung gefasst. Doch der Pfleger unterbrach: »Es wurden keinerlei Papiere bei ihm gefunden, weder Kreditkarte noch Handy noch Ausweis oder ähnliches. Vermutlich ins Meer gespült. Er hat nicht einen persönlichen Gegenstand bei sich, kein Foto, kein Ticket, nicht einmal Kaugummis oder dergleichen. Die Rettungsmannschaft hat auch kein Fahrzeug gefunden. Der Kleidung nach müsste es ein Motorrad gewesen sein, doch die Suche war ergebnislos.«

»Gut, dann warten wir, bis er aufwacht, und fragen ihn dann selbst.« Bei diesen Worten der Schwester runzelte der Chefarzt die Stirn, sagte aber nichts. Er vermutete, dass dieser Patient noch eine ganze Weile nicht aufwachen würde und das war gut so.

Anna, Liam und Finn hatten inzwischen wie ausgemacht bei der Ferienhausverwaltung den Schlüssel zu einem gemieteten Ferienhaus abgeholt, das südlich vom Ortskern Egilsstaðirs lag, kurz bevor die Ringstraße und die Landstraße Nr. 92 nach Neskaupstaður sich teilen.

Finn wirbelte hin- und hergerissen durch das neue Zuhause. Sein blonder Schopf und seine wasserblauen Augen sprühten vor Ungestüm. Gleichzeitig zog sich seine Stirn immer wieder zusammen.

»Mum, ein hot pot im Garten, hast du das gewusst? Und Mum, wie geht’s dem Mann, er kann sicher noch nicht aus dem Krankenhaus, oder?«

»Dad, wie können wir wissen, ob er noch lebt? Mensch, eine Terrasse rund ums ganze Haus. Wo schlafe ich?«.

Anna nahm ihn ganz fest in den Arm, um dieses Karussell der Gedanken anzuhalten.

»Du hast eine einmalige Auswahl: Hier ist das Kinderzimmer mit Stockwerkbetten; oben oder unten also. Oder«, und damit betrat sie mit ihm das großzügige, nach oben offene Wohnzimmer, »du kannst hier über diese Strickleiter in den Giebel klettern und in einem Matratzenlager in der Dachgaube übernachten. Das ist aber nur etwas für ganz mutige Kletterkinder«.

Finn betrachtete die luftige Höhe des Giebels. »Ich bin mutig, Mama, klaro, aber darf Terry mit oben schlafen?« Der treuherzige Blick rührte Anna. Terry Hedge – ein Talismann seit ihrer Kindheit – hatte beinahe kein Plüsch mehr am Körper. Abgegriffen und ein wenig schmuddelig war er Finn wichtiger als alle anderen Spielsachen zusammen!

Wo mochte Nikki sein, Terrys Freundin?

Liam versprach seinem Sohn, am nächsten Tag mit ihm zum Krankenhaus zu fahren. Kurz darauf schlief der Kleine erschöpft von den unglaublichen Erlebnissen des Tages ein, Terry an die Wange geschmiegt.

Krankenhaus Neskaupstaður, Island

einige Tage später

Die Schwesternschülerin schüttelt die Kissen auf und schließt das Fenster, das zum Lüften geöffnet worden ist. Ihre rote Lockenmähne hat sie an diesem Tag mit einem grünen Schal zurückgebunden.

»Schlaf gut heute Nacht«, damit verlässt sie das Zimmer. Im Stillen nennt sie ihn Bjarg, Felsen, dort wo man ihn gefunden hat. Denn noch weiß man nichts über ihn, keinen Namen, kein Alter, kein Herkunftsland.

Er spürt noch immer nichts Fassbares in seiner Leintuch-Welt des Krankenhausbettes, die ihn nur schemenhaft umgibt.

Rote Locken, mit grünem Tuch gebändigt, ein Traumbild der Erinnerung entsteht. Milde Schleierwolken, eine ganz sanft über dem Münsterturm versinkende Abendsonne. Genau vor ihm, am Ende des Pfades rund um den Berg an der kleinen Steinbrüstung, wo sich ein Panoramablick über die Altstadt bietet, lehnt sie. In ein lebhaftes Gespräch mit dem jungen Mann neben ihr vertieft deutet sie bald hierhin, bald dorthin und steht keinen Augenblick still. Er verharrt betroffen, ist elektrisiert, als strahle die gesamte Lebensenergie der Welt aus diesem Mädchen.

