Küstennebel - Gisa Pauly - E-Book
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Küstennebel E-Book

Gisa Pauly

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Beschreibung

Als ein Italiener als vermisst gemeldet wird, kommt das Kommissar Erik Wolf sehr gelegen – so muss er seine Schwiegermutter Carlotta nicht nach Umbrien auf eine Silberhochzeit begleiten. Zunächst stochert er im Sylter Nebel, doch dann überschlagen sich die Ereignisse: Ein Informant in Mamma Carlottas Heimatdorf ist unter seltsamen Umständen gestorben, und Erik bleibt nichts anderes übrig, als ins sonnige Italien zu reisen … Perfekte Cozy Crime für Ihre Strandlektüre – machen Sie Urlaub mit Mama Carlotta!  Bücher für den Urlaub gibt es viele. Hervorragende Regionalkrimis ebenso. Doch kaum ein anderer Nordsee-Krimi bringt das Lebensgefühl auf Sylt mit so viel Charme und Situationskomik auf den Punkt wie die Mamma Carlotta-Reihe. Lassen Sie die Seele baumeln und schmökern Sie nach Herzenslust –  die Romane von Gisa Pauly sind ein pures Vergnügen und ein perfekter Tipp für Ihre Urlaubslektüre. 

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.de Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2012 ISBN 978-3-492-95482-2 © 2012 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München unter Verwendung der Fotos von Life On White / Getty Images, Julien Capmeil / Photonica / Getty Images und MTrebbin / shutterstock Datenkonvertierung: CPI - Clausen & Bosse, Leck

Als er das erste Mal erwachte, war es noch dunkel. Wie lange hatte er geschlafen? Anscheinend nur ein oder zwei Stunden. Dann musste ihn der Schuss aufgeschreckt haben. In seiner Nähe hatte jemand gefragt: »Was war das?«

Erik Wolf hatte es sofort gewusst. Für ein oder zwei Sekunden hatte die Welt stillgestanden, hatte das Entsetzen jedes Geräusch verschluckt, dann hatte jemand laut aufgeschrien, ein weiterer Schrei gellte, kurz darauf drang Tumult die Treppe von der Bahnhofshalle zu den Gleisen herauf.

Erik zog seinen Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn den Mitreisenden hin. »Polizei! Sie bleiben hier auf dem Bahnsteig!« Dann rannte er die Treppe hinab und folgte dem Gang Richtung Bahnhofshalle.

Dort drängten sich ein paar Menschen um eine Person, die am Boden lag. Einer hatte ein Handy am Ohr. »Polizei? Kommen Sie sofort! In der Bahnhofshalle ist jemand erschossen worden!«

Erik schob sich an ein paar Leuten vorbei, die sich nur widerwillig zur Seite drängen ließen. Dann sah er den Toten vor sich liegen, auf dem Rücken, Arme und Beine von sich gestreckt, den Blick zur Decke gerichtet, starr, ausdruckslos. Auf seinem Gesicht lag kein Entsetzen, nur ein leichtes Staunen. Steffen Ellebrecht war von seinem Mörder überrascht worden.

Erik sank neben seinem toten Kollegen auf die Knie. Von ferne ertönte ein Martinshorn, das schnell näher kam. Schon bald hörte er Bremsen quietschen und das Schlagen von Autotüren, dann eilige Schritte und energische Stimmen.

Jemand griff nach seinen Schultern und sagte: »Stehen Sie bitte auf.«

Erik erhob sich, ohne den Blick von dem Toten zu lassen, auf dessen Brust sich ein dunkler Fleck ausbreitete.

»Kennen Sie den Mann?«

Erik nickte. »Wir haben zusammen die Polizeischule besucht. Gelegentlich haben wir uns hier in Flensburg getroffen. Er wollte mich vom Zug abholen.«

Als er das nächste Mal erwachte, war der Tag angebrochen. Die Finsternis hatte einem grauen Morgen Platz gemacht. Auf Sylt herrschte dichter Nebel. Er musste vom Festland herübergekommen sein. Schon als Erik am Vorabend über den Hindenburgdamm gefahren war, hatte der Küstennebel den Wind zum Schweigen gebracht. Und nun hatte er sich noch immer nicht gelichtet.

Nach wie vor hatte Erik das Gesicht von Steffen Ellebrecht vor Augen, den gebrochenen Blick, das Blut auf seiner Jacke. Kommissar Annegarn, dem jungen Ermittler, hatte es nicht gefallen, dass ein älterer Kollege ihn unterstützen wollte. Nachdem Erik seine Aussage gemacht hatte, wurde er nach Hause geschickt. »Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich Sie brauche.«

Zum Tathergang hatte Erik ohnehin nichts sagen können. Aber er hatte Annegarn die Adresse von Steffen Ellebrecht gegeben und ihm erklärt, dass dieser zwei Jahre zuvor aus dem Dienst ausgeschieden war, zermürbt von anonymen Drohungen. Kommissar Annegarn hatte Ellebrechts Namen nie gehört. »Das war vor meiner Zeit. Hat er Familie? Kennen Sie seine Telefonnummer?«

Erik hatte alles erzählt, was er wusste. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie den Täter in seinem persönlichen Umfeld finden«, hatte er gesagt. »Steffen hatte keine Feinde. Vielleicht war es ein Racheakt? Ein Ganove, den er in den Knast gebracht hat?«

Doch Kommissar Annegarn hatte ihn gebeten, sich mit solchen Vermutungen zurückzuhalten. Nachdem Erik seine Personalien hinterlassen hatte, wurde er wie alle anderen aus der Bahnhofshalle geschoben und konnte von draußen noch eine Weile zuschauen, wie die Flensburger Kollegen mit ihrer Arbeit begannen. Aber nicht lange, denn bald schon spürte er wieder eine Hand auf seinem Arm.

»Hier gibt es nichts mehr zu sehen«, sagte ein Kollege in grüner Uniform. »Gehen Sie bitte weiter. Der Bahnhof wird kurzfristig geschlossen.«

Ohne diesen Hinweis hätte Erik sich in den nächsten Zug gesetzt und wäre nach Sylt zurückgefahren. So aber tastete er sich durch den Nebel zu dem Restaurant am Hafen, wo er einen Tisch für zwei Personen reserviert hatte. Er bestellte Matjesfilets mit Bratkartoffeln, wie er es sich vorgenommen hatte. Während der Fahrt über den Hindenburgdamm hatte er sich darauf gefreut.

Während er aß und sein Bier trank, starrte er den leeren Stuhl und das unbenutzte Gedeck an. Steffen Ellebrecht! Sein Kollege hatte oft davon gesprochen, dass er sich vor der Rache einiger Schwerverbrecher fürchtete. Aber seit er nicht mehr im Dienst war, hatte er sich sicherer gefühlt. Die anonymen Drohungen hatte er Stück für Stück vergessen können …

Kaum hatte Erik das Besteck zur Seite gelegt, erschien die Bedienung an seinem Tisch. »Wie wär’s mit einem Küstennebel zur Verdauung?«, fragte sie mit resoluter Freundlichkeit.

Und Erik hatte sich zu schwach gefühlt, um ausgerechnet ein Getränk mit diesem Namen abzulehnen. Er hatte die milchig-weiße Flasche mit dem blauen Etikett betrachtet, die ihm die Kellnerin hinhielt, und genickt. Als er das Glas geleert hatte, spürte er die Wärme, die der Schnaps in seinem Körper erzeugte, und fühlte sich tatsächlich besser.

Als Erik zum dritten Mal erwachte, hatte sich der Nebel aufgelöst. Er würde sich dem Tag stellen müssen, die Erinnerung an Steffen Ellebrechts Tod in sich einschließen. Bloß nicht darüber reden! Lucia hätte er natürlich davon erzählt, gleich nach seiner Heimkehr hätte er sich seine Erschütterung von der Seele geredet, hätte sich von ihr trösten lassen. Aber die lautstarke Ergriffenheit seiner Schwiegermutter, ihre vielen Worte, ihre großen Gesten hätte er nicht ertragen. Insbesondere jetzt nicht, da es zwei Gäste in seinem Haus gab, mit denen er kein tieferes Gefühl teilen wollte. Sie waren ihm zu fremd.

Erik zog sich die Decke über die Ohren. Dabei wusste er genau, dass es keinen Sinn hatte, sich zu verstecken. Man würde ihn über kurz oder lang die Treppe hinunterlocken, in die Küche bugsieren, ihm etwas zu essen aufnötigen, ihn immer wieder fragen, ob das Treffen mit seinem früheren Kollegen lustig gewesen sei, ob er sehr viel getrunken habe und deswegen erst mit dem letzten Zug nach Sylt zurückgekehrt sei und ob er etwa bis in den hellen Tag hinein schlafen musste, weil er einen Kater hatte.

Italiener brachten kein Verständnis für Einsilbigkeit auf. Also würde er das berichten, was am nächsten Tag sowieso in der Zeitung zu lesen war. Dann würden alle, die da unten in der Küche auf ihn warteten, ein paarmal pflichtbewusst »Madonna!« und »Terribile!« rufen, aber anschließend über seinen Kopf hinweg über diesen Mord diskutieren. Und Erik würde schweigend danebensitzen, sich am liebsten die Ohren zuhalten, während alle auf einmal drauflosredeten, sich entweder gegenseitig zustimmten oder lauthals widersprachen und ihre Meinung mit Händen und Füßen untermauerten.

Auch jetzt wurde in der Küche heftig debattiert. Wenn Erik die Worte, die zu ihm hochdrangen, richtig verstand, ging es um die Frage, ob Silvia von Schweden ihrem königlichen Gemahl irgendeinen Seitensprung verzeihen solle. Eriks Schwiegermutter wusste anscheinend einiges über den Zustand der royalen Ehe, wozu es offenbar mindestens zwei gegensätzliche Ansichten gab, die lautstark vertreten wurden. Dazu prustete die Espressomaschine, Tassen klirrten, Stühle wurden gerückt, und nun erklang auch noch laute Klaviermusik aus seiner Stereoanlage. Es war nicht auszuhalten!

Stöhnend erhob Erik sich. An Schlaf war ohnehin nicht mehr zu denken. Auf dem Weg ins Bad warf er einen Blick nach unten und stellte fest, dass seine Tochter am Treppengeländer stand. Sie trug die Trainingskleidung, in die sie in den Ferien jeden Morgen schlüpfte und die sie erst wieder auszog, wenn sie zu Bett ging und es an diesem Tag kein Plié und keine Arabesque mehr zu üben gab. Kerzengerade stand sie da, mit einem Ernst, als stünde ihr ein Solo als sterbender Schwan bevor. Vor ihr hatte Luana sich aufgebaut, die Carolins Haltung korrigierte und sie mit Kommandos quälte, vor denen Erik eilig ins Bad flüchtete.

