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Die Berufe von Laien in der kirchlichen Pastoral stehen vor einer herausfordernden Zukunft. Einerseits mangelt es an Nachwuchs, andererseits werden Berufs- und Ausbildungskonzepte durch gesellschaftliche Verschiebungen grundsätzlich hinterfragt. Im analytischen Rahmen berufspädagogischer, kirchenhistorischer, soziologischer und praktisch-theologischer Erkenntnisse diskutieren die Beiträge dieses Bandes konzeptionelle Neuformatierungen. Daraus ergeben sich verschiedene Szenarien zur Zukunft von Beruf und Beruflichkeit in der Pastoral. Diese werden kommentiert von Experten und Praktikern kirchlicher Beruflichkeit.
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Seitenzahl: 475
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Andree Burke/Andreas Henkelmann (Hrsg.)
Laienberufe in der Pastoral
Krise, Transformationen und Neuformatierungen in der katholischen Kirche
Verlag W. Kohlhammer
1. Auflage 2025
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung:
W. Kohlhammer GmbH, Heßbrühlstr. 69, 70565 Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-044937-4
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-044938-1
epub: ISBN 978-3-17-046398-1
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Die Berufe von Laien in der kirchlichen Pastoral stehen vor einer herausfordernden Zukunft. Einerseits mangelt es an Nachwuchs, andererseits werden Berufs- und Ausbildungskonzepte durch gesellschaftliche Verschiebungen grundsätzlich hinterfragt. Im analytischen Rahmen berufspädagogischer, kirchenhistorischer, soziologischer und praktisch-theologischer Erkenntnisse diskutieren die Beiträge dieses Bandes konzeptionelle Neuformatierungen. Daraus ergeben sich verschiedene Szenarien zur Zukunft von Beruf und Beruflichkeit in der Pastoral. Diese werden kommentiert von Experten und Praktikern kirchlicher Beruflichkeit.
Dr. Andree Burke ist Privatdozent am Lehrstuhl für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen und leitet die Pastorale Dienststelle im Erzbistum Hamburg.
Dr. Andreas Henkelmann ist Professor für Historische Theologie am Fachbereich Theologie der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn. Zudem gehört er zap:resarch an, dem Forschungsnetzwerk des Zentrums für angewandte Pastoralforschung (Ruhr-Universität Bochum).
Einleitung
Andree Burke und Andreas Henkelmann
Literaturverzeichnis
Berufspädagogische Diskurse zu Transformationen im Berufsbegriff
Auf dem Weg in die »Berufsgesellschaft« – Stationen zwischen 1918 und 1969
Gerald Sailmann
1 Einleitung
2 Der Beruf als Organisationsprinzip des Arbeitsmarktes
3 Der Beruf als Beratungsgegenstand
4 Der Beruf als eine Leitidee im Bildungssystem
5 Der Beruf als Forschungstopos der Sozialwissenschaft
6 Fazit
Literaturverzeichnis
Beruf und berufliche Bildung in der Krise: Ein Rückblick auf die Debatten der letzten 50 Jahre
Anna Rosendahl
1 Einleitung
2 Berufliche Mobilität und Flexibilität als Impulsgeber für das Schlüsselqualifikationskonzept in den 1970er Jahren
3 Veränderte wirtschaftliche und gesellschaftliche Qualifikationsnachfrage als Impulse der Debatten über die Krise des Berufs in den 1990er Jahren
3.1 Wirtschaftliche und arbeitsmarktspezifische Veränderungen als Triebkräfte
3.2 Veränderungen im Berufsbildungssystem als Impulsgeber
4 Voranschreitende Europäisierung beim Übergang ins 21. Jahrhundert: Das deutsche Berufskonzept in Gefahr?
5 Zunehmende Fachkräfteengpässe – Auftakt zu einer neuen Debatte zur Krise des Berufs?!
6 Fazit
Literaturverzeichnis
Geschichte und Gegenwart der pastoralen Laienberufe
Zur Berufsgeschichte der Gemeindereferentinnen: Vom weiblichen Berufsprofil und diakonischen Aufgaben. Eine Spurensuche
Daniela Blank
1 Die Anfänge der Gemeindehelferinnen: Weiblichkeit als Merkmal des Berufsprofils und Diakonia als Aufgabenfeld
2 Berufliche Perspektiven der Frau in den 1920er Jahren: Frauenüberschuss, Soziale Mütterlichkeit und weibliche Existenzsicherung
3 Arbeitsfelder: Soziale Arbeit vs. Seelsorgehilfe? Aufsuchende Seelsorge
4 Frauen und Berufstätigkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Geistige und soziale Mütterlichkeit
5 Die Differenz der weiblichen und männlichen Eigenschaften als gegenseitige Ergänzung in der Seelsorge
6 Exkurs: Die werthafte Frauenpersönlichkeit als Idealbild der Gemeindehelferin
7 Seelsorge – der verlängerte Arm des Priesters
8 Männer als Berufshelfer in der Seelsorge?
9 Zweiter Weltkrieg: Mutterideologie vs. Dienstpflicht
10 Frauen in Gesellschaft und Kirche der Nachkriegszeit
11 Die Synode von Würzburg und ihre Auswirkungen auf die pastoralen Laienberufe
12 Stärkung und Ausbau des Berufsprofils
Literaturverzeichnis
Die Stunde der Laien? Die Anfänge des Theologiestudiums von Laien vor der Anstellung der ersten Pastoralassistenten (1969)
Andreas Henkelmann
1 Fragestellung
2 Laien und das Theologiestudium
2.1 Erste Anfänge am Ende der Weimarer Republik und im »Dritten Reich«
2.2 Normalisierung in der BRD
2.3 Grenzen der Normalisierung
3 Kontextualisierung: »Die Stunde der Laien«
4 Selbstermächtigung: Autobiographische Erinnerungen
5 Zwischen Offenheit und Ablehnung: Die Reaktion der Bischöfe
6 Fazit
Literaturverzeichnis
Der Gemeindereferent:innen-Beruf: Selbstwahrnehmungen und Potenziale
Ulrich Feeser-Lichterfeld und Patrick Heiser
1 Die GR-Studie
2 Wie Gemeindereferent:innen Kirche wahrnehmen
3 Von progressiven und konservativen Gemeindereferent:innen
4 Liquid jobs in a liquid church?
Literaturverzeichnis
Pastoralreferent:innen – eine Tiefenbohrung im Heute und ein Ausblick ins Morgen
Konstantin Bischoff
1 Einführung
2 Tiefenbohrung
3 Ausblick
These 1 Die Sache mit der Theologie
These 2 Die Sache mit der Bezahlung
These 3 Die Sache mit der Krise
These 4 Die Sache mit der Berufsgruppe
These 5 Die Sache mit dem Amt
4 Fazit
Literaturverzeichnis
Pastorale Beruflichkeit von Lai*innen angesichts radikaler religiöser Deinstitutionalisierung
Stefan Gärtner
1 Liquidation als Entkirchlichung und die Konsequenzen für Lai*innen im pastoralen Dienst
2 Liquidation als Transformation beruflicher Identität. Die Hochschulseelsorge als Beispiel
3 Die Beruflichkeit von Laientheolog*innen zwischen Liquidierung und Transformation
Literaturverzeichnis
Neuformatierungen: Erprobungen und Erkundungen
Von der Berufsgruppe zur professionellen Rollenkompetenz. Personalstrategischer Aufwind für kirchlichen Wandel
Björn Szymanowski
1 Die Transformation von Kirche und Pastoral – eine adaptive Herausforderung
2 Kreative Problemlösungsfähigkeit als organisationale Kompetenz
3 Ressourcen organisationaler Kompetenz
4 Von Berufsgruppen zu professionellen Rollenkompetenzen
5 Die Anbahnung von Rollenkompetenz als organisationspädagogischer Lernprozess
Literaturverzeichnis
Employografie als Schlüssel zum beruflichen Verständnis von evangelischen Pfarrer*innen
Friederike Erichsen-Wendt
1 Religion als Beruf im gesellschaftlichen Kontext
2 Grundsätzliche Überlegungen
3 Zugänge zum evangelischen Pfarrberuf
4 Gegenwärtige Verschiebungen im Verständnis des Pfarrberufs
5 Employability – ein kritischer Deutungsvorschlag
6 Personalentwicklerische Herausforderungen: Grundtendenzen und Entwicklungen
7 Die träge Organisation und die Autonomie ihrer Mitglieder
8 Wechselseitige Lernprozesse – Ausbildung zum, Fortbildung im Pfarrberuf und die lernende Organisation
9 Jenseits der Attraktivität für die arbeitgebende Organisation: Die Kuratierung der eigenen – religiösen – Erwerbsbiografie
10 Die Berufsperson als zentraler Gestaltungsfaktor der Organisation
11 Ausblick: Unsicherheit als Metaressource kirchlichen Handelns
Literaturverzeichnis
»Practice Turn« kirchlicher Beruflichkeit. Sondierungen am Beispiel Seelsorge in der Caritas