»Du kannst diese Farben trinken, Daland! Niemand findet Worte dafür, sie durchdringen dich einfach.« Begeisterung tanzt in ihren schwebend leichten Bewegungen, die Regenbogenfarben ihres Flatterkleides versprühen Mut und Sorglosigkeit gleichermaßen.

Noch ein paar andere junge Menschen sieht er rechts und links an der Brüstung lehnen. Einer trägt die Haare lang mit Stirnband, ein anderer fällt durch ein übergroßes Che Guevara T–Shirt auf. Das Mädchen auf der linken Seite hat schulterlanges, pechschwarzes Haar mit einem dichten Pony. Ihre geblümten Schlaghosen scheinen frech zu winken.

Glasklar erlebt er die Szene, als sei sie gegenwärtig.

Lachend reicht der Langhaarige mit der Gitarre einen Joint in die Runde und schlägt gleichzeitig ein paar Akkorde an. Das Mädchen mit den Kupferhaaren stimmt die Melodie eines Oldies dazu an und wiegt sich im Rhythmus. Ihre Stimme lässt ihn alles vergessen, sie umhüllt ihn, entrückt ihn in ein anderes Universum.

»If you’re going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair«, dabei bricht sie eine Blüte vom Hahnenfuß im unkrautüberwucherten Gemäuer ab und schiebt sie behutsam unter das grüne Tuch.

Sie sieht ihn noch immer reglos stehen und staunen und lädt ihn mit einem lächelnden Kopfnicken ein … »you’re gonna meet some gentle people there … people in motion« …

Er ist eiskalt, starr, unfähig, bis sie sich zur Musik wiegend auf ihn zu bewegt und bei der Hand fasst … »such a strange vibration«.

Wieder umhüllt ihn die schweigende Nacht.

»Komm rein, es ist so total toll!« Wieder locken Stimme und Hand, wieder das grüne Tuch. Und er fühlt Wasser über die Füße plätschern, das die Hitze auf dem Münsterplatz und in seinem Körper wohltuend mildert.

»Wie schaust du wieder drein, mein ernsthafter Statistiker«, ihre spöttisch neckischen Worte lassen seine Bedenken, sein rationales Abwägen von Regeln und Sitten widerstandlos dahin schmelzen. In enger Umarmung plantschen sie durch die kleinen Wasserläufe zwischen Straße und Bürgersteig, welche der Altstadt ein ganz besonderes, unverwechselbares Flair verleihen.

Er ist ein Kind, ausgelassen und unbeschwert durch sie.

Sie ist eine Zauberin.

Wiederum versinkt er in dunkler Nacht.

»Dieses Blau des Himmels, es gelingt mir nicht. Lass uns versuchen, es gemeinsam zu finden.« Zwischen Tuben, Flaschen, wirr durcheinander stehenden Leinwänden und unüberschaubar vielen Arten von Pinseln, Spachteln, Bürsten verstreicht sie sehr ernst und konzentriert Blautöne auf einer Palette. Seine Finger hat sie in Farbtöpfe gesteckt und prüft nun, als er sie über ein weißes Papier streichen soll, welches Ergebnis diese Mischtechnik bringt.

»Ich sehe aber nirgends einen Himmel auf deinen Bildern, auch keine Wiese, kein Haus.« Sein Studium bezieht sich auf Fakten und Zahlen. Gegenstandslose Malerei erschließt sich ihm schwer.

»Und doch sind alle da! Du musst nur nach innen schauen, wenn du die Farben aufnimmst. Spüre, was sie mit dir machen, lass es zu!«

Er muss aufgeben. Mathematik reicht nicht aus dieses phänomenale Mädchen zu erfassen. Sie ist so ganz feste Substanz und zugleich zerfließende Neuschöpfung. Sein und Werden. Neugier und Sicherheit.

Er wagt es kaum, sein Atem steht still, doch sie ergibt sich heiter und völlig ohne Scheu in seine Arme. Fasziniert nimmt er sie wahr. Körper und Geist, Handeln und Fühlen sind eins in ihr, werden auch für ihn eins. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er einverstanden mit sich selbst.

Als er erwacht, sieht er die Umrisse des Krankenzimmers klarer. Der Tag bricht ganz allmählich an, er ist am ganzen Körper schweißgebadet.

Ein feiner Silberstreif gesäumt von zartem Rosa wächst zögernd im Osten aus dem Ozean. Erinnerungen an den filigranen Schaum der kleinen Meerjungfrau aus Andersens Märchen verzaubern die Horizontlinie. Kindliche Vorfreude eines jungen Morgens.

»Heyrir þú í mér? – Können Sie mich hören?« die kehligen Laute dringen nur zögernd in sein Bewusstsein.

Mit geübtem Griff prüft der Pfleger die Infusionsnadel und den Monitor. Nur verschwommen löst die Bewegung Schattenhaftes in ihm aus. Nach und nach kann er hell und dunkel unterscheiden, seine Augenlider flattern, als ein durchdringendes Piepen ihn schließlich vollends in den Wachzustand zurückruft.

Noch weitere fremde Worte vernimmt er undeutlich. Der Pfleger stellt die üblichen Routinefragen auf Isländisch zunächst und sieht ihn gespannt an. Doch verständnislos schüttelt er nur unmerklich den Kopf. Was für ein gleißender, explodierender Schmerz.

»You must not move! Can you understand me?« es scheint als würden Worte an ihn gerichtet, die er versteht. Er erkennt den Sinn.

Noch immer umfängt ihn ein nicht greifbares Vakuum. Er treibt schwerelos und richtungslos dahin.

Einige Minuten lang führt der Pfleger mit ihm sensibel und aufmerksam Atemübungen durch, bis laut Monitor Puls und Atmung wieder gleichmäßiger werden nach dem Kräfte zehrenden Prozess des Erwachens. Über die Sprechanlage informiert er den Chefarzt.

Im Blickdialog verständigen sich der Arzt, die Oberschwester und der Pfleger, damit der Patient im Aufwachprozess keine Störung erfährt.

Er fühlt eine behutsame Berührung am Arm.

»How are you?«

»N g..d«, bringt er mit Mühe beim Ausatmen hervor. Sind es Köpfe? Sind es Personen, die er da als Schemen vor sich glaubt? Wieder das Gefühl zu schweben und dahin zu treiben, nirgends Halt zu finden, keinen stabilen Punkt zu erkennen.

Doch er spürt sich mehr und mehr. Das Flackern der einen sichtbaren Pupille spiegelt die Orientierungslosigkeit.

»You are in hospital. You had an accident, but you’re safe now. No worries!« Doch er begreift nicht.

Allmählich melden sich Körperregionen zurück. Finger, er hat Hände mit Fingern, die auf kühlen Laken ruhen. Ein Knie muss krumm gebettet sein, es schmerzt und pocht.

Über seine geschwollenen Lippen bahnt sich ein Brummen den Weg, doch es mündet nicht in verstehbaren Worten.

Vage und kraftlos wundert er sich über seinen Mund. Die eine Hälfte scheint nicht mehr da zu sein, auf jeden Fall empfindet er nichts. Blankes Entsetzen blitzt aus dem Auge, während der Arzt sein Handgelenk ergreift und beschwichtigend spricht: »I’m sure you’re totally exhausted and not yet able to speak. Take your time, we’ll be around to support you.«

Jegliche Körperspannung weicht von ihm ab, ermattet sinkt er in sich zusammen und gleitet wieder in diesen bewusstseinsfreien Schwebezustand hinüber.

In gleichbleibenden Abläufen schaffen Krankenschwestern und Pfleger eine Hülle der Sicherheit und Geborgenheit um den Patienten. Häufiger nun blickt er bewusst um sich. Gesten gelingen ihm zielgerichtet. Das Sprechen jedoch ist kaum zu bewältigen. Als es der jungen Schwesternschülerin möglich ist ihm zum ersten Mal feste Nahrung zu füttern, streicht er sanft und dankbar über ihre Hand. Snaesa ist gerührt und fragt ihn zum wiederholten Male: »Wie heißt du wirklich? Sag mir doch, wer du bist.«

Ein hilfloser Ausdruck huscht über die eine Gesichtshälfte; der Patient wendet sich ab und beinahe ist es Snaesa, als sei eine Träne zu sehen.

Krankenhaus Neskaupstaður

Anfang September 2016

Sigrun war zu einer ersten Einschätzung des psychischen Zustandes von Bjarg angereist. Sie sollte in ihrer psychotherapeutischen Praxis begleitende Therapiemaßnahmen vornehmen, sobald der Patient aus der Akutversorgung entlassen würde, damit die Genesung und Funktionstüchtigkeit des Gehirns zügig voran schritten.

Noch hatte er einen kontinuierlich bewussten Zustand nicht erreicht. Als sie eine Weile neben seinem Bett gesessen hatte, verliefen sich ihre Gedanken ein wenig. Ein erholsamer Zustand musste das sein. Dem Geist nicht einmal im Traum Stress verursachen, ihn federleicht entschweben lassen.

Das Perpetuum Mobile in ihrem Kopf drohte mit erhobenem Zeigefinger. Sie erlaubte sich keine Atempause. Klick, klack, klick, klack – wie dieses Kugelspiel, bei dem fünf kleine Metallkugeln an Nylonfäden in einem Rahmen befestigt sind. Eine bewegt alle anderen und die letzte flippt dann aus, nur um sogleich dasselbe Spiel umgekehrt auszulösen. Sie fühlte sich stets wie dieses letzte Kugel, hinauskatapultiert und gleich selbst zurück schlagend.

Die Ruhe und Begegnung mit dem inneren Selbst, welche sie ihren Patienten mit Einfühlsamkeit und Geduld vermittelte, konnte sie persönlich nicht aushalten. Sie war 38 und nicht angekommen. Erwartungsdruck und Selbstverwirklichung schienen ihr in keiner Form kompatibel. Sie hatte in Reykjavik und sogar einige Semester an der Columbia in NY studiert, einer der renommiertesten Universitäten für Psychotherapie. Dort war das Wagnis nicht so unüberwindbar gewesen wie hier zu Hause. Die Freiheit jener Jahre war der ständigen Beklemmung und Fremdsteuerung gewichen.

Die kleine Kugel, sie wurde ausgestoßen. Beim Versuch sich wieder anzuschließen, vertrieb sie die übrigen.

Auf Drängen der Familie hatte sie mit etwas über 30 den halbherzigen Versuch der Familiengründung unternommen. Zutiefst dankbar hatte sie bald festgestellt, dass Hendrik sie betrog und damit einen schnellen Scheidungsgrund auf dem Silbertablett lieferte.

Unerwartet löste der EKG-Monitor Alarm aus und zerrte sie aus dem Grübeln.

Die Tür wurde aufgerissen, ein Team mit Notfallausrüstung stürmte in präziser Ordnung in den Raum.

Während sie vor der Tür wartete, unterschied Sigrun genau diverse Reanimationsgeräusche, auch solche, die nur im äußersten Notfall angewandt wurden. Ein gefühltes Menschenalter später normalisierte sich der Überwachungston in gleichmäßiges, nicht zu rasches Tuten.

Ein Pfleger observierte den Kranken, die anderen verließen kopfschüttelnd das Zimmer. Sigrun folgt ins Ärztezimmer und war begierig darauf zu erfahren, was diesen plötzlichen Alarm ausgelöst hatte.

»Es ist mir völlig unverständlich, wie es zu Atem- oder Herzstillstand kommen sollte bei dieser genau abgestimmten Medikation«, ertönte die Stimme des Oberarztes zweifelnd. Der Chefarzt schimpfte und gebärdete sich wie ein wandelnder Vorwurf.

»Hast du vielleicht etwas mit dem Patienten durchgeführt, was sein Unterbewusstsein in Aufruhr gebracht haben könnte, Frau Kollegin?« Sigrun verneinte. Sie hatte kein Wort geäußert, nur bewegungslos neben dem Krankenbett auf diesem unbequemen Holzstuhl ausgeharrt.

»Wer besuchte den Patienten heute?«

Die Stationsschwester versicherte, es sei überhaupt kein Besuch vor Ort gewesen. Niemand von außerhalb habe das Intensivzimmer betreten.

»Reflexe? Blutdruck? Puls?«

»Kaum tastbar, Reflexe null, Blutdruck unter 60.«

»Dann müssen wir notgedrungen die Blutwerte abwarten. Schnelltest angefordert?«

Der diensthabende Arzt nickte müde, als ein Summen des PCs den Eingang einer Nachricht ankündigte.

Der Chef fuhr mit dem Zeigefinger auf dem Monitor entlang und brüllte ohne Vorwarnung:

»Welcher Idiot hat das angeordnet? In seinem Blut wurde eine hohe Konzentration von Benzodiazepin festgestellt. Eine so starke Sedierung muss ihn umbringen.«

Die buschigen, steil nach oben zeigenden Augenbrauen unterstrichen den drohenden Unterton seines Wutausbrauchs.

Medikationspläne und Zwischenbefunde wurden verglichen, keine Abweichung bemerkt. Der Chef zitierte mit bissigster Stimme die gesamte Mannschaft des Pflegepersonals zu sich. Die Stationsschwester blieb unerschüttert, alle anderen schienen jedoch bei seiner Schimpftirade zu schrumpfen.

Die junge Schwesternhelferin hatte an dem Morgen die Medikamente in kleine Tagesbehälter sortiert. Sie waren mit Namen und Zimmernummer jedes Kranken beschriftet.

»Was haben Sie da verwechselt? Können Sie nicht lesen? Wieso bekommt der Fremde diese starken Schlafmittel?«

Ihr Brustkorb hob und senkte sich bebend, sie zitterte am ganzen Körper, doch resolut schob sich die Stationsschwester vor das junge Mädchen.

»Halldur, ich überprüfe jede Schachtel persönlich und Snaesa ist garantiert kein Fehler unterlaufen.«

Zur selben Zeit verließ ein schwarz gekleideter Mann mit hängenden Schultern das Krankenhaus. Die leere Kanüle in der Bauchtasche seines Sweats blieb unbemerkt.

Egilsstaðir, Island

Anfang September 2016

Der alte Pajero bewältigte gelassen die Schotterpiste zwischen Egilsstaðir und Borgarfjörður eystri, dem Ziel von Annas Ausflug mit Finn an diesem warmen Spätsommertag. Sie hatte hier in den vergangenen Tagen die Brutplätze der Papageientaucher untersucht und Finn nervte sie andauernd, dass er unbedingt einen solchen Vogel sehen wollte.

»Die meisten sind nicht mehr an Land, die Brutzeit ist zu Ende. Und die Jungen schwimmen sowieso seit Ende Juli raus aufs Meer. Nur wenn wir ganz viel Glück haben, sehen wir einige Vogeleltern, die noch eine Weile zusammen in den Kolonien bleiben.«

»Was für Kolonien?«

»Ich habe dir doch erzählt, dass sie keine Nester im Baum bauen wie bei uns.«

»Ja, die Nester sind in der Erde, aber ich finde doch bestimmt noch so einen Vogel. Sonst hätte ich den Mann nicht gesehen.«

Finns Logik verschlug einem oft die Sprache. Anna blickte ihn nachdenklich an, während sie den Wagen die Küstenstraße entlang steuerte. Bei diesem gutem Wetter bot sich eine herrliche Aussicht, als sie die abenteuerliche Felsenbucht umrundeten. Hier am nordöstlichen Zipfel Islands kann man zwei Dingen nicht ausweichen, den Elfen und der Tierwelt. Anna sinnierte still vor sich hin, während Finn aufgeregt den Kopf in alle Richtungen reckte.

Warum hatte Finn gesagt, ohne den Vogel hätte er den Mann nicht gesehen? War der Papageientaucher ebenso geheimnisvoll und voller Symbolik wie das Elfenvolk?

Zumindest ist der Fremde mit dem Leben davon gekommen, dachte sie, die orange Farbe des Papageientauchers hat wesentlich dazu beigetragen. Was ist mit dem Schwarz und Weiß? Wozu verhilft ihm dieses?

Trotz aller modernsten Technologien, die auch in Island Einzug gehalten hatten wie überall in Europa, ist die Kultur in Island aufs engste mit der Elfenwelt verwoben. Im Ostteil der Insel, dem Austurland, sind unzählige Geschichten beheimatet, die von Menschen und ihren Begegnungen mit Elfen berichten. Auch jetzt, 2016, noch, wo wir Nanoplastikpartikel wissenschaftlich nachweisen können, sinnierte Anna vor sich hin.

Geheimnisumwobene, sagenhafte Elfenhöhlen und die Brutplätze der Papageientaucher charakterisierten das Ausflugsziel. Beide wirkten magisch und sonderbar in der Erscheinungsform. Mutter und Sohn umrundeten eine ausladende Landzunge, als sich ihnen eine atemberaubende Szenerie darbot. Eine ruhige Meeresbucht verschmolz mit dem satten Grün einer weiten Tiefebene, durch die sich ein kleiner Fluss zum Meer hin schlängelte. Die Sonne halbierte die Landschaft waagerecht: unten ein gedämpftes, grüngraues Tal und darüber diese majestätische, strahlende Bergkette. Es schien alles still zu stehen, sogar die große, grasende Pferdeherde.

»Mum!« Finns Schrei schreckte sie aus ihren planlosen Gedanken auf. Beinahe wäre das Riesenschlagloch dem Pajero zum Verhängnis geworden, im letzten Moment gelang es ihr das Steuer herum zu reißen. Natürlich besaß sie kein Reparaturset trotz der dringenden Empfehlung der örtlichen Forschungsstationen.

»Schau, da sind wir schon!« Vor ihnen am Ende der Bucht Richtung Felsmassiv erstreckte sich ein wild gewelltes, grasbewachsenes Geröllfeld auf einer steilen Klippe. Die Grasoberfläche sah aus wie umgegraben von Maulwürfen oder Hasen, durchzogen von Gängen und Erdlöchern.

»Das sind die Eingänge zu den Nesthöhlen, da unten kommen die Jungen zur Welt.«

Mutter und Sohn verließen den Wagen und schlenderten Hand in Hand vorsichtig am Klippenrand entlang. Mit ausladenden Gesten unterstrich Anna ihre Erklärungen zu dem Vogel, mit dem sie sich seit so langer Zeit beschäftigte. Ihr Eifer sprang auf ihren Sohn über, dessen wasserblaue Augen immer größer wurden.

»Weißt du, was ich am tollsten finde, Mama? Dass der Papa und die Mama sich das Brüten und das Füttern teilen. Jeder passt auf den Kleinen auf. Das ist wie bei uns, nicht wahr? Nur dass Oma Karin auch manchmal aufpasst. Haben die Papageientaucher auch Omas?«

Anna fiel wieder auf, dass Finn stets nur von Oma sprach, ein Opa kam nicht vor, ihn hatte es nie gegeben. Eine Selbstverständlichkeit für Finn.

»Sie haben sicher Oma und Opa, aber die sind wieder auf dem Meer. Mama und Papa reichen doch, wenn sie beide da sind.«

»Wie viele Babyvögel kriegen sie?«

»Nur eines, Finn, die Mutter legt jedes Jahr nur ein Ei.«

»Ok, dann reichen Mama und Papa.«

Finn hatte offensichtlich angestrengt nachgedacht über die Beaufsichtigung der Kleinen.

Ganz sachte durchstreiften sie schweigend die Brutkolonie, um jede Störung der möglicherweise noch anwesenden Vogeleltern zu vermeiden.

Anna fragte sich erneut: war nicht alle Lebensenergie, alle Weisheit in diesem Vogel mit dem flammenden Raubtierschnabel vereint? Schwarz und Weiß, Oben und Unten, Wasser und Erde, Feuer und Luft, Tod und Leben? Bis zu vier tote Fische passten in den kleinen Schnabel – er hielt damit die Familie am Leben.

Die Kolonie – eine schützende Gesellschaftsform.

»So viele zusammen«, überlegte Finn weiter, »ganz nahe beieinander.«

»Du, diese Kolonie ist wie ein Dorf; die Nachbarn halten zusammen, das macht sie sicherer.« »Aber ihr sagt doch immer, Nachbarn gehen euch auf die Nerven. Die seien viel zu neugierig und zu nah dran. Hier sind sie auch nah dran.«

»Na, bei Menschen ist das was anderes.«

»Warum? Beschützen sich Menschen nicht?«

Anna schluckte. Warum ist das bei Menschen etwas anderes?

»Und wenn es so viele ganz genau gleiche Vögel sind, wie erkennen die sich, woher weiß der Papa, welches seine Frau ist?«

»Sie sind nicht alle genau gleich, wir sehen sie nur so. Wir denken, sie seien alle gleich. Und sie haben nicht alle dieselbe Stimme. Jede ist anders. Wir hören den feinen Unterschied aber nicht. Sie kennen sich, und sie bleiben zusammen, bis das Vogelbaby groß ist.«

»Das ist wie verheiratet, oder? Schön!«

Anna seufzte. Dieses Kind legte mit seinen bohrenden Fragen Abgründe frei, stocherte in Wunden, die sie längst verheilt glaubte.

Anton, ihr Vater – hätte er die Geschichte vom Papageientaucher wissen sollen? Wäre er dann geblieben?

Schwachsinn, schalt sie sich. Ich bin erwachsen, 30 Jahre alt, habe einen wunderbaren Sohn, einen liebenswerten, verlässlichen Lebensgefährten, was soll ich mir über meinen verantwortungslosen Vater Gedanken machen.

Wie war sie von allen Seevögeln ausgerechnet auf diesen kleinen Vogel gekommen, als sie ein Forschungsthema aussuchen sollte?

Sie fasste Finn bei der Hand und kletterte langsam mit ihm über graue Gesteinsformationen, die pockennarbig aussahen, mit winzigen Kratern übersät.

Vor einem typisch geformten Felsblock, der einem Menhir in Kleinformat ähnelte, setzten sie sich auf einen weichen Grashügel.

»Hier kann ein Tor zur Elfenwelt sein,« sagte Anna leise.

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß es nicht, aber so beschreiben es die alten Sagen über Trolle und Elfen in diesem Land.«

»Trolle mag ich; erzähl mir eine Geschichte, Mum.«

Finn war ein guter Zuhörer. Sie strich vorsichtig über das kugelförmige Moosbüschel neben sich. Die Geschichte vom Pastorensohn Magnus Jonsson fiel ihr ein, den eine unbekannte Stimme in einer schaurig kalten Winternacht zur Eile angetrieben und so vor dem Erfrieren gerettet hatte. Auch die Sage von der Elfenfrau von Bakkagerði mochte sie, die einer einsamen Bäuerin bei der Geburt ihres Kindes geholfen hatte. Meist schilderte sie Finn Geschehnisse, in denen Menschen und Elfen einander halfen. Auch wenn sie selbst bisher nichts Magisches für wahrscheinlich gehalten hatte, bezauberte sie dies in Island auf eine ganz eigene Weise.

Wenig später fuhr sie nachdenklich auf der Schotterstraße nach Egilsstaðir zum gelben Ferienhaus zurück. Finn war sofort in seinem Sitz eingeschlafen.

Nach einigen Kilometern riss er sie schon wieder aus ihren Gedanken.

»Wir waren immer noch nicht im Krankenhaus, der Mann ist ganz allein, ihm ist bestimmt langweilig.«

»Ich weiß, Dad hat es dir versprochen, aber er ist noch nicht wach. Der Arzt sagte am Telefon, es dauert noch ein paar Tage.«

»Der schläft echt lange, hoffentlich wacht er auch wieder auf.«

»Bestimmt«, erwiderte Anna und sie behielt für sich, dass sein Zustand nachher sehr schlimm sein konnte.

»Wir spielen heute Abend alle zusammen was, ok? Dad wird sicher schon zu Hause sein, er war heute nicht so lange in der Schutzstation.«

Sie wusste genau, dass Finn begeistert sein würde. Zu selten in den letzten zwei Jahren hatten sie dafür Zeit gehabt, doch alle drei konnten sich absolut entspannen und mit Hingabe im Spiel versinken.

»Was hältst du von Geistertreppe?«

»Och nö, das ist langweilig. Ich will Stone Age Junior«.

»Alles klar, ich schreib Dad eine SMS, dass er schon mal was kocht und wir gleich loslegen können.« Lachend drückte sie auf »Senden«. Mit ihrer Mutter hatte sie, als sie klein war, auch sehr, sehr viel gespielt. Manchmal waren es nur Gedankenspiele, z.B. »ich stelle mir vor, wir sind am Südpol, was machen wir?«

Auf der restlichen Heimfahrt erzählte sie Finn von diesen Momenten mit Karin, meist während einer langen Fahrt im VW Bus zu einem von Karins Traumlocs.

»Weißt du, ich hab immer gedacht, das müssen Lokomotiven sein.«

»Waren es keine?«

»Nein, es bedeutet so viel wie Traumort, es ist eine Abkürzung. Rate wovon?«

Finn grübelte eifrig. Locken? Lokomotive? Kann nicht sein.

»Es ist kein deutsches Wort, Finn.« Sie gab ihm einen Tipp: »Es hat etwas mit Orten und Plätzen zu tun.«

Liam hatte gleich vorgeschlagen, das Kind solle zweisprachig aufwachsen, schon als sie schwanger war. So wie sich ihr Leben entwickelte, passte das genau. Da sie und Liam ganz automatisch deutsch und englisch miteinander sprachen, war es für Finn irgendwann selbstverständlich.

»Location«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Bin ich gut oder gut?«

»Super!«

Das gelbe, großzügig gestaltete Ferienhaus winkte einladend, als sie von der Hauptstraße abbogen.

Nachdem sie ganz von Stone Age Junior gefangen genommen waren, entfachte Liam ein gemütliches Feuer im schwarzen, gusseisernen Kaminofen und alle drei kuschelten sich zusammen auf das abgewetzte, rehbraune Ledersofa. Zur abendlichen Gemütlichkeit mit dem Kind gehörte schon beinahe als Ritual der Vanille-Milchshake, Lieblingsgetränk aus Annas eigener Kindheit.

»Erzähl eine Geschichte, Daddy,« bettelte Finn.

»Welche denn«?

»Die, wie du Mama bei dem Hai geküsst hast, die find ich am schönsten«.

Liam konnte gar nicht mehr rechnen, wie oft er bereits den Beginn ihrer Beziehung geschildert hatte, aber die Besonderheit des Haibeckens machte sie für Finn immer wieder spannend.

»Die Mama kam eines Tages in unser Büro« – »bei den Fischen«, unterbrach der Junge grinsend.

»Genau, sie wollte einen Job und hat sich vorgestellt.«

»Und du warst sehr streng, denn du warst der Chef!« spann Finn weiter.

»Na, das bin ich heute hoffentlich auch noch.«

»Hey, hey, ihr Männer, so geht das nicht«, lachte Anna, denn sie erinnerte sich gern an diesen Moment, der alles verändern sollte.

Gerade war die Saison in Föhr zu Ende gegangen und sie hatte mit Hilfe und Zustimmung ihrer Mutter nach Plymouth fahren können. Anfang Oktober war das Postkartenflair des Ortes zwischen Devon und Cornwall leicht reduziert, doch wie elektrisiert hatte sie die Halle des Marine Aquariums betreten.

»Und du hast Mama nur auf Englisch was gefragt. Das war ziemlich gemein.« Den Satz musste Liam sich an dieser Stelle der Geschichte regelmäßig anhören und schmunzelte.

»Ok Großer. Wer erzählt jetzt? Du oder ich?« Finn drückte sich zufrieden in die Armbeuge seines Vaters und lauschte der Szene.

»Ich konnte nicht anders fragen, denn ich sprach nur Englisch und Französisch. In Kanada ist Deutsch nicht Pflichtfach gewesen.«