Deprimiert starrte er sein breites, kantiges Gesicht im Spiegel an, die blasse Haut, die müden Augen. Mit einer schwachen Geste strich er sich über seinen Schnauzer, das einzige Ziel seiner Eitelkeit. Der Schnauzer war ihm wichtig, ihn hatte er gern akkurat geschnitten, dagegen waren ihm seine Frisur und seine Kleidung eher gleichgültig. Was er anzog, musste bequem sein, das war die Hauptsache. Lucia hatte ihn oft gebeten, sich mal etwas Modisches zuzulegen, aber Erik hatte sich stets geweigert, in eine enge Jeans zu steigen, wenn er den Bauch einziehen musste, um sie zu schließen.

Mamma Carlottas Stimme war sogar bis in diesen stillen Raum zu hören. Zwar wurde das Leben für ihn leichter, wenn seine Schwiegermutter zu Besuch war und ihm die Sorge um den Haushalt und die Kinder abnahm, dass aber jeder ihrer Handgriffe von Lärm begleitet wurde, von Gesang, Verwünschungen, Selbstgesprächen oder Geschirrgeklapper, bereitete ihm Kopfschmerzen. Wenn dann noch italienische Verwandtschaft zu Gast war, kam es ihm an manchen Tagen sogar unerträglich vor. So wie heute! Schon zu Lucias Lebzeiten hatte er drei Mordfälle auf einmal herbeigesehnt, wenn Besuch aus Italien erwartet wurde.

Er versuchte, mit dem Geräusch des Wasserhahns die Pizzicato-Polka zu übertönen, die von unten heraufdrang, aber es gelang ihm nicht. Auch Luanas Stimme konnte er nur aussperren, wenn er die Dusche andrehte. »Erste Position! Schau auf deine Füße, Carolina! Und jetzt …!«

Erik stellte sich unter den heißen Wasserstrahl und genoss es, dass nur noch Rauschen und Prasseln zu hören war. Heißer Dampf legte sich auf die Fliesen und auf die Fensterscheiben, und für ein paar wunderbare Augenblicke fühlte er sich allein in seinem Haus. Aber nur, bis er die Dusche abgestellt hatte und anfing, sich abzutrocknen.

Nun war auch Tizios Stimme zu hören. »Carolina! Wo ist die Torta al limone?«

Der Sohn von Carlottas verstorbener Schwester war das letzte Mal zu Gast auf Sylt gewesen, als Lucia noch lebte. Den verwitweten Erik zu besuchen, war ihm nie in den Sinn gekommen. Kein Wunder! Erik wusste, dass die Verwandtschaft seiner Frau mit einem einsilbigen Friesen wie ihm nichts anfangen konnte und dass Lucia oft gefragt worden war, was sie nur an diesem Mann fand, der stundenlang über einem Buch hocken oder in eine Landschaft starren konnte, ohne ein Wort von sich zu geben.

Dass in Umbrien, wo er doch ab und an einen Besuch machen musste, über seinen Kopf hinweg geredet wurde, dass niemand auf eine Antwort wartete, wenn er aus Höflichkeit etwas gefragt worden war, dass er, wenn er mal etwas zum Gespräch beisteuerte, so erstaunt angesehen wurde, als hätte man seine Anwesenheit zwischenzeitlich vergessen – das wusste er natürlich auch.

Aber es machte ihm nichts aus. Im Gegenteil! Seit seine italienische Verwandtschaft über ihn hinwegsah, gestalteten sich seine Besuche ein wenig angenehmer. Das war der Kompromiss, den sie gefunden hatten – Erik, der Sylter, und die Mitglieder der weitverzweigten Familie Capella. Erik war anwesend, wie man das von einem angeheirateten Familienmitglied erwarten durfte, aber er störte nicht weiter. Und er musste sich selbst nicht mehr ständig stören lassen.

Seit Lucias Tod war er nur zweimal in Umbrien gewesen, und das auch nur seinen Kindern zuliebe, denen er den Kontakt zu den Verwandten ihrer Mutter erhalten wollte. Die müde Höflichkeit, mit der man ihm früher entgegengekommen war, hatte bei diesen letzten beiden Besuchen noch weiter abgenommen und war zu einer Gleichgültigkeit geworden, die Erik sehr angenehm fand. Lediglich seine Schwiegermutter hatte ihn ständig mit Essen bedrängt, ihn zum Espresso genötigt, auf Antworten bestanden, wenn sie ihm überflüssige Fragen stellte, und ständig von ihm wissen wollen, ob er sich im Elternhaus seiner verstorbenen Frau wohlfühle.

Trotzdem dachte Erik nicht gern an die Silberhochzeit, die ihm bevorstand. Er wusste nicht einmal, in welchem Verwandtschaftsverhältnis er und seine Kinder zu dem Jubelpaar standen. Aber dass er zu diesem Anlass nach Italien reisen musste, wusste er genau. Mamma Carlotta hatte es ihm unmissverständlich klargemacht.

Seufzend stutzte er seinen Schnauzer zurecht und rasierte sich das Kinn. Blieb nur zu hoffen, dass sich auf Sylt in den nächsten Tagen ein Kapitalverbrechen ereignete und die Staatsanwältin sein Urlaubsgesuch ablehnte. Er strich über seine Haare, stellte fest, dass ein paar graue hinzugekommen waren, und fand sich reizlos und unattraktiv.

Die Stereoanlage gab noch immer keine Ruhe, während Erik in seine weiten, bequemen Bermudas stieg und sich ein altes T-Shirt über den Kopf zog. Mamma Carlotta redete ununterbrochen auf den Kuchen ein, der sich anscheinend nicht schneiden lassen wollte, Luanas Stimme wiederholte unermüdlich: »Und hoch und ab, dann die zweite Position! Und hoch und ab …«

Tizio übertönte das Ganze mit der mehrfach vorgetragenen Frage, wo sich die Auflagen für die Sonnenliegen befänden, und Mamma Carlotta antwortete mit einer so komplizierten Beschreibung des Aufbewahrungsortes, dass Tizio vermutlich noch dreimal nachfragen würde. Währenddessen raste Felix als Formel-1-Pilot die Treppe hinab, Mamma Carlotta kam urplötzlich auf die Idee, die Pizzicato-Polka mit ihrem Gesang zu begleiten, und Tizio hatte anscheinend für Durchzug gesorgt, weshalb die Wohnzimmertür ins Schloss knallte und alle anderen derart laut mit ihm schimpften, dass die Klaviermusik kaum noch zu hören war.

Erik dachte darüber nach, den Tag außer Haus zu verbringen, obwohl er an diesem dienstfreien Sonnabend eigentlich den Gartenzaun streichen wollte. Aber jeder Ort, an dem es ruhig war, kam ihm besser vor als sein eigenes Haus.

Mamma Carlotta fühlte sich großartig, als sie die Haustür hinter sich ins Schloss zog und kurz darauf das Fahrrad aus dem Schuppen holte. Endlich war mal Leben im Hause Wolf am Süder Wung! Bei jedem ihrer Besuche hatte sie darüber geklagt, dass es dort viel zu ruhig zuging. Erik und Carolin waren so verschlossen wie alle anderen Friesen und antworteten auf ihre Fragen oft derart einsilbig, dass es einfacher war, sich mit der Fliege an der Wand zu unterhalten. Ein schrecklicher Zustand für Carlotta Capella! Zum Glück redete und lachte Felix genauso gern wie seine italienischen Vorfahren und freute sich über jedes Wort, das seine Nonna an ihn richtete.

Sie schob das Fahrrad auf die Straße und atmete tief ein. Herrlich, diese würzige Luft! Viel zu kalt natürlich für einen Sommertag, aber Mamma Carlotta hatte sie mittlerweile lieben gelernt, die klare Luft auf Sylt, die immer ein wenig nach Salz roch, die leichter war als die warme Luft in Umbrien, blumiger und aromatischer.

Inzwischen liebte sie auch das Meer, das ihr anfänglich Angst gemacht hatte, den Himmel, der über Sylt weiter zu sein schien als über ihrem Dorf in Umbrien, und sogar den Wind, der hier allgegenwärtig war. Schade nur, dass die Menschen, die auf Sylt lebten, genauso rau waren wie das Nordseeklima. Wenn sie ihnen »Buon giorno!« entgegenrief, antworteten sie mit einer gequälten Silbe, die erst zerquetscht und dann gestreckt wurde: »Moin!«

Auch die junge Frau, die ihr gerade entgegenkam, nuschelte ihr diesen Gruß zu. Sie half manchmal beim Bäcker aus und redete so leise, undeutlich und sichtlich ungern, dass Mamma Carlotta ihr noch nichts von ihrer Lebensgeschichte hatte entlocken können.

Eriks Assistent Sören Kretschmer gehörte ebenfalls zu denen, die langsam und leise redeten, dem Gerichtsmediziner war südländisches Temperament ebenfalls fremd, und der Chef der Spurensicherung, der gelegentlich ins Haus kam, erschrak sogar, wenn in seiner Gegenwart laut gelacht wurde. Auch Fietje und Tove, ihre heimlichen Freunde in Wenningstedt, waren so träge und gemütsarm wie alle anderen Sylter.

Umso mehr freute Mamma Carlotta sich über den Besuch ihres Neffen. Und dass er seine Freundin mitgebracht hatte, hatte die Freude noch größer gemacht. Jedenfalls anfänglich …

Sie war entzückt gewesen, als sie hörte, dass Tizio die Frau fürs Leben gefunden hatte – bis sie Luana kennengelernt hatte. Hübsch war sie, kein Zweifel, sehr hübsch sogar. Sie hatte ein schmales Gesicht, große Augen, eine kleine Nase und ausdrucksvolle Lippen. Ihre langen, dunklen Haare hatte sie wohl dem Erbteil ihrer Mutter zu verdanken, die Italienerin gewesen war, die helle Haut stammte vermutlich von ihrem deutschen Vater. Und ihre Figur war atemberaubend. Schlank, aber mit den richtigen Rundungen an den rechten Stellen.

Allerdings hatte Mamma Carlotta vom ersten Augenblick an den Verdacht gehabt, dass Luana ihre wahren Gefühle versteckte: Langeweile, Überdruss, Unlust. All das sprach nicht nur aus ihrem Blick, sondern auch aus der Körperhaltung. Und was Mamma Carlotta am wenigsten leiden konnte: Luana verschloss sich sofort, wenn es um ihr Leben, ihre Vergangenheit und ihre Familie ging. Sie hörte sich an, was Mamma Carlotta zu erzählen hatte, aber selbst antwortete sie nur ausweichend, am liebsten überhaupt nicht. Sobald Fragen auf sie zukamen, machte sie Carolin den Vorschlag, gemeinsam ein paar Pirouetten zu drehen, und entzog sich so dem Interesse an ihrer Person. Dass sie ständig ihr Handy am Ohr hatte, machte sie auch nicht sympathischer, vor allem, dass sie sämtliche Gespräche im Flüsterton führte und niemals erwähnte, von wem sie angerufen worden war und worum es in dem Gespräch gegangen war, gefiel Mamma Carlotta gar nicht.

Und seit sie einsehen musste, dass Luana vom Kochen nichts verstand und immer gerade ihre Nägel lackierte, wenn Gemüse geputzt werden musste, war es mit der Sympathie für Luana stetig bergab gegangen. Wie konnte Tizio sich in eine solche Frau verlieben? Wie konnte er ernsthaft in Erwägung ziehen, Luana zu heiraten? Er brauchte eine Frau, die mit seinem kleinen Gehalt die Familie durchbringen konnte, und nicht eine, die den größten Teil davon für Kosmetik, Modeschmuck und Miniröcke ausgab!

Nachdenklich schob Mamma Carlotta das Fahrrad auf die Straße. Wenn sie wenigstens wüsste, ob Luana aus so geordneten Verhältnissen stammte, dass man sie als Mitglied der Familie Capella akzeptieren konnte! Aber Luana redete, wenn überhaupt, über ihre verstorbene Mutter und wich allen Fragen nach ihrem Vater aus. Nur dass Luana keine Geschwister hatte und ihre Mutter an einer Herzkrankheit gestorben war, hatte Mamma Carlotta bisher in Erfahrung gebracht. Alles andere hüllte Luana in Schweigen.

Mamma Carlotta bog vom Süder Wung in die Westerlandstraße ein, um zu Feinkost Meyer zu fahren. Wenn Gäste im Hause waren, konnte das Essen gar nicht opulent genug sein! Sie freute sich darauf, statt nur für vier Familienmitglieder nun für sechs Leute zu kochen. Eine Personenzahl, bei der das Gemüseputzen, Schnippeln, Rühren, Braten und Abschmecken erst anfing, Spaß zu machen! Wenn sie sich nach dem Einkaufen einen Aperitif in Käptens Kajüte genehmigte, würde ihr die Arbeit in der Küche noch flotter von der Hand gehen.

Ihre kurzen dunklen Locken flogen, der Rock des roten Sommerkleides, das sie sich in der Friedrichstraße von Westerland gekauft hatte, flatterte. Sie hob die linke Hand vom Lenker, um den Rock in der Nähe ihrer Knie festzuhalten, aber als das Rad zu schwanken begann, nahm sie das kleinere Risiko in Kauf und gestattete ihrer Mitwelt einen Blick auf ihre Oberschenkel, die seit fast vierzig Jahren niemand mehr zu Gesicht bekommen hatte, der nicht zu ihrer Familie gehörte. Vorsichtshalber legte sie den Kopf in den Nacken, damit sie selbst nicht mit ansehen musste, wie ihre Beine sich zeigten, als gehörten sie zu einem jungen Mädchen.

In ihrem Dorf hätte sie sich damit alle gleichaltrigen Frauen zu Feindinnen gemacht. Dort hatte sie sich schon rechtfertigen müssen, als sie nach dem Tod ihres Mannes von einer dicken Mamma zu einer molligen Mittfünfzigerin geworden war, die ohne Haarknoten von Sylt zurückgekehrt war und seit ihrem ersten Besuch sogar mit Lockenstab und Lippenstift umgehen konnte. Eine Sensation für die schwarz gekleideten Witwen von Panidomino!

Sie war gerade auf der Höhe der Touristinformation angekommen, als sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Mann bemerkte. Er war von undefinierbarem Alter, nicht besonders groß und hatte einen zierlichen Körperbau. Leicht gebeugt ging er und bewegte sich mit schleppenden Schritten voran. Von seinem Gesicht war nicht viel zu erkennen, denn der ungepflegte Bart überwucherte nicht nur sein Kinn, sondern wuchs ihm sogar die Wangen hoch. Auf dem Kopf trug er eine Strickmütze mit einem dicken Bommel, die er so tief ins Gesicht gezogen hatte, dass sie sogar seine Brauen verdeckte. Fietje Tiensch, der Strandwärter von Wenningstedt, der am Ende der Seestraße Dienst tat! Jedenfalls dann, wenn er seine Pflichten nicht vergaß und einem Glas Jever in Käptens Kajüte den Vorzug gab.

Mamma Carlotta stieg vom Rad und versuchte, ihn auf sich aufmerksam zu machen. »Fietje! Huhu!«

Aber Fietje Tiensch sah weder nach rechts noch nach links. Wer nicht genau hinschaute, konnte glauben, dass er mit seinen Gedanken woanders war und schon das kühle Jever vor sich sah, das er auf dem Weg zu seinem Strandwärterhäuschen in Käptens Kajüte trinken würde. Aber Mamma Carlotta merkte schnell, dass Fietjes Gleichmut nur gespielt war. Urplötzlich machte er einen Schritt zur Seite, duckte sich blitzschnell und gab vor, an dem Modeangebot von Annanitas Modestübchen interessiert zu sein, vor dessen Schaufenstern auf zwei Ständern die Sonderangebote präsentiert wurden. Fietje und Mode? Das passte so wenig zusammen wie Fietje und Karriere oder Fietje und gesunde Ernährung.

Was aber zu Fietje Tiensch gehörte und was ihm schon eine Menge Ärger eingebracht hatte, war das Spannen. Schon mehr als einen Konflikt hatte er deswegen mit Erik Wolf gehabt, bei dem sich wütende Kurgäste beschwerten, weil Fietje ihnen ins Schlafzimmer geguckt hatte. Die Kurverwaltung hatte Fietje abgemahnt und ihm mit Kündigung gedroht, wenn er nicht aufhörte, heimlich das Leben fremder Menschen zu beobachten.

Noch immer beschäftigte er sich mit dem Angebot pastellfarbener Hosen und strassbesetzter T-Shirts, ohne einen Mann aus den Augen zu lassen, den Mamma Carlotta nur kurz von hinten sehen konnte. Kaum hatte sie den Hals gereckt, war er schon um die Hausecke verschwunden. Prompt schlich Fietje ihm hinterher.

Kopfschüttelnd blickte Mamma Carlotta ihm nach, wie er genauso flink hinter der Hausecke verschwand wie sein Opfer. Was mochte Fietje an diesem Mann interessieren? Sonst war er nachts unterwegs, um sich in das Intimleben anderer zu schleichen, die vergessen hatten, die Vorhänge zuzuziehen. Sie würde ein ernstes Wort mit ihm reden müssen. Fietje durfte nicht noch einmal auffällig werden, wenn er seinen Job als Strandwärter behalten wollte.

Sie bog nach rechts in die Hauptstraße ein und fuhr auf Feinkost Meyer zu. Besser war es, erst die Einkäufe fürs Abendessen zu erledigen, bevor sie Fietje ins Gewissen reden würde. Natürlich musste sie darauf achten, es mit den Vorhaltungen nicht so weit zu treiben, dass die Freundschaft, die sie zu Fietje Tiensch und dem Wirt der Imbissstube unterhielt, in Gefahr geriet. Die beiden hatten sich in ihrem Leben schon zu oft anhören müssen, dass etwas aus ihnen geworden wäre, wenn sie auf die Ermahnungen von Menschen gehört hätten, die es gut mit ihnen meinten.

Trotzdem würde Mamma Carlotta ihren erzieherischen Auftrag als Schwiegermutter eines Kriminalhauptkommissars ernstnehmen und erst dann unauffällig dazu übergehen, sich mit einem kleinen Glas für die Arbeit in der Küche in Schwung zu bringen. Vielleicht hatte Tove Griess wieder Rotwein aus Montepulciano bestellt, wie er es immer tat, wenn die Schwiegermutter von Hauptkommissar Wolf auf Sylt erwartet wurde. Und da Fietje Tiensch seine gesamte Freizeit in Toves Imbissstube verbrachte, war die Chance, ihn dort anzutreffen, sehr groß. Fietje Tiensch hatte keine Familie, keine Freunde, niemanden, der auf ihn achtgab, er brauchte jemanden, der ihn zurückhielt, wenn er auf direktem Wege in irgendeinen Schlamassel war. Er brauchte jemanden wie Mamma Carlotta! Jedenfalls gelegentlich.

Sie fühlte sich wohl. Der Besuch der heruntergekommenen Imbissstube würde also einem wohltätigen Zweck folgen, das machte es ihr leichter, Eriks Wünschen zuwiderzuhandeln, der sie eindringlich vor Käptens Kajüte gewarnt hatte. Die war schon mehrmals vom Gewerbeaufsichtsamt geschlossen worden, der Wirt galt als gewalttätig und cholerisch und kannte die Gefängniszelle im Polizeirevier Westerland besser als jeder andere Sylter.

Und was von Fietje Tiensch, dem inselbekannten Spanner, zu halten war, hatte Erik ihr auch gründlich erklärt. Seitdem war er der Meinung, dass seine Schwiegermutter bei ihrem ersten Besuch nur ein einziges Mal versehentlich in diese Spelunke geraten war, weil Tove Griess einen guten Rotwein aus Montepulciano ausschenkte und sie keine Ahnung gehabt hatte, welch anrüchiges Etablissement sie betrat. Erik ging davon aus, dass sie seitdem einen großen Bogen um Käptens Kajüte machte. Und diese Überzeugung wollte sie auf keinen Fall erschüttern.

Leider dauerten ihre Einkäufe länger, als sie gedacht hatte. Die Zucchini für die Vorspeise hatte sie lange befühlen und sich dann mit einer anderen Kundin beraten müssen, ob sie schon zu weich waren und ob der Auskunft des Verkäufers zu trauen war, dass sie erst an diesem Morgen bei Feinkost Meyer angeliefert worden waren.