Michael Schüßler
1 Verflüssigung kirchlicher Professions-Architektur
2 Seelsorgliche Ereignisse an Caritasorten: Eine empirische Sondierung
3 Zum Practice Turn kirchlicher Berufe
Literaturverzeichnis
Professionalität in der Pastoral nach dem Ende des »institutionellen Programms«
Andree Burke
1 Was haben pastorale Praktiken gemeinsam?
2 Warum Praktiken?
3 Welchen Unterschied macht pastoraltheologische Expertise?
4 Pastorale Praktiken und die »Krise des Berufs«
5 Ausblick: Professionalisierungsprozesse
Literaturverzeichnis
Szenarien & Kommentare
Szenarien zur Entwicklung von Beruf und Beruflichkeit in der Pastoral
Andree Burke/Andreas Henkelmann
Zwischen den Herausforderungen des Heute und der Zuversicht auf das Morgen – über mögliche Zukunftsszenarien von Beruf und Beruflichkeit in der Pastoral
Sophia Spieth
Kommentar aus der Perspektive des Netzwerkbüros Theologie & Beruf
Matthias Gabriel Beckmann
1 Externes Szenario
2 Binnenkirchliche Szenarien
Pastorale Profis in liquiden Jobs in Kirche und Gesellschaft
Regina Nagel
1 Dauerthema Berufsprofil
2 Die Zukunft pastoraler Berufe als Thema des GR-Bundesverbands
3 Ein Mix-Szenario rund um Szenario VI?
4 Kirche – Macht – Missbrauch: Zäsur in der Verbandsarbeit
5 Szenario VII und die Zukunft pastoraler Tätigkeit in Kirche und Gesellschaft
Wo Veränderung zum Berufsprofil gehört
Ruth Schmitz-Eisenbach und Marcus Schuck
1 Für eine Pluralität der Ämter
2 Ein hilfreiches Etikett
3 Theologisch studiert und pastoral ausgebildet
4 Fazit
Kirche als bedarfsorientierte Organisation: pastorale und personale Implikationen
Andrea Qualbrink und Katja Schmitt
1 Positionierung aus zwei miteinander vermittelten Perspektiven (Personalentwicklung & Pastoralentwicklung)
2 Reflexion der Szenarien in der Perspektive der bedarfsorientierten Organisation
3 Herausforderungen
4 Nächste Schritte
»Herr, wohin, wohin sollen wir gehen?« Eine Betrachtung zu Weg und Zukunft von Pastoralreferent*innen
Hubertus Lieberth
1 Vorbemerkung
2 Drei Worte zum Anfang
3 »Ich bin gekommen«
4 »Ich habe Freude gebracht« (vgl. GS 1)
5 »Ich bin gegangen«
Autor*innenverzeichnis
Andree Burke und Andreas Henkelmann
Der vorliegende Band thematisiert aktuelle Entwicklungs- und Veränderungsprozesse kirchlicher Laienberufe in der Pastoral. Entstanden ist er anlässlich der Wahrnehmung einer einschneidenden Umbruchssituation, die sich bereits in mindestens drei sichtbaren äußeren Veränderungen ankündigt.
Zum ersten ist mit Blick auf die Berufe der*des Pastoralreferent*in (PR) sowie der*des Gemeindereferent*in (GR) zu konstatieren, dass die Zahl der Personen, die diese Berufe ausüben, im Sinkflug ist. Mit Blick auf die Jahresstatistiken der Deutschen Bischofskonferenz, also in überdiözesaner Perspektive, drückt sich diese Wahrnehmung für die vergangenen fünf Jahre in konkreten Zahlen aus.1 Demnach ist die Zahl der PR und GR im Jahr 2023 gegenüber dem Wert von 2019 um 8,9 Prozent gesunken (die jeweiligen -assistent*innen insgesamt eingerechnet). Dieser Sinkflug, dessen Ende nicht absehbar ist, ergibt sich daraus, dass »starke« Jahrgänge mit vielen PR und GR das Ruhestandsalter erreichen, aber die Lücken nicht mehr geschlossen werden können, weil es nicht mehr genügend Interessierte für die Berufe gibt. Dieser Nachwuchsmangel hat sich schon seit längerem abgezeichnet. Er ist darauf zurückzuführen, dass Studienanfänger*innenzahlen in allen theologischen Studiengängen, egal ob BA, MA oder Magister, und auch die Teilnehmendenzahlen am Würzburger Fernkurs seit Jahren zurückgehen. Dies ist auch dadurch zu erklären, dass sich die pastoralen Berufe seit längerer Zeit keiner besonderen Beliebtheit unter Theologiestudierenden erfreuen, wie ein Forscherteam um Walter Fürst in einer 2001 veröffentlichten empirischen Studie nachwies.2 Die Untersuchung zeigte auf, dass der Beruf PR von nur sehr wenigen Theologiestudierenden als Wunschberuf angesehen wurde, eine wesentlich größere Zahl aber überlegte, sich aus pragmatischen Gründen wie einem soliden Einkommen und einer sicheren Arbeitsstelle zu bewerben.
Es ist – zweitens – zu vermuten, dass sich die Wahrnehmung dieser Lücke zwischen Abgängen und Neueinstellungen auch verändern wird. Aktuell würden die meisten Diözesen gerne mehr einstellen, finden aber keine Personen. Dies wird sich aber im Laufe der nächsten Jahre verändern, da sich die finanzielle Situation aufgrund der Kirchenaustritte und der zunehmenden Verrentung von Personen aus der Babyboomer-Generation mit einer im Vergleich zu den jüngeren Generationen relativ hohen Kirchenbindung verschlechtern wird. Die Freiburger Studie »Projektion 2060«3, die 2019 veröffentlicht wurde und seither mit je neuen Daten aktualisiert wird, hat in den Diözesen das Bewusstsein weiter dafür geschärft, dass sich die finanziellen Möglichkeiten der Kirchen in den kommenden Jahren stark einschränken werden. Sparprozesse sind die Folge, große Haushaltsposten wie Immobilien und Personal geraten besonders in den Blick, und es steht mehr oder weniger offen infrage, was sich eine Diözese in Zukunft wird leisten können.
Zum dritten haben sich theologische Diskurse und Kirchenbilder gegenüber der Entstehungssituation der beiden Berufe dramatisch verändert. So ist die Entstehung des Berufs GR eng mit der Begeisterung für die Gemeindetheologie der 1960er und 1970er Jahre verbunden, die bereits seit über 20 Jahren nur noch wenige Fürsprecher*innen in der Theologie oder in den Kirchenleitungen hat.4 Wurde etwa in den 1970er Jahren die Gemeindetheologie als wenn auch vielleicht nicht homogenes, so doch zumindest zentrales Kirchenkonzept gefordert und gefördert, ist ihre Plausibilität spätestens mit dem Einzug der Sinus-Milieu-Studie in die kirchliche Pastoral radikal in Frage gestellt worden. Zudem geraten heutige Forderungen nach einer kirchlichen »Biodiversität«5 oder zumindest nach einem Aufbruch aus zentralen, vorgeformten und relativ unflexiblen Schemata verstärkt in den Blick. In dem Zusammenhang wird es komplizierter, eindeutige und für berufliches Handeln teils vorentscheidende Unterscheidungen vorzunehmen wie etwa die zwischen einer »territorialen« und einer »kategorialen« Pastoral. Dass Veränderungen wie diese auch die inneren Bezüge (Relevanz- und Selbstverständnisdiskurse, Aufgabenspektren, Zukunftssicherheit etc.) der Laienberufe in der Pastoral berühren, liegt auf der Hand. Sie stehen aber nicht nur aufgrund kirchenbezogener Entwicklungen in einem Krisenzusammenhang.
