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Beschreibung

Was bedeuten ›Virtuelle Realität‹, Industrie 4.0, ›Künstliche Intelligenz‹ und nicht zuletzt das neueste Smartphone für die Zukunft unserer Gesellschaft? Debatten über technische Umwälzungen und damit einhergehende post-kapitalistische Perspektiven sind auch unter Linken von tiefen Ambivalenzen geprägt: Roboter gefährden Arbeitsplätze, könnten die Menschen aber auch von der Lohnarbeit befreien; Mobiltelefone können als Überwachungsinstrumente missbraucht werden, aber auch bei der Koordination subversiver Aktionen helfen; Algorithmen machen Kontrolle immer effektiver, könnten aber auch zu einem automatisierten Luxuskommunismus führen. Ungeachtet dieser sowohl emanzipatorischen als auch anti-emanzipatorischen Fluchtlinien geht technologischer Wandel mit einem tiefgreifenden sozialen Wandel einher. Linke Politiken bewegen sich mitten auf diesem umkämpften Terrain, das sich durch sukzessive Entwicklungen, historische Verzahnungen, lange Kontinuitäten, aber auch Sackgassen auszeichnet. Die Beiträge des vorliegenden Bandes beschäftigen sich mit den offenen Enden dieses techno-gesellschaftlichen Wandels und nähern sich auf verständliche Weise seinen komplexen Phänomenen. Dabei werden vor allem konkrete emanzipatorische Positionen in den Blick genommen, die die technologischen Potenziale aktiv und offen ausloten, statt sie blind zu verdammen. Nach einigen grundlegenden Einordnungen von Politik und Technologie, richten Einzelanalysen ihren Fokus auf verschiedenste Technologien und unterschiedlichste Aneignungsstrategien. Das thematische Spektrum der Beiträge ist weitgefächert, es geht um digitale DIY-Kultur, Punk-Gynäkologie, ›Cognitive Mapping‹, bildungspolitische Coding-Initiativen, Industrie 4.0, die aktuelle Automatisierungsdebatte und vieles mehr. »…hier steckt wirklich viel relevantes Wissen drin! […] Ich kann das Buch sehr empfehlen!« – Sabrina, TRUST »Es bleibt zu hoffen, dass dieses Buch eine lebhafte Diskussion unter Linken auslöst.« – Peter Nowak, nd

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Seitenzahl: 451

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Paul Buckermann, Anne Koppenburger, Simon Schaupp (Hg.)

Kybernetik, Kapitalismus,Revolutionen

Emanzipatorische Perspektivenim technologischen Wandel

UNRAST

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Paul Buckermann, Anne Koppenburger, Simon Schaupp (Hg.)

Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen

eBook UNRAST Verlag, Mai 2018

ISBN 978-3-95405-029-1

© UNRAST-Verlag, Münster

Postfach 8020 | 48043 Münster | Tel. 0251 – 66 62 93

[email protected] | www.unrast-verlag.de

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Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwenung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Felix Hetscher

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Paul Buckermann, Anne Koppenburger, Simon Schaupp EinleitungTechnologie als Feld gesellschaftlicher Machtkämpfe

Theoretische Grundlagen

Paul Buckermann und Anne KoppenburgerTechnologie, Fortschritt, StrategieEine Kartierung emanzipatorischer Politiken und ihrer Technologieverständnisse

Simon SchauppVergessene HorizonteDer kybernetische Kapitalismus und seine Alternativen

Nick SrnicekNavigieren im NeoliberalismusPolitische Ästhetik im Zeitalter der Krise

Matteo PasquinelliAnormale Enzephalisierung im Zeitalter des maschinellen Lernens

Philipp FreyAutomatisierung – (Alb-)Traum der emanzipatorischen Linken?Zu den gesellschaftspolitischen Implikationen avancierter Produktivkräfte

Einzelanalysen

Elmar FlatschartAnthropozän oder Kapitalozän?Der emanzipatorische Gehalt ökologischer Krisenbearbeitungzwischen Gesellschaft und Technik

Dana Mahr und Livia PrüllKörperliche Selbstermächtigung aus dem 3D-Drucker?Feministische Kulturen als ›Parallelwelten‹ und der Kampf um gesellschaftliche Teilhabe seit 1970

Anita Thaler und Magdalena Wicher Betrachtung bildungspolitischer Coding-Initiativenaus queer-feministischer Perspektive

Christian PapsdorfKritik im Hidden WebTechnisch anonymisierte Kommunikation als Basisemanzipativer Praktiken

David WaldeckerKulturindustrie 4.0Die Digital Audio Workstation in der Musikproduktion

Nikolaus LehnerTargeting und TrivialitätAlgorithmische Kontrolltechnologienund moderne Lebensführung

Malena NijensohnSubjektivierungstechnikenim pharmapornographischen RegimeZum Widerstand in der Biotechnomachtin Paul B. Preciados Theorie

Autor*innen

Anmerkungen

Paul Buckermann, Anne Koppenburger, Simon Schaupp

Einleitung

Technologie als Feld gesellschaftlicher Machtkämpfe

Themen wie Drohneneinsätze in Krieg und Postverkehr, Nerd-Kulturen, Big Data, Programmieren als zweite Fremdsprache, algorithmisches Trading, Industrie 4.0, Smart Cities, autonome Fahrzeuge, Virtual Reality und nicht zuletzt das neueste Smartphone ziehen derzeit ungemein viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Ihren diskursiven Verhandlungen ist dabei erstens gemeinsam, dass neue digitale Technologien als ungeheure soziale Veränderungskraft verstanden werden und unsere Gesellschaft, wenn nicht heute, dann doch spätestens morgen, von ihnen radikal auf den Kopf gestellt wird. Zum zweiten verursachen die meisten der oben genannten Schlagwörter eine gewisse Skepsis oder gar Angst: Roboter vernichten Arbeitsplätze, das Smartphone zerstört das traditionelle Familienessen, Elektronikproduktion fördert Umweltzerstörung und intransparente Algorithmen beherrschen ›uns Menschen‹. Drittens umschwebt die Diskussionen eine Unwissenheit, die darauf beruht, dass die genannten Technologien und Methoden hochkompliziert sind und ihre Entwicklungszyklen scheinbar immer kürzer werden. Auffällig ist viertens ein weitgehendes Fehlen fundierter linksradikaler und emanzipatorischer Positionen, obwohl gesellschaftliche Folgen breit und relativ ambivalent sogar in Feuilletons und Talkshows diskutiert werden. Den Zusammenhängen dieser ersten Befunde wollen wir uns in dem vorliegenden Sammelband nähern. Wir fragen, wie sich emanzipatorische Perspektiven auf den technologischen Wandel beziehen, welche Umgänge ausprobiert werden und welche gesellschaftlichen Veränderungspotenziale mit neuem Wissen und seiner Anwendung assoziiert werden. Wir gehen davon aus, dass solche Verständnisse von Technologie, Gesellschaft und Fortschritt oft nicht explizit formuliert oder bewusst verhandelt werden, sondern eine politische Bearbeitung sozusagen ›hinter dem Rücken der Akteure‹ stattfindet.

Eine Auseinandersetzung mit der Ambivalenz, die sich in der Entwicklung und Anwendung von Technologie verbirgt, ist immer auch eine Befragung der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie stattfindet. Am Beispiel der Big-Data-Technologien wird dies deutlich. »Raus mit allen Theorien menschlichen Verhaltens, von der Linguistik bis zur Soziologie«, lautet das lakonische Resultat des Wired-Herausgebers Chris Anderson 2008 angesichts des Aufkommens der Big-Data-Analyseverfahren. »Vergessen Sie Taxonomie, Ontologie und Psychologie. Wer weiß schon, warum Menschen tun, was sie tun? Der Punkt ist, dass sie es tun, und wir können es mit nie dagewesener Genauigkeit tracken und messen. Wenn wir genug Daten haben, sprechen die Zahlen für sich selbst.«[1] Diese Diagnose vom Ende der Theorie deutet an, wie einflussreich Informationstechnologien auf die Vorstellungen über den Zugang zur Welt sind. Der sich abzeichnende, oder besser fortwährende, technologisch beeinflusste epistemische Wandel schlägt sich nicht ausschließlich in den Wissenschaften nieder, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Äußerungen von Alex Pentland (2015), dem wohl prominentesten Vertreter des Big-Data-Ansatzes, verweisen exemplarisch auf die Vorstellungen über den Einfluss von Big Data im Bereich der Politik. So fordert er eine auf Basis von Feedbackschleifen selbstregulierte Gesellschaft, in der eine Big-Data-Governance eine mathematisch ›korrekte‹ Politik ermöglicht (ebd.). Der Gegenstand der Steuerung wird dabei in kybernetischer Manier[2] als ›System‹, d.h. als eine selbstrefentielle und damit scheinbar monolithische Maschine konzipiert. Aus der Übernahme dieses Systembegriffs durch die Vertreter_innen der Big-Data-Governance lässt sich auch die technokratische Rhetorik von der ›korrekten‹ Politik erklären. Wenn wir aber mit Chantal Mouffe (2007) davon ausgehen, dass sich Politik wesentlich auf gegensätzlichen Interessen gründet, also der Vorteil des einen Akteurs meist der Nachteil des anderen ist, wessen Interessen dient dann eine ›korrekte‹, datengetriebene Politik? Das ist eine der zentralen Fragen, die sich für eine linke Auseinandersetzung mit den neuesten technologischen Entwicklungen stellt: Wem nützen Kybernetik, Big Data, Industrie 4.0 und dergleichen? Dienen sie der Verschärfung von Ausbeutung und Herrschaft oder der Befreiung der Menschheit? Der vorliegende Sammelband widmet sich dieser Debatte und bringt durch verschiedene Herangehensweisen gerade die Nuancen vertretener Positionen zur Entfaltung.

