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Erstmalig bekommt es der Leiter der Hamburger Mordkommission, Hauptkommissar Juri Sokolov, mit einer Serie von Morden zu tun, welche an Niedertracht und Heimtücke kaum zu übertreffen sind. Er und sein Team stoßen bei der Suche nach den Verantwortlichen auf menschliche Irrwege, die seines Gleichen suchen.
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Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2021
U.B.Bourbon
Kriminalroman
© 2021 U. B. Bourbon
Umschlag: Elapress, Manuela Lilienthal
Verlag: tredition GmbH, Halenreie 40-44,
22359 Hamburg
ISBN
978-3-347-38257-2 (Paperback)
978-3-347-38258-9 (Hardcover)
978-3-347-38259-6 (e-Book)
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„Name?“
„Sokolov.“
„Vorname?“
„Juri.“
„Wohnhaft in? Stimmt die Adresse, die hier vorliegt, noch?“
„Ja!“
„Familienstand? Verheiratet mit Svetlana Sokolov, geborene Kalashnikova?“
„Auch richtig! Sie könnten bei uns anfangen.“ Juris Gegenüber drückte ein hölzernes Lächeln heraus.
„Da sind wir schon beim Thema. Sie sind Polizeibeamter?“
„Schon wieder richtig!“
„Herr Sokolov, das sind doch nur die Formalitäten.“
„Natürlich! Ich bin Hauptkommissar bei der Mordkommission. Also, wenn Sie mal einen Mord in der Familie haben? Nur zu.“
Wieder ein unterkühltes Lächeln seines Gegenübers.
Juri hatte kurzfristig das Gefühl, in einer der Vernehmungsräume in seinem Präsidium zu sitzen. Nur eben als Verdächtiger. Seinem Gegenüber ausgeliefert und völlig hilflos, während der ihm nach und nach das Fell über die Ohren zog.
„So, dann haben wir noch zwei Töchter. Natascha und Leoni?“
„Auch richtig.“
Juri fühlte sich zunehmend unwohl. Dabei hatten er und seine Frau um diesen Termin gebeten. Es war ein sogenannter „Umschuldungstermin“ bei seiner Hausbank. Irgendwie wurden seine Hypothek, der Dispo und sein Beamtenkredit zusammengefasst und dann wieder zu noch günstigeren Konditionen herausgeworfen. Das ermöglichte seiner Familie einen „größeren Spielraum bei notwendigen Anschaffungen und oder finanziellen Engpässen“. So hatte das ihm zumindest sein Gegenüber vermittelt, sein Bankberater Herr Lehmann-Heldkresse. Der Berater seines Vertrauens. Juri nannte ihn nur Geldfresse. Die Ähnlichkeit mit Gollum aus der „Herr der Ringe“ - Trilogie war verblüffend. Und in Gedanken hörte er auch schon die Worte, die seinen weiteren Ruin bedeuten würden: „Gib mir mein Schatz.“ Dabei war bei ihm sowieso nicht mehr viel zu holen. Nun war er für immer gefangen in den Archiven der Banken. Eine Art „Kainsmal“. Für alle sichtbar und auf ewig verdammt. „Ein Ring sie zu binden…“. Juri wollte gerade in seinen Taschen nach dem Einzigen suchen, der ihn unsichtbar machte und die Flucht ermöglichen könnte, als ihn ein Rippenstoß wieder zurückholte. Er musste nicht nach rechts schauen, um zu überprüfen von wem der Stoß kam, denn nur eine Person konnte so einen Hieb aus kurzer Distanz führen. Seine Frau Svetlana. Schließlich war sie eine geborene Kalashnikova. Hübsch, liebenswert aber bei Bedarf auch nicht ungefährlich.
„Juri, der Herr Lehmann-Heldkresse hat dich etwas gefragt.“
„Entschuldigung. Nein, ich habe keine weiteren Fragen. Wo soll ich unterschreiben?“ „Hier, hier, hier und hier. Da benötige ich beide Unterschriften und hier und dort noch einmal und schon haben wir es geschafft.“ Die Worte kamen so routiniert und vertrauensvoll, dass man das Gefühl hatte, einen alten Fernseher gegen einen Lamborghini zu tauschen. Die Kleinigkeit, dass, wenn er seinen Job verlöre, sein Haus weg sein würde, wurde natürlich nicht besprochen. Es folgte ein Schwall netter Worte, Hände schütteln und die Flucht.