Vielmehr werden aus berufspädagogischer Perspektive seit den 1970er Jahren Krisen- und Erosionsdebatten um den Berufsbegriff im Allgemeinen geführt, von denen anzunehmen ist, dass sie sich auch auf die Laienberufe in der Pastoral erstrecken. Denn auch diese prägen die Identität von Individuen maßgeblich, sind als Lebensberufe angelegt und durch eine (weitgehend) standardisierte Ausbildung vorbedingt, wie es auch für andere Berufe (im Sinne eines Konzeptbegriffs) gilt. Erodieren die Bilder vom Beruf als einer »Lebenskonstante« (G. Sailmann) und werden sie gesamtgesellschaftlich zumindest ergänzt durch ein Streben nach flexibler, individueller Beruflichkeit, so böte dies zumindest auch einen Teil der Erklärung für einen Attraktivitätsverlust der Laienberufe in der Pastoral.
Insbesondere diese zuletzt genannte gesamterwerbsgesellschaftliche Perspektive einer »Krise des Berufs« ist der Ausgangs- und Ansatzpunkt des vorliegenden Bandes, mit dem ein neuer Blick auf die Transformationen und Neuformatierungen der Berufe bzw. der Beruflichkeit in der Pastoral der Kirche gewonnen werden kann. Durch die Fokussierung auf den Konzeptbegriff »Beruf« ist eine interdisziplinäre Orientierung notwendig, mit der auch der vorliegende Band operiert: Neben berufspädagogischen Grundlegungen werden kirchenhistorische, soziologische und praktisch-theologische Perspektiven auf vergangene, gegenwärtige und erwartbare oder angestrebte Entwicklungen von Laienberufen in der Pastoral angeboten, die teils auch in internationaler und ökumenischer Reflexion vorgelegt werden. Auf Basis dieser Beiträge skizzieren wir sieben Szenarien zur Entwicklung von Beruf und Beruflichkeit in der Pastoral. Diese Szenarien werden anschließend aus unterschiedlichen Perspektiven kommentiert. Der Band will damit sowohl für die Theologie wie auch für die diözesane Praxis Eckpunkte eines Diskursrahmens ausloten, in dem in den kommenden Jahren grundlegende Veränderungsprozesse anstehen bzw. sich diese grundlegenden Veränderungen bereits abzeichnen.
Die Herausgeber haben sich bewusst dafür entschieden, das Verhältnis von Laien und Priestern nicht explizit zu thematisieren, weil damit die Frage nach Lebensständen und nicht nach Beruf und Beruflichkeit im Sinne der im berufspädagogischen Diskurs geprägten Begriffe6 gestellt würde – das wäre eine andere und im theologischen Diskurs bereits besser beleuchtete Frage als die, die hier aufgegriffen werden soll. Damit wird zunächst einmal die theologische Frage danach, ob es günstig oder richtig ist, »Kleriker« bzw. »Priester« als einen Lebensstand zu begreifen, ausgeklammert, um die Faktizitäten ernstzunehmen, mit denen die Konstellation sich überlagernder Tätigkeitsgruppen im kirchlichen Dienst derzeit konfrontiert sind. So ist im CIC 1983 vom Klerikerstand (»status clericalis«) die Rede, der etwa vom Ehestand (»status coniugalis«) unterschieden ist. Der CIC regelt, dass Laien für kirchliche Ämter und Aufgaben (»officia ecclesiastica et munera«, can. 228 § 1) herangezogen werden können, allerdings nicht für bestimmte Ämter, die die Weihe voraussetzen (can. 274 § 1). Heißt: die Grundunterscheidung des CIC 1983 ist nicht Amtsträger/kein Amtsträger, sondern die verschiedener (Lebens-)Stände, durch die der Zugang zu bestimmten Ämtern bedingt wird. Unter anderem mit diesen Referenzen konstatiert die Theologische Präambel zu den Rahmenstatuten und Grundordnungen für GR und PR von 2011:
»Die hauptberufliche Tätigkeit von Laien in der Pastoral erfüllt alle Merkmale eines kirchlichen Berufs. Dazu gehören eine theologische oder religionspädagogische Ausbildung und eine entsprechende Berufseinführung, die Beauftragung durch den Bischof sowie ein kirchlicher Arbeitsvertrag und eine angemessene Vergütung.«7
Auch wenn manchmal in Texten vom Priester als Beruf gesprochen wird8, ist diese Bezeichnung im außeralltäglichen Sprachgebrauch eher missverständlich. Einerseits weil »Priester« mindestens durch das Fehlen eines Arbeitsvertrags ein Berufsmerkmal nicht verwirklichen, andererseits aber auch deshalb, weil im Unterschied etwa zur*zum GR Priester verschiedene Berufe ausüben können – die*der GR ist bereits Beruf. Klar ist also, dass bestimmte Tätigkeiten in der katholischen Kirche standesbezogenen (nicht: berufsbezogenen!) Zugangsbeschränkungen unterliegen. Insofern ließe sich etwa für den »Pfarrer« diskutieren, ob es sich um einen Beruf im Sinne des Konzeptbegriffs handelt, der jedoch derzeit standesbezogenen Zugangsbeschränkungen unterliegt.9 Diese Frage wäre einer eigenen Publikation würdig, weil sie weitaus umfangreicher und auch anders zu diskutieren wäre als die nach den Laienberufen in der Pastoral, die sich mit Blick auf die PR und GR recht eindeutig dem Berufsbegriff zuordnen lassen. Den Herausgebern jedenfalls erscheint es wichtig, nicht erneut die (dogmatische) Frage nach dem Amt und dessen Zugangsbedingungen in den Fokus zu stellen, um gerade mit diesem Band den Versuch zu wagen, nach Berufen im engen Sinn des Wortes in der kirchlichen Pastoral zu fragen. So geht es auch darum, in den Blick zu nehmen, ob sich Seelsorge von hauptberuflicher Seelsorge im Bistumsdienst entkoppelt und eine solche diözesane Form von Seelsorge im Sinne einer Entgrenzung ihre Monopolstellung verliert: Sei es, dass sie in einer Einrichtung ohne kirchliche Anbindung hauptberuflich erfolgt oder aber, um eine zweite mögliche Entwicklung zu benennen, dass im Sinne einer Ermöglichungspastoral Seelsorge als Handeln aller Getauften verstanden und entsprechend gefördert wird.10 Über diese Perspektivierung soll so auch das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass nicht nur die Positionierung in der Frage nach dem Verhältnis von Klerikern zu Laien, sondern auch vom Haupt- zum Ehrenamt wesentlich über die zukünftige Gestalt von Seelsorge mitentscheiden wird.
Gleichzeitig ist durch diese Fokussierung aber auch klar, dass hier bestimmte für die Laienberufe zentrale Diskurse nicht oder eher randständig diskutiert werden. Konkret geht es um die bis heute kontrovers diskutierte Frage, ob hauptberufliche Laien bereits im theologischen Sinn Amtsträger*innen sind, obwohl sie nicht ordiniert sind, oder, da sie faktisch amtliche Aufgaben ausüben, ordiniert werden sollten. Die zweite Position ist eng damit verknüpft, dass Pastoralreferenten*innen v. a. in den 1970er Jahren Aufgaben in der Gemeindeleitung oder die Gemeindeleitung in einzelnen Diözesen übertragen bekamen. Für Karl Rahner war damit klar:
»Der Pastoralassistent müßte also die seiner tatsächlichen Funktion entsprechende Beauftragung erhalten. Entspricht diese Funktion den Aufgaben eines Diakons, dann sollte er sakramental zum Diakon geweiht werden. Ist diese Funktion eines Pastoralassistenten faktisch die eines Gemeindeleiters, dann sollte er die Priesterweihe erhalten, weil die Trennung zwischen der Funktion des Gemeindeleiters und der Funktion des Eucharistievorsitzenden wesenswidrig ist.«11
Die andere Zugangsweise, nämlich in hauptberuflichen Laien Amtsträger zu erkennen, resultiert aus einem ungeklärten Amtsbegriff. Guido Bausenhart fasste 1999 den Stand der Diskussion so zusammen:
»Man wird mit H. Socha einen doppelten Amtsbegriff unterscheiden müssen, einen ›dogmatischen‹, der den dreigestuften Dienst der Kleriker meint, und einen ›kirchenrechtlichen‹, der Anwendung finden kann auf jeden ›durch die kirchliche Autorität zur Erfüllung von geistlichen Zwecken übertragenen Dienst, dessen Aufgabenkreis mit entsprechenden Pflichten und Befugnissen in der Rechtsordnung dauerhaft festgelegt ist.‹ Beide Amtsbegriffe, der dogmatische und der kanonistische, gehörten schleunigst miteinander vermittelt.«12
Eine solche Vermittlung ist bis heute insofern nicht erfolgt, als die Diskussionen nicht zu einem Ende gebracht worden sind. Die DBK hält so wie schon in ihrem ersten Dokument »Zur Ordnung der pastoralen Dienste« aus dem Jahr 1977 auch in den Rahmenstatuten von 2011 an einer Unterscheidung zwischen den klerikalen Ämtern und den Diensten der Laien fest. Diese Unterscheidung stößt weiterhin auf scharfe Ablehnung.13 Der Kirchenrechtler Tobias Hofmann schreibt etwa:
»Festhalten läßt sich auf alle Fälle, dass es sich bei Pastoralreferenten daher um Träger eines Kirchenamtes gemäß c. 145 § 1 in Verbindung mit c. 228 § 1 handelt, da ihr pastoraler Dienst einem geistlichen Zweck dient und die zuständigen kirchlichen Autoritäten diese Ämter dauerhaft partikularrechtlich eingerichtet haben.«14
Für den Pastoraltheologen Christian Bauer steht fest, dass es sich bei den GR und PR
»um hybride ›Zwischenwesen‹ [handelt], die als nichtgeweihte Amtsträgerinnen und Amtsträger weder dem Klerikerstand […] noch dem Laienstand […] angehören. […] Die herkömmliche Differenz von Klerikern und Laien ist daher nicht trennscharf genug, um den kirchlichen Ort der beiden genannten Berufsgruppen zu bestimmen.«15
Ein Ende der Diskussionen um die Frage, ob Laien in der Pastoral Amtsträger*innen sind oder sein sollen, ist nicht absehbar. Neben solchen Fragen werden aber auch bereits konkrete Ansätze zur »multiprofessionellen Kooperation« in manchen Diözesen vorgedacht.16 Dieser Diskurs reagiert auf einen bevorstehenden Personalmangel, hat aber auch neue Probleme in einer vernetzteren, individualisierteren, pluralisierten und digitalisierten Welt mit ihren Lebenswirklichkeiten im Blick. Dabei stellt er
»die Praxiskontexte auf strategisch-politischer, organisatorischer und individueller Ebene auch vor neue Herausforderungen und stellt zudem alte Herausforderungen neu scharf, bspw. Unklarheiten in Rollenkonfigurationen der theologischen Berufsgruppen, in Kommunikationsabläufen, im Aufgaben- und Zielverständnis von Pfarreien, berufsgruppenspezifische Grabenkämpfe etc.«17
Diese Fragen bilden das Vorfeld einer Auseinandersetzung um »multiprofessionelle Kooperation« oder »multiprofessionelle Teams«. Denn Kooperation bedingt es ganz grundsätzlich, die (beruflichen) Rollen und Ansprüche der Kooperierenden zu klären.
Die Relevanz dieser Diskussionen steht für die Entwicklung der Berufe außer Frage. Sie fließen daher auch in die am Anfang des letzten Abschnitts vorgestellten Zukunftsszenarien hauptberuflicher Tätigkeit von Laien in der Seelsorge mit ein. Gleichzeitig folgt unser Sammelband einem bestimmten Schwerpunkt. Mit dem systematischen Ansatz beim Berufsbegriff in der kirchlichen Pastoral will der vorliegende Band ernstnehmen, dass durch die beiden Kirchenberufe GR und PR spezifische Logiken zur Organisation kirchlichen Handelns grundgelegt werden bzw. historisch bereits grundgelegt worden sind, die bislang wenig Aufmerksamkeit gefunden haben und nicht ausschließlich im Zusammenhang des Amtsbegriffs zu diskutieren sind.
Mit Blick auf den Forschungsstand ergibt sich aufgrund der bereits skizzierten ungeklärten Probleme eine kaum zu übersehende Fülle an entsprechenden Beiträgen, die sich vorrangig auf den Beruf PR und sein Profil beziehen.18 Hervorzuheben sind v. a. die Werke von Christoph Kohl und Elmar Honemann, da beide den Stand der Diskussion zum Zeitpunkt ihrer Entstehung sehr gut zusammenfassen.19 Angesichts der kaum überschaubaren Flut an Beiträgen zur Frage, wie sich das Berufsprofil entwickeln sollte, sind empirische Untersuchungen zum faktischen Selbstverständnis der Berufsträger*innen umso wichtiger; für den Beruf GR ist im letzten Jahr eine umfangreiche Studie erschienen.20 Für den Beruf PR erschien 2021 eine auf Interviews aufbauende pastoralpsychologische Dissertation.21 Weiterhin bedeutsam ist die 2006 von Paul Zulehner vorgelegte empirische Studie.22 Ein Desiderat in der Forschung sind dabei Studien, die sich nicht auf einen Beruf konzentrieren, sondern beide Berufe vergleichen und in Beziehung setzen, sowie interdisziplinäre Perspektiven.23 Außerdem fehlt es an Arbeiten, die die Tätigkeit von Laien transnational in den Blick nehmen.24
Neben den bereits vorgestellten kirchenrechtlichen, pastoraltheologischen und systematisch-theologischen Perspektiven liegen auch historische Studien vor. Relativ viel Aufmerksamkeit haben die Anfänge von beiden Berufen gefunden.25 So gibt es zu einer der Begründerinnen des Berufs der Seesorgehelferin, Margarete Ruckmich (1894–1985), eine quellengesättigte Dissertation.26 Eine vergleichbare Studie ist auch für Österreich erschienen.27 Wenig erforscht sind dagegen die Anfänge des Berufs in der Diaspora. Speziell zum Bonifatiusverein finden sich allerdings einige Ausführungen in der wichtigen Dissertation von Daniela Blank zur Geschichte der Gemeinschaft katholischer Gemeindereferentinnen.28 Die Studie ist auch deshalb von großem Interesse, weil sie den Bogen von ihrer Entstehung bis zur Auflösung der Gruppierung, die erst vor wenigen Jahren erfolgt ist, schlägt. Die nachkonziliare Entwicklung ist allerdings in historischer Perspektive kaum behandelt worden, auch wenn in den letzten Jahren einige erste Aufsätze vorgelegt wurden.29
Die aufgezeigten Forschungsdefizite haben die Ausrichtung des vorliegenden Sammelbandes wesentlich geprägt. Es geht darum,
• beide Berufsgruppen mit Blick auf Beruflichkeit in der kirchlichen Pastoral vergleichend und auch in ihrer Beziehung untereinander zu fokussieren,
• inter- und intradisziplinär zu argumentieren (interdisziplinär: Theologie und Pädagogik, intradisziplinär: praktische Theologie und Kirchengeschichte) und dabei unter anderem berufspädagogische Krisendiagnosen in den theologischen Diskurs zu integrieren,
• neue Horizonte über den komparativen Blick mit Entwicklungen im Protestantismus und der Situation in den Niederlanden zu eröffnen und
• die akademische Theologie ins Gespräch mit Praktiker*innen zu bringen.
Dabei werden die Beiträge des Bandes in drei Abschnitte untergliedert. Ein erster nimmt berufspädagogische Diskurse zu Transformationen im Berufsbegriff in den Blick. G. Sailmann führt eingangs in das Berufskonzept ein, indem er nachzeichnet, wie vor allem im Zeitraum von 1918 bis 1969 der »Beruf« von einem theologischen Fachterminus zu einem sozialen Totalphänomen und Zentralkonstrukt (»Berufsgesellschaft«) wird. Er stellt hierzu seine historischen Analysen zur Bedeutung des Berufs als Organisationsprinzip für den Arbeitsmarkt (1), als Beratungsgegenstand zwecks Vermittlung von Informationen zur freien Berufswahl (2), als Leitidee des Bildungssystems (3) und schließlich als Forschungstopos der Sozialwissenschaft (4) vor. A. Rosendahls Beitrag knüpft daran an, welche Krisen- und Erosionsdebatten im Zusammenhang eines funktionalen Wandels des Berufskonzepts im Zuge wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen seit den 1970er Jahren stehen und erläutert insofern, welche übergeordneten Faktoren dem Berufskonzept seit den 1970er Jahren ein gewisses Maß an Anpassungsfähigkeit abverlangen. In vier zeitlichen Abschnitten zeigt sie eine funktionale Flexibilität des Berufsbegriffs im Kontext seines jeweiligen Diskursrahmens auf. Sie nimmt zuerst Bezug auf das Schlüsselqualifikationskonzept der 1970er Jahre, das in den 1980er Jahren berufsbildungsreformerisch rezipiert wurde, und erläutert anschließend einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel in den 1990er Jahren (bspw. von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft), der die berufsförmige Organisation von Arbeit beeinflusste. Seit den 2000er Jahren sind die Debatten europapolitisch geprägt, insbesondere durch eine Fokussierung auf das Konzept der Employability, die überfachlich und vom Einzelnen eigenverantwortlich zu entwickeln ist. Aktuell schließlich sieht A. Rosendahl neue Diskussionen im Zuge derzeitiger Fachkräfteengpässe anbrechen, die zu »Entkopplungsbewegungen« zwischen erlerntem Studien- bzw. Ausbildungsberuf und ausgeübtem Erwerbsberuf (bspw. durch Seiteneinstiege) führen und sich insofern ggf. neu auf die berufspädagogische Debatte zur Erosion und Krise des Berufs auswirken könnten.
Ein zweiter Abschnitt widmet sich der Geschichte und Gegenwart der pastoralen Laienberufe.
A. Henkelmann rekonstruiert die Anfänge des Theologiestudiums von Laien und kann auf die Weise eine formative Phase in der Entstehung des Berufs PR vor der eigentlichen Einführung des Berufs Anfang der 1970er Jahre herausstellen, die bereits am Ende der Weimarer Republik beginnt. Diese formative Phase zeichnet sich durch die selbstbewusste Selbstermächtigung von einzelnen Laien, aber auch durch eine Skepsis der Amtskirche gegenüber dieser Entwicklung aus, die aber trotzdem aufgrund des Priestermangels auf Laien als Berufsträger*innen zurückgriff. Daniela Blank erläutert die Berufsgeschichte des*der GR. Sie stellt seine Entwicklung von der Entstehung bis zur Gegenwart dar. Blank fokussiert v. a., wie sich der Beruf als ursprünglicher Frauenberuf mit Blick auf die Wandlungen im Genderverständnis veränderte und schließlich Anfang der 1970er Jahre auch für Männer geöffnet wurde. Sie plädiert dafür, dass das aktuelle Berufsprofil weiter geschärft werden sollte und schlägt u. a. vor, die Aufstiegschancen zu verbessern.
Mittels ihrer jeweiligen Studienergebnisse können die Beiträge von U. Feeser-Lichterfeld/P. Heiser sowie K. Bischoff die gegenwärtige Situation des GR- bzw. PR-Berufs ausleuchten. U. Feeser-Lichterfeld/P. Heiser stellen dabei heraus, dass es unter den GR sozialdiakonisch-orientierte, gemeindebezogene und reformorientierte Grundtendenzen in der jeweiligen Auffassung des eigenen Berufs gibt. K. Bischoff profiliert auf Grundlage von ausgewerteten Interviews anhand von bestimmten Haltungen den Beruf PR folgendermaßen:
»Pastoralreferent*innen handeln als kirchliche Mitarbeitende eng verbunden mit der Institution und zugleich an der Welt und in der Welt. Sie wollen Brücken zwischen kirchlicher und nicht-kirchlicher Wirklichkeit bauen beziehungsweise diese verbinden.«30
S. Gärtner bringt eine erkenntnisgenerative Perspektive aus einem nicht-deutschen Kontext ein. Er fragt nach der Wirkung zunehmender Entkirchlichung auf die Berufstätigkeit von Laientheolog*innen und stellt einige Learnings aus dem zahlenmäßigen Schwund der pastoraal werkers als pastoraler Berufsgruppe in den Niederlanden dar. Dabei wird unter anderem sichtbar, wie durch die Veränderung bzw. das Ende einer bestimmten beruflichen Form die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen Professionalität und Konfessionalität in der Pastoral und insbesondere in der Unterscheidung kategorialer und territorialer Einsatzstellen entsteht: Während an territorialen Einsatzstellen eine durch starke konfessionelle Identität geprägte Erwartungshaltung vorherrscht, steckt die kategoriale Seelsorge in einer weltanschaulichen Marktsituation, in der sie allerdings unabhängiger von der Amtskirche wird.
Die Beiträge im dritten Abschnitt »Neuformatierungen: Erprobungen und Erkundungen« schlagen unterschiedliche Richtungen ein, um Anknüpfungspunkte zur Entwicklung kirchlicher Beruflichkeit anzubieten. So schlägt B. Szymanowski mit seinem Beitrag einen Perspektivwechsel von traditionellen Berufsgruppen auf professionelle Rollenkompetenzen vor, um kirchlichen Personaleinsatz im Rahmen einer Dienstleistungsorganisation lösungsorientiert auf je aktuelle Herausforderungen zuschneiden zu können. Sein Mittel zur Verwirklichung dessen ist das Konzept der professionellen Rollenkompetenz.
M. Schüßler entfaltet seine These eines notwendigen practice turn kirchlicher Beruflichkeit im Zuge einer Verflüssigung der kirchlichen Professions-Architektur und zeigt anhand einer eigenen empirischen Studie, wie sich Pastoral und Seelsorge sowohl explizit als solche gerahmten Prozesse wie auch als implizit innewohnende Momente von Alltags-Praktiken verstehen lassen. Alle kirchlichen Berufe müssten demnach Ereignisse des Evangeliums zunächst einmal professionell reflektiert entdecken und sodann begleiten und mitgestalten. Ähnlich argumentiert A. Burke, der ausgehend von einer Beschreibung, was pastorale Praktiken ausmacht, kritisch reflektiert, wie durch akademische Ausbildung und Studium soziale Rollen fabriziert werden, die zu paradoxen Engagementhemmnissen auswachsen können (»Professionalisierungsfalle«). Er entwickelt Anknüpfungspunkte für ein Professionalitätsverständnis, das sich vorrangig darauf ausrichtet, Getaufte dazu zu befähigen, pastorale Praktiken als solche entdecken zu können.
F. Erichsen-Wendt arbeitet Charakteristika verschiedener Aspekte des Berufsverständnisses von evangelischen Pfarrer*innen heraus. Ihre Anregung, von der Lebenslaufkohärenz der Berufspersonen her organisational zu denken bzw. kirchliche Berufs-Angebote zu entwickeln, die einen Beitrag zur individuellen »Employography« leisten können, so dass Personen sich auch lediglich temporär beruflich in Kontakt mit Kirche begeben können, kann auch über den Bezugsrahmen der evangelischen Kirche hinaus als konstruktiv aufgegriffen werden.
Auf eine von den Herausgebern entworfene Skizze sieben denkbarer Szenarien zur Entwicklung von Beruf und Beruflichkeit in der Pastoral folgen Kommentare, die aus unterschiedlichen Perspektiven diese Szenarien diskutieren: Sophia Spieth als ehemalige Vorsitzende des bundesweiten Zusammenschlusses der Bewerber*innenkreise, Matthias Gabriel Beckmann vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in der Arbeit im Netzwerkbüro Theologie & Beruf an der Universität Münster, Regina Nagel vom Berufsverband der GR, Ruth Schmitz-Eisenbach und Marcus Schuck für den Berufsverband der PR, Andrea Qualbrink und Katja Schmitt aus Perspektive diözesaner Pastoral- bzw. Personalentwicklung sowie Hubertus Lieberth aus der Sichtweise eines pastoralen Praktikers.
Abschließend möchten wir uns bedanken:
• bei Hannah Wahlers für umfangreiche Korrekturarbeiten,
• bei dem Zentrum für angewandte Pastoralforschung (Ruhr-Universität Bochum) und seinem Direktor Matthias Sellmann für eine umfangreiche finanzielle Förderung, die sowohl das diesem Buch zugrundeliegende Symposium als auch seine Drucklegung erst möglich gemacht hat
• sowie den Verfasser*innen und Kommentator*innen für die gute Kooperation und die schnelle Fertigstellung ihrer Beiträge.
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Gerald Sailmann
»Es dürfte kein Zeitalter geben, in dem mehr von Beruf gesprochen worden ist als in der Gegenwart. Die Presse schildert die Sorgen der Berufswahl – die Behörden errichten Berufsberatungsstellen – eine umfassende Berufsstatistik sucht jeden zu erfassen, der das Kindesalter überschreitet – die Gesellschaft ist in zahlreiche Berufsgruppen und Berufsverbände ausgegliedert, die sich lebhaft befehden – die Psychologen untersuchen die ›Berufseignung‹ – die Philosophen, Theologen und Soziologen wetteifern darin, uns den Verfall des Berufsethos oder die Möglichkeiten seiner Wiedererweckung vor Augen zu führen.«2,
so bewertet der Nationalökonom Fritz Karl Mann die gesellschaftliche Bedeutung des Berufes im Jahr 1933 – also ca. 15 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges.
Seine Einschätzung beschreibt eine Entwicklung, die sich in den folgenden Jahrzehnten noch weiter verstärken sollte, so dass Martin Baethge 2004 zu dem Schluss gelangt: »Deutschland ist bis zum heutigen Tag – wie kaum eine andere Gesellschaft – eine Berufsgesellschaft.«3
Warum ist der Beruf gerade in Deutschland4 so gesellschaftsprägend? Dies hat begriffs- und institutionengeschichtliche Gründe. Sprachlich wurde er im Deutschen aus der Taufe gehoben; seine Semantik beruht allerdings nicht auf mittelalterlicher Arbeitsrealität, sondern entstammt reformatorischen Überlegungen. Martin Luther verwendete Beruf anstelle von Berufung erstmals 1522 bei der Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen ins Deutsche. Er verband mit dieser Sprachvariation die religiös-moralische Aufwertung werktätiger Arbeit: weltbezogenes Tun genießt, sofern es dem Gemeinwohl dient, die gleiche göttliche Wertschätzung wie spirituelle Kontemplation.5
Der neue Begriff löste sich bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts von seinen theologischen Bindungen, denn er bot die Möglichkeit, christliche Berufung und Standestreue mit gewerblichem Erfolg und Leistungsstreben zu verknüpfen. Zudem wurde er um humanistische Ideen erweitert und in der Aufklärung entfaltete sich ein liberales Begriffsverständnis. Der Beruf stand nun für Selbstbestimmung und das Recht des Menschen, im Arbeitsleben seiner Neigung und Eignung zu folgen.
Trotz dieser inhaltlichen Ausdehnung drang der Berufsgedanke nicht in die Mitte der Gesellschaft vor – auch nicht nach dem Ende des Ständestaates im frühen 19. Jahrhundert. Erst an dessen Ende, vor allem aber im 1. Drittel des 20. Jahrhunderts, wurde »Beruf« zum Alltagsbegriff. Dies lag vor allem daran, dass seine bereits vor dem Ersten Weltkrieg erkennbaren Funktionalitäten für Individuen, Unternehmen, Körperschaften und Staat nach 1918 zunehmend institutionell ausgebaut wurden; ein Prozess, der bis zur Einführung des Berufsbildungsgesetzes 1969 andauerte.6
Der Zeitraum von 1918 bis 1969 steht auch im Vordergrund der nachfolgenden historischen Analyse. Sie orientiert sich darüber hinaus an einer gesellschaftlich-funktionalen Logik. Ausgehend von seiner Bedeutung als Organisationsprinzip für den Arbeitsmarkt wird auf den Beruf als Beratungsgegenstand und als Leitidee des Bildungssystems eingegangen. Danach wird seine Rolle als Forschungstopos der Sozialwissenschaften skizziert und abschließend ein kurzes Fazit gezogen. Die jeweiligen Abschnitte sind weitgehend chronologisch aufgebaut, wobei der Stationenbegriff nicht für ein konkretes historisches Datum, sondern für geschichtliche Entwicklungen steht.
Für das Verständnis der gesellschaftlichen Karriere des Berufs nach 1918 sind verfassungsrechtliche, ökonomische und soziostrukturelle Entwicklungen bedeutsam, die im 19. Jahrhundert, teils sogar schon davor, ihren Ausgang nahmen und in der Entstehung eines beruflich organisierten Arbeitsmarktes ihren Endpunkt fanden. Die Mehrzahl der deutschen Staaten hatte spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts kein Interesse mehr an marktregulierenden Zünften und wandte sich in den ersten Jahrzenten des 19. Jahrhunderts in Verfassung und Wirtschaftspolitik vom Ständewesen ab. Preußen beseitigte 1810 den Zunftzwang und führte die Gewerbefreiheit ein, d. h. Wettbewerb und Vertragsfreiheit in den Arbeits- und Leistungsbeziehungen. In der Verfassung des Königreichs Württemberg von 1819 gewährte ein Staat erstmals die freie Wahl des Standes, d. h. Berufswahlfreiheit. Zwischen dem geschriebenen Recht und der sozialen Realität gab es zwar noch lange Zeit sehr große Diskrepanzen, Kleingewerbe und Handwerk blieben in vielen Ländern noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein von den alten Strukturen geprägt, aber das Ende der ständisch-zünftischen Regulation war damit besiegelt und der Durchbruch der Marktwirtschaft eingeleitet.7
Gleichzeitig führten die voranschreitende Industrialisierung und der Übergang zur mechanisierten Produktionsweise zu einem sozioökonomischen Wandel. In der Zeit von 1871 bis 1914 setzte sich der systematische Einsatz von Technologie und wissenschaftlich fundierter Betriebsorganisation durch. Ab etwa 1890 dominierte in Deutschland die Industrie sowohl die Wertschöpfung als auch das Beschäftigungssystem.8
Die Fabrik brachte auch neue Beschäftigtentypen hervor. Hierzu zählten zum einen die Fabrikarbeiter, die zunächst allerdings vor allem aus dem Handwerk kamen, zum anderen die wesentlich kleinere Gruppe der Fabrikbeamten; sie verrichteten keine körperlichen, sondern vorwiegend geistige Tätigkeiten. Aus ihnen gingen die Angestellten hervor, deren Zahl sich zwischen 1907 und 1925 verdoppelte. 1929 gab es im privatwirtschaftlichen und öffentlichen Bereich bereits ca. 3,5 Millionen Angestellte in Deutschland.9
1,2 Millionen davon waren weiblich, wie auch die weibliche Berufsarbeit insgesamt bis in die 1920er Jahre stark zunahm. Zum einen drängten im Zuge der Industrialisierung immer mehr Frauen in die Fabriken und das dortige Arbeitsangebot wurde differenzierter. Zum anderen öffneten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch Handwerk und Handel für Frauen und im akademischen Bereich wurde ihnen der Zugang zu Universitäten als Bildungs- und Arbeitsstätte gewährt. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren Frauen mit Fachqualifikation mehr denn je als Arbeitskräfte gefragt.10 Auch die Beamtenschaft gewann im Verlauf des 19. Jahrhunderts an Bedeutung. Sie hielt die meisten Schlüsselpositionen in Verwaltung und Wissenschaft besetzt und rekrutierte sich, insbesondere in Preußen, vor allem aus dem protestantischen Bildungsbürgertum.11
Die Ausdifferenzierung der Arbeitsinhalte und Anstellungsverhältnisse führte dazu, dass es immer mehr Beschäftigungsformen gab. Für viele musste aber erst ausgehandelt werden, ob sie offiziell als Beruf anerkannt werden konnten – oder sollten. Hier gewann der Qualifikations- und Ausbildungsaspekt an Bedeutung, aber auch die Frage, welches Geschlecht die Tätigkeiten vorwiegend ausübte. Umstritten war es bei un- und angelernter Arbeit – Tagelöhner, Hilfsarbeiter –, aber auch bei häuslichen Diensten. In beiden Bereichen gab es auch explizit für Frauen angedachte Tätigkeiten.12
Im Handwerk waren traditionell Ausbildungsstrukturen vorhanden, sprachlich war bis ins 20. Jahrhundert hinein noch der alte Standesbegriff dominant. Die Annäherung der Industriearbeiterschaft an die Berufsidee vollzog sich in einem länger dauernden Prozess. Zwar orientierten sich die ersten Gewerkschaftsgründungen zwischen 1850 und 1880 an Berufsnamen und bei der Reichsbahn wurden bereits seit 1878 Lehrwerkstätten eingerichtet, aber erst mit dem Maschinenschlosser wurde 1925 der erste industrielle Ausbildungsberuf auf den Weg gebracht, womit sich auch der Facharbeiter als Qualifikationstypus etablierte. Zudem fand zu Beginn des 20 Jahrhunderts auch der Erwerbs- und Versorgungsgedanke zunehmend Eingang in die theoretische Berufsdiskussion (vgl. das Kapitel unten »Der Beruf als Forschungstopos der Sozialwissenschaft«). Bei den Beamten war der Berufsgedanke aufgrund des ausgeprägten Aufstiegsdenkens bereits im 19. Jahrhundert sehr prominent. Berufe waren mit Bildungsformaten gekoppelt; sie signalisierten Leistungspotenziale unabhängig von ererbten Privilegien.
Die Verknüpfung von Berufsbezeichnungen mit Zertifikaten und Standards zu deren Erwerb war es auch, die die Funktionalität des Berufs für den Arbeitsmarkt begründete. Er liefert nicht allein Hinweise über Position und Status, sondern auch verlässliche Informationen über erworbene Qualifikationen. Zugleich lassen sich mit ihm auch betriebliche Anforderungen und dafür nötige Bildungsvoraussetzungen benennen. Der Beruf entwickelte sich dadurch zum Organisationsrahmen, unter dem sich Anbieter und Nachfrager von Arbeitskraft effizient und kostengünstig am Arbeitsmarkt treffen konnten.13
Die quasi »offizielle Verknüpfung« von Beruf und Arbeitsmarkt wurde kurz nach Entstehung des Deutschen Kaiserreiches 1871 hergestellt. Der neue Staat war daran interessiert, die ökonomische Entwicklung zu forcieren, hierfür brauchte er belastbare Daten. Als statistische Größe für notwendige Erhebungen nutzte die Nationalökonomie – neben dem Familienstand – den Beruf. Er ermöglichte die Erfassung faktischer Spezialisierung und lieferte Informationen über Qualifikationen und Expertentum der Bevölkerung. Da er mehr Tiefenschärfe hatte als »Stand« oder »Klasse«, war er aussagekräftiger und setzte sich bis 1930 als statistisches Konstrukt für erwerbsbezogene Daten weitgehend durch.14
Mit dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung – AVAVG – von 1927 ging das Recht zur Durchführung von einmaligen und laufenden Erhebungen zur Gewinnung von statistischem Datenmaterial über die Lage am Arbeitsmarkt auf die neugegründete Reichsanstalt gleichen Namens über. Das berufsbezogene Systematisierungskonzept wurde stetig ausgebaut und an den Wandel der Tätigkeitsinhalte innerhalb der Berufe sowie an staatliche Informationsbedarfe und Vermittlungssysteme angepasst. Die amtliche Berufsdefinition der Berufsstatistik (Berufszählung) in der vom Bundesministerium für Arbeit und Statistischem Bundesamt herausgegebenen Systematik der Berufe von 1949/50, IV definiert Beruf folgendermaßen:
»Hierunter sind die auf Erwerb gerichteten, besondere Kenntnisse und Fertigkeiten sowie Erfahrung erfordernden und in einer typischen Kombination zusammenfließenden Arbeitsverrichtungen zu verstehen, durch die der einzelne an der Leistung der Gesamtheit im Rahmen der Volkswirtschaft (diesen Begriff im weitesten Sinne aufgefasst) mitschafft, und die in der Regel auch die Lebensgrundlage für ihn und seine nichtberufstätigen Angehörigen bilden.«15
Die 1961 an die Stelle der Systematik der Berufe getretene Klassifizierung der Berufe – KldB – hat diese Definition im Wesentlichen beibehalten. Sie wurde erstmals 1970 und auch danach mehrfach aktualisiert und überarbeitet, letztmals 2020.16
Zum Geburtshelfer des modernen Staates wurde der Beruf aber nicht allein dadurch, dass er sich als statistische Größe zur Erfassung von Arbeitsmarktdaten bewährte. In der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg tat er sich auch als Leitidee für den Aufbau neuer Institutionen, z. B. Sozialversicherungen, hervor. Vor allem aber etablierte sich, nicht zuletzt auch als Ausdruck der Emanzipation der Frauen, ein eigenes Beratungswesen. Durch die wirtschaftlichen Entwicklungen im 19. Jahrhundert entstanden zahlreiche neue Arbeitsfelder und die Erwerbsmöglichkeiten verlagerten sich auf Orte außerhalb der familiär bekannten Lebens- und Arbeitswelt. Dem Recht auf freie Gewerbe- und Berufswahl stand ein Individuum gegenüber, das Berufsinhalte oftmals nicht mehr aus eigener Anschauung kannte und meist auch keinen Überblick über regionale Arbeitsangebote hatte. Es fehlte an Informationen, um die bestehenden Freiheitsrechte wirklich nutzen zu können. Der Bedarf an Berufswahlhilfen wurde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich erkennbar und er stieg kontinuierlich an. Als Reaktion darauf bildeten sich zunächst informelle Strukturen heraus, so wurde berufliche Beratung außerhalb der Familie von Lehrern, Geistlichen oder Landärzten übernommen. Erste Lehrstellenvermittlungen wurden ab 1890 von den Gewerkschaften sowie von den Handwerkskammern und Innungen eingerichtet. Neben der körperschaftlichen Lehrstellenvermittlung entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch private, städtische und staatliche Initiativen zur Berufsberatung.17
Als erste selbstständige Berufsberatungseinrichtung gilt die 1902 unter Josephine Levy-Rathenau errichtete Auskunftsstelle für Frauenberufe, die spätere Auskunftsstelle für Fraueninteressen. Neben den Beratungsstellen der bürgerlichen Frauenbewegung gab es vor dem Ersten Weltkrieg vor allem akademische Auskunftsstellen an Hochschulen, die dem Trend zum Studium entgegenkamen. Ihre Zielgruppe waren Universitätsabsolventen, die nicht aus Akademikerkreisen stammten und nicht über die nötigen Verbindungen verfügten. Berufsberatung in diesem Kontext entsprach allerdings in erster Linie der Interessenslage einer aufstiegsorientierten Mittelschicht. Wenig Beratungsangebote gab es für Kinder aus Arbeiterfamilien. Sie waren meist gezwungen, direkt nach der Schulentlassung zu arbeiten, um einen Beitrag zum Familieneinkommen zu leisten. Eine Ausbildung war für sie – oftmals auch aus eigener Sicht – überflüssig oder sie konnten sie sich nicht leisten; eine Berufsberatung war für sie daher bedeutungslos. Dennoch wurde auch für diese Bevölkerungsgruppe berufliche Beratung eingefordert. Die Initiative kam allerdings nicht aus der Arbeiterschaft selbst, sondern aus dem Handwerk, das damit dem Nachwuchsmangel begegnen wollte.18
Insgesamt spielte die Berufsberatung vor dem Ersten Weltkrieg noch eine untergeordnete Rolle, obwohl die mit einer verfehlten Berufswahl verbundenen psychologischen Probleme durchaus gesehen wurden. In einem Artikel von Otto Presler von 1912 heißt es:
»Eine verfehlte Berufswahl, bedeutet in vielen Fällen ein verfehltes Leben. Denn ein Beruf, der nicht den Anlagen und Neigungen entspricht, kann eine unversiegliche Quelle der Unzufriedenheit werden«19
Der Erste Weltkrieg wirkte sich auf die Institutionalisierung der Berufsberatung aus zwei Gründen beschleunigend aus. Zum einen waren Frauen während des Krieges als qualifizierte Arbeitskräfte gefragt, zum anderen erforderte nach dem Krieg die Wiedereingliederung der Heimkehrer und die Gewährung von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen aussagekräftige Eignungsprüfungen. 1927 gingen die bis dahin verteilten Zuständigkeiten für die Berufsberatung von den Kommunen oder Ländern an das Reich über. Das Gesetz über Arbeitsvermittlungund Arbeitslosenversicherung vom 16. Juli 1927 bestimmte die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung zur Trägerin der Berufsberatung und verbot eine gewerbsmäßige Durchführung. Außerhalb der Reichsanstalt durften lediglich nichtgewerbsmäßige Institutionen, wie z. B. Wohltätigkeitseinrichtungen, Berufsberatung anbieten, während dies kommerziellen Organisationen untersagt war. Sie wurde damit in Deutschland an die Arbeitsverwaltung gekoppelt und monopolisiert. Dies hatte auch inhaltliche Auswirkungen. Berufsberatung wurde zum integralen Bestandteil der Arbeitsmarktpolitik, d. h. eine stark funktionale auf den Arbeitsmarkt und die Arbeitsvermittlung ausgerichtete Beratungsform dominierte.20
Mit der Verstaatlichung ging auch eine Professionalisierung des Beratungspersonal einher. Aus- und Weiterbildungsangebote wurden entwickelt und bereits 1919 wurde in Preußen ein Seminar für Arbeitsvermittlung und Berufsberatung gegründet, das 1921 zum ersten Mal die Schriftenreihe Arbeitsvermittlung und Berufsberatung herausgab. Mit dem neuen Beruf des Berufsberaters kam auch ein verstärktes Interesse an eignungsdiagnostischen und berufskundlichen Arbeitshilfen auf. Letzterem wurde mit dem von der Reichsanstalt in den Jahren 1927–1936 herausgegebenen mehrbändigen Werk Handbuch der Berufe entsprochen, womit sich auch die Berufskunde als beschreibende Lehre etablierte.21
Neben der Unterstützung von Individuen zählte die Berufsberatung auch institutionelle Angebote zu ihren Aufgaben. Hierfür entwickelte sie ihre Verfahren fort, was zu einem Nebeneinander von persönlichen Tests und Betriebsanalysen, von Gesprächen und Anleitungen zur Selbsthilfe, von Vorträgen für Eltern, Schüler und Arbeitgeber führte. Sie sicherte sich damit langfristig ihren Platz zwischen Elternschaft, Schule, Medien, Wirtschaftsverbänden und Arbeitgebern.22
Neben der Berufsberatung betrat auch die Berufsbildung im ausgehenden 19. Jahrhundert die gesellschaftspolitische Bühne. Gewerbliche Bildungsreflexionen aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert konzentrierten sich vor allem auf das Imitationsprinzip innerhalb der zünftischen Ausbildung, quasi als »Fortbildungskonzept« können die Wanderjahre betrachtet werden. Explizite Überlegungen über den Zusammenhang von Beruf und Bildung kamen bereits bei den Philanthropen und Sozialreformern des frühen 19. Jahrhunderts auf, aber er gehörte lange Zeit nicht zum grundständigen Begriffsinventar der Pädagogik. Erst in der als Reformpädagogik bezeichneten Zeitspanne von 1890 bis 1933 wurde der Beruf in Deutschland zum pädagogisch bedeutsamen Terminus, was vor allem auf die schulische Bildungsdiskussion zurückzuführen ist.
Politisch war berufliche Qualifizierung im ausgehenden 19. Jahrhundert sowohl im Interesse des Staates als auch des Handwerks und der Industrie, die Handwerksausbildung wurde allerdings fachdidaktisch stark kritisiert und eine industrielle Ausbildungstradition gab es noch nicht.23 Für Handwerkslehrlinge oder junge Industriearbeiter war es jedoch möglich, eine sogenannte Fortbildungsschule zu besuchen, diese Schulform widmete sich zunächst aber nicht primär der fachlichen Qualifizierung, sondern der Vermittlung von Sozial- und Arbeitstugenden.24
Theoretisch galt für Bildungsüberlegungen immer noch das seit 1809 bestehende Humboldt`sche Postulat. Demnach hat der Beruf unabhängig von seiner jeweiligen besonderen Ausprägung ein allgemeines Prinzip, nämlich Freiheit. Beide – Selbstbestimmung und Fachlichkeit – müssen getrennt voneinander im Menschen angelegt werden, einerseits in einer allgemeinen Menschenbildung, andererseits in einer speziellen Bildung. Humboldt leitete daraus eine Rangfolge ab, die fast das ganze nachfolgende Jahrhundert bildungstheoretisch prägen sollte: erst Menschenbildung, dann Fachausbildung.
Die reformpädagogische Bewegung wollte die nicht mehr zeitgemäßen Strukturen, Inhalte und Methoden im Bereich der Schulbildung insgesamt modernisieren. Grundvoraussetzung hierfür war, dass das Humboldt´sche Leitbild der Trennung von Allgemeinbildung und spezieller Bildung aufgeboben wurde. Georg Kerschensteiner kritisierte 1904 in seinem Aufsatz Berufs- oder Allgemeinbildung? pädagogische und strukturelle Missstände im Schulwesen und stellte dabei die Dichotomie zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung in Frage. Er argumentierte dabei mit der Bildungskraft des Berufs:
»[…] so wird es möglich sein, daß wir in der Bildungsfrage jene Lösung finden, die den durchaus nicht innerlich begründeten Streit zwischen Berufs- und Allgemeinbildung aufhebt. […] Der Weg zum idealen Menschen führt nur über den brauchbaren Menschen […]. Die Berufsbildung steht an der Pforte zur Menschenbildung.«25
Kerschensteiner und andere Reformpädagogen – Eduard Spranger, Theodor Litt und Aloys Fischer – waren der Überzeugung, dass Persönlichkeitsbildung nur mit dem und durch den Beruf zu erlangen sei. Berufsbildung wurde als Medium einer auf den Menschen bezogenen Bildung betrachtet, die an den inneren Beruf anknüpft. Institutionell verfolgte die Reformpädagogik das Ziel, die Fortbildungsschulen konsequent am Beruf auszurichten und sie in verpflichtend zu besuchende Berufsschulen umzuwandeln, um dadurch anspruchsvolle Berufsbildung als Gegengewicht zur gymnasialen und universitären Bildung zu installieren.26
Im Zeitraum von 1890–1914 wurden die Zahl der Fortbildungsschulen ausgeweitet, und ab 1920 wurden sie überwiegend Berufsschule genannt und mit einer fachlich ausgerichteten Bildungsprogrammatik ausgestattet. Zum allgemein anerkannten eigenständigen Lernort wurden sie dadurch aber noch nicht. Über alle Interessengruppen hinweg war man sich in der Weimarer Republik zwar einig, dass die »neue Berufsschule« in erster Linie der Förderung der fachlichen Berufstüchtigkeit verpflichtet sein sollte; sie wurde aber auch sozialpolitisch instrumentalisiert und als Auffangbecken für die anwachsende Zahl jugendlicher Erwerbsloser genutzt. Erst mit der Zentralisierung der Schulverwaltungen der Länder in einem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung im Jahre 1934 war die Basis für eine Vereinheitlichung des zersplitterten öffentlichen Berufsschulwesens gegeben – allerdings auch für seine ideologische Steuerung durch den Nationalsozialismus. 1937 wurden die unterschiedlichen Benennungen der beruflichen Schulen einheitlich geregