Küsse schmecken besser als Schokolade - Tina Keller - E-Book
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Küsse schmecken besser als Schokolade E-Book

Tina Keller

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Beschreibung

Ina ist sauer: Ihre Freunde schenken ihr zum Geburtstag einen Gutschein für ein Fitness-Training - was für eine Frechheit! Na gut, sie hat ein paar Kilo zu viel auf den Rippen und geht seit Jahren lieber zum Kühlschrank als ins Fitness-Studio, aber ihr Partner ermuntert sie doch förmlich dazu! Dann steht sie Ben gegenüber: attraktiv, durchtrainiert, klug. Er lässt keine Ausreden gelten - und für Ina beginnt eine aufregende Zeit mit einem mehr als überraschenden Happy End ....

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Kapitel 1

„Hallo, ich bin Philipp, und ich wollte mal erzählen, wie wir so Sex haben“, begann mein erster Anrufer das Gespräch.

Es war Mittwoch, 23 Uhr, und somit Zeit für eine neue Ausgabe der Radiosendung Let's talk about Sex.

„Hallo, Philipp“, begrüßte ich ihn. „Schön, dass du da bist. Na, da bin ich aber mal gespannt. Das heißt also, ihr habt nicht das, was man als 'normalen' Sex bezeichnen würde?“

„Für uns ist es schon normal“, erwiderte Philipp. „Und zwar haben wir einen ganz besonderen Fetisch. Wir machen es nicht in Lack oder Leder, sondern in Wolle.“

Das war allerdings wirklich mal etwas Neues.

Ich war froh, dass man mich im Radio nur hören und nicht sehen konnte. Denn obwohl ich Let's talk about Sex seit drei Jahren einmal wöchentlich moderierte, entgleisten mir hin und wieder immer noch meine Gesichtszüge. Jetzt zum Beispiel tauchte augenblicklich eine Schafherde vor meinem geistigen Auge auf und ich gab mir keine Mühe, mein Grinsen zu unterdrücken. Tom, unser Aufnahmeleiter, grinste mit.

„Was genau bedeutet das?“, fragte ich.

Wenn ich etwas in den drei Jahren gelernt hatte, dann das: Viele Leute hatten hinter ihrer Fassade eine echte Vollmeise. Manchmal wusste ich nicht, ob sie mich und die Hörer nur verarschen wollten oder tatsächlich so schräg drauf waren. Jedenfalls sah ich fremde Menschen jetzt mit ganz anderen Augen. Wenn sie vor mir an der Supermarktkasse standen und ein unbeteiligtes Gesicht machten, fragte ich mich manchmal, ob das die Leute waren, die bei mir anriefen und mir erzählten, dass es sie antörnte, an verschwitzten Adidas – und nur diese Marke! – Turnschuhen herumzuschnüffeln oder sich eine Gasmaske überzustülpen. Es konnte schließlich jeder sein.

„Wir haben Anzüge aus Wolle, die im Intimbereich Öffnungen haben“, erläuterte Philipp. „Die ziehen wir dann an und laufen in der Wohnung herum. Dann machen wir immer Määh wie zwei Schafe und stupsen uns gegenseitig an. Das geilt uns tierisch auf. Und dann haben wir Sex.“

Ich drückte schnell auf einen Knopf, um das Mikrophon auszuschalten, denn jetzt konnte ich nicht mehr an mich halten und prustete laut heraus. Also echt, was es so alles gab!

Philipp erzählte inzwischen munter weiter, während Tom und ich japsten und schnauften.

„Wir schwitzen in den Anzügen natürlich wie verrückt, aber genau das erregt uns. Auch, dass es auf der Haut etwas kratzt. Wir finden das ungemein erotisch. Wir wollen gar nicht mehr ohne unsere Woll-Overalls pimpern. Wir haben die in vielen verschiedenen Farben. Einen Woll-Overall in grün, einen Woll-Overall in orange, einen Woll-Overall in blau-weiß …“

Philipp sprach Overall Englisch aus, und mir liefen inzwischen die Lachtränen die Wangen hinunter. Tom auch. Wir konnten uns gar nicht mehr einkriegen. Wieder einmal war ich froh, dass ich nicht der von mir so geschätzte Domian war und mich jeder Zuhörer sehen konnte.

„Haben die verschiedenen Farben eine Bewandtnis oder ist das einfach so, als wenn man sich Klamotten für den Tag aussucht?“, fragte ich und nahm mich mühsam zusammen.

„Also, wenn Hertha spielt, tragen wir natürlich den blau-weißen Woll-Overall“, erklärte Philipp und ich schaltete das Mikro wieder aus, denn jetzt lag ich vor Lachen wirklich fast auf dem Boden. Auch Tom konnte sich nicht mehr beruhigen und hatte schon ein knallrotes Gesicht.

„Wir finden es auch toll, während des Fußballspiels zu poppen. Die Spieler schwitzen ja auch. Da fühlen wir uns immer sehr mit ihnen verbunden.“

Ich versuchte, tief durchzuatmen und die Bilder, die in mir aufstiegen, zu verdrängen. Ich hatte schon bei Latex, Gummi, Lack und Leder nicht verstanden, was so antörnend daran sein sollte, wenn einem der Schweiß in Strömen herunterlief. Ich verbiss mir gerade noch die Frage, ob es Philipp auch anmachte, in einer Sauna zu sitzen, vielleicht in einem schicken Woll-Overall? Das musste doch dann der ultimative Kick für ihn sein.

„Wie habt ihr euch denn kennengelernt? Ist das nicht ein irrer Zufall, dass ihr beide denselben Fetisch habt?“, fragte ich weiter.

„Nein, gar nicht. Wir haben uns auf einer Wollmesse kennengelernt. Da sind nur Gleichgesinnte.“

Man glaubte wirklich nicht, was es so alles gab. Unter Wollmesse hätte ich mir jetzt auch was anderes vorgestellt.

„Wo bekommt man solche Anzüge eigentlich her?“, erkundigte ich mich. „Näht ihr die selber?“

„Nein, das haben wir mal versucht, aber wir können das nicht und da hat sich beim Sex alles wieder aufgeribbelt. Als wir fertig waren, hatten wir nur noch den halben Anzug an“, berichtete Philipp betrübt.

„Jetzt lassen wir die anfertigen. Wir haben da eine Näherei im Internet gefunden. Denen schicken wir die Maße und die Wolle und die machen das dann. Das ist sehr diskret. Die sehen uns auch gar nicht. Das kostet so um die sechshundert Euro pro Stück.“

Tja, man konnte sein Geld auf vielerlei Weise sinnlos verplempern.

„Also richtige Anzüge aus Wolle“, fasste ich zusammen. „Und da sind also wirklich Löcher in den Anzügen? Oder könnt ihr sie aufknöpfen oder ist ein Reißverschluss eingenäht?“

Eine Weile blieb es still am anderen Ende der Leitung.

„Hallo, Philipp? Bist du noch da?“, hakte ich nach.

„Das ist ja eine geniale Idee“, sagte Philipp langsam.

„Dass wir da nicht selbst drauf gekommen sind! Das ist ja noch viel geiler! Ein Reißverschluss! Ja, das ist es. Wie würdest du das machen, Ina? Ein Reißverschluss im Schritt und Knöpfe am Busen?“

Ja, ganz bestimmt! Das würde ich Daniel sofort vorschlagen. Er würde sicher begeistert sein und unsere Sex Flaute hätte dann garantiert auch ein Ende.

„Das hört sich doch gut an“, fand ich. „Genau so würde ich es machen.“

„Tut mir leid, ich muss jetzt sofort auflegen, das muss ich gleich meiner Freundin erzählen“, sagte Philipp kurzatmig. „Vielen, vielen Dank für diesen tollen Tipp. Du bist super, Ina. Ich höre deine Sendung immer. Ich finde dich ganz toll. Meine Freundin auch. Probier das doch auch mal mit dem Woll-Overall, vielleicht gefällt dir das ja auch. Ciao.“

Und weg war er. Dass mein Tipp nun so revolutionär gewesen war, konnte ich mir kaum vorstellen. Irgendwie hatte ich das ungute Gefühl, dass er mich und die Hörer ganz schön verarscht hatte.

„Hallo Ina, hier ist Jonas“, meldete sich der nächste Anrufer. „Ich wollte auch was zum Thema 'Fetisch' beitragen.“

„Hallo, Jonas. Du hast also auch einen besonderen Fetisch, Jonas?“, vergewisserte ich mich.

„Nein, ich selbst nicht“, sagte Jonas. „Aber ich helfe anderen, ihren Fetisch auszuleben. Ich bin Künstler. Ich fertige Stofftiere an, die aber ganz besondere Stofftiere sind. Sie haben nämlich Geschlechtsteile.“

Und wieder war ich froh, dass man mein entsetztes Gesicht nicht sehen konnte.

„Was für Stofftiere sind das?“, forschte ich. „Wie groß sind sie?“

„Das ist sehr verschieden“, erwiderte Jonas. „Es gibt ganz kleine, aber die meisten sind schon sehr groß, so 1,50 Meter. Da gibt es alles – Bären, Hunde, Giraffen ...“

„Fertigst du eher weibliche oder männliche Tiere an?“, wollte ich wissen.

„Deutlich mehr weibliche“, antwortete Jonas.

Naja, das war ja klar, dass sich nur Männer so was Bescheuertes kauften!

„Du fertigst also zum Beispiel einen 1,50 Meter großen Bären an, der eine Vagina hat“, sagte ich und verdrehte die Augen. Mein Gott, wie pervers waren die Leute eigentlich?

„Und was machen deine Kunden dann damit? Um es mal ganz deutlich zu fragen: Haben sie Sex mit diesen Stofftieren?“

In der Leitung blieb es ruhig.

„Das frage ich meine Kunden natürlich nicht“, behauptete Jonas. „Aber ich denke mal, ja.“

Tom tippte sich an die Stirn und ich stimmte ihm im Stillen zu. Ja, die meisten der Anrufer hatten wirklich einen Knall. Oder in diesem Fall die Kunden des Anrufers. Oder tat er nur so, als fertige er diese Stofftiere an und war in Wirklichkeit selbst der Kunde?

„Was kosten die Stofftiere?“, wollte ich wissen.

„Also, so ein 1,50 Meter großer Bär kostet um die fünftausend Euro.“

Ich riss meine Augen weit auf. Da waren die Woll-Overalls ja richtig billig gewesen!

„Nicht gerade ein Schnäppchen“, fand ich. „Wie viele verkaufst du davon im Monat?“

„Sehr viele“, erwiderte Jonas zu meinem Erstaunen. „Ich habe so viele Bestellungen, dass ich damit gar nicht nachkomme.“

Ich versuchte mir gerade vorzustellen, wie sich ein Mann an einen großen Bären kuschelte und dann … nein, das wollte ich mir dann doch lieber nicht vorstellen.

„Wer sind denn so deine Auftraggeber, gibt es da ein bestimmtes Klientel?“, fragte ich. „Sind das Künstler, Musiker, Schauspieler oder andere Kreative?“

Jonas zögerte. „Eigentlich nicht“, erwiderte er. „Es sind eher Geschäftsmänner, Banker, Juristen, so was in der Art.“

Das war ja klar. Tagsüber spielten sie den seriösen Business Man, abends trieben sie es mit Stofftieren. Ob der nette Herr in der Bank, der mir heute eine neue Krediktarte ausgehändigt hatte, auch so ein Perverser war? Manchmal wollte man es echt gar nicht mehr wissen!

„Eine Steigerung wäre nur noch jemand, der sich im Woll-Overall an einem Stofftier vergeht“, murmelte Tom, als Musik eingespielt wurde und ich eine kurze Pause hatte. Er hatte in den letzten drei Jahren viel dazu gelernt, genauso wie ich. Vieles war belustigend, manches skurril, einiges sogar beängstigend. Trotzdem war es immer noch spannend und aufregend, weil ich nie wusste, was mich erwartete. Und letztlich war es natürlich schon interessant, was die Leute tatsächlich im Bett trieben. Ich mochte es, einen Blick hinter die wohl geordnete Fassade zu riskieren und in das wahre Leben einzutauchen.

Am nächsten Abend tauchte ich dann in mein wahres Leben ein. Genauer gesagt, in meine Geburtstagsfeier. Ich hatte meine Freunde großzügig in einen Biergarten eingeladen, und nachdem wir eine umfangreiche Bestellung aufgegeben hatten, kam meine beste Freundin Imke lächelnd auf mich zu.

„Liebe Ina, wir wünschen dir alles, alles Gute zu deinem Geburtstag“, sagte sie und umarmte mich herzlich.

„Und damit du weiterhin so frisch und fröhlich bleibst, haben wir ein ganz besonderes Geschenk für dich.“

Sie hielt mir einen roten Briefumschlag vor die Nase.

„Das hast du dir schon so lange gewünscht.“ Ihre Augen leuchteten. „Du hast es dir verdient.“

Ich war tief gerührt. Meine geliebten Freunde hatten es tatsächlich wahr gemacht: Sie schenkten mir einen Gutschein für meine lang ersehnte Amerika Reise.

„Wir haben alle zusammengelegt, und da ist ein ordentlicher Betrag zusammen gekommen. Wir freuen uns alle so sehr, dass wir dir deinen Traum erfüllen können.“

Ich strahlte Imke an. Was hatte ich doch für wundervolle Freunde! Ständig hatte ich davon gesprochen, dass ich unbedingt in die USA wollte. Und jetzt hatten sie mir offenbar einen Gutschein für einen Flug spendiert, oder vielleicht hatten sie sogar noch das Hotel dran gehängt. Ich konnte mein Glück kaum fassen.

Aufgeregt riss ich den roten Umschlag auf und erspähte das Wort Gutschein. Ich hatte mich nicht geirrt. Sie waren einfach die Besten. Ich sah Imke mit Tränen in den Augen an und konnte die Buchstaben auf der Karte nur verschleiert erkennen.

Es muss so etwas sein wie:

Gutschein für einen Flug nach Amerika.

Gutschein für einen Flug nach Amerika inklusive Unterkunft.

Gutschein für einen Flug nach Amerika inklusive Unterkunft und Mietwagen.

Waaaass?

Ich starrte und starrte, doch die Worte veränderten sich nicht.

Gutschein für einen Fitnesstrainer bis zum Erreichen deines Wunschgewichtes.

Imke strahlte mich immer noch an. Ich hingegen strahlte nicht mehr. Ich starrte völlig entgeistert auf die rote Karte in meiner zitternden Hand.

„Ist das nicht toll? Da bist du aber überrascht, was? Damit hast du nicht gerechnet.“

Imke war ganz aufgeregt. Und sie hatte Recht: Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. So eine bodenlose Unverschämtheit hätte ich meinen zukünftigen Ex-Freunden nicht zugetraut. Vor lauter Enttäuschung kamen mir die Tränen.

„Och, guck mal, Ina ist so gerührt, dass sie weint.“

Imke schüttelte tief ergriffen den Kopf.

„Wir wussten, dass du dich darüber freust, aber dass du vor lauter Freude jetzt sogar weinst, macht mich ganz sprachlos. Da weine ich ja gleich mit.“

Ich war auch sprachlos – vor lauter Entsetzen, und ich weinte aus Wut.

Was hatte ich eigentlich für „Freunde“? Wie konnten sie mir nur so etwas antun? Was war das überhaupt für eine fiese Anspielung? War ich ihnen etwa zu dick? Wieso wollten sie, dass ich dünner wurde? Mochten sie mich etwa nicht so, wie ich war? War ich ihnen nicht gut genug?

Ich war in dem Glauben hier angekommen, dass ich wirklich gute Freunde hatte, auf die ich mich verlassen konnte und die für mich da waren, wenn ich sie brauchte.

Und jetzt musste ich erkennen, dass ich von einer Horde heuchlerischer Verräter umzingelt war, die mir allen Ernstes einen Antreiber finanzieren wollte, der mich schikanieren und demütigen würde. Und, was noch viel schlimmer war: der mir meine Schokolade und meine Pizza wegnehmen würde. Kurzum: Sie lieferten mich einem Folterknecht aus. Und das nannten sie Geburtstagsgeschenk?

Ehrlich. Wer solche Freunde hatte, brauchte keine Feinde. Ich jedenfalls hatte ab jetzt keinen einzigen Freund mehr. Jeder, der sich an dieser Geburtstagshetze beteiligt hatte, war kein Freund. Ich war ab sofort ganz allein auf der Welt.

Jetzt kamen mir erst recht die Tränen. Nun hatten sich auch noch weitere Verräter um Imke versammelt, die mir herzlich gratulierten. Und ich lud dieses Pack auch noch zum Essen ein!

„Da haben wir ja genau das Richtige ausgewählt“, wagte es Joachim zu sagen. Dem würde ich als nächstes eine Penispumpe schenken, nachdem mir seine Gattin verraten hatte, dass es mit der Standfestigkeit nicht mehr so ganz klappte. Darüber würde er sich genauso freuen wie ich mich jetzt. Dann war er nämlich genauso bloßgestellt.

„Dass es so gut ankommen würde, hätte ich gar nicht gedacht“, meinte Bea. „Ich war mir gar nicht so sicher, ob es Ina wirklich gefallen würde.“ Dankbar sah ich sie an. Okay, eine einzige Freundin hatte ich inmitten der Verräter doch noch behalten, wie tröstlich.

Mein Lebensabschnittsbegleiter Daniel legte den Arm um mich.

„Hast du dir das wirklich gewünscht?“, fragte er ungläubig. „Das passt eigentlich so gar nicht zu dir.“

„Nein, habe ich nicht“, heulte ich. „Ich wollte doch nach Amerika! Wie können die mir so einen Scheiß schenken? Haben sie dir nichts erzählt?“

Daniel schüttelte perplex den Kopf.

„Kein Sterbenswörtchen. Ich hätte auch dringend davon abgeraten. Wie kommen die denn bloß auf so einen Mist? Das ist doch echt eine Unverschämtheit!“

Ach, mein lieber, lieber Daniel. Er kannte mich eben, und das schon seit sechs Jahren. Warum hatten sie ihn nicht zur Beratung mit hinzugezogen, anstatt so in den Fettnapf zu greifen?

Die Party war für mich gelaufen. Und das war nun mein Geburtstag. Nie wieder würde ich irgendeinen Geburtstag feiern. Das hatte ich nun davon.

In den nächsten Tagen sann ich darüber nach, wer mich so missverstanden haben konnte und was ich überhaupt gesagt hatte. Ja, natürlich war ich mit 89 kg bei 1,66 Meter viel zu dick, das ließ sich nicht leugnen. Ich hatte immer schon mit meinem Gewicht gekämpft, und seit ich mit Daniel zusammen war, hatte ich jedes Jahr ein paar Kilo zugenommen.

Das fiel gar nicht weiter auf, aber in den sechs Jahren unserer Beziehung waren das insgesamt über zwanzig Kilo geworden. Wir führten eben ein bequemes Leben und gingen gerne essen.

Und natürlich fühlte ich mich so dick nicht wohl. Ich hatte das auch oft genug thematisiert, und wenn ich mich recht entsann, fiel mir nun auch der verhängnisvolle Satz „Ich würde alles dafür tun, um diese verdammten zwanzig Kilo wieder loszuwerden“ ein.

Aber das hatte ich doch nicht ernst gemeint! Natürlich wollte ich nicht alles dafür tun. Ich fand es zwar schrecklich, so dick zu sein, aber noch viel schrecklicher fand ich die Vorstellung, ernsthaft etwas dagegen tun zu müssen. Ich ertrug es einfach nicht, wenn ich mich kasteien sollte und man mir etwas wegnahm. Niemand sollte mir etwas verbieten dürfen, nicht mal ich selbst!

Kapitel 2

Vier Tage nach meiner unschönen Geburtstagsfeier kam ich mit zwei vollen Einkaufstüten nach Hause und freute mich schon auf meine leckere Pizza und als Nachtisch Tiramisu. Unwillig registrierte ich, dass die Lampe meines Anrufbeantworters hektisch blinkte. Wer störte mich denn jetzt schon wieder bei meiner Lieblingsbeschäftigung? Genervt drückte ich auf die Taste.

„Hallo, Ina, hier ist Ben“, hörte ich eine markante, durchaus sympathische Stimme.

„Ich bin dein zukünftiger Fitnesstrainer. Imke hat mir erzählt, dass du dich riesig über den Gutschein gefreut hast. Das finde ich ja richtig toll. Ich schlage vor, dass wir uns erst mal locker treffen, um alles zu besprechen, bevor wir richtig loslegen. Ruf doch mal zurück, dann machen wir ein Date aus. Bye bye und liebe Grüße.“

Mit hochgezogenen Augenbrauen packte ich meine Tüten aus und räumte alles in die Schränke. Was war denn das für ein Schleimer? Wir machten kein Date aus! Ich wollte nicht mit ihm ins Bett gehen, sondern er wollte mich – gegen Bezahlung – schikanieren und mich meiner liebsten Freizeitbeschäftigung berauben. Ich hasste ihn schon jetzt. Das würde mitnichten ein Date werden!

Konnte ich die Aktion nicht gänzlich abblasen? Niemand konnte mich schließlich dazu zwingen, mich zu bewegen und weniger zu essen, wenn ich es nicht wollte. Eigentlich konnte doch alles beim alten bleiben.

Das einzig Blöde war natürlich, dass meine bescheuerten Freunde diesem „Trainer“ das Geld in den Rachen geworfen hatten, das eigentlich für meine Amerika Reise bestimmt gewesen war. Bei diesem Gedanken stiegen mir immer noch Tränen in die Augen.

Ich wollte nach Amerika! Ich wollte nicht Baumstämme schleppen und mich von Magerquark und Eiern ernähren. Wie konnten es meine sogenannten „Freunde“ nur wagen, das Geld dafür rauszuschmeißen, dass ich gefoltert wurde? Das würde ich ihnen nie, niemals verzeihen.

Jedenfalls sah ich überhaupt nicht ein, dass dieses Sixpack wahrscheinlich TAUSENDE bekam und dann nichts dafür tun musste. Na warte, dem würde ich das Leben zur Hölle machen!

Ich ließ ihn eine Woche schmoren, bis ich zurückrief. Er sollte sich bloß nicht einbilden, ich könne es kaum noch erwarten, mit ihm zusammen Liegestütze oder etwas ähnlich Bescheuertes zu machen. Ich wollte mit ihm überhaupt nichts machen!

„Hallo Ina, wie schön, dass du dich meldest“, flötete er. Seine Stimme war samtweich und richtig sexy, aber davon würde ich mich nicht einlullen lassen. Ich fand es gar nicht schön, dass ich mich meldete, aber das musste ich ja wohl, wenn er sich das Geld nicht umsonst einstecken wollte.

„Wann hast du denn Zeit für mich? Ich freue mich schon sehr auf unsere Begegnung und bin ganz gespannt auf dich.“ Seine Stimme hatte nun einen warmen Unterton. Donnerwetter, der machte seinen Job aber wirklich gut! Nur, dass er bei mir damit an der falschen Stelle war. Er hörte sich glatt an wie ein Callboy. Vielleicht war er ja einer und versüßte den dicken Frauen die Tortur mit einem abnehmfördernden Schäferstündchen. Vielleicht durften sie zur Belohnung mit ihm ins Bett, wenn sie fünf oder zehn Kilo abgenommen hatten und dafür kassierte er dann noch mal ein üppiges Honorar.

Da würde der Knabe bei mir aber auf Granit beißen! Obwohl ich eine Talkshow über Sex moderierte, interessierte mich Sex nicht mehr besonders. Meine wilden Jahre waren einfach vorbei, lange schon. Ich verstand nicht, warum immer so ein Tamtam darum gemacht wurde. Jeder tat so, als hätte er jede Nacht wilden, heißen, hemmungslosen Sex und mindestens drei Orgasmen.

Dabei spielte sich in Wahrheit kaum etwas ab unter den deutschen Decken und man stieg vielleicht einmal im Monat lustlos übereinander her. Das wollte aber natürlich niemand zugeben. Außer mir. Ich hatte kein Problem damit, zuzugeben, dass Daniel und ich lieber gemütlich und gut aßen, als Sex zu haben. Na und? Wir waren uns immerhin einig. Sex war uns einfach zu anstrengend. Und hieß es nicht immer, Essen sei der Sex des Alters?

Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, Ben. Wir verabredeten uns zu einem Rendezvous, und Ben wollte gleich zu mir kommen.

„Äh … können wir uns nicht an einem neutralen Ort treffen?“, wollte ich wissen. „Ich kenne dich doch gar nicht. Also, ich möchte eigentlich nicht einen fremden Mann in meine Wohnung lassen.“

Ben lachte leise. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Schau mal auf meine Website, ich habe etliche Referenzen. Aber okay, wir können uns auch gern in einer Kneipe treffen. Wo wäre es dir am liebsten?“

„Nehmen wir die Mittel-Bar“, schlug ich vor, denn die war um die Ecke. Ich würde für Mr. Muscel Man doch nicht quer durch die Stadt fahren! Und mir war es auch ganz egal, wo er wohnte und ob er quer durch die Stadt fahren musste. Er hatte schließlich das Geld für meine Amerika Reise eingesackt. Da konnte er auch von Pontius zu Pilatus fahren, das war mir doch echt egal.

Ja, ich war aggressiv. Ich wurde zu etwas gezwungen, das ich überhaupt nicht wollte und ärgerte mich den ganzen Tag darüber. Und dass ich es tun musste, damit das Geld nicht völlig futsch war, ärgerte mich noch mehr.

Frustriert setzte ich mich an meinen Schreibtisch und fuhr meinen Laptop hoch. Damit ich wusste, auf wen ich mich einstellen musste, würde ich mir Mr. Sixpack erst mal im Internet ansehen. Bestimmt war er ein eingebildeter Lackaffe und zu blöd, um geradeaus zu gucken.

Man kannte doch diese Muskelmänner: bildschön, aber wenn sie den Mund aufmachten, wusste man, dass sich die Gehirnmasse prozentual zur Muskelmasse abgebaut hatte. Sie waren kaum fähig, einen zusammenhängenden Satz von sich zu geben, der mehr als drei Wörter hatte. Und mit so einem Hohlkopf sollte ich ab jetzt meine Zeit verbringen! Ich tat mir jetzt schon leid.

Ach, das war er? Ich war überrascht, denn er sah total sympathisch aus. Dunkle, kurze, wuschelige Haare, blaue Augen, ein strahlendes Lachen – und natürlich, wie erwartet, ein Körper zum Dahinschmelzen.

Ich helfe dir, deinen Traum von einem Körper, in dem du dich wohl fühlst, zu verwirklichen, behauptete er vollmundig. Gemeinsam schaffen wir es! Ich zeige dir den Weg zum Glück, aber du musst ihn selbst gehen.

War er auch noch Esoteriker oder was? Na, ob wir den Weg zum Glück gemeinsam gehen würden, bezweifelte ich doch sehr stark!

Drei Tage später machte ich mich unwillig auf den Weg zur fünfzig Meter entfernten Mittel-Bar. Vor der Eingangstür draußen stand er, unverkennbar. Zugegebenermaßen sah er unverschämt gut aus in seiner schwarzen Lederjacke und Jeans und mit einem frechen Grinsen im Gesicht. Und – es war kaum zu glauben – er sah sogar noch besser als auf seiner Website. Für einen Moment wurde mir ganz schwindlig. Er war ganz klar der bestaussehendste Mann, den ich jemals getroffen hatte.

„Hi, du bist sicher Ina, oder?“

Seine unglaublich blauen Augen funkelten, und ein voller, sinnlicher Mund entblößte perfekte weiße Zähne. Seine Haut war ebenmäßig und gebräunt, und selbstverständlich verunzierte keine einzige Sommersprosse oder ein lästiger Pickel sein Gesicht. Manche Menschen waren vom Schicksal schon sehr bevorzugt.

Doch das war es nicht allein. Es gab viele Leute, die optisch zwar eine Augenweide waren, aber dennoch nichts ausstrahlten. Das war bei Ben jedoch völlig anders. Er leuchtete förmlich von innen heraus, und ich konnte die Wärme und Herzlichkeit, die von ihm ausging, spüren. Er hatte eine unbeschreibliche Aura, der ich mich nicht entziehen konnte. Ich vergaß vorübergehend zu atmen. Und ich konnte nur völlig benebelt denken:

Wenn das jetzt ein richtiges Date wäre, würde der sich auf der Stelle umdrehen und das Weite suchen. Dem wäre ich viel zu dick.

Ich nickte mechanisch und starrte ihn immer noch an.

Ben lächelte. „Wollen wir reingehen?“

Nein, wir wollen hier auf dem Bürgersteig stehen bleiben.

Ich jedenfalls blieb wie angewachsen stehen. Ben ging voraus und hielt mir galant die Tür auf. Mir klopfte das Herz bis zum Halt. Mein Gott, war das ein schöner Mann! Er war absolut umwerfend! Was musste der nur von mir denken? Sicher nichts Gutes.

Plötzlich schämte ich mich, dass ich mich so hatte gehen lassen. Ich hatte in sechs Jahren zwanzig Kilo zugenommen! Dabei war ich schon vorher keine Gerte gewesen. Warum hatte ich nicht irgendwann mal Stopp! Gesagt? Beispielsweise nach den ersten fünf Kilo? Warum hatte ich immer weiter gefressen?

Ben wippte mit federnden Schritten vor mir her, während ich ein paar Stühle zur Seite schieben musste, um durch die engen Gänge durchzukommen. Mir entging nicht, dass einige Frauen Ben verstohlene Blicke zuwarfen. Was mochten sie wohl denken, was wir miteinander zu tun hatten? Der Callboy und die dicke, zahlungswillige Frau, die ansonsten gar keinen Sex hat?

Ben ließ sich am letzten Tisch ganz in der Ecke nieder. Klar, er wollte nicht mit mir gesehen werden. Dann lächelte er mich charmant an.

„Schön, dass es geklappt hat, Ina.“

Ja, klar. Du hast ja auch genug Kohle dafür eingesackt.

„Das finde ich nicht“, entgegnete ich widerborstig. Mich nervte plötzlich alles. Dass er so gut aussah. Dass ich so dick war. Dass uns alle so merkwürdig angesehen hatten. Ich fühlte mich auf einmal minderwertig und hässlich. Aber wie sollte ich mich auch in Gegenwart eines Mannes fühlen, der absolut perfekt aussah?

Erstaunt hob Ben die Augenbrauen.

„Wie bitte?“

„Das ist alles ein großes Missverständnis.“

Verzweifelt sah ich ihn an. Er hatte ein markantes Gesicht. Er war groß. Er war durchtrainiert. Er hatte eine irrsinnige Ausstrahlung. Und ich? Ich hatte nichts von alledem. Ich war klein, fett und hässlich.

Ich wollte mir erst gar nicht vorstellen, wie es aussehen würde: Er würde leichtfüßig und unbeschwert irgendwelche Übungen vormachen und ich würde mich zu Tode blamieren, weil ich sie mit meinem dicken Bauch nicht nachmachen konnte.

Ich konnte mich noch gut an den Sportunterricht in der Schule erinnern, der für mich jedes Mal der blanke Horror gewesen war. Nie hatte ich mich elender und wertloser gefühlt als in den schrecklichen Momenten, in denen ich als letzte in eine Mannschaft gewählt worden war. Davon hatte ich immer noch ein Trauma, und das wollte ich keineswegs wieder beleben.

„Ich will gar nicht abnehmen“, erklärte ich. „Es besteht überhaupt kein Grund dazu. Mir geht es gut. Meine Freunde haben da irgendwas missverstanden.“

Ben runzelte die Stirn und sah mich aufmerksam an.

„Du hast also nicht gesagt: 'Ich hasse es, so dick zu sein und mich nicht mehr bewegen zu können. Ich würde alles dafür geben, schlank zu sein. Es ist mein größter Wunsch.

---ENDE DER LESEPROBE---