Zentral gehen wir von zwei Ambivalenzen in einer emanzipatorischen Verhandlung von Technologie aus. So haben die verschiedenen emanzipatorischen Akteure höchst unterschiedliche Einstellungen zu Potenzialen und Gefahren technologischer Entwicklung: Die einen treibt es zurück in den Garten, in ihren Augen hält ein technologischer Wandel grundsätzlich nur Schlechtes bereit und kann nicht mehr aufgehalten oder nachjustiert werden. Für die Anderen erstrahlt ein vollautomatisierter Luxus-Kommunismus am Horizont des Silicon-Valley, und eine Welt ohne allzu schlechte Arbeit scheint durch Kybernetik, Roboter und künstliche Intelligenz möglich. Zwischen diesen beiden Polen entfaltet sich ein ganzes Spektrum höchst ausdifferenzierter, ambivalenter, aber leider oft kaum sichtbarer Positionen. Neben dieser politischen und strategischen Ambivalenz emanzipatorischer Politiken bergen die viel diskutierten Maschinen, Apparate, Programme und Methoden selber höchst ambivalente Potenziale. Wenn etwa über den Einsatz von Produktionsautomatisierung, algorithmische Steuerung oder die Vernetzung von Produktionszweigen diskutiert wird, schwebt hinter der möglichen Angst vor Arbeitsplatzvernichtung immer auch der kommunistische Traum von der Abschaffung der Lohnarbeit. Meist enden Diskussionen zu diesem Themenfeld mit der Feststellung, dass es ja am Ende des Tages nur darauf ankomme, wem die Produktionsmittel gehören. Wir wollen es in diesem Band aber nicht bei dieser relativ schlichten Argumentation belassen und haben deshalb Autor_innen eingeladen, Entwicklung, Anwendungen und Bekämpfungen von Technologien auf emanzipatorische Positionen hin zu untersuchen, die nicht erst auf die Stürmung des Winterpalais warten wollen. Wir haben dazu aufgerufen, sich gerade mit jener Ambivalenz vieler Technologien auseinanderzusetzen, die Versprechungen bereithalten, auf deren Einlösung viele von uns sehnsüchtig warten bzw. sich aktiv dafür einzusetzen, die emanzipatorischen Potenziale von Technologien auszuloten. Um diese Versuche und Perspektiven geht es in den hier versammelten Beiträgen. Sie bewegen sich durchgängig im Spannungsfeld zwischen Technologie als Mittel zur Emanzipation auf der einen Seite und Technologie als Mittel zur Kontrolle, Ausbeutung und Unterdrückung auf der anderen Seite.

Technologie oder Technik?

Eine einführende Erörterung zur Verwendung der Begriffe Technik und Technologie soll die Auseinandersetzungen in der Debatte unterstützen. In den folgenden Beiträgen wird der_die Leser_in sowohl dem Begriff ›Technologie‹ als auch dem Begriff ›Technik‹ begegnen, häufig werden beide sogar synonym verwendet. Dies liegt zum einen daran, dass den Autor_innen keine spezifische Verwendungsweise vorgegeben wurde, zum anderen daran, dass in der Literatur keine hinreichende Abgrenzung der beiden Begriffe vorliegt. Eine kleine Begriffsgeschichte macht dies deutlich:

Der Begriff ›Technik‹ leitet sich aus dem Griechischen τ?χ?η (téchne; tekhne; technē) ab und hat in der europäischen Kulturgeschichte vielfältige Weiterentwicklungen erfahren. Während die zeitgenössische Verwendung eine Objektorientierung nahelegt, bezeichnete τ?χ?η (téchne; tekhne; technē) in der griechischen Verwendung noch bis zu Aristoteles insbesondere menschliche Tätigkeiten und das zugrundeliegende Wissen in der Kunst, im Handwerk und in der Wissenschaft. Aristoteles hob seinerzeit mit der Unterscheidung von Wissensbereichen die synonyme Verwendung von ›téchne‹ und ›episteme‹ (von griech. ?πιστ?μη) auf. Auf dieser Unterscheidung aufbauend hat sich ein traditionelles Verständnis von Technik als produktivem Know-how entwickelt (vgl. Stiegler 2009a: 129). Entscheidend für dieses Verständnis von Technik sei die Relation zwischen dem Know-how und dem Produkt, welche auch gegenwärtig in Kategorien der Nützlichkeit gedacht werde. Know-how werde ausschließlich zum Zweck der Produktion angewandt, die Technik (Wissen und Tätigkeit) sei dabei das Mittel. Zurückzuführen sei diese begriffliche Beschränkung auf die Negation alles Technischen in der Geburtsstunde der Philosophie. In der Aporie des Menon ist es Platon, der Sokrates die Frage, was Tugend sei, dialektisch erörtern lässt. In der Zurückweisung des »rhetorischen Gebrauchs der Sprache durch die Sophisten« als Ausdruck eines »radikalen Skeptizismus« erfährt die Technik – hier auf die Sprache und Schrift angewandt – eine Ablehnung, weil sie die Betrachtung des Seins als ein eigentliches Werden ermöglicht und damit das Streben der Philosophie nach Stabilität, also die Untersuchung des Seins, gefährde (Stiegler 2009b). Wir können aus diesem Verweis auf die Ursprünge der philosophischen Frage als eine genuin technische Frage lernen, dass das, was wir als Technik – oder heute als Technologie – bezeichnen, immer auch Deutungen dessen transportiert, was Bernard Stiegler (ebd.: 27) eine techno-logische Bedingung der menschlichen Exteriorisierung (Entäußerung; Stiegler meint vor allem die Äußerung und das Festhalten von Erfahrungen) nennt.

Wenn also der Begriff Technik vor allen Dingen menschliche Fertigkeiten und das zugrundeliegende Wissen bezeichnet, was ist dann unter dem Begriff ›Technologie‹ zu verstehen? Um zunächst bei den Vorschlägen Stieglers (2009a: 130) zu bleiben, soll einer weiterführenden Begriffserörterung die Interpretation von Technologie als »Diskurs« vorangestellt werden, »der die Evolution spezialisierter Vorgehensweisen und Techniken, von Künsten und Handwerken beschreibt und erklärt«. Darin wird deutlich, dass der Begriff Technologie einerseits auf eine zeitliche Dimension, andererseits auf die Konvergenz von Technik und Wissenschaft verweist. Bereits neuzeitliche Vorstellungen von Technik als angewandte Naturwissenschaft deuten auf diese Konvergenz hin, wenn auch mit einem Fokus auf das Werkzeug zur Bemächtigung der Naturbeherrschung (Hubig 2006). Die Herausbildung der Technowissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht einher mit einer zunehmend systemischen und prozessorientierten Konnotation der Begriffe Technik und Technologie (Weber 2007). Dieses – am Begriff des ›Dispositivs‹ orientierte – Verständnis von Technologie, reicht über eine spezifische Fertigkeit, Tätigkeit oder ein technisches Artefakt hinaus, indem es auf die gesellschaftlichen Bezugssysteme verweist, in denen Technologien im Zusammenhang mit sozialen Ordnungen ent- und bestehen oder auch verworfen werden.

Wir finden demnach in der Beantwortung der Frage nach dem, was Technik oder Technologie ist, auch Antworten auf die Frage, welche gesellschaftlichen Verhältnisse spezifische Technologiezugriffe ermöglichen. Eine synonyme Verwendung der Begriffe Technik und Technologie erscheint daher dann gerechtfertigt, wenn als Bezugspunkt ihre Verwendung erörtert wird.

Es zeigt sich, dass die Grundlagen einer Debatte, wie sie um Technologieentwicklung und -anwendung geführt wird – und zu der die hier versammelten Texte einen Beitrag leisten – auch darin bestehen, das Verhältnis auszuloten, in dem Technologie und Gesellschaft überhaupt zueinander stehen. Dabei geht es vor allen Dingen darum, die Richtung abzustecken, in der die Wirkmächtigkeit dieses Verhältnisses sich ausdrückt. Kann technologische Entwicklung als kausale Ursache für gesellschaftlichen Wandel verstanden werden? Oder muss umgekehrt Technologie als Resultat gesellschaftlicher Strukturen aufgefasst werden? Erstere Variante kann als Technikdeterminismus bezeichnet werden, da sie gesellschaftliche Entwicklung ursächlich aus der Technik ableitet, letztere als Sozialdeterminismus, da sie von der sozialen Gestaltung jeder Technologie ausgeht. Das Übergewicht eines Technikdeterminismus zeigte sich in der deutschen Debatte der 1960er Jahre um das technokratische Potenzial der Kybernetik (z.B. Bertaux 1963, Habermas 1968, Marcuse 1968). Man fürchtete die Gefahren, die von »Regierungs-« oder »Entscheidungsmaschinen« (Wiener 1962) ausgingen; insbesondere wurde der Sorge Ausdruck verliehen, die Maschinen könnten sich verselbstständigen und ›die Menschheit‹ unterjochen. Etwa zeitgleich entwickelten sich derartige Szenarien zum Standard-Plot dystopischer Science-Fiction (ausgenommen vielleicht Star Trek). Diese Angst vor einer Machtübernahme der Maschinen prägt auch heute noch in weiten Teilen die kritische Debatte über künstliche Intelligenzen. Nicht nur im Feuilleton, auch in linken Analysen steht die Warnung vor einer »Robokratie« (Wagner 2015) oft im Vordergrund. Daraus spricht eine humanistische Tradition der Technikkritik, die Technologie als externe Bedrohung für die menschliche soziale Welt konzipiert. Auf der einen Seite steht der einheitliche Block der Maschinen, auf der anderen Seite der einheitliche Block der Menschheit. Eine solche Verbannung von Technologie aus der sozialen/natürlichen Welt macht eine Analyse ihrer Machtwirkungen jedoch unmöglich. Einerseits wird es dadurch schwierig zu verstehen, welchen Interessen die jeweiligen Technologien dienen. Andererseits – und das ist wesentlich problematischer – wird die Menschheit, so zum Beispiel von den Vertreter_innen einer Big-Data-Governance, als monolithische Einheit dargestellt. Doch dadurch wird der Blick auf die Gegensätzlichkeit menschlicher Interessen verstellt. Ein_e Arbeiter_in hat nicht unbedingt dasselbe Interesse an einer neuen Produktionstechnologie wie ein_e Kapitalist_in.

Positiv gewendet ist dieser Technikdeterminismus jedoch ebenso präsent. Die sogenannte »californian ideology« (Barbrook/Cameron 1996), eine Verschmelzung von Technikeuphorie und Neoliberalismus, entwickelt sich immer mehr zur Ideologie des kybernetischen Kapitalismus. Ihr zentrales Postulat besagt, dass die Entwicklung der Informationstechnologie zu einem perfekt funktionierenden, sich weltweit selbst regulierenden Markt führe, einem »reibungslosen Kapitalismus« wie Bill Gates (1995: 157 ff.) es nennt. Aber auch die Annahme, die Digitalisierung führe zwangsläufig in eine postkapitalistische Ära, wird in den Feuilletons breit diskutiert. Die beiden zentralen zeitgenössischen Figuren sind Jeremy Rifkin und Paul Mason. Jeremy Rifkin (2015) behauptet, dass die kostengünstige Reproduzierbarkeit von Informationen zu einer Null-Grenzkosten-Gesellschaft und damit weg vom Kapitalismus führen müsse. Paul Mason (2015) erklärt, dass allein schon die digitale Vernetzung und gemeinschaftliche Wissensproduktion dem Kommunismus Tür und Tor öffnet. Ebenso wie bei den humanistischen Technikkritiker_innen wird hier eine kritische Theorie der Funktionsweise des Kapitalismus ersetzt durch eine Fetischisierung der Technik. Losgelöst von der profanen Welt der Ausbeutung und Herrschaft wird der Technik ein Eigenleben zugeschrieben – mal als Wille zur Unterjochung der Menschheit, mal als revolutionäres Subjekt.

Die folgenden Beiträge verstehen Technologie jedoch als Feld gesellschaftlicher Machtkämpfe: Digitale Technologien haben einerseits das Potenzial, Herrschaftsverhältnisse zu verschärfen, andererseits haben sie das Potenzial, diese zu transformieren. Sie sind prinzipiell offen und stehen in einem dialektischen Verhältnis zur Gesellschaft: Sie entstehen aus spezifischen gesellschaftlichen Situationen heraus, wirken aber auch auf diese zurück. Wie Marx in seinem Maschinenfragment schreibt, »zeigt sich bei der nähern Entwicklung des Kapitals, daß es einerseits eine bestimmte gegebne historische Entwicklung der Produktivkräfte voraussetzt – unter diesen Produktivkräften auch die Wissenschaft –, andrerseits sie vorantreibt und forciert. (Marx 1974: 587). In diesem Sinne wollen die hier versammelten Beiträge der Fetischisierung von Technologie differenzierte Analysen gegenüberstellen. Im Zentrum steht dabei die analytisch und strategisch drängende Frage, ob und wie die neuen Technologien emanzipatorisch gewendet werden können.

Die Bezeichnung ›emanzipatorische Politiken‹ ist in den folgenden Untersuchungen inklusiv gemeint. Politiken können genauso in einer Weltregierung wie in einem Hausplenum stattfinden, und sie zeichnen sich durch den Anspruch aus, allgemeine gesellschaftliche Umgangsformen in einer Gruppe festzulegen und zu sichern. Diese Regeln können formell in Parlamentsbeschlüssen, Gesetzen oder Tarifverträgen festgehalten oder durch diskursive oder informelle Mechanismen gestützt werden. Die Organisation von Gesellschaft vollzieht sich also auf den unterschiedlichsten Ebenen und durch unterschiedlichste Akteure. Dieser Diversität und Verflechtung wollen wir durch den Plural ›Politiken‹ gerecht werden und haben deshalb auch den Autor_innen dieses Bandes freigestellt, ob sie sich mit gesamtgesellschaftlichen Phänomenen oder kleineren, autonomen Initiativen und deren Verhältnis zum technologischen Wandel beschäftigen wollen.

Die Einschränkung ›emanzipatorisch‹ gilt der inhaltlichen Seite dieser Politiken, wobei Emanzipation in unseren Untersuchungsgegenständen mindestens eine doppelte Bedeutung hat: Einerseits kann sie die Entlassung aus Herrschaftsverhältnissen meinen[3], andererseits – und das ist im deutschsprachigen Diskurs sicherlich das vorherrschende Verständnis – die aktive Einforderung und das Erkämpfen von bestimmten Rechten durch die Beherrschten selbst. Auch diese Prozesse können in eher formellen Bürgerrechten (›politische Emanzipation‹) münden oder in alltäglicher, gesellschaftlicher Anerkennung. Eine scharfe Trennung dieser beiden Verständnisse ist oft schon deshalb nicht möglich, weil in Emanzipationsprozessen ab einem bestimmten Punkt formelle Regelsetzungsverfahren in Kraft treten, die dann nicht mehr einseitig autonom von den Beherrschten, sondern in Verhandlungen mit Herrschaftsstrukturen vorangetrieben (oder eben ausgebremst) werden.

Ob sozialistische Parteien, linke Thinktanks, klandestine Aktionsnetzwerke, gewerkschaftliche Basisgruppen, Antisexist_innen oder einzelne Hacktivist_innen: Sie alle eint das Streben nach Veränderung gesellschaftlicher Umgangsformen zum Abbau von Herrschaftsstrukturen. Dieser Breite sozialer Auseinandersetzungen wollen wir gerecht werden. Dabei gehen wir davon aus, dass diese Akteure bei genauerem Hinsehen ein dezidiertes Verhältnis zum technologischen Wandel haben. Und dieses Verhältnis ist – so die Ausgangsthese der folgenden Beiträge –von entscheidender Bedeutung für die Wahl von politischen Zielen und Strategien und somit von Wegen in andere Zukünfte. [4]

Beiträge

Technologie- und Gesellschaftsverhältnisse, politische Strategien und Zukunftsverständnisse politischer Strömungen bedingen sich gegenseitig. Paul Buckermann und Anne Koppenburger präsentieren in ihrem Beitrag eine Beobachtungsfolie für Technologieverständnisse emanzipatorischer Politiken sowie eine Kartografierungsarbeit. Die einleitenden Bestimmungen zu Technologie sowie emanzipatorischen Politiken werden hier vertieft, und die Dimensionen einer möglichen Analyse werden in Hinblick auf eine grundlegende Einstellung zum technologischen Wandel sowie anpassenden oder gestaltenden Strategien bestimmt. Ein Eintrag auf der Karte wird exemplarisch an gewerkschaftlichen Positionen zu ›Industrie 4.0‹, dem anarchistischen Autor_innenkollektiv Tiqqun sowie akzelerationistischen Positionen skizziert. Ergebnis des Beitrages ist eine kompakte Darstellung von impliziten und expliziten Verbindungen oder Widersprüchen unterschiedlicher Akteure sowie die Bereitstellung eines Werkzeuges für weitere Untersuchungen.

Der Beitrag von Simon Schaupp dreht sich um den Begriff des kybernetischen Kapitalismus. Anhand des Beispiels der sogenannten ›Industrie 4.0‹ zeigt Schaupp Tendenzen einer Kybernetisierung der Ökonomie auf. In ihrer gegenwärtigen Form nehmen diese zu großen Teilen die Form einer weiteren Vermarktlichung sozialer Beziehungen ein. Der Beitrag zeigt allerdings auch, dass diese Entwicklung politisch kontingent ist und keineswegs in der Natur der Kybernetik liegt. Um dies zu verdeutlichen rekonstruiert Schaupp verschiedene Visionen einer »Kybernetik der Befreiung«, von den radikalen politischen Positionierungen kybernetischer Klassiker bis hin zu aktuellen Experimenten mit selbstorganisierten elektronischen Institutionen.

Nick Srnicek, Mitbegründer des neueren Akzelerationismus, stellt in seinem Beitrag das für diese Strömung zentrale Konzept des Cognitive Mapping vor. Dabei spricht er sich für eine kritische Aneignung digitaler Analyse- und Repräsentationstechnologien aus, wie etwa Big Data Analytics, sowie der damit einhergehenden Ästhetik. Diese habe das Potenzial, hochkomplexe Zusammenhänge wie den globalen Kapitalismus adäquat darzustellen und damit aus der reinen Abstraktion zu heben. Die Überwindung menschlicher sensorischer Grenzen werde so zu einem ersten Schritt hin zu einer Gestaltbarmachung der Zukunft.

Matteo Pasquinelli analysiert in seinem Beitrag »Anormale Enzephalisierung im Zeitalter des Maschinenlernens« den Anthropomorphismus des Diskurses um künstliche Intelligenz. Dabei entlarvt er den Glauben an denkende Maschinen und künstliche Intelligenz, der mit der Vision einer bevorstehenden ›Singularität‹ einhergeht, als einen Animismus der Reichen. Das Postulat der Autonomie künstlicher Intelligenz sei in diesem Sinne wesentlich das Postulat einer Autonomie des Kapitals gegenüber der Gesellschaft.

Philipp Frey widmet sich in seinem Beitrag »Automatisierung – (Alb-)Traum der emanzipatorischen Linken?« der Frage, inwiefern die aktuellen Auseinandersetzungen mit der zunehmenden Automatisierung von Lohnarbeit von Bedeutung für eine zeitgemäße und zukunftsgewandte emanzipatorische Linke sind. Zu diesem Zweck gibt er zunächst einen kurzen Überblick über den öffentlichen Diskurs und die wissenschaftliche Debatte zu diesem brisanten Themenkomplex. An diesen schließt sich eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Implikationen der Automatisierung an. Abschließend arbeitet er einige mögliche Anknüpfungspunkte im Denken der frühen Frankfurter Schule für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Zukunftsfragen heraus und beleuchtet in knapper Form das Verhältnis von Produktivitätssteigerungen und gesellschaftlicher Emanzipation. Er schließt seinen Text mit der Entwicklung und Diskussion möglicher Forderungen einer radikalen Realpolitik im Bereich Automation.

Während die Beiträge des ersten Teils grundlegende theoretische Rahmen für die Analyse des Verhältnisses von technologischem Wandel und gesellschaftlicher Emanzipation anbieten, werden im zweiten Teil des Bandes konkrete Fälle nach ihren Implikationen für dieses Verhältnis befragt. Dabei geht es um verschiedene im weitesten Sinne emanzipatorische Praktiken und Denkansätze mit Technologiebezug, von der verschlüsselten Internetkommunikation bis zum Bodyhacking.

Klimawandel, Artensterben, umfassende Eingriffe des Menschen in die Natur – diese Aspekte werden in aktuellen Debatten als das Anbrechen des neuen geologischen Zeitalters ›Anthropozän‹ betrachtet. Mit dieser Diagnose geht auch eine kritische Bewertung der Veränderungen einher. Elmar Flatschart zeigt in seinem Beitrag jedoch, dass aus kritisch-materialistischer Perspektive im vorherrschenden Diskurs zahlreiche Verkürzungen vorliegen – Natur wird externalisiert und technokratische sowie marktkonforme Lösungen herrschen vor. Dem stellt Flatschart das gesellschaftstheoretische Konzept des »Kapitalozän« von Jason Moore als eine materialistische Alternative zum Anthropozän entgegen. Es baut auf eine an die Welt-Systemanalyse angelehnte Perspektive auf, die »world-ecology« genannt wird. Trotz seiner Stärken – historische Sensibilität und stärkere Gewichtung des Kapitalismus – setzt dieses Konzept auf problematische krisentheoretische Annahmen. Abschließend erarbeitet Flatschart deshalb mittels einer materialistischen Theorie der Technik alternative krisentheoretische Periodisierungsvorschläge.

Dana Mahr und Livia Prüll gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, wie in feministischen Wissenskulturen symbolisch und praktisch der Anspruch generiert wird, den weiblichen Körper zu »entkolonisieren«. Ein wesentlicher Bestandteil dessen ist die partizipative do-it-yourself-Aneignung von Körperwissen und die sinnhafte Integration dieses Wissens in die Lebenswelten von Frauen. Dies führt (und führte) immer wieder zu (letztlich rekonfigurierenden) Unordnungen im medizinischen System. Um dies zu veranschaulichen gehen die Autorinnen asynchron vergleichend vor, indem sie zwei feministischen sozialen Gesundheitsbewegungen nachspüren: der US-amerikanischen Frauengesundheitsbewegung der späten 1970er Jahre und den spanischen Gynepunks der Gegenwart. Erkenntnisleitend ist dabei das Konzept der ›Parallelwelten‹, das es erlaubt, Transferprozesse zwischen Minoritäten und medizinischen Expert_innen herauszuarbeiten. Besonderes Augenmerk legen die beiden Autorinnen in diesem Zusammenhang auf die Rolle, die das Spekulum, ein gynäkologisches Instrument, für beide Bewegungen spielt.

Christian Papsdorf beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Kommunikation im Rahmen des sogenannten Hidden Web. Dieses »Internet im Internet« gewann in den letzten Jahren aufgrund des hohen Grades an technisch garantierter Anonymität stark an Popularität. Auf Basis einer qualitativen Inhaltsanalyse von 338 Kommunikationsangeboten des Hidden Web untersucht er zunächst, welche Inhalte kommuniziert werden und mit welchen Zielen dies geschieht. Sodann widmet er sich seinem zentralen Ziel, der Äußerung von Kritik. In Gegenüberstellung diskursiver und praktizierter Spielarten lassen sich sechs Formen der Kritik im Hidden Web unterscheiden: Kritik kann darauf abzielen, (1) über Überwachung und Datenschutz zu informieren, (2) Kommunikation zu kontroversen Themen zu ermöglichen, (3) User_innen im Umgang mit Datenschutzbedrohungen zu ermächtigen, (4) nichtöffentliche Daten zu veröffentlichen, (5) spezifische Kommunikationsmedien bereitzustellen und (6) alternative Formen des Wirtschaftens zu ermöglichen. Diese Formen der Kritik befragt Papsdorf nach ihren gesellschaftlichen Implikationen.

David Waldecker zeigt in seinem Beitrag auf, dass die Debatte um digitale Verfahren auch in der Musik geführt wird. Ganze Genres definieren sich über den Einsatz oder das Verbot elektronisch erzeugter Klänge oder über die Präferenz analoger Abspielmedien wie der Schallplatte. Zugleich ist die Digitaltechnik in der Musikproduktion weit verbreitet. Waldecker zeichnet in seinem Beitrag nach, wie sich diese digitalen Verfahren durchgesetzt haben und in aktuellen Programmversionen der Musikbearbeitungsprogramme GarageBand und PureData zur Anwendung kommen. Dabei zeigt sich, dass die Digitalisierung zwar vielfältige Möglichkeiten zulassen würde, diese aber sowohl durch den konkreten Aufbau der Programme als auch durch das Interesse der Anwender_innen unterlaufen werden. Mit Bezug auf Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Kritik der Kulturindustrie können Digital Audio Workstations als Teil der Kulturindustrie beschrieben werden, die den technisch vermittelten Fortschritt der musikalischen Produktionsmittel, der »innermusikalischen Technik« (Adorno), eher hemmen als fördern.

Der Beitrag von Nikolaus Lehner zirkuliert um den Begriff des Anzielens/Targetings im digitalen Zeitalter. Hingewiesen wird dabei unter anderem darauf, dass sich gegenwärtig kommerzielle und sicherheitsstaatliche Projekte des Zielens überschneiden und einander befruchten. Das ist laut Lehner jedoch nur möglich, weil die moderne Lebensführung die Vorhersagbarkeit ermöglicht. In gewisser Weise sind es sowohl bestimmte theoretische Konzepte über die Zukunft als auch praktische soziokulturelle Ordnungen – und damit Ordnungen der Zeit, des Raumes und der Bewegung –, die der technischen Auswertung und Prognose entgegenkommen. Ausgehend von dieser Beobachtung einer doppelbödig verlaufenden – weil sowohl sozialen als auch technischen Algorithmisierung des Alltags – fragt er, ob Taktiken oder Strategien des sich Entziehens denkbar wären. Dabei wird davon ausgegangen, dass die praktische Umsetzung solcher Taktiken immer unwahrscheinlicher wird. Das absurde, nur in der Theorie durchführbare auf die Spitze Treiben von Taktiken des sich Entziehens wird damit zu einer Mahnung, rechtsstaatliche Schranken zu verteidigen.

Ob neueste Prothesen, Mikrochips in der Hand, Doping oder invasive Hörgeräte: Derartige Technologien werden von einem breiteren Publikum engagiert diskutiert, vor allem wenn sie unseren Körpern sehr nah kommen, sie verändern oder in sie eindringen. Malena Nijensohn fragt nach der Rolle neuerer Technologien der Körperkontrolle für die Konstitution geschlechtlicher Subjektivitäten. Im Zentrum der Diskussion steht dabei die Arbeit von Paul B. Preciado (der auch für seine Hormoneigenverabreichung bekannt ist) und deren Bezug zu dem oft schillernden Begriff der Biopolitik. Laut Preciado sind nach dem Zweiten Weltkrieg drei neue Technologien entstanden, die bestehende Konzepte – am prominentesten wohl jenes von Michel Foucault – massiv hinterfragen: an der Kategorie Gender, der Antibabypille und der massenkulturellen Pornographie lasse sich ein »pharmapornographisches Regime« erkennen. Nijensohn diskutiert anhand dieser Überlegungen über emanzipatorische Widerstandstrategien. Hierbei wird auch deutlich, dass der menschliche Körper trotz aller schon bestehenden Modifikationen und Behandlungen der Technologie immer noch als etwas Natürliches gegenübergestellt wird.

Literaturverzeichnis

Barbrook, Richard/Cameron, Andy (1996): The Californian Ideology. Science as Culture, 26: 44–72.

Bertaux, Pierre (Hg.) (1963): Maschine, Denkmaschine, Staatsmaschine. Bergedorfer Protokolle Bd. 2. Hamburg: Decker.

Gates, Bill (1995): The road ahead. London/New York: Penguin Books.

Habermas, Jürgen (1968): Technik und Wissenschaft als »Ideologie«. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Hagner, Michael/Hörl, Erich (Hg.) (2008): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Hubig, Christoph (2013): Historische Wurzeln der Technikphilosophie. In: Ders.,/Huning, Alois/Ropohl, Günter (Hrsg.) (2013): Nachdenken über Technik. Die Klassiker der Technikphilosophie und neuere Entwicklungen. Berlin: edition sigma. S. 19–40.

Marcuse, Herbert (1968): Der eindimensionale Mensch. Neuwied: Luchterhand.

Marx, Karl (1974 [1858]): Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin: Dietz.

Mason, Paul (2016): Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Frankfurt a. M. Suhrkamp.

Pentland, Alex (2015): Social Physics. How social networks can make us smarter. New York: Penguin Books.

Rifkin, Jeremy (2014): Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Frankfurt a.M.: Campus.

Stiegler, Bernard (2009a): Technik und Zeit. Der Fehler des Epimetheus. Bd. 1, Zürich, Berlin: Diaphanes.

Stiegler, Bernard (2009b): Denken bis an die Grenzen der Maschine. Zürich, Berlin: Diaphanes.

Wagner, Thomas (2015): Robokratie. Google, das Silicon Valley und der Mensch als Auslaufmodell. Köln: PapyRossa.

Weber, Jutta (2007): Eine kleine Einführung in die feministische Technikwissenschaftsforschung. In: Kurswechsel 3 (2007), S. 7–25.

Wiener, Norbert (1968 [1948]): Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine. Reinbek: Rowohlt.

Wiener, Norbert (1962): Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft.

Theoretische Grundlagen

Paul Buckermann und Anne Koppenburger

Technologie, Fortschritt, Strategie

Eine Kartierung emanzipatorischer Politiken und ihrer Technologieverständnisse

Wenn dieser Sammelband der Frage nach Technologieverhältnissen emanzipatorischer Politiken gewidmet ist, kann ein erster Sondierungsversuch dieses Feldes von diversen Praxen, theoretischen Ansätzen und Organisationsformen eine vorläufige Ordnung für weitergehende Untersuchungen sein. Wir wählen für dieses Vorhaben aus ganz praktischen Gründen die Form einer Kartierung[1], um über die einfache Visualisierung neue und manchmal implizite Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ganz unterschiedlichen Phänomenen sichtbar zu machen. Darüber hinaus zwingt diese Art der Sortierung zu einer genauen Auswahl des Darzustellenden. Vorteil einer solchen Kartierung ist zudem, dass hierüber die verorteten Positionen in ein gemeinsames und mehrdimensionales Verhältnis gesetzt werden.

Was untersuchen wir also? Das Interesse an Technologieverständnissen emanzipatorischer Politiken lässt sich auch auf andere gesellschaftliche Phänomene richten, etwa auf reaktionäre Politiken oder auch jede Form von Wissenschaft, Religion, Kunst, Recht usw. Wir legen also fest, was wir vergleichen und zueinander in Beziehung setzen wollen – und was nicht. Für den ersten Schritt gilt es deshalb, das Wortpaar ›emanzipatorische Politiken‹ hinreichend zu schärfen. In einem zweiten Schritt ist festzulegen, was uns als ein Technologieverständnis gilt und wofür die Erkenntnisse darüber relevant sind.

Nach welchen Kriterien untersuchen wir? Emanzipatorische Politiken lassen sich auch anhand ihrer Auffassungen von etwa Staat, Natur, Organisationsform oder Geschichte untersuchen. In einem dritten Schritt muss deshalb entschieden werden, wie die einzelnen vergleichbaren Phänomene sich voneinander abgrenzen oder ähneln; es gilt also die Kriterien zu bestimmen, anhand derer wir verschiedene emanzipatorische Politiken und ihre Technologieverständnisse über die Kartierung zueinander in Verbindung setzen wollen.

Abbildung 1[2]

Wie stellen wir dar? Für eine relativ kompakte Präsentation dieser Ordnungsarbeit wählen wir einen zweidimensionalen Raum, auf dem dann die ausgewählten Fälle anhand der definierten Vergleichskriterien eingetragen werden (Abb. 1). Wenn unser Vorhaben gelingt, sollte das Beobachtungsmuster auch für andere Phänomene eine grundlegende Schablone anbieten, die weitere Erkenntnisse und Nachforschungen ermöglicht. Wir schließen diesen Versuch mit ersten empirischen Einsichten, um die Funktion unserer Karte für eine Analyse emanzipatorischer Politiken und ihren Einstellungen zu Technologie zu verdeutlichen. Anhand des anarchistischen Autor_innenkollektivs Tiqqun, gewerkschaftlicher Positionen rund um den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und die Hans-Böckler-Stiftung (HBS) sowie der polittheoretischen Ausrichtung des Akzelerationismus werden wir unsere Überlegungen eher an den Rändern der Karte skizzieren. Diese Auswahl macht bereits deutlich, dass unser Beobachtungsvorschlag für eine relativ breite Auswahl von Phänomenen konzipiert ist, weshalb es nun gilt, zuerst unsere Auswahl- und Analysekriterien so transparent wie möglich darzustellen. Dieser Beitrag soll nun skizzieren, wo möglicherweise theoretische, praktische oder organisatorische Probleme in Verbindung mit dem Verständnis von Technologie versteckt sind, die weiteren Emanzipationen und einer Verbindung von verteilten Politiken im Weg stehen.

Emanzipatorische Politiken

Beginnen wir mit Emanzipation. Die für unser Vorhaben mindestens zweiseitige Bedeutung dieses alten Begriffes spiegelt sich in einem Zitat von Karl Marx: »Wir müssen uns selbst emanzipieren, ehe wir andere emanzipieren können« (MEW 1: 348), so Marx 1843 in einer Rezension unter dem Titel Zur Judenfrage. In dieser Aussage werden schon die beiden Seiten – Eigeninitiative und Fremdgewährung – erkennbar, die den Begriff Emanzipation umschweben. Ausgehend von der Wortherkunft bedeutet das lateinische emancipatio die Entlassung aus einer Herrschaft (etwa eines/einer Sklav_in durch seine_n Besitzer_in). Der mittlerweile in einem gesellschaftspolitischen Kontext gebräuchliche Begriff betont jedoch stärker das selbstbestimmte Bestreben von Beherrschten zur Befreiung als weniger die gütige Gewährung der Freilassung durch die Herrschenden. Auch wenn wir den Begriff emanzipatorisch inklusiv verstehen, tendieren wir aufgrund empirischer Einsichten bezüglich einer politischen Szene in der Bundesrepublik Deutschland eher zur eigenaktiven Konnotation. Uns interessieren also Bestrebungen, die selbst aktiv für die Befreiung aus verschiedensten Herrschaftsverhältnissen eintreten, erkennen jedoch an, dass es meist nicht um eine reine Selbst- bzw. Fremdbefreiung gehen kann. Sobald gesetzliche, betriebliche oder tarifvertragliche Regeländerungen angestrengt werden, folgt auf die selbstbestimmte Einforderung immer auch ein Regeländerungsprozess. An diesem sind zumeist auch diejenigen gesellschaftlichen Akteur_innen beteiligt, die gerade auf der Erhaltung der Verhältnisse insistieren, deren Veränderung von den emanzipatorischen Bestrebungen eingefordert wird.

Am Begriff der Politik wollen wir nun zuerst zeigen, dass es bei unserer Rahmung von Emanzipation nicht (nur) um die individuelle Befreiung eines individuellen Menschen (etwa aus einer Situation häuslicher Gewalt) gehen kann. Im oben erwähnten Text Zur Judenfrage kommentiert Marx Ausführungen zur politischen Emanzipation von Jüd_innen und reflektiert verschiedene Formen der Emanzipation vom und zum bürgerlichen Staat. Wie auch in Teilen früherer Frauenbewegungen (bspw. den Suffragetten am Anfang des 20. Jahrhunderts) wird unter dem Begriff der politischen Emanzipation die Einforderung von grundlegenden staatsbürgerlichen Rechten – am prominentesten wohl das Wahlrecht, aber auch das Recht auf Arbeit, Zugang zu Bildungsinstitutionen etc. – verstanden. ›Politische Emanzipation‹ meint in diesem Zusammenhang etwa die Befreiung von rassistischen, sexistischen oder kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen. Angestrebt wurden von den genannten Bewegungen die notwendigen Bedingungen zur Teilnahme an politischen Willens- und Meinungsbildungsprozessen in einem bürgerlichen Staat. ›Politische Emanzipation‹ erkennt also eine grundlegende Gesellschaftsordnung an – etwa die Staatsform mit der öffentlichen Rolle der Bürger_innen – und will in einem humanistischen Sinne die Inklusion in diese Ordnung potenziell auf alle Menschen – und dann, wie Marx richtig anmerkt, ›nur als Staatsbürger_innen‹ – ausweiten. Ohne nun die exemplarischen Frauenbewegungen oder jüdische Emanzipationsbestrebungen fälschlicherweise einerseits auf rechtliche Gleichstellungsbestrebungen reduzieren (es ging auch um Alltagspraxen, soziale Anerkennung etc.) und andererseits vom hohen Rosse geringschätzen zu wollen, strengen wir einen weiteren Begriff der Emanzipation an und lesen dafür erneut bei Marx nach:

»Die ›politische‹ Emanzipation ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzte Form der menschlichen Emanzipation ›innerhalb‹ der bisherigen Weltordnung. Es versteht sich: wir sprechen hier von wirklicher, von praktischer Emanzipation.« (MEW 1: 356)

Mit ›emanzipatorischen Politiken‹ (im Gegensatz zu politischer Emanzipation) nehmen wir solche Aktivitäten, Institutionen, Organisationen, Praxen, theoretischen Konzepte oder Bewegungen in den Blick, die in den bestehenden, bürgerlichen Rechts-, Staats- und Wirtschaftsordnungen, aber auch über sie hinausdenken. Politik meint dann gerade nicht nur staatliche Politik wie sie in Parlament, Partei, Junta oder Despotensitz betrieben wird, sondern koordinierende Angelegenheiten des allgemeinen Miteinanders – vom Putzplan in der WG bis zur Reise zum Mars. Politik meint dann in unserem Verständnis grob nach Niklas Luhmann die »Kapazität für kollektiv bindendes Entscheiden« (Luhmann 2000: 84–88). Luhmann ernstnehmend, ist hiermit nur eine relativ abstrakte gesellschaftliche Aufgabe gemeint und deshalb keine Beschränkung auf den modernen Nationalstaat oder irgendeine konkrete strukturelle Lösung eines Problems definiert. Da sich unsere Überlegungen nun um ›emanzipatorische‹ Politiken drehen, kann es sich bei unseren Fällen nur um eine vollinklusive, diskriminierungsfreie Herstellung ebensolcher ›allgemein verbindlicher Regeln‹ handeln, eben Politiken mit einem Anspruch auf die Befreiung aus Herrschaftsverhältnissen. Aber auch damit, und das könnte das Politikverständnis Luhmanns nahelegen, ist gerade nicht die absolut expansive Regelsetzung für potenziell alle Weltbürger_innen durch Plebiszit, Dekret, Parlamentsbeschluss oder Sowjetentscheid gemeint. Durch unsere Benutzung des Plurals – Politiken – verweisen wir eben auch auf verteilte, fragmentierte Anstrengungen zur Befreiung von Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnissen in den unterschiedlichsten Sphären, wie betriebliche Erpressung von Leiharbeiter_innen, rassistische Benachteiligung in universitären Berufungskommissionen, Angrapschen auf Partys, Illegalisierung von autonomer Reproduktionstechnologie etc. So begrenzt oder partikularistisch einzelne emanzipatorische Politiken dann auch erscheinen mögen, sie können nicht aus einem gesellschaftlichen Kontext gerissen werden und werden für uns interessant, wenn sie ein Gemeinwesen und die (auch partikulare) Änderung seiner Umgangsformen anstreben.

Das Spektrum politischer Akteur_innen, welches potenziell von uns für Interesse ist und welches wir auf Technologieverständnisse abklopfen wollen, reicht also von Parteien, die den Kommunismus in mehr als einem Land anstreben, bis zur kleinsten betrieblichen Gewerkschaftsgruppe, die sich gegen schlechte Behandlung in ihrem Call-Center einsetzt. Solch einer Skalierung kann ein einziger Beitrag selbstredend nicht gerecht werden. Und doch erscheinen in dieser Fülle von theoretischen Perspektiven, organisatorischen Praxen, Protestformen, Kommunikationsformen oder Strategien emanzipatorischer Politiken die Ansätze für ein Überkommen von gegenwärtigen Herrschafts-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen, denen wir uns nun unter der Perspektive ihrer Technologieverständnisse nähern wollen.

Technologieverständnisse

Welchen Kriterien folgt nun unsere Analyse von Technologieverständnissen emanzipatorischer Politiken? Zur Erinnerung, die Kartographie zielt auf die Untersuchung des Stellenwerts, der Technologieentwicklung und -anwendung in verschiedenen linken Politikansätzen bzw. -strategien zugesprochen wird, und der Möglichkeitsräume, die daraus sich ergeben. Auch hier wollen wir die Vorstellungen von Karl Marx (MEW 23: 393, Anm. 89) hinsichtlich des Potenzials einer kritischen Technikgeschichte zur Plausibilisierung unseres eigenen Ansatzes bemühen: »Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen.«

Auffällig ist, dass es kaum ein linkes Politikfeld gibt, in dem nicht auch die Entwicklung, aber vor allen Dingen die Anwendung von Technologie thematisiert wird. Für die Einordnung von emanzipatorischen Politiken in dem hier vorgeschlagenen Beobachtungsmuster, betrachten wir drei Merkmale, in denen Technologieverständnisse sich ausprägen: Technikdeterminismus versus Sozialdeterminismus, die Idee des Fortschritts sowie die Beziehungen, die zwischen Arbeit und Technologie hergestellt werden.

Technikdeterminismus versus Sozialdeterminismus

Beginnen wir mit dem Merkmal Technikdeterminismus versus Sozialdeterminismus. In linkspolitischen Auseinandersetzungen mit Technologien lassen sich häufig Positionen beobachten, die von der Ablehnung bestimmter Technologien geprägt sind, wie etwa die Anti-Atom-Bewegung oder die Anti-Gentechnologie-Bewegungen. Auch wenn das Urteil schnell gefällt ist, wir werden hier aufzeigen, warum diese Positionen nicht mit der Heuristik des Technikdeterminismus zu erklären sind. In einem Kontinuum zwischen Technikdeterminismus und Sozialdeterminismus sind ausschließliche jene Positionen am Ende des Technikdeterminismus zu verorten, die Annahmen über historische oder zukünftige Entwicklungen auf zwei verschiedenen Ebenen enthalten. Einerseits werden auf der Ebene der Technologien (und hier ausschließlich technische Artefakte, wie der Hammer, der Verbrennungsmotor, der Computer) Entwicklungsprozesse ausgehend vom Entwicklungsstand als pfadabhängig interpretiert; als einer der Gesellschaft äußerlichen Logik folgend (vgl. Wyatt 2008). Die zweite Ebene ist die der sozialen, politischen, ökonomischen oder kulturellen Entwicklungsprozesse. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen werden interpretiert als ausschließlich bestimmt durch die auf der ersten Ebene beobachteten technologischen Entwicklungen (ebd.). Dieses strenge Interpretationsmuster folgt einer nomologischen Argumentationsstruktur, in der gesellschaftliche Anpassungsleistungen ausschließlich als Resultat technologischer Entwicklungsprozesse betrachtet werden (Bimber 1994; Grunwald 2012). Technologieverständnisse, die hingegen ökonomische oder politische Prozesse in ihre Interpretationen oder Prognosen gesellschaftlicher Entwicklungen einbeziehen, gelten damit nicht als technikdeterministisch.

An dem gegenüberliegenden Ende des Kontinuums sind die Positionen einzuordnen, die von einer sozial, politisch oder kulturell bedingten Emergenz von Technologien ausgehen. Diese werden als sozialdeterministisch bezeichnet. Zu erkennen ist dieses Interpretationsmuster an seinem postulierten Gestaltungsoptimismus, wie wir ihn stellenweise in der DIY-Biohacking-Community beobachten können. In diesem Interpretationsmuster gilt Technologie als neutral; technologische Entwicklungsprozesse werden als sozial konstruiert dargestellt. Der Sozialdeterminismus hat als Heuristik vorrangig in der Wissenschafts- und Technikforschung Verbreitung gefunden. Betrachtet werden vor allen Dingen die Aushandlungsprozesse sozialer Interessensgruppen in den frühen Entwicklungsphasen von Technologien nach dem Prinzip der interpretativen Flexibilität (Pinch/Bijker 1987).

Emanzipatorische Politiken bedienen sich zwar gelegentlich auch extrem deterministischer Interpretationen gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse im Zusammenhang mit Technologie, doch häufiger sind ihre Aussagen zwischen den beiden Endpunkten angesiedelt. In diesen Fällen haben die interpretierenden Aussagen oftmals implizite Funktionen, wie etwa die Vermittlung normativer Vorstellungen oder die Rechtfertigung von unterschiedlichen Positionen. Sowohl technik- als auch sozialdeterministische Aussagen bieten als generalisierende Interpretationsmuster kommunikative Potenziale für die Debatte um Technologie und Gesellschaft. Einerseits hat die Abstraktion von konkreten Fällen, speziellen Technologien und detaillierten Entwicklungsprozessen den Vorteil, in einer Debatte um Technologien grundsätzliche Aspekte zu thematisieren. So kann, etwa durch technikdeterministische Prognosen der gesellschaftlichen Entwicklung, die Frage nach einem Selbstzweck der Technologieentwicklung plausibilisiert werden. Auch sozialdeterministische Aussagen können eine katalytische Wirkung in Technologiedebatten entfalten, wenn etwa Partizipationschancen in Technologieentwicklungsprozessen aufgezeigt werden. Andererseits jedoch blenden diese komplexitätsreduzierenden Interpretationsmuster konstitutive Bedingungen der jeweiligen Entwicklungsprozesse aus und erweisen sich als wenig geeignet, etwa gesellschaftspolitische Folgen spezifischer Technologien einzuschätzen (Winner 1993). In beiden Fällen beruht die Argumentationsstruktur auf dem Kausalitätsprinzip, nur eben jeweils entgegengesetzt. Eine Identifizierung deterministischer Interpretationen bzw. der transportierten Wertvorstellungen, gibt Hinweise darauf, wo politische Akteur_innen das Potenzial der Kritik oder Interventionsmöglichkeiten in gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungs- und Verwendungszusammenhängen verorten.

Die Idee des Fortschritts

Damit können wir uns dem zweiten Merkmal von Technologieverständnissen zuwenden, der Idee des Fortschritts, welche als implizite Annahme den zuvor dargestellten deterministischen, d.h. kausalen, Interpretationsmustern unterliegt. Dass Fortschritt von emanzipatorischen Politiken längst nicht mehr nur positiv konnotiert ist, wird an Positionen deutlich, wie sie etwa in der Postwachstums-Bewegung vertreten werden. Rückbesinnungs- und Simplifizierungstendenzen sowie die, in Natürlichkeitsbezügen sich erschöpfende Verzichtslogik als Grundlage nicht zu unterschätzender Teile zeitgenössischer linker Politiken, lassen vermuten, dass die Idee des Fortschritts somit häufig nicht mehr als Bezugspunkt emanzipatorischer Politiken gelten kann. Für unsere Erkundungen gilt es zu prüfen, welche Vorstellungen von Fortschritt in den jeweiligen Technologieverständnissen enthalten sind. Diese Frage reicht insofern über die Untersuchung deterministischer Vorstellungen hinaus, als es möglich wird, den Zusammenhang zwischen technologischem und sozialem Fortschritt zu historisieren.

Wenn wir Fortschritt im klassischen Sinn der idealistisch-romantischen Philosophie als eine Weiterentwicklung von Idealen verstehen, bedeutet dies, dass gesellschaftliche Entwicklungen dann als fortschrittlich gelten, wenn sie der Verwirklichung derselben näher kommen. Wir müssen also die Denkfigur des Fortschritts in jene Bestandteile zerlegen, die uns einen Blick auf die Ideale gewähren, welche ein Bezugssystem für positive oder negative Einschätzungen von vergangener, gegenwärtiger oder zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklung darstellen. Aus dieser Perspektive liefert uns gerade die populärste aller Fortschrittsideen Hinweise auf die Konsequenzen der Vorstellung des Fortschritts als linearer Prozess, der sich in Abhängigkeit vollzieht zur Herausbildung materieller Bedingungen zur Verwirklichung ideeller Größen. Die, an den Ideen der Vernunft, der Gleichheit und der Gerechtigkeit orientierte emanzipativ-säkulare Denkfigur des Fortschritts aus der Zeit der Aufklärung, d.h. der Zeit der bürgerlichen Revolutionen zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert, war unmittelbar an die Entwicklungen der Naturwissenschaften gebunden (Marx 1994). Hieraus entstand die lineare Vorstellung, dass jeder technologische Wandel einen Fortschritt im emphatischen Sinne bedeutet; Fortschritt sei etwa die Errichtung der rechtstaatlich verfassten bürgerlichen Gesellschaft (Immanuel Kant) oder das Zu-sich-kommen-des-Geistes (Georg F. W. Hegel). Es gab in den geschichtsphilosophischen Begriffen nur die Gesamtschau; eine partikularistische Betrachtung von Entwicklungen in einzelnen Bereichen, wie dem des Technologischen, der Bildung oder der Kultur, wie sie heute üblich ist, wurde nicht vorgenommen.

Auf den Bruch, in dessen Folge die Idee des Fortschritts losgelöst worden ist, von Idealen der Vernunft, der Gleichheit und der Gerechtigkeit liefert uns Theodor W. Adorno (1964: 212) einen wichtigen Hinweis, wenn er feststellt, »[a]lles schreitet fort in dem Ganzen, nur bis heute das Ganze nicht«. Was, Adorno folgend, nicht fortschreitet, ist insbesondere das soziale Ordnungssystem, welches als Tauschverhältnis Individuen und Gesellschaft vermittelt. Es sind die industriellen Produktionsverhältnisse, in denen das Prinzip des Tauschs seinen Höhepunkt findet und die Idee des Fortschritts als Ausbildung der Vernunft ad absurdum führt. In der Reduktion der Idee des Fortschritts auf die technisch bedingte Steigerung der Profitrate im bürgerlichen Industrialismus verkomme der Begriff zu dem, was er heute zu sein scheint: das verfemte Andere der Vernunft. Wovon Adorno hier nicht spricht, an anderen Stellen jedoch sehr klar, sind die technologisch bedingten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. So ist es vor allen Dingen der durch die deutschen Nationalsozialist_innen systematisch durchgeführte industrielle Massenmord im zweiten Weltkrieg, der die Idee des Fortschritts in ihrer Koppelung an Technologie verrät und als quasi unsagbar verunstaltet. In der Folge ergibt sich insbesondere aus der oben dargestellten technikdeterministischen Perspektive ein partikularistischer Fortschrittsbegriff, der die Entwicklung technologischer Produktionsmittel und Herrschaftsmittel als einen Selbstzweck erfüllend konzipiert. Als Bezugssystem dieser Konzeption des Fortschritts erweist sich das kapitalistische Produktionsverhältnis, welches nicht der Befriedigung der Bedürfnisse freier Menschen dient, sondern der Produktion des Mehrwerts. Die hier aufscheinende Konvergenz des technologischen mit dem ökonomischen Fortschritt verweist auf die Auflösung einer Idee des Fortschritts ums Ganze (Adorno). Die Kartierung emanzipatorischer Politiken anhand dieses Merkmals gibt uns Auskunft darüber, ob die transportierte Idee von Fortschritt als ein Fortschritt von Idealen betrachtet wird und der Zugriff auf Technologie mit einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in einen Zusammenhang gestellt wird oder ob Fortschritt auf den Bereich des Technologischen reduziert wird.

Technologie und Arbeit

Als ein drittes Merkmal von Technologieverständnissen untersuchen wir das Verhältnis zwischen Technologie und Arbeit als ein wesentliches Handlungsfeld emanzipatorischer Politiken. Die Analyse dieses Verhältnisses zielt im Rahmen unserer Kartierung darauf, Anschlussstellen aufzuzeigen für eine Kritik des ontologischen Arbeitsbegriffs, der einerseits Arbeit als technologisch vermittelten ewigen Zwang der Naturaneignung konzipiert und andererseits diese Arbeit nicht von dem Zweck der Warenproduktion zu abstrahieren vermag. Anders gesagt, wir nähern uns einem dialektischen Verhältnis an, in dem der menschlichen Arbeit ein zentraler Stellenwert zukommt, da sie einerseits als Bildnerin des Gebrauchswerts den »Stoffwechsel von Mensch und Natur, also das menschliche Leben vermittel[t].« (Marx 1970: 37). Andererseits und zugleich ist Arbeit die in Kapitalform organisierte gesellschaftliche Reproduktion, die weit über die anthropologische Notwendigkeit hinausreicht. Aus dieser Perspektive lässt sich zeigen, dass es ganz wesentlich der (historisierbare) Zweck der Arbeit ist, der den Technologiezugriff organisiert.

Wenn wir also die Vorstellung von Arbeit als Nexus des Technologiezugriffs verstehen wollen, müssen wir uns gesellschaftlich hervorgebrachte Bestimmungen derselben vergegenwärtigen. Als ein ganz grundlegendes Prinzip verweist das Schema des Hylemorphismus auf die konstitutive Zweck-Mittel-Relation der Technologieanwendung in der Arbeitstätigkeit. Nach diesem Schema ist Arbeit diejenige Tätigkeit, in der der Mensch einer Intention folgend einen Stoff (hyle) formt (morphe). Die Intention entspricht der Befriedigung der Bedürfnisse über die Aneignung der Natur in dem Prozess der Formung. Hier ist die Unterscheidung zwischen Form und Stoff angelegt. Für Gilbert Simondon (2012) begründet sich in jenem Schema das instrumentale Verhältnis zu Technologien, welches davon gekennzeichnet sei, dass insbesondere der Prozess der Formung, d.h. die operative Funktionsweise eines jeden technischen Objekts, dem Bewusstsein des Tätigen äußerlich bleibt. Der analytische Wert von Simondons Techniktheorie liegt vor allen Dingen darin, die technologische Einstellung herauszuarbeiten, die aus der »Vorherrschaft der Finalität über die Kausalität« resultiert (ebd.: 110).

Das philosophische Paradigma des Hylemorphismus, welches den Prozess der Formwerdung im Dunkeln lässt, reduziere die technischen Operationen auf die Tätigkeit der Arbeit. Dieses Werden – individuelles aber auch gesellschaftliches – erscheine so als ein in der Arbeit begründetes Werden. Das technische Objekt tritt als ein Mittel in den Prozess der gesellschaftlichen Reproduktion, dessen Vermittlung Individuen jedoch auch als Werkzeugträger bereits miteinander in Beziehung gesetzt hat. Die Übertragung des hylemorphistischen Schemas auf den Einsatz technischer Objekte und die Wahrnehmung ihrer Funktionsweisen ausschließlich in Kategorien der Nützlichkeit hat zur Folge, dass auch technologisch fortgeschrittene Produktivkräfte die Beziehungen im Arbeitsprozess nicht beeinflussen. Daher erscheine jegliche technische Operation stets als die Erfüllung von Zwecken der Arbeit. Daraus leitet Simondon die Quelle der Entfremdung des Arbeiters ab: »Die Entfremdung schlägt sich im Bruch zwischen dem technischen Wissen und dem Ausüben der Verwendungsbedingungen nieder« (2012: 230 f.).

Eine Aufhebung dieser Bedingung käme der Aufhebung der Arbeit gleich. Das Verhältnis zwischen Technologie und Arbeit erscheint solange als Bedingung der Entfremdung, solange die technische Operation nicht als diejenige technische Aktivität erfasst wird, die über die Arbeit als Warenproduktion hinausgeht. Denn

»[d]as krisenhafte, transformatorische Moment der über die ›Arbeit‹ hinausschießenden Produktivkraftentwicklung führt erst dann zur Aufhebung der ›Arbeit‹, wenn diese als getrennte Sphäre aufgehoben und die Art und Weise der menschlichen Beziehungsformen auch im Mikrobereich transformiert wird« (Kurz 1995: o. S.).

Das Verhältnis von Technologie und Arbeit zu verstehen und zu gestalten ist dann nur möglich, wenn Technologie nicht auf Arbeit und Arbeit nicht auf Wertproduktion reduziert ist. Nur in dieser begrifflichen Fassung erscheint Technologie die Bedürfnisbefriedigung zu bedingen und Arbeit die Vermittlung gesellschaftlicher Reproduktion, welche nicht in der Kapitalform organisiert ist. Aus der Betrachtung des Merkmals des Verhältnisses von Technologie und Arbeit können wir schlussfolgern, dass ein Technologieverständnis emanzipatorischer Politiken daran sich messen lassen kann, ob Technologieentwicklung- und anwendung in ein Verhältnis gesetzt wird mit der Organisation und den Zwecken der Arbeit. Progressive Strategien hinsichtlich Technologieentwicklung und -anwendung ergeben sich unseren Betrachtungen zufolge aus der nicht kapitalimmanenten Kritik der Arbeit.

Die Gesamtschau der Merkmale, in denen Technologieverständnisse sich ausdrücken, zeigt ein komplexes Bild von expliziten und impliziten Annahmen über Technologien und ihre gesellschaftliche Einbettung. In einer Rückbindung dieser theoretischen Rahmung auf die, mit Hilfe der Karte beobachteten, Phänomene lassen sich sowohl optimistische oder pessimistische als auch offensive oder defensive Haltungen gegenüber Technologieentwicklung und -anwendung identifizieren.

Kartierung

Wonach ordnen wir das Feld emanzipatorischer Politiken, wenn wir nach unterschiedlichen Technologieverständnissen fragen? Das Ziel dieses Vorhabens ist ein zweidimensionales Verhältnis, das unsere Karte strukturiert. Die beiden Koordinatenachsen skizzieren wir zuerst nur grundlegend, um ihren genauen Ordnungssinn danach an den ersten drei Fallbeispielen zu verdeutlichen.

Beginnen wir mit der vertikalen Dimension, der ›y-Achse‹. Politische Initiativen, Bewegungen, Parteien, NGOs, Basisgruppen oder polittheoretische Ansätze können technologischem Wandel – der Erfindung, Weiterentwicklung, Ausbreitung oder Durchsetzung sowie Anwendung von neuen Technologien oder Maschinen – und seinen Potenzialen gegenüber grundlegend eher ›optimistisch‹ oder eher ›pessimistisch‹ eingestellt sein. Um emanzipatorische Politiken anhand dieser Dimension zu ordnen, muss also nach Äußerungen gesucht werden, die entweder die Potenziale oder die Gefahren eines technologischen Wandels betonen (wofür etwa Begriffe wie Fortschritt oder Gefahr schon einen recht deutlichen Unterschied machen können). Deterministische Aussagen gelten hier als ein Marker der jeweiligen Einstellung. Ohne strategische Entscheidungen (mehr dazu auf der ›x-Achse‹) bereits vorwegzunehmen, zeigt diese Achse an, ob technologische Entwicklungen ganz grundlegend als potenziell förderlich oder hinderlich für Emanzipation verstanden werden. Da wir es wohl selten mit Positionen zu tun haben werden, die sich als absolut optimistisch oder als absolut pessimistisch beschreiben lassen, ist nun der Vorteil unserer Karte, dass feine Nuancen und Unterschiede in der relativen Anordnung von einzelnen Positionen gezeigt werden. Bezüglich technologischen Wandels in unserem Sinne und einzelner Technologien werden meist Potenziale und Gefahren angesprochen, die sich dann erst in einem politischen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozess (nicht) realisieren sollen.

Bestimmen wir also die horizontale Dimension, die ›x-Achse‹. Auch hier gehen wir erneut von einem Kontinuum aus, welches eher durch Tendenzen als durch absolute Positionen gefüllt wird. Emanzipatorische Politiken lassen sich anhand ihrer strategischen Ausrichtung und damit zukunftsgerichteten Zielsetzung im Umgang mit technologischen Veränderungen und den darin angenommenen Potenzialen unterscheiden. Die beiden Enden dieser Koordinatenachse nennen wir ›defensiv-anpassend‹ und ›offensiv-erschaffend‹. Einzelne Positionen können technologischen Wandel und dessen gesellschaftliche Ordnungsbedingungen einerseits eher als unhintergehbar wahrnehmen und deshalb innerhalb dieses Rahmens emanzipatorische Anpassungen anstreben (›defensiv-anpassend‹). Andererseits können emanzipatorische Politiken technologischen Wandel und seinen gesellschaftlichen Kontext eher als potenziell offen für grundlegende und radikale Richtungsänderungen hin zu einer anderen, dann zu gestaltenden Gesellschafts- und Technikordnung verstehen (›offensiv-erschaffend‹). Diese Orientierung soll nun an die angesprochene Unterscheidung von politischer Emanzipation und emanzipatorischen Politiken erinnern. Auf der ›defensiv-anpassenden‹ Seite werden wir eher Positionen wiederfinden, die die existente Gesellschaftsordnung nicht grundlegend infrage stellen, sondern eher emanzipatorische Nachjustierungen vornehmen wollen. In die Richtung ›offensiv-erschaffend‹ tendieren dann solche Positionen, die eine andere Gesellschaftsform samt politischen Organisationsmodellen, globalen Ordnungen, Geschlechterrollen und Eigentumsverhältnissen sich zumindest vorstellen können und hier auf ganz verschiedenen Ebenen erschaffend eingreifen wollen.

Leser_innen, die mit den harten Grabenkämpfen oder Nuancen linker Politiken vertraut sind, werden sich bei unserem Vorschlag vielleicht an die alte Unterscheidung von reformerischem oder revolutionärem Sozialismus erinnert fühlen. Auch wenn diese Positionen in unserem Ordnungsschema aufgehen können, möchten wir jedoch betonen, dass es in unserem Analyseraster aus zwei Gründen nicht um die grundlegende Auffassung von politischer Gestaltung gesamtgesellschaftlicher Veränderungen geht. Erstens versuchen wir bereits über den Plural von Politiken ganz unterschiedlich skalierte Kontexte und somit auch sehr kleinteilige Initiativen anstatt nur eine komplette gesellschaftliche Organisationsform (etwa globaler Kommunismus) zu berücksichtigen. Zweitens konzentrieren wir uns auf das Verhältnis solch unterschiedlicher emanzipatorischer Politiken zu Technologie. Dass ein Verständnis von Technologie die Entscheidung für reformerische oder revolutionäre Strategien beeinflusst, ist für uns indes ein Argument für unsere Perspektive. Wenn beispielsweise die Produktivkraftentwicklung für oder gegen eine Revolution spräche oder Lenin als Parole für die Aufgaben der jungen Sowjetunion ausgibt, »Kommunismus gleich Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes« (1966, S. 513)[3], so könnten unsere Fragen nach expliziten und impliziten Technologieverständnissen, sowie deren Einfluss auf Strategien und Zukunftsvorstellungen möglicherweise auf blinde Flecken oder nichtthematisierte Paradigmen hinweisen. An drei zeitgenössischen Positionen verdeutlichen wir nun die Brauchbarkeit unserer Kartierung. Die Auswahl der dargestellten Fälle soll dabei ›an den Rändern‹ des Untersuchungsraumes deutlich die generellen Fragen an mögliche Untersuchungsgegenstände zeigen.

Drei Positionen: – Deutsche Gewerkschaften und Arbeit / Industrie 4.0 – Tiqquns Kritik der Kybernetik – Politischer Akzelerationismus

Gewerkschaftliche Positionen in Deutschland um DGB & HBS

Bundesrepublikanische Massengewerkschaften unter dem Dach des DGB sind meist nicht die ersten Positionen, die mit dem Label emanzipatorischer Politiken versehen werden. Entsprechend unserer Ein- und Ausschlusskriterien erscheinen sie jedoch als beachtenswert: Neben der schieren Größe – im Jahr 2015 zählten die acht Einzelgewerkschaften unter dem Dach des DGB 6.095.513 Mitglieder[4] – und der damit verbundenen Sonderstellung im klassischen linken Politfeld von Arbeit sind eben auch der Auftrag sowie die verschiedenen Praxen dieser Interessenverbände als emanzipatorisch einzuschätzen. Auf kleinster Ebene helfen Gewerkschaften bei individuellen oder betrieblichen Problemen, hemmen also ungerechte Behandlung, Rechtsverstöße oder ungeregelte Ausbeutung. Auf mittlerer Ebene von Wirtschaftsbranchen setzen sie in tariflichen Auseinandersetzungen die Interessen der Arbeitnehmer_innen durch und reduzieren damit einen uneingeschränkten Zugriff des Kapitals auf das zentrale Ausbeutungsmoment, den produzierten Mehrwert. Auf oberster Ebene von nationaler und internationaler Politik versuchen sie große wirtschaftliche Verschiebungen wie Subventionspolitik, Freihandelsabkommen oder internationale Arbeitsschutzbestimmungen zu beeinflussen. Eine massive gesellschaftliche Veränderung, die alle genannten Ebenen betrifft und die Gewerkschaften verstärkt als Themenfeld bearbeiten, ist die Entwicklung, Anwendung und Durchsetzung von computergestützten, teilweise automatisierten und integrierten Produktions- und Verteilungsnetzen, Robotik, algorithmischer Datenanalyse, digitalen Plattformangeboten sowie genereller digitaler Vernetzung und Automatisierung von Produktion und Konsum. Unter dem Begriff ›Arbeit 4.0‹ beschäftigen sich die bundesdeutschen Massengewerkschaften hier besonders mit Fragen von Arbeitsplatzsicherheit, Gesundheit, Datenschutz und Qualifizierungsanforderungen in genau jenen Prozessen, die von deutscher Politik und Industrie mit dem Label ›Industrie 4.0‹[5] versehen wurden. Im Sinne unserer Fragestellung lohnt sich also ein Blick auf die Verständnisse von Politik und Emanzipation in den gewerkschaftlichen Positionen zu diesen scheinbar radikalen Veränderungen auf der Basis von technologischem Wandel.

Wir wählen für unsere begrenzte Untersuchung einen kleinen Ausschnitt aus der verstärkten Beschäftigung des DGB mit diesem technologischen Wandel. Unter Federführung der Hans-Böckler-Stiftung (HBS), dem »Mitbestimmungs-, Forschungs- und Studienförderungswerk des DGB«[6], werden in der sogenannten Kommission Arbeit der Zukunft[7] (KAZ) neben generellen »Herausforderungen und Perspektiven für die Gestaltung der Arbeitswelt« unter dem Stichwort Digitalisierung »erste Ansätze« beschrieben, »wie Politik, Gewerkschaften und Betriebe die Digitalisierung in den Dienst von guter Arbeit und einem guten Leben stellen können«[8]. Die KAZ ist dabei kein reines Gewerkschaftsgremium, sondern setzt sich im besten Sinne einer verantwortungsbewussten Sozialpartnerschaft aus »Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft, aus Vorständen und Betriebsräten großer Unternehmen, aus Gewerkschaften und Ministerien […] [sowie] Fachleuten aus Digital- und Kreativwirtschaft und neuen Medien«[9] zusammen. Mit dem Ziel eines gemeinsamen Abschlussberichtes werden nun einzelne Debattenbeiträge veröffentlicht. Ein entsprechendes Beispiel aus diesem Kontext verwenden wir als Orientierung für die Identifikation gewerkschaftlicher Positionen in unserem Fragenkomplex. Der Diskussionsbeitrag für die Kommissionsarbeit unter dem Titel »Aussichten für die Arbeit der Zukunft« (Hoffmann/Suchy 2016) wurde von dem Vorsitzenden des DGB, Reiner Hoffmann, und Oliver Suchy, dem Leiter des DGB-Projektes Arbeit der Zukunft, verfasst und erscheint deshalb als besonders exemplarisch für eine gewerkschaftliche Position in einem sozialpartnerschaftlichen Dialog über den Umgang mit technologischen Veränderungen.

Beginnen wir den Eintrag auf unserer Karte mit der vertikalen Dimension zwischen ›optimistischer‹ (obere Kante) und ›pessimistischer‹ (untere Kante) Einschätzung technologischer Veränderungen. Die Autoren sehen die Gesellschaft in dem »Prozess einer digitalen Transformation von Wirtschaft, Arbeit und Gesellschaft« (ebd. 4) und verstehen diesen generellen Trend als ausgemachte Sache. Sie lehnen blinde Euphorie oder Panik ab, es gehe ihnen vielmehr darum, »die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen, um sich anbahnende Risiken zu minimieren« (ebd.: S. 5). Einerseits wird die Gefahr der Ersetzung von »menschlichen Tätigkeiten« durch »Roboter und Algorithmen« (ebd.: S. 13) benannt, andererseits erkennen sie auch die potenziellen Verbesserungen und Erleichterungen durch eben diese Maschinen bei besonders anstrengenden und gefährlichen Arbeitsschritten an. Als Leitmotiv geben die Autoren schließlich auch aus: »Die Arbeit der Zukunft ist keineswegs technisch determiniert. Die technologische Entwicklung ermöglicht allerdings Szenarien in unterschiedlichen Ausprägungen. Auch wenn es widersprüchlich klingen mag: Eine Humanisierung der Arbeit durch High-Tech ist möglich« (ebd.: 30). Generell stellt sich diese gewerkschaftliche Position als relativ neutral dar. Gerade die Formulierung des letzten Zitats verdeutlicht jedoch, dass es zurzeit wohl eher um Überzeugungsarbeit hinsichtlich der positiven Potenziale der »Digitalisierung« und die verstärkte Intervention von Gewerkschaften in diesen wenig abwendbaren Trend geht. Für unsere Karte wählen wir demnach in der y-Achse eine mittlere Position mit einer leichten Tendenz in Richtung ›pessimistisch‹.