„Wir hätten ihm rohen Fisch mitbringen sollen, dann hätten wir bestimmt bessere Konditionen bekommen.“
„Juri, du nervst! Wir haben das gemeinsam entschieden und das war eine gute Entscheidung!“
„Du hast ja recht, ich meine ja nur, dass es auch…“ Juri führte den Satz nicht zu Ende, denn er kannte den Gesichtsausdruck seiner Frau, der signalisierte, dass es jetzt besser wäre, es nicht auf die Spitze zu treiben.
Zuhause angekommen, verzog sich Juri in sein Arbeitszimmer im Keller und überließ seiner Frau das Feld. Es war schon später Nachmittag und er wollte den Rest seines freien Tages dazu nutzen, sich mit neuen forensischen Methoden vertraut zu machen. Er als leitendender Ermittler der Hamburger Mordkommission war ohne die Forensik fast blind. Das Märchen vom Kommissar, der nach Bauchgefühl ermittelt und Verdächtige aufspürt, gab es nur in der Fantasie von Roman- und Drehbuchautoren. Die Spurensicherung ist die Grundlage sämtlicher Ermittlungsarbeit und der anschließenden Beweislage.
Juri hatte sich das Hamburger Polizei Journal mit nach Hause genommen. Hier wurde von einer neuen Methode der Blutspuranalyse berichtet. Die Kanadier hatten eine Software entwickelt, die Richtung, Flugbahn und Fließgeschwindigkeit anhand der Größe eines Blutstropfens ermittelt, die „blood stain pattern analysis“. Die Größe und Form eines einzelnen Tropfen Blutes, unabhängig auf welchem Untergrund dieser sichergestellt wurde, gab Antwort auf die Fragen: Welche Waffe hat der Täter benutzt? Mit welcher Wucht, welcher Geschwindigkeit ist das Blut gespritzt? Aus welcher Richtung kamen die Tropfen? Wo hat die Tat begonnen? Je nachdem, wie das Blut aus der Wunde getreten ist, gespritzt oder getröpfelt, hinterlässt es ein spezifisches Muster. Juri machte sich einen Vermerk. Er wusste, dass die Methoden in Hamburg schon angewandt wurden, wollte sich aber noch Detailinformationen geben lassen. Danach ging er nach oben und begrüßte seine Töchter, die mit seiner Frau gemeinsam am Abendessen werkelten. An seinen freien Tagen legte er ganz besonderen Wert auf Gemeinsamkeiten, und das Abendessen mit der ganzen Familie lag ihm außerordentlich am Herzen.
Der Abend verlief genau nach seinem Geschmack. Die Kinder erzählten aus der Schule von nervigen Lehrern und aufdringlichen Jungs. Sie gingen beide auf die Oberstufe und waren mit ihren dreizehn und fünfzehn Jahren sein ganzer Stolz. Svetlana hatte ihr unschlagbares süßes Lächeln wiedergewonnen und sein Hund Barnie, der inzwischen die Ausmaße eines Schafs hatte, schaffte es ausnahmsweise mal, nichts beim Toben mit den Kindern umzuwerfen.
Juri brauchte diesen Frieden zum Auftanken und noch mehr: Es war für ihn der existenzielle Beweis dafür, dass es sich lohnt, alles zu geben.
Nachdem sich seine Töchter ins Bett verabschiedet hatten, verbrachte er noch einige Zeit mit seiner Frau auf der Terrasse. Sie streiften noch kurz das Thema Hausbank und machten sich lustig über Herrn „Geldfresse“, seinen billigen Anzug und der Ähnlichkeit mit Gollum. Später schaute er noch einmal bei seinen Töchtern rein, damit diese nicht die Flatrate ihrer Handys komplett zum Glühen brachten. Danach folgte er seiner Frau ins Bett.
Es war bereits dreiundzwanzig Uhr dreißig. Seine Frau schlief sofort ein und er gönnte sich zur Nacht noch einen weiteren Artikel aus dem Polizeijournal: „Die forensische Entomologie als Stütze bei der Bestimmung des Todeszeitpunkts.“
Normalerweise wird der Todeszeitpunkt durch die Temperatur, das Erscheinungsbild der Totenflecken und die Ausprägung der Totenstarre bestimmt. Dies ist aber nur innerhalb von drei Tagen möglich, danach kommt die Entomologie ins Spiel: „Die Bestimmung der Leichenliegezeit anhand von Insekten, die sich in dem Leichnam eingenistet haben.“ Denn vor allem Leichen, die im Freien liegen, werden sukzessiv von bestimmten, einheimischen Insektenarten besiedelt. Die Zusammensetzung dieser Insektengruppen, sowie deren Alter und Größe sind typisch für ein bestimmtes Stadium des Zerfalls der Leiche, da jede dieser Spezies die Leiche zu ganz bestimmten Zeiten als Nahrungsquelle, Brutstätte und Siedlungsraum nutzen und diese danach verlassen. Juri wollte sich in das Thema einlesen, damit er in der Rechtsmedizin etwas Grundlagen mitbrachte und diese nicht zu weit mit Erklärungen ausholen mussten. Darüber hinaus wurde seine Abteilung immer häufiger mit Leichenteilen konfrontiert, bei denen nur über diese Methoden der Todeszeitpunkt bestimmt werden konnte.
Es war bereits weit nach Mitternacht als Juri den Artikel aus der Hand legte und einschlief. Er schlief tief und fest. Nur ab und zu begegnete er in seinen Träumen Geldfresse, der ihm sein Haus wegnehmen wollte.
Um fünf Uhr dreißig klingelte sein Diensthandy. Er kannte die Nummer. Ihn anzurufen war durchaus legitim, aber wenn dies Zuhause und zu so einer Uhrzeit geschah, musste er nicht lange darüber nachdenken, was für eine Nachricht ihn jetzt erwartete. Er vertröstete seinen Kollegen und ging mit seinem Handy ins Arbeitszimmer. Eine seiner wichtigsten Regeln: Privat und Arbeit grundsätzlich immer zu trennen.
„Ja, Martin? Entschuldige, ich musste noch ins Arbeitszimmer runter.“
„Kein Problem, Juri. Lass dich bloß nicht hetzen.“
„Niemals, Martin. Was ist mit deiner Stimme passiert. Hattest du gestern eine harte Nacht?“
„Ging eigentlich. Dafür war der Morgen umso härter. Juri, du solltest dir das hier unbedingt angucken.“
„So schlimm?“
„Sonst würde ich es nicht sagen. Mir wären fast zwei Polizeitaucher abgesoffen, weil die sich die Maske vollgekotzt haben. Und das kann ich gut nachvollziehen.“
„Was haben wir denn?“
„Eine männliche Leiche im Schwimmbad.“
„Hört sich jetzt nicht so dramatisch an.“
„Erzähl mir das noch mal nach der Beschau.“
„Okay, gib mir fünfundvierzig Minuten.“
Juri notierte sich die Adresse vom Schwimmbad und legte auf. Er kannte Hauptkommissar Martin Rogge schon einige Jahre und hatte schon echte Gräueltaten mit ihm untersucht. Darüber hinaus kam Martin von der Sitte und war einiges gewohnt. Aber so betroffen hatte er seinen Kollegen und Freund selten erlebt.
Er suchte seine Sachen zusammen und verabschiedete sich von seinen drei Frauen und seinem nutzlosen Hund.
Das Schwimmbad, in dem die Leiche gefunden wurde, kannte Juri gut. Seine Frau und er waren öfter mit den Töchtern dagewesen. Hier hatte er den beiden das Schwimmen beigebracht. Juri war erstaunt, wie lange das mittler Weile her war.
Das Schwimmbad ist eines der wenigen Bäder in Hamburg, das noch über fünfzig Meter-Bahnen verfügt. Früher war er hier regelmäßig schwimmen gegangen. Darüber hinaus hat das Bad eine endlos lange Wasserrutsche, welche richtig zum Spaß einlädt.
Juri löste sich aus der Nostalgie und versuchte sich auf den Fall zu konzentrieren. Dass sein Kollege Hauptkommissar Martin Rogge ihn so drängte, machte ihm Sorgen. „Was kann an einer Wasserleiche für einen gestandenen Mordermittler so dramatisch sein? Lange kann die Leiche doch gar nicht im Wasser gewesen sein, denn schließlich herrscht doch Badebetrieb. Darüber hinaus hatte jeder Ermittler bei der Mordkommission schon Wasserleichen gesehen.“
Er fuhr mit seinem Dienstmercedes auf das Schwimmbadgelände. Mehrere Einsatzfahrzeuge parkten mit Blaulicht vor dem Bad. Zwei Uniformierte fragten nach seiner Legitimation und zeigten ihm den Weg zum Tatort. Neben der Eingangstür wurde ein Polizeitaucher von einem Sanitäter betreut. Juri erkundigte sich kurz nach seinem Befinden. Der Taucher war noch etwas blass im Gesicht aber auf dem Weg der Besserung.
Nachdem er das Schwimmbad betreten hatte, schlug ihm die hohe Luftfeuchtigkeit entgegen und der typische Chlorgeruch schoss ihm in die Nase. Er fragte einen weiteren Uniformierten, wo er seinen Kollegen Hauptkommissar Martin Rogge finden könne. Der Wachtmeister deutet auf die andere Seite des Beckens. Juri ging um das Schwimmbecken herum und das Erste was ihm auffiel, war das Blut in dem Becken. Dieses Rot war trotz der Wassermassen unverwechselbar intensiv. Jenes Rot, was man nur mit Blutrot beschreiben konnte.
Er ging auf Martin zu und begrüßte ihn mit Handschlag.
„Na, Martin, was hat uns denn der Tag heute beschert?“
„Hallo, Juri. Ich kann dir sagen, die Menschen werden immer durchgeknallter.“
„Okay, dann mal der Reihe nach. Wissen wir schon etwas über das Opfer?“
„Das Opfer ist der Bademeister. Er hatte, wie wir bereits wissen, heute Frühschicht. Sein Name ist Andreas Graupner, fünfundvierzig Jahre alt, geschieden, keine Kinder. Aktenkundig wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetzt und Förderung der Prostitution. Die genauen Hintergründe müssen wir noch recherchieren.“
„Schon klar. Was ist die Todesursache?“
„Genau genommen wurde er filetiert.“
„Martin, bitte etwas genauer.“
„So wie es aussieht, hatte Graupner morgens die Angewohnheit, vor seiner Schicht einige Runden zu Schwimmen. Bevor er jedoch seine Bahnen zog, gönnte er sich einen Ritt durch die Wasserrutsche und das war sein Verhängnis. Jemand hat am Ende der Rutsche ein halbes Dutzend zwölf Zoll Stahlnägel durchgehauen. Mit der Spitze nach oben und nach erstem Erkenntnisstand waren diese auch längsseitig scharf gemacht.“
„Ach du Scheiße.“
„Ja, das trifft es. Durch diese Rutschen läuft Wasser, damit sich der Reibungswiderstand verringert und die Geschwindigkeit erhöht. Bei seinem Körpergewicht von mindestens zwei Zentnern und einer Strecke von circa zwanzig Metern ist der mit einer Geschwindigkeit von dreißig bis vierzig Stundenkilometern in die Nägel reingerauscht. Letztendlich ist er mit den Schulterblättern am Ausgang der Rutsche hängen geblieben. Reichlich Fleischstücke sowie seine Hoden und die Reste seines Penis haben die Taucher vom Beckengrund aufgesammelt.“
Juri war schon einige Jahre bei der Mordkommission und bis zu diesem Mord der festen Überzeugung, dass ihn nichts mehr aus der Fassung bringen würde. Doch die Perversion des menschlichen Gehirns brachte immer wieder Blüten hervor, die seinen Verstand überforderten.
„Wer macht so etwas?“
„Das war auch mein erster Gedanke, Juri. Wie krank muss jemand sein, der sich so etwas einfallen lässt?“
„Keine Ahnung, Martin. Ich hoffe nur, dass der oder die keinen Gefallen daran findet.“ „Das glaube ich nicht. Das war gezielt. Voller Hass und gut geplant.“
„Das sehe ich auch so, aber wer sagt uns denn, dass es den Richtigen getroffen hat? Wer hat ihn gefunden?“
„Seine Kollegin, die liegt aber im Krankenhaus mit einem Nervenzusammenbruch. Personalien haben wir.“
„Okay, wer ist von der Pathologie und KTU dran?“ fragte Juri.
„Riff Raff. Der vertritt heute beides.“
„Du meinst Winterkorn? Dr. Samuel Winterkorn.“
„Ja. Ein guter Mann, aber er hat sich den Spitznamen redlich verdient. Wenn man schon beruflich mit Leichen zu tun hat, muss man nicht auch noch so aussehen. Aber wie gesagt, ein guter Mann, vielleicht etwas spooky, aber kompetent.“.
„Wir werden ihn brauchen, sei nett zu ihm.“
„Krieg ich hin, kein Problem. Juri.“
„Wer unterstützt dich?“
„Ich habe alles was ich brauche. Kollegen beschäftigen sich mit den Angestellten und Valerie ist an dem Umfeld dran. Außerdem sind noch Kollegen vom Kriminaldauerdienst, KDD dabei.“
„Gut. Ich möchte Winterkorn und das Team um fünfzehn Uhr in meinem Büro zu einer ersten Lagebesprechung sehen. Ich denke, bis dahin müssten die hier schon durch sein.“.
„Geht klar. Ich geh dann mal wieder an die Arbeit.“
„Bevor ich es vergesse. Kommt von ganz oben. Nichts an die Presse. Hier ist am Wochenende ein internationaler Schwimmwettbewerb, und wir sollen nicht für schlechte Laune sorgen.“
„Na, dann hätten wir das Wichtigste ja schon geklärt,“ konterte Martin und verabschiedete sich.
Juri suchte sich einen Platz in der Schwimmhalle von dem aus er den Tatort gut überschauen konnte. Er versuchte, sich in den Täter hineinzuversetzen und das in der Umgebung, in der der Mord geschah. Diese Chance würde er nicht noch einmal bekommen. Spätestens morgen früh waren hier wieder Badegäste, Schulklassen und nichts würde mehr an die Tat erinnern.
„Okay. Was hast du getan? Du willst jemandem weh tun. Du verabscheust ihn so sehr, dass du bereit bist, alles Menschliche abzulegen. Du bereitest es lange vor. Du spionierst dein Opfer aus und besorgst dir Zugang, um ungehindert die Falle zu bauen. Kein Schuss in den Kopf, keine Messerattacke im dunklen Treppenhaus. Nein, aufwendig, spektakulär und auf Distanz.
Du besorgst die Nägel und präparierst die Rutsche. So etwas schafft man nur bei geschlossenem Bad.“ Wie kam der Täter rein? Notierte Juri in sein Notizbuch.
„Du bist handwerklich begabt. Zumindest besteht eine Affinität. Die Falle steht. Nun gibt es kein Zurück. Du nimmst in Kauf, dass es den Falschen treffen könnte. Für dich kein Problem, also hast du Informationen, wann dein Opfer wo ist. Oder ist es dir egal, wen es trifft?“
„Weiter. Die Falle steht. Dein ahnungsloses Opfer geht seiner Routine nach, macht seine Runden und steigt in die Rutsche. Das können nicht viele wissen. Schaust du zu? Dann der Mord: Glückliches Rutschen, eintretender Schock und Tod. Qualen? Wenn der Mörder das Opfer hätte leiden lassen wollen, hätten drei Nägel vermutlich auch gereicht. Aber sechs angeschliffene Stahlnägel? Nein, der Tod stand im Vordergrund. Der Mörder wollte sicher gehen. Vielleicht nur sicher dahingehend, dass die Falle tödlich war, unabhängig davon wen es treffen würde?“
Juri erkannte, dass seinen Spekulationen wenig Wissen zu Grunde lag und beschloss, sich mit traditioneller kriminalistischer Arbeit dem Täter zu nähern. Zuerst die KTU.
Er suchte Dr. Samuel Winterkorn, und steuerte direkt auf ihn zu. Von weitem betrachtet schon eine etwas eigenartige Erscheinung. Er musste seinem Kollegen Martin Rogge recht geben: Wenn er einen Leichengräber im achtzehnten Jahrhundert beschreiben müsste, würde das Bild zu neunzig Prozent von Winterkorn beinhalten. Echt spooky, aber tüchtig.
„Hallo Herr Dr. Winterkorn. Sorry, wenn ich störe, aber ich wollte mal horchen, ob Sie schon etwas für mich haben?“
„Morgen Herr Hauptkommissar Sokolov, aber waren wir nicht mal beim du?“
„Ja, Entschuldigung, Samuel. Wie sieht es aus?“
„Nun, Juri, die Todesursache ist wohl offensichtlich. Ich denke nicht, dass jemand einen toten, zwei Zentner schweren Bademeister da rauf schleppt und ihn dann durch die Rutsche jagt.“
Juri fand den Denkansatz von Winterkorn interessant. Besser hätte man eine andere Todesursache oder Kampfspuren nicht verschleiern können.
„Darüber hinaus lässt die Blutverteilung den Schluss zu“, fuhr Samuel fort „dass er lebend in die Nägel reingedonnert ist. Mit Glück ist er an einem Schock gestorben. Mit Pech hatte er noch Sekunden, bis er ausgeblutet ist. Bei seiner guten physischen Verfassung eher das Zweite.“
„Spuren?“
„Am gesamten Geländer der Rutsche Berge von Fingerabdrücken. Genauso an dem vorderen Teil der Rutsche. An den Nägeln hingegen nichts, Garnichts. Natürlich untersuchen wir die Nägel im Labor noch genauer. Ansonsten habe ich wenig zu bieten.“
„Wie lange braucht man, um so eine Falle zu bauen?“
„Der oder die wussten, was sie taten. Die Nägel liegen weit genug auseinander, so dass das Plastik nicht bricht oder reißt. Aber auch nah genug zusammen, so dass es kein Entrinnen gab. Mit einem kräftigen Schlag kann man die Nägel vermutlich schnell durchs Plastik treiben. Sechs Nägel. Für jeden maximal zwei Minuten. In einer Viertelstunde machbar. Das ist aber jetzt nur die Meinung eines Hobbyhandwerkers. Nagel mich da nicht drauf fest!“ Samuel freute sich kurz über seinen Wortwitz und fuhr dann fort: „Interessant wird sein, wie er die Nägel da reinbekommen hat.“
„Was meinst du?“
„Na ja, er könnte kopfüber in der Rutsche gelegen und die Nägel dann von unten reingetrieben haben. Das ist aber schon eine gewaltige Zirkusnummer. Wahrscheinlicher ist, dass er sich mit einer Hand an der Rutsche festgehalten und dann, mit einer Nagelpistole die Nägel von unten reingeschossen hat. “
„Ist aber auch nicht gerade einfach.“
„Auf keinen Fall. Muckis muss er gehabt haben. Vielleicht einer von diesen Freeclimbern? Du weißt schon, diese Typen, die sich mit zwei Fingern in tausend Metern Höhe an der Felswand festhalten und nebenbei frühstücken.“
„Und? Ist seine Exfrau zufällig Freeclimberin?“
„Keine Ahnung, Juri, aber so einfach wird es wohl nicht werden. Sobald mir Ergebnisse vorliegen, melde ich mich.“
„Wäre prima, aber ich möchte trotzdem, dass wir uns so gegen fünfzehn Uhr in meinem Büro treffen. Ich muss mir einen Überblick verschaffen. Die anderen werden auch da sein.“
„Geht klar, bis dahin.“
Juri suchte den Rest seiner Truppe und erspähte auf der Rückseite des Schwimmbeckens seine Kollegin Valerie Schnitt. Valerie hatte als Kommissar Anwärterin unter seiner Leitung begonnen und sich bei ihrem ersten Fall erfolgreich ihre „Sporen“ verdient. Inzwischen hatte sie sich zur Oberkommissarin und einer kompetenten Kriminalistin bei der Mordkommission gemausert. Sie sah immer noch verdammt gut aus und in der Kantine liefen Wetten, wer sie zuerst „flachlegen“ würde. Aber nach seinem Kenntnisstand gab es bis jetzt noch keinen glücklichen Gewinner. Nun sagte der Kantinentratsch, dass sie entweder lesbisch oder frigide sei. So viel zum Thema Sexismus, Gleichberechtigung und geistige Spannbreite einiger Kollegen. Nicht dass Juri sich nicht vorstellen konnte, wenn er nicht verheiratet gewesen wäre, sich einer hübschen Kollegin zu widmen, aber Wetten und üble Nachrede waren dann doch nicht sein Niveau. Er ging auf Valerie zu, wartete das Ende des Gesprächs ab und begrüßte sie.
„Hallo Valerie, wie läuft es bei dir?“
„Hey. Juri, du kommst genau richtig. Ich denke, wir haben da etwas, was dich interessieren könnte.“
„Hört sich gut an, schieß los.“
„Du hast sicher schon mit Samuel gesprochen. Also die Vorgehensweise des Täters, die Nägel in der Rutsche und so weiter.“
„Ja, ich denke ich bin einigermaßen auf Stand.“
„Prima, dann hat dich die Frage: Wie ist er reingekommen und oder wie hat er es in Ruhe machen können, auch schon gequält.“
„Genau, ein wesentlicher Punkt bei diesem Verbrechen“.
„Ganz einfach: Er oder sie hat sich einschließen lassen…“
„Unwahrscheinlich. Das Bad ist gut gesichert durch Kameras und Bewegungsmelder etc....“
„Juri, vielleicht mal zwei Minuten zuhören?“ Juri merkte, dass die positive Entwicklung auch vor ihrer Persönlichkeit nicht Halt gemacht hatte. Keine Unsicherheiten oder Zurückhaltung, wenn es um die Sache ging. Er hatte einen wesentlichen Teil ihrer Persönlichkeit geprägt und war mit dem Ergebnis weitestgehend zufrieden. Auch wenn man seinem Vorgesetzten gegenüber etwas freundlicher sein könnte.
„Okay, sorry, Valerie.“
Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen und ihre Augen blitzen auf. Sie verstand, was er meinte.
„Also, er hat sich einschließen lassen und vermutlich die Kameras und Bewegungsmelder manipuliert.“
„Vermutlich?“
„Wir haben uns natürlich die Überwachungsbänder und die Alarmprotokolle der Sicherheitsfirma geben lassen. Nun ist das so, dass das Bad so gegen zweiundzwanzig Uhr schließt. Die Spätschicht kontrolliert persönlich, ob das Bad leer ist. Dann gibt es zum Schluss noch einen Abgleich über die Zutrittssysteme. Das bedeutet: Theoretisch muss die Zahl der eingehenden Badegäste mit der Zahl der ausgehenden Badegäste übereinstimmen. Dem war gestern so. Somit wurde die gesamte Schwimmhalle „scharf“ geschlossen. Nun haben wir mehrere Probleme: Erstens, die Überwachungskameras. Sämtliches Bildmaterial zwischen drei Uhr morgens und Dienstbeginn ist unbrauchbar. Das heißt: der Täter hat sich mehrere Stunden Zeit genommen, um seine Tat vorzubereiten. Wie er die Aufzeichnungsbänder zerstört hat, werden die Techniker klären. Dazu gibt es nachher mehr.“
„Okay, erzähl weiter.“
„Die Bewegungsmelder. Die beiden relevanten Bewegungsmelder wurden mit einem banalen Zahnarztspiegel manipuliert. Ist jetzt nicht so ein Zauberkunststück. Die Anlagen sind extrem veraltet. Das Besondere ist nur, dass keiner sagen kann, wann diese Geräte manipuliert wurden.“
„Wie meinst du das?“
„Eigentlich so wie ich es sage. Solange die Dinger keine Störungsmeldung anzeigen, schaut sich die keiner an. Und die Wartung findet alle sechs Monate statt. Um genau zu sein, hat sie vor drei Monaten stattgefunden.“
„Das bedeutet, dass der oder die Täter durchaus eine lange Vorbereitungszeit gehabt haben könnten.“
„Genau, Juri, und das vervielfacht natürlich den Kreis der potenziellen Verdächtigen. Vielleicht auch ein Komplize aus dem Schwimmbadteam. Der alles unterstützend vorbereitet hat.“
„Vielleicht ist der Gehilfe oder sogar der Täter bei der Manipulation gefilmt worden.“ ergänzte Juri.
„Den Gedanken hatten wir auch schon. Wir werden uns die vergangenen Tage anschauen aber die Bänder werden im Wochenrhythmus gelöscht.“
„Klar, wäre auch zu schön gewesen. Gute Arbeit, Valerie. Sehen wir uns nachher gegen fünfzehn Uhr in meinem Büro?“
„Natürlich, Juri. Bis dahin.“
Juri besorgte sich noch einige Informationen und verließ dann den Tatort. Draußen hörte er seine Mailbox ab. Bei der Sprachnachricht vom Kriminaldauerdienst (KDD) bekam er die Information zu einer weiteren Leiche und rief umgehend zurück.