Zu einem eindeutigen Ergebnis war sie nicht gekommen, aber als sie die Obst- und Gemüseabteilung verließ, wusste sie, dass die andere Kundin aus Köln stammte und zum ersten Mal allein Urlaub machte, weil es ihr im letzten Herbst endlich gelungen war, ihren untreuen Ehemann vor die Tür zu setzen. Während Mamma Carlotta die schönsten Artischocken für die Spaghetti ai carciofi aussuchte, hatte sie sogar noch erfahren, dass die betrogene Kölnerin sich an ihrem Ehemann gerächt hatte, indem sie, bevor sie die Scheidung verlangte, alles heimlich kopierte, was sie in seinem Schreibtisch fand. Auch die Auszüge von dem Liechtensteiner Konto! Und da der Mann neben seiner Ehefrau nicht auch noch seinen Ruf verlieren und die schicke Eigentumswohnung auf keinen Fall gegen eine Gefängniszelle eintauschen wollte, hatte er ihr zähneknirschend alles überlassen, was sie haben wollte. Für eine so spannende Geschichte konnte man sich schon mal etwas länger in der Gemüseabteilung aufhalten.

Sie war ein wenig außer Atem, als sie ihr Fahrrad vor Käptens Kajüte abstellte. Die beiden Einkaufstaschen, die am Lenker baumelten, hätte sie gern dort hängen lassen, aber die Kassiererin von Feinkost Meyer hatte ihr von den Diebstählen erzählt, die immer dreister wurden. Wenn man auf Sylt seiner Einkäufe nicht sicher sein konnte, war es wohl besser, beide Taschen mit in die Imbissstube zu nehmen.

Schimpfend über die Last und über die Tatsache, dass heutzutage niemandem zu trauen sei, drückte sie mit dem rechten Ellbogen die Türklinke herunter, stieß mit dem linken Knie die Tür auf, schob sich durch den Spalt, der gerade groß genug war, und sorgte mit herausgereckter Kehrseite dafür, dass die Tür nicht vorzeitig ins Schloss zurückfiel. Prustend lehnte sie ihre Einkäufe an die Theke, dann sah sie den Wirt, der ihre Bemühungen interessiert verfolgt hatte, empört an. »Sie hätten mir ruhig helfen können!«

Tove Griess’ bärbeißiges Gesicht wurde noch missmutiger. »Was kaufen Sie auch so viel ein?«

Grimmig runzelte er die Stirn, aber als er unter die Theke griff und die Flasche mit dem Rotwein aus Montepulciano hervorholte, wusste Mamma Carlotta, dass er sich trotzdem über ihren Besuch freute.

Genau wie der Strandwärter Fietje Tiensch, der bei Mamma Carlottas Eintreten den Blick aus seinem Jever genommen hatte und nun freundlich lächelte. »Moin, Signora! Sie haben ja eingekauft, als stünde eine Hungersnot bevor!«

»Sì, sì!« Mamma Carlotta vergaß vorübergehend, dass sie Fietje die Leviten lesen wollte, und berichtete erst einmal ausführlich von den beiden Gästen, die das Haus ihres Schwiegersohns zurzeit beherbergte, von den vier Gängen, die sie zum Abendessen servieren wollte, wobei sie auch alle Gerichte erwähnte, die sie zunächst in Erwägung gezogen hatte, und sämtliche Gründe schilderte, die sie bewogen hatten, sich anders zu entscheiden. Danach sah Fietje schon so verwirrt aus, dass sie darauf verzichtete, auch noch die Rezepte zu erläutern.

Und dann fiel ihr ein, warum sie hergekommen war. »Allora, Fietje … Was habe ich gesehen? Vor einer Stunde? He? Was war so … molto interessante an diesem Mann? Warum mussten Sie ihm hinterherschleichen?«

Fietje schien zu glauben, dass er mit der Bestellung eines weiteren Jever von Mamma Carlottas Frage ablenken könne. Aber natürlich gelang es ihm nicht.

»Lo ammetta! Geben Sie es zu!«

Tove Griess betrachtete seinen einzigen Stammgast, als wollte er ihm nie wieder ein Bier vorsetzen. »Jetzt schon am helllichten Tag? Und auf offener Straße?«

Aber Fietje winkte ab. »Die Signora hat sich getäuscht.«

Mamma Carlotta wurde hitzig, wie immer, wenn man ihr ein X für ein U vormachen wollte. Und wenn sie hitzig wurde, achtete sie nicht mehr auf ihre Worte und ihre Bewegungen. Tove Griess rückte daher das Rotweinglas von ihr weg und musste auf den nächsten Gast seiner Imbissstube verzichten, der den Kopf zur Tür hereinsteckte und ihn erschrocken zurückzog, als er Mamma Carlotta gestikulieren sah und schimpfen hörte.

»Wollen Sie mir weismachen, Sie interessieren sich für la moda? Ich weiß genau, dass Sie sich hinter dem Ständer mit den Sonderangeboten versteckt haben, damit der Signore Sie nicht sehen konnte.«

Fietje sah ein, dass er überführt war. »Ich dachte, ich kenne den Kerl«, räumte er widerwillig ein. »Von früher. Ein entfernter Verwandter …«

Damit wollte sich Tove Griess zwar zufriedengeben, nicht aber Mamma Carlotta. »Wenn man jemanden sieht, den man von früher kennt, dann geht man zu ihm und spricht ihn an. Erst recht, wenn es sich um einen Verwandten handeln könnte.« Sie sah Fietje kopfschüttelnd an. »Ein Cousin? Ein Neffe? Oder ein angeheirateter Verwandter?«

»Weiß ich nicht so genau«, druckste Fietje herum. »Außerdem habe ich mich wohl geirrt. Ich habe ihn lange nicht gesehen. Wahrscheinlich hatte der Mann nichts zu tun mit meinem … meinem Verwandten. Und eigentlich will ich den auch gar nicht wiedersehen. Also, ich meine … wenn er es gewesen ist, bin ich froh, dass ich kein Wort mit ihm geredet habe. Ich glaube, ich konnte ihn nie leiden.«

Fietje hielt erschöpft inne. So viele Sätze auf einmal überanstrengten ihn dermaßen, dass er nun erst mal das Bierglas ansetzen musste.

»Sie hätten ihn nach seinem Namen fragen können«, beharrte Mamma Carlotta. »Und wenn er tatsächlich Ihr Verwandter gewesen wäre, hätten Sie sich mit ihm ausgesprochen und versöhnt.«

Aber davon wollte Fietje nichts hören. »Mir liegt das nicht so wie Ihnen, Signora. Das Leute-Ansprechen, meine ich.«

»Auch nicht, wenn es um einen Verwandten geht?«

»Vielleicht war’s nur ein alter Bekannter.« Fietje versuchte es mit einem schiefen Grinsen. »Der Butler meiner Eltern.«

Mit diesem Scherz hoffte er offenbar, das Gespräch in eine andere Richtung lenken zu können, aber Mamma Carlotta war nicht so leicht von einem Thema wegzulocken, das ihr gefiel. Und alte Familiengeschichten gefielen ihr immer. Für sie gab es nichts Schöneres, als einem Fremden Einblick in die eigene Familiengeschichte zu geben und sich anzuhören, welche Freuden und Schicksalsschläge es in anderen gegeben hatte. Selbst jemand, der sich seiner Familie schämte, musste doch besser damit fertigwerden, wenn er so oft wie möglich darüber sprechen konnte! Von der Heilkraft der Worte, mit denen sich jeder Kummer aus der Seele löste und ein schweres Herz leichter wurde, war Mamma Carlotta von jeher überzeugt gewesen. Auf diese Weise hatte sie bisher ihr Leben gemeistert, ihre Sorgen klein und ihre Freuden groß geredet.

»Sie sind wie Signor Remondo«, sagte sie vorwurfsvoll zu Fietje. »Der hatte auch über seine Eltern kein Wort verlauten lassen. Viel zu lange, wenn Sie mich fragen. Besser, er hätte vorher schon mal verlauten lassen, dass er der Sohn eines Mafiakillers war. Ma no! Seine Kinder haben es erst nach seinem Tod erfahren!« Mit vielen rollenden Rs schilderte sie in einer Ausführlichkeit, die sowohl Fietje als auch Tove überforderte, den Schreck, der durch die Trauergemeinde gefahren war, als ein Mafiaboss aus Neapel zur Beerdigung kam, der überall bekannt war. Und er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass mit Signor Remondo der Sohn seines besten Killers verschieden war. Daraufhin hatten sich die Nachbarn nach der Beisetzung sofort zerstreut. Keiner hatte mit den Kindern bei Vino rosso und Grappa über den toten Signor Remondo sprechen wollen, wie es nach jeder Beerdigung nötig war, damit alle schlechten Erinnerungen weggeredet wurden, bis nur noch die guten übrig blieben. Nein, in diesem Fall wollten alle ohne die Familie des Toten darüber debattieren, ob Signor Remondo deshalb immer so schlecht gelaunt gewesen war, weil er als Kind nichts zu lachen gehabt hatte. »So ein Mafiakiller kann ja unmöglich ein fröhlicher, zärtlicher Vater gewesen sein! Alle sind direkt nach dem letzten Ave Maria zu Signora Bernardini gegangen, die immer einen selbst gemachten Sambuca im Hause hat. Und die Kinder weigern sich seitdem, das Grab des Vaters zu pflegen. Die Tochter, die noch geiziger ist als ihre Brüder, kann ihrem Vater bis heute nicht verzeihen, dass sie für vierzig Personen Torta al cioccolato bestellt hatte, von der nur der Mafiaboss zwei Stücke gegessen hat.«

Mamma Carlotta betrachtete Fietje genau, um zu sehen, ob die Familientragödie der Remondos ihn von der Notwendigkeit überzeugt hatte, zu seinen Vorfahren zu stehen, was immer sie auch auf sich geladen haben mochten. Man sah ihr an, dass sie durchaus noch weitere Beispiele auf Lager hatte, wenn das Schicksal der Remondos Fietjes Zunge noch nicht lösen wollte.

»Mein Vater ist kein Mafiakiller«, sagte Fietje, ohne den Kopf zu heben.

»Ecco! Er lebt also noch!« Mamma Carlotta rutschte so aufgeregt auf ihrem Barhocker hin und her, dass sie mit den Füßen an eine ihrer Einkaufstaschen stieß, die sich langsam zur Seite neigte und erst die zuoberst liegenden Artischocken und nach und nach auch die Zucchini und das Salbeisträußchen auf den schmutzigen Boden von Käptens Kajüte entließ.

Tove Griess glotzte Mamma Carlotta an. »Wie kommen Sie darauf, Signora?«

Aber Carlotta gönnte ihm keine Antwort, denn sie sah, dass Fietje wusste, womit er sich verraten hatte. Sie fragte sich gerade, wie alt Fietje war und wie alt demnach sein Vater sein mochte … da geschah etwas Merkwürdiges. Der Strandwärter Fietje Tiensch, den nichts aus der Ruhe brachte, den ein Erdbeben genauso unberührt ließ wie eine Bierpreiserhöhung, der es immer vermied aufzufallen, indem er sich hinter seinem Jever versteckte und so wenig wie möglich redete, der seine Bommelmütze niemals abnahm und sie tief in die Stirn zog, sobald er in Gesellschaft Fremder war … dieser Fietje reagierte zum ersten Mal, seit Mamma Carlotta ihn kannte, gereizt und so emotional, wie es niemand für möglich gehalten hätte.

Zornig knallte er sein Bierglas auf die Theke. »Was schnacken Sie für ein dummes Zeug, Signora? Meine Familie geht niemanden was an!« Und dann schrie er sogar: »Lasst mich doch alle in Ruhe!«

Fietje rutschte von seinem Hocker und stapfte auf das Schild «Toilette« zu, dem er sich sonst nur schlurfend näherte, wenn überhaupt. Meist zog er es vor, den Heimweg damit zu beginnen, dass er sich an eine Hausecke von Käptens Kajüte stellte und sich dort erleichterte. Tove hatte ihm zwar schon hundertmal damit gedroht, ihm kein Bier mehr anzubieten, solange er es anschließend dort entsorgte, aber Fietje hatte sich nie daran gehalten. »Erst, wenn du endlich einen WC-Reiniger gekauft hast!«

Das war mit Sicherheit in der Zwischenzeit nicht geschehen, trotzdem riss Fietje die Toilettentür auf, warf sie hinter sich ins Schloss, verriegelte sie geräuschvoll und klapperte dann so laut mit dem Toilettendeckel, dass Tove Griess und Mamma Carlotta sich ratlos ansahen.

Erik hatte beschlossen, den Kindern, seiner Schwiegermutter und seinen Gästen eine Chance zu geben. Wenn sie ihn, während er den Zaun des Vorgartens anstrich, unbehelligt ließen, würde er bereit sein, den Rest des Sonnabends zu Hause zu verbringen, den Kuchen zu probieren, über die Klaviermusik, die Carolins Balletttraining begleitete, hinwegzuhören und sich nicht darüber zu ärgern, dass den Gästen in diesem Hause öfter Espresso und Biscotti angeboten wurde als dem Hausherrn. Und er würde so wenig wie möglich an Steffen Ellebrecht denken.

Er sah auf, als Tizio sich zu ihm gesellte, und hatte einen Moment lang die Hoffnung, Lucias Cousin wolle ihm seine Hilfe anbieten. Aber eigentlich hätte er sich denken können, dass Tizio, der sich nur anstrengte, wenn es darum ging, seinen attraktiven Körper zu stählen, lediglich Unterhaltung suchte.

Tizio sah blendend aus, hatte einen Waschbrettbauch, einen muskulösen Oberkörper, dichte schwarze Locken und dunkle Augen, denen keine Frau widerstehen konnte. In der Familie Capella galt er als Herzensbrecher, und Erik erinnerte sich, dass sogar Lucia jegliche Objektivität hatte vermissen lassen, wenn es um Tizio ging. Er wickelte alle Frauen um den Finger, bekam Espresso gekocht, Kuchen vorgesetzt, Wäsche gewaschen, Hemden gebügelt und Geld geliehen, und seine einzigen Gegenleistungen waren Komplimente und ein Lächeln, dem niemand widerstehen konnte.

Die Schule hatte er ohne jeglichen Fleiß, aber immerhin mit einer bestandenen Prüfung abgeschlossen und sich für den folgenden Sprachunterricht sogar angestrengt und ein Zeugnis erhalten, das ihm bescheinigte, die deutsche Sprache in Wort und Schrift zu beherrschen. Wenn Tizio etwas wirklich wollte, erreichte er es. Und Deutsch hatte er lernen wollen, um eine gute Ausbildung im Fremdenverkehr zu bekommen.

Tatsächlich hatte er es in verschiedenen Hotels versucht, in einer Autovermietung und einem Touristikbüro, aber seine Freude an der Arbeit hatte nie lange angedauert. Und die Freude seiner Arbeitgeber an ihrem neuesten Mitarbeiter ebenso wenig. Einmal hatte Tizio sich mit der Tochter des Chefs im Bett erwischen lassen, ein anderes Mal war er während der Arbeitszeit schlafend in der Schmutzwäsche des Hotels gefunden worden, dann wieder war er mit einem schicken Firmenwagen durch den Nachbarort gefahren und hatte sich von jungen Mädchen bestaunen lassen. Am Ende musste er froh sein, einen Job als Kellner zu bekommen.

Niemand in der Familie Capella fand es passend, dass Tizio gezwungen war, vor anspruchsvollen Gästen zu buckeln, aber er hatte anscheinend endlich einen Job gefunden, in dem er sich wohlfühlte. Jedenfalls war bisher alles gut gegangen. Tizio war nun schon seit zwei Jahren in dem Restaurant in Perugia tätig, ohne dass er sich auch nur eine einzige Abmahnung eingehandelt hatte. Das Sorgenkind der Familie, dessen Vater unbekannt und dessen Mutter früh gestorben war, lag niemandem mehr auf der Tasche und hatte sich damit besser entwickelt, als zu erwarten gewesen war. Sämtliche Tanten und Cousinen der Familie Capella, die sich um Tizio bemüht hatten, waren stolz auf dieses Ergebnis, und jede bestand darauf, dass gerade der eigene Anteil zu diesem erstaunlichen pädagogischen Erfolg geführt hatte.

»Ist Tante Carlotta noch nicht vom Einkaufen zurück?«

»Hast du Hunger?«, fragte Erik anzüglich zurück. »Brauchst du jemanden, der dir etwas zu essen macht?«

Tizio sah ihn beleidigt an. »Warst du zu meiner Cousine eigentlich auch immer so unfreundlich?«

»Ich bin nicht unfreundlich«, gab Erik zurück. »Oder hat sich Lucia jemals bei dir beklagt?«

Tizio gab zu, dass Lucia bei jedem Besuch in Umbrien betont habe, wie glücklich ihr Leben auf Sylt sei. Und Erik war ein wenig versöhnt, als Tizio hinzufügte: »Es ist mir selten etwas so an die Nieren gegangen wie Lucias Tod. Ich kann mir vorstellen, wie schrecklich das für dich ist. Und für Carolin und Felix. So plötzlich, durch so einen blöden Verkehrsunfall …«

Erik tauchte den Pinsel in die Farbe, merkte, dass er milder gestimmt war, und beschloss, sich auf ein Gespräch mit Tizio einzulassen, obwohl er noch nie ein Thema gefunden hatte, das ihn genauso interessierte wie Tizio. »Wo ist Luana?«

Tizio hockte sich aufs Gartentor, das unter seinem Gewicht aufstöhnte. »Shoppen.«

Erik schluckte die Bemerkung herunter, dass Luana sehr häufig shoppen ging, und verkniff sich auch die Frage, warum jemand, der sechs Bikinis besaß, unbedingt einen siebten brauchte. »Seid ihr schon lange zusammen?«, fragte er stattdessen.

Tizio wies Erik darauf hin, dass eine Zaunlatte unsauber gestrichen war, dann erst antwortete er: »Ein paar Monate. Ich habe sie in dem Restaurant kennengelernt, in dem ich arbeite. Sie hat bei uns gegessen. Mit irgendwelchen Bekannten …«

»Es scheint ihr finanziell sehr gut zu gehen. Was macht sie beruflich?«

Tizio zögerte. »Sie hat eine Ballettausbildung gemacht.«

Erik sah überrascht auf. »Das Tanzen ist ihr Beruf? Ich dachte, Ballett wäre ihr Hobby.«

Tizio schien das Gespräch nicht mehr zu gefallen. »Es ist nicht leicht, ein Engagement als Tänzerin zu bekommen.«

Erik erhob sich, weil ihm der Rücken wehtat. »Hoffentlich sieht Carolin bald ein, dass es nicht so einfach ist, Primaballerina zu werden, wie sie denkt. Sie übt, als hinge ihr Leben davon ab. Seit Luana ihr hilft, noch mehr als sonst.«

»Ballett ist gut für die Körperhaltung«, gab Tizio zu bedenken.

»Ich habe ja gar nichts gegen Ballett. Aber als berufliche Perspektive?«

Erik wollte sich gerade wieder auf die Knie begeben, um mit dem Streichen des Zauns weiterzumachen, da wurde er von einer Fahrradklingel aufgeschreckt. Seine Schwiegermutter kam den Süder Wung entlanggeradelt, als wäre sie auf der Flucht. Kopfschüttelnd sah er ihr entgegen. Warum nur musste sie alles, was sie tat, in diesem mörderischen Tempo erledigen?

Mamma Carlotta sprang vom Rad, kaum dass es zum Stehen gekommen war. »Nun werde ich mit dem Kochen beginnen. Als Vorspeise gibt es Insalata di zucchine, dann Spaghetti mit Artischocken und als Secondo Risotto alla milanese. Was möchtet ihr zum Nachtisch?« Während sie redete, stellte sie das Fahrrad vor der Haustür ab und stieg die Stufen zum Eingang hinauf. Oben blieb sie stehen und sah fragend zurück. »Zuppa inglese? Oder lieber eine Cassata?«

Erik wollte sie eigentlich darauf hinweisen, dass man auf Sylt ein Fahrrad abzuschließen hatte, erst recht, wenn es sich um Lucias Fahrrad handelte, das für ihn unersetzlich war. Aber natürlich gelang es ihm nicht, den Redestrom seiner Schwiegermutter zu durchbrechen. Und noch ehe er etwas sagen konnte, erkundigte sich Tizio: »Wo sind eigentlich deine Einkäufe, Tante Carlotta?«

»O dio!« Mamma Carlotta lief die Treppe wieder herab und sah sich um, als hielte sie es für möglich, dass die Taschen sich irgendwo versteckt haben könnten. Dann rannte sie zum Fahrrad, überlegte es sich aber anders, machte kehrt und lief wieder die Stufen hoch. Sie schrie ins Haus, es könne womöglich etwas länger dauern, bis das Abendessen fertig sei, und lief dann ums Haus herum, weil ihr gerade eingefallen war, dass ihre Enkel im Garten waren und ihren Alarmruf somit nicht hatten hören können.

Erik zog seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche und reichte ihn Tizio. »Am besten, du fährst zu Feinkost Meyer und holst die Taschen. Vermutlich sind sie für den Fahrradlenker sowieso viel zu schwer.«

Tizio nahm den Schlüssel entgegen. »Du meinst, sie hat die Taschen im Supermercato vergessen?«

»Wo sonst? Vermutlich hat sie jemanden getroffen, der ihr seine Krankengeschichte erzählt hat.« Erik zwinkerte leicht und hob die Ecken seines Schnauzers, um zu zeigen, dass seine Schwiegermutter ihm nicht nur auf die Nerven ging, sondern ihn durchaus auch amüsierte. »Da kann man schon mal die Taschen an der Kasse vergessen.«

Tizio startete wie die meisten italienischen jungen Männer: mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen. Mamma Carlotta, die gerade im Vorgarten auftauchte, sah ihm verwundert hinterher. »Was hat Tizio vor?«

»Er holt deine Einkaufstaschen von Feinkost Meyer, damit du nicht noch einmal losfahren musst.«

Eigentlich hatte Erik mit überschwänglichem Dank gerechnet, aber in diesem Fall hatte er sich getäuscht. Mamma Carlotta funkelte ihn zornig an. »Ich könnte die Taschen auch woanders vergessen haben!«

»Dann ruf Tizio an und sag ihm, wo die Taschen stehen. Er hat sicherlich sein Handy dabei.«

»Warum lasst ihr mich meine Taschen nicht selber holen?«

»Weil wir dir helfen wollen!« Erik fing an, sich zu ärgern. »Also denk nach! Wo bist du sonst noch gewesen? Im Drogeriemarkt? Beim Bäcker?« Dann glaubte er zu durchschauen, warum seine Schwiegermutter für keinen Ratschlag dankbar war. »Aha! Du hast die Taschen am Lenker hängen lassen, als du zum Bäcker gegangen bist! Wie oft habe ich dir gesagt, dass auf Sylt genauso viel geklaut wird wie in Italien?«

Ausnahmsweise schwieg Mamma Carlotta und starrte den Süder Wung hinab, mit offenem Mund und großen, staunenden Augen. Erik folgte ihrem Blick und staunte ebenfalls. Fietje Tiensch, der Strandwärter, der schon manche Stunde im Polizeigewahrsam verbracht hatte und den Erik nie und nimmer für einen ehrlichen Finder gehalten hätte, kam direkt auf sein Haus zu, in jeder Hand eine gut gefüllte Einkaufstasche. Aus einer schauten mehrere Zucchini und aus der anderen zwei Artischocken heraus. Erik wusste nicht, worüber er sich mehr wundern sollte: über die Freundlichkeit des Strandwärters oder über die Sprachlosigkeit seiner Schwiegermutter.

»Ich dachte, ich bringe die Taschen her«, begann Fietje Tiensch umständlich, als er am Gartenzaun angekommen war. »Die Signora hat sie vergessen. Und da ist ja eine ganze Menge fürs Abendbrot drin.«

»Sie kennen meine Schwiegermutter?«

»Die kennt hier doch jeder!«

Jetzt erst kam Bewegung in Mamma Carlotta. Sie, die sonst immer schon alles erledigte, während Erik noch darüber nachdachte, wo er beginnen sollte, hatte diesmal gezögert, als wüsste sie nicht, wie einem Mann wie Fietje Tiensch zu begegnen sei. Eigentlich hatte Erik damit gerechnet, dass sie sich auf den ehrlichen Finder stürzen, ihn mit einem Schwall von Dankesworten überschütten und ins Haus zerren würde, um ihn mit Espresso und Biscotti zu belohnen oder womöglich zum Abendessen einzuladen. Erik war sehr erleichtert, dass sie darauf verzichtete. Fietje Tiensch als Gast in seiner Küche – das wäre ihm ausgesprochen unangenehm gewesen.

Tatsächlich ging Mamma Carlotta gemessenen Schrittes auf Fietje Tiensch zu, statt ihn mit überspannter Freundlichkeit zu bestürmen, und sagte liebenswürdig: »Wie nett von Ihnen! Sicherlich haben Sie die Taschen bei Feinkost Meyer gefunden?«

Fietje Tiensch warf Erik einen Blick zu, dann nickte er. »Jawoll! Da standen sie mutterseelenallein herum.«

»Die Kassiererin hat Ihnen gesagt, wer sie vergessen hat?«

»Genau so war es, jawoll!«

Erik hatte sich nun genug gewundert und griff zufrieden nach dem Pinsel. Anscheinend besaß seine Schwiegermutter eine bessere Menschenkenntnis, als er bisher angenommen hatte. Dass sie es bei diesem unverbindlichen Entgegenkommen beließ, war der Beweis.

Während sie ihre Geldbörse aus der Jackentasche zog, um sich mit einem angemessenen Finderlohn zu bedanken, sah Erik eine auffallend hübsche Frau den Süder Wung entlangkommen. Tizios Freundin Luana, groß, schlank, mit langen schwarzen Haaren. Sie wirkte trotz ihrer schmalen Figur sportlich, muskulös und drahtig. Die unzähligen Plastiktüten an beiden Händen schienen sie nicht zu belasten.

Erik wollte gerade mit dem Streichen weitermachen, da sah er den Mann auf der anderen Straßenseite. Er war nicht mehr jung, aber so leger gekleidet wie ein junger Mann, trug helle, durchlöcherte Jeans, dazu ein graues T-Shirt und weiße Turnschuhe. Dass Erik sein merkwürdiges Verhalten auffiel, lag vermutlich daran, dass er Polizist war und dass am Vorabend Steffen Ellebrecht ermordet worden war. Auf den ersten Blick wirkte der Mann wie ein Tourist. Aber obwohl er gelegentlich in den Himmel blickte, hatte Erik das dumpfe Gefühl, als mache der Mann den Spaziergang nicht einfach nur wegen des schönen Wetters, sondern aus irgendeinem anderen Grund.

»Grazie tante!«, rief Mamma Carlotta dem Strandwärter nach, der sich wieder Richtung Westerlandstraße trollte. Dann wandte sie sich an Erik. »Ein netter Mann! Findest du nicht auch?«

Erik enthielt sich einer Antwort. Erstens, weil er Fietje Tiensch keinen netten Mann nennen wollte, und zweitens, weil er sich auf den Mann konzentrierte, der sich plötzlich hinter ein parkendes Auto duckte, als Luana in seine Richtung blickte. Augenscheinlich wollte er nicht gesehen werden. Ein dunkelhaariger, südländisch wirkender Typ, das hatte Erik noch erkannt, bevor er hinter dem Auto verschwunden war. Erik war entschlossen, sich nicht ablenken zu lassen, bis der Kerl wieder zum Vorschein kam.

Zum Glück beendete seine Schwiegermutter ihr Lob über den ehrlichen Strandwärter schnell und erwartete auch keine Antwort von ihm, weil sie Luana bemerkte. Sie rief der jungen Frau entgegen, dass sie gleich in die Küche gehen und sich ums Abendessen kümmern werde. Dass sie sich wünschte, Luana würde ihr Gesellschaft oder Hilfe anbieten, war ihr anzusehen, aber wie immer blieb ein solches Angebot aus.

Der Mann war noch nicht wieder hinter dem parkenden Auto aufgetaucht, da machte Erik eine weitere seltsame Beobachtung. Fietje Tiensch sprang mit einer Behändigkeit, die er ihm nicht zugetraut hatte, in den Vorgarten eines Grundstücks und duckte sich dort hinter einen Friesenwall, der gerade hoch genug war, um ihn zu verdecken. Was war da los? Vor wem versteckte der Strandwärter sich? Etwa vor dem eleganten Herrn, der nun den Süder Wung entlangkam? Der Mann im dunklen Anzug schob kurz seine verspiegelte Sonnenbrille auf die Stirn und sah sich suchend um, als fragte er sich, ob er in der richtigen Straße gelandet war. Dann blieb er stehen, ließ die Sonnenbrille wieder auf die Nase fallen und schien zu überlegen, ob er weitergehen sollte. Langsam bewegte er sich an dem Friesenwall entlang, hinter dem Fietje hockte.

»Ciao«, sagte Luana und ging an Erik vorbei, ohne sich darüber zu wundern, dass er ihren Gruß nicht erwiderte.

Als der elegante Mann die nächste Grundstücksgrenze erreicht hatte, erschien der Kopf von Fietje Tiensch über den Heckenrosen. Er machte einen langen Hals, dann richtete er sich vorsichtig auf.

Erik konnte sich keinen Reim auf seine Beobachtungen machen. Ein Mann, der sich hinter einem Auto versteckte, und ein anderer, vor dem sich ein Strandwärter verbarg, als hätte er Angst vor ihm! Erik spürte, wie sich die Haare an seinen Unterarmen aufstellten. Was ging im Süder Wung vor?

Mamma Carlotta erklärte Luana gerade, warum Tizio nicht zu Hause war, und erzählte, dass Carolin im Garten gerade diese schwierigen Échappés übte, Sprünge, die ihr sehr gefährlich vorkamen. »Muss das wirklich sein, Luana? Wenn Carolina sich nun verletzt?«

In diesem Augenblick richtete sich der Mann hinter dem parkenden Auto auf und warf einen langen Blick über die Straße. War das etwa ein Ganove, den er einmal dingfest gemacht hatte und der sich nun rächen wollte? Eriks Hände zitterten. Die Angst war wie ein körperlicher Schmerz. Am liebsten wäre er geflohen, wenn er nur gewusst hätte, wohin.

Er beendete seine Arbeit und behielt den Mann in den Augenwinkeln, während er den Pinsel in den Eimer steckte und sich erhob. Der Kerl starrte nun unverhohlen herüber. Er schien zu glauben, dass niemand ihn bemerkt hatte. Mit raschen Schritten ging Erik in den Gartenschuppen, stellte den Eimer ab und sah durch das winzige Fenster zur Straße. Der Mann war ihm nicht mit den Blicken gefolgt, sondern starrte weiterhin das Haus an. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sich der Herr im dunklen Anzug vorsichtig näherte.

Erik hörte Mamma Carlotta mit Luana in den Garten gehen, ihre Stimmen entfernten sich und vermischten sich kurz darauf mit denen von Felix und Carolin. Der Mann auf der anderen Straßenseite schien nun das Interesse an Eriks Haus zu verlieren. Er drehte sich langsam um und machte Anstalten, zur Westerlandstraße zurückzugehen.

In diesem Augenblick geschah etwas, was Erik eine Gänsehaut über den Rücken jagte: Der elegante Mann im dunklen Anzug verschwand genauso flink hinter dem Lieferwagen wie der andere sich kurz zuvor hinter das parkenden Auto geduckt hatte. Er gab seine Deckung erst auf, als der andere in die Westerlandstraße eingebogen war. Dann folgte er ihm mit großen Schritten. Und schon tauchte auch Fietje Tiensch wieder auf und lief hinter den beiden Männern her.

Erik griff sich an den Hals, weil er das Gefühl hatte, dass die Angst ihn würgte. Vorsichtig trat er aus dem Schuppen und ging zum Gartenzaun, wo er die Straße überblicken konnte. Aber weder von den beiden Männern noch von Fietje Tiensch war etwas zu sehen.

Carolin erschien in der Küche, immer noch in ihrem rosa Trikot und der blassrosa Strumpfhose. An den Füßen trug sie nun nicht mehr ihre weichen Trainingsschuhe, sondern Spitzenschuhe. Die Haare waren streng zurückgekämmt und am Hinterkopf festgesteckt. Carolin stand auf Zehenspitzen, hielt die Füße gekreuzt, den linken Arm erhoben, den rechten vor der Brust angewinkelt und schwebte in winzigen Vorwärtsbewegungen auf ihre Großmutter zu. Ihr Gesicht war ernst, und ihre Augen hatten einen derart dramatischen Ausdruck, dass Mamma Carlotta sich erneut fragte, ob Ballett ein Vergnügen oder eine Folter war.

»Schau doch, Nonna«, sagte Carolin, ohne ihre Großmutter anzusehen, den Blick fest auf einen Punkt oberhalb der Küchenschränke geheftet.

Mamma Carlotta starrte auf Carolins Füße. »Auf Zehenspitzen laufen! Das kann doch nicht gesund sein, Carolina!«

»Das soll nicht gesund sein, sondern schön.«

»Sì, sì, veramente, schön ist es«, bestätigte Mamma Carlotta hastig, die niemals die Bemühungen eines Enkelkindes herabgewürdigt hätte.

Sie wusste nicht viel von klassischem Ballett, vom Schwanensee und Primaballerinen, nichts vom Pas de deux oder einer Pirouette. Aber dass ihrer Enkelin ein harter Weg bevorstand, wenn sie wirklich Balletttänzerin werden wollte, das war ihr klar. Und dass Carolins Chancen, jemals als Solistin auf einer Bühne zu stehen, sehr gering waren, das wusste sie auch. Erik würde alles tun, um eine solche Karriere zu verhindern, und da würde Mamma Carlotta ihm sogar recht geben. Schließlich durfte sie nicht einfach zusehen, wie Carolins arme Füße geschunden und gequält wurden, oder diese Tortur sogar gutheißen!

Mamma Carlotta verzog das Gesicht, als wären es ihre eigenen Zehen, die derart misshandelt wurden. »Lass das, Carolina! Das muss doch wehtun.«

Aber Carolin ließ sich nicht beirren. Während Mamma Carlotta die Zucchini in Scheiben schnitt, stellte sie sich an die Kühlschranktür, deren Griff die passende Höhe hatte, richtete ihren Oberkörper kerzengerade auf, wechselte die Miene von ernst zu hingebungsvoll, nahm den rechten Arm nach vorn, bewegte den rechten Fuß zur Seite, führte ihn langsam in die Ausgangsposition zurück und beugte dann die Knie.

»Battement tendu«, erklärte sie, »und dann Plié.«

Sie führte die Übung nach vorn, seitwärts und nach hinten durch und gab sich selbst die Kommandos: »Derrière, à la seconde, devant.«

Mamma Carlotta gab die Zucchini ins kochende Wasser. »Muss das sein, dass du in einer anderen Sprache sprichst?«

»Französisch ist die Ballettsprache«, gab Carolin zurück, und nun erschien in ihrer ernsten, hingebungsvollen Miene sogar eine Spur Eitelkeit.

Das war der Moment, in dem ihre Nonna beschloss, dass Schluss sein musste mit klassischem Ballett. Das war ja nicht nur ungesund für den Körper, sondern auch für den Charakter. So sehr sie Carolin mehr Selbstbewusstsein wünschte, dieser steife Hochmut gefiel ihr überhaupt nicht. Sie schob ihre Enkelin zur Seite, um den Parmesan für den Risotto aus dem Kühlschrank zu holen.

Aber kaum hatte sie die Tür wieder geschlossen, setzte Carolin ihr Balletttraining fort. »Luana sagt, sie hätte früher acht Stunden täglich geübt.«

»Luana!«, wiederholte Mamma Carlotta so verächtlich wie möglich.

Mit der Befürchtung, dass man sich beim Ballett gefährliche Verletzungen zuziehen konnte, stützte Mamma Carlotta sich sogar auf die Meinung einer Expertin. Noch am Tag zuvor hatte sie Frau Jacobsen beim Einkaufen getroffen, die dafür gesorgt hatte, dass im Sportverein Wenningstedt neuerdings auch Ballettunterricht angeboten wurde. Sie war als junges Mädchen in eine Ballettschule gegangen und konnte sich daran erinnern, worauf es ankam. Damit galt sie als befähigt, Ballettunterricht zu erteilen, der vorsichtshalber Workshop genannt wurde, damit niemand auf die Idee kam, die Ballettlehrerin nach Zeugnissen und Referenzen zu fragen.

Als Mamma Carlotta beim Bäcker versucht hatte, ihr die Sprünge vorzuführen, deren Namen sie leider vergessen hatte, war Frau Jacobsen zutiefst erschrocken gewesen. »Échappés? Die wird Carolin bei mir nicht lernen. Schon aus Gründen der Haftung! Wenn da was passiert …!«

Sie hatte Mamma Carlotta aus der Seele gesprochen. Das leise Lachen des Bäckers war daraufhin gar nicht mehr so schlimm gewesen. Dass sie sich mit der Vorführung der Échappés zu viel zugemutet hatte, wusste sie selbst. Aber immerhin waren ihr die Sprünge so gut gelungen, dass Frau Jacobsen sie sofort erkannt hatte. Dass Mamma Carlotta dabei beinahe ins Kuchenbüfett gestürzt wäre, war eine andere Sache.

Danach war sie zusammen mit Frau Jacobsen zu der Ansicht gekommen, dass Balletttraining im Sportverein Wenningstedt nicht schaden konnte, Spitzentanz jedoch, Échappés und dieses entsetzliche Spagat, bei dem Mamma Carlotta gar nicht hinsehen mochte, waren etwas für professionelle Tänzer. Und von einer solchen Berufswahl riet Frau Jacobsen eindringlich ab.

Mamma Carlotta hatte Carolin dieses Gespräch in vielen Varianten wiedergegeben und nur wenige Übertreibungen eingefügt. Tatsächlich waren ihrer Enkelin daraufhin Bedenken gekommen … aber dann war Luana eingetroffen, die gleich am ersten Tag dafür gesorgt hatte, dass Carolin ihr ganzes Taschengeld auf den Tresen eines Tanzsportausstatters in Kampen blätterte, um sich Spitzenschuhe zuzulegen. Und seitdem träumte sie von einer glanzvollen Zukunft als Primaballerina.

Nein, Luana war nicht gut für ihre Enkeltochter und sicherlich auch nicht gut für Tizio. Mamma Carlotta würde ihm bei Gelegenheit einen entsprechenden Hinweis geben müssen. Luana passte nicht zu ihm.

Ärgerlich sagte sie: »Wer acht Stunden täglich übt, sollte weiter gekommen sein als Luana. Oder steht sie auf der Bühne? Hat sie jemals un impegno gehabt? Wie sagt man …?«

»Ein Engagement?«

»Sì! Was macht sie überhaupt? Womit verdient sie ihr Geld?«

Fragen dieser Art gefielen Carolin nicht. »Luana will nicht Tänzerin werden. Die Ballettausbildung hat sie absolviert, weil sie ihr Spaß macht. Sie will lieber heiraten und Kinder kriegen.«

»Damit sie jemanden hat, der das Geld für sie verdient? Der arme Mann! Und die armen Bambini! Weiß Luana eigentlich, was eine Mutter zu tun hat? Das ist keine Aufgabe für eine Frau, die es bequem haben will.«

Verärgert ging Mamma Carlotta in den Vorratsraum, um eine Knoblauchknolle zu holen, die sie für die Artischocken brauchte. Das Fenster des Vorratsraums führte in den Garten. Auf einer Sonnenliege räkelte sich Luana in einem Bikini, der so winzig war, dass Mamma Carlotta missbilligend den Kopf schüttelte. Tizio saß auf der Kante der Sonnenliege und redete leise mit Luana. Er sah sehr angespannt aus, und Luanas Miene war ausgesprochen missgelaunt. Redeten die beiden über ihre Zukunft? Machte Tizio seiner Freundin Vorhaltungen über ihre Verschwendungssucht, und fragte sie sich, ob sie Tizio überhaupt heiraten wollte, wenn er sie zur Sparsamkeit aufforderte?

Vorsichtig öffnete Mamma Carlotta das Fenster der Vorratskammer, aber leider konnte sie trotzdem kein Wort verstehen. Die beiden sprachen so leise miteinander, dass auch bei größter Anstrengung nichts zu hören war. Und Luana sah sich sogar gelegentlich um, als fürchtete sie, belauscht zu werden. Nun beugte Tizio sich über sie, strich ihr mit einer zärtlichen Geste die Haare nach hinten und überhauchte ihr Gesicht mit Küssen.

Prompt war Mamma Carlotta gerührt. Wie gefühlvoll ihr Neffe war! Er schien Luana sehr zu lieben, daran hatte sie keinen Zweifel. Wenn er Luana ansah, veränderte sich sein Blick, verlor das Freche, Unverschämte, wurde weich und hingebungsvoll. Luana schien die Erste zu sein, die ihm etwas bedeutete, nach den vielen Affären, die er sich in seinem jungen Leben schon geleistet hatte. Es würde schwierig werden, ihm diese Frau auszureden. Doch wenn er Luana heiratete, würde er demnächst Tag und Nacht arbeiten müssen, um ihr das luxuriöse Leben zu ermöglichen, das sie anscheinend gewöhnt war.

Sie ging mit der Knoblauchknolle in die Küche zurück. Carolin hatte sich entschieden, ihr Balletttraining im eigenen Zimmer fortzuführen, die Pizzicato-Polka drang von oben herab. So laut, dass Mamma Carlotta Eriks Worte beinahe nicht verstanden hätte. Er ging im Flur auf und ab und telefonierte mit seinem Assistenten. Sie wollte eigentlich damit beginnen, den Knoblauch zu pressen und die Petersilie zu hacken, die den Artischocken beigefügt werden sollten, aber nun ließ sie das Messer sinken und lauschte.

»Gut, dass Sie Wochenenddienst haben, Sören«, hörte sie Erik sagen. »Versuchen Sie herauszufinden, ob in letzter Zeit jemand aus dem Knast entlassen wurde, der uns seine Gefängnisstrafe zu verdanken hat. Ein südländisch aussehender Typ Anfang fünfzig. Vielleicht derselbe, der den Kollegen in Flensburg umgebracht hat. Schauen Sie nach, ob es Fälle gegeben hat, in denen wir mit den Flensburgern zusammengearbeitet haben.« Es folgte eine Personenbeschreibung, mit der Mamma Carlotta nichts anfangen konnte. Sie horchte jedoch auf, als Erik ergänzte: »Der Kerl hat mein Haus beobachtet. Ich mache mir Sorgen um meine Familie und meine Gäste.«

Mamma Carlotta erstarrte. Ein Mann, der sich an Erik rächen wollte? Madonna!

»Und dann noch was«, sprach Erik weiter. »Da war ein zweiter Mann. Der wiederum schien den ersten zu beobachten. Jedenfalls hat er dafür gesorgt, dass der andere ihn nicht bemerkt, hat ihn aber nicht aus den Augen gelassen.«

Über Mamma Carlottas Rücken rieselte eine Gänsehaut. Sie wagte kaum, sich zu rühren.

»Und komischerweise«, ergänzte Erik im Flur, »hat Fietje Tiensch, der Strandwärter, sich vor ihm versteckt und ist ihm später nachgeschlichen.«

Prompt wurde aus ihrer Angst und Sorge tiefe Nachdenklichkeit. Während Mamma Carlotta die Zehen aus der Knoblauchknolle löste, wurde sie immer sicherer: Mit Fietje stimmte etwas nicht. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass Erik von dem Mann in dem dunklen Anzug sprach, der von Fietje verfolgt worden war.

»Ich weiß nur, dass der zweite Mann einen dunklen Anzug trug«, erklärte Erik, »dass er schwarze Haare hatte und auf der Nase eine dieser schrecklichen verspiegelten Sonnenbrillen. Mittelgroß und schlank war er, mehr kann ich nicht sagen.«

Eriks Stimme entfernte sich, anscheinend ging er mit dem schnurlosen Telefon ins Wohnzimmer. Mamma Carlotta hörte noch, wie er sagte: »Nein, ich bin sicher, ich würde ihn nicht wiedererkennen.« Dann schlug die Wohnzimmertür ins Schloss, Eriks Stimme verstummte.

Mamma Carlotta goss die Zucchini über einem Sieb ab, salzte und pfefferte sie und beträufelte sie mit Öl und Zitronensaft. Nun musste der Zucchinisalat nur noch eine Weile ziehen, bekam dann gehacktes Basilikum übergestreut und war fertig. Zum Glück gingen ihr diese Arbeiten leicht von der Hand, sie machte auch dann alles richtig, wenn sie mit den Gedanken woanders war. Und mit Zählen und Wiegen hatte sie sich nie abgegeben.

Ob sie mal ein ernstes Wort mit Tove Griess reden sollte? Vielleicht konnte er verhindern, dass Fietje sich in Schwierigkeiten brachte! Die Beziehung der beiden war zwar eher eine Notgemeinschaft als wahre Freundschaft, aber Tove würde seinem Stammgast bestimmt helfen, wenn es nötig war.

Während sie im Risotto rührte, drehten sich ihre Gedanken weiter um Fietje. Und plötzlich wusste sie auch, warum er so freundlich gewesen war, ihr die Einkäufe ins Haus zu bringen, die sie an der Theke von Käptens Kajüte vergessen hatte. Fietje war von seinem schlechten Gewissen geplagt worden! Dass er Mamma Carlotta zornig angefahren hatte, als sie ihn nach seiner Familie fragte, tat ihm leid, und er wollte sich dafür entschuldigen, indem er ihr die Einkaufstaschen brachte. Ein großes Opfer für Fietje, der normalerweise um das Haus eines Polizeibeamten einen großen Bogen machte. Und das konnte nur eins bedeuten: Carlotta Capella war der Abstammung von Fietje Tiensch auf die Spur gekommen.

Der Sonntag begann nicht viel besser als der Tag zuvor. Erik hatte am Abend spät ins Bett gefunden, nachdem er bis in den hellen Sonnabend hinein geschlafen hatte, und erwachte erst, als die Sylter Kirchen schon zum Gottesdienst riefen. Die Sonne schien in sein Schlafzimmer, ein sanfter Wind bauschte die Gardinen.

Ein friedlicher Morgen. Jedenfalls so lange, bis in der Küche etwas zu Bruch ging und eine heftige Diskussion darüber einsetzte, wer schuld war. Anscheinend stand Felix auf der Liste der Verdächtigen ganz oben, denn er stapfte kurz darauf laut schimpfend die Treppe hoch. Carolin folgte ihm mit leisen Schritten, und kurz darauf erklang in ihrem Zimmer die Pizzicato-Polka, die in Erik, den selten etwas aus der Ruhe brachte, mehr und mehr Aggressionen weckte.

Dass aus einem gemütlichen Sonntag im Garten mit viel Sonne, viel Ruhe und einem guten Buch nichts werden konnte, stand schon jetzt fest. Er würde erst den Zaun zu Ende streichen und dann ins Büro gehen. Dort war er wenigstens ungestört.

Eine Stunde später hockte er am Gartenzaun, mit dem Pinsel in der Hand, den Farbeimer neben sich – und hinter sich seine Schwiegermutter, die ihn davon abhalten wollte, den Sonntag mit Arbeit zu entweihen, statt ihn zu heiligen, wie es sich gehörte. »Noch dazu in aller Öffentlichkeit! Was sollen die Nachbarn denken, Enrico?«

»In der Hochsaison wird auf der ganzen Insel gearbeitet. Auch sonntags. Ja, sonntags erst recht! Also kann ich am Sonntag auch den Zaun streichen.«

»In unserem Dorf müsstest du das beichten.«

Erik wollte sich auf keinen Fall auf eine Diskussion über den Sinn kirchlicher Vorschriften einlassen. Er wusste, dass er den Kürzeren ziehen würde, und setzte schweigend seine Arbeit fort. Als ein Wagen vor dem Gartenzaun hielt, war er froh, obwohl es so aussah, als würde er seine Arbeit unterbrechen müssen. Aber diesmal tat er es gern, weil seine Schwiegermutter ins Haus ging, nachdem sie ihm zugeflüstert hatte: »Da kommt schon der Erste, um sich zu beschweren. Ich will damit nichts zu tun haben.«

Erik wusste, dass Heiko Ahrensen etwas anderes im Sinn haben musste, als sich darüber zu beklagen, dass der Hauptkommissar am Sonntagmorgen den Pinsel schwang, deswegen sah er ihm gelassen entgegen. Der Besitzer des kleinen Hotels Meeresruh kletterte schwerfällig aus seinem Wagen, steckte die Hände in die Hosentaschen und lächelte Erik verlegen an. »Moin, Herr Hauptkommissar.«

Erik steckte den Pinsel in den Eimer. »Moin! Lange nicht gesehen.«

Ahrensen trat von einem Bein aufs andere. »Ich komme zufällig vorbei, da dachte ich, ich könnte ja mal fragen …«

»Worum geht’s?«

Heiko Ahrensen war ein Mann von Ende fünfzig, immer glatt rasiert, immer im korrekten Anzug: der Hotelier, der seinen Gästen stets zu Diensten ist. »Ich weiß ja, dass Sie nichts machen können, wenn ein Gast über Nacht wegbleibt. Kann ja ganz harmlos sein …« Ahrensen korrigierte den Sitz seiner Krawatte und kontrollierte mit fahrigen Fingern, ob sämtliche Knöpfe seines Hemdes geschlossen waren. »Mein Gast ist ein erwachsener Mann, der kann seine Nächte verbringen, wo er will.«

»Richtig! Wenn er das Hotelzimmer bezahlt, ist alles in Ordnung. Er ist nicht verpflichtet, dort zu übernachten.«

»Ich weiß, Herr Hauptkommissar. Aber wenn er nun die nächste Nacht auch ausbleibt … was dann?«

Erik fühlte sich nun plötzlich nicht wohl in seinen uralten Shorts, die mit weißer Farbe bekleckert waren, und hätte das Gespräch mit dem korrekt gekleideten Hotelbesitzer gerne abgekürzt. »Gibt es einen Grund zur Sorge?«

»Er hat sich einen Lamborghini geliehen und ist damit über die Insel gefahren. Gestern Abend hätte er ihn an die Verleihfirma zurückgeben müssen, aber er hat es nicht getan. Der Besitzer der Firma macht mir die Hölle heiß. Der hat den Lamborghini einem Kunden in Kampen versprochen. Irgendein Promi, der jetzt stinksauer ist.«

»Sie meinen, Ihr Gast ist mit dem teuren Auto auf und davon?«

»Womöglich hat er einen Unfall gehabt. Vielleicht ist er bewusstlos, kann nicht sagen, wer er ist, in welchem Hotel er wohnt, woher er das Auto hat …« Ahrensen sah Erik bittend an. »Können Sie sich nicht mal umhören, ob es irgendwo einen Unfall mit einem Lamborghini gegeben hat?«

Erik nickte. »Ich will heute sowieso noch ins Büro. Aber ich nehme an, Ihr Gast hat eine schöne Nacht verbracht und darüber den Lamborghini vergessen. Vermutlich hat er genug Geld und blättert der Verleihfirma so viele Scheine auf den Tisch, bis man dort zufrieden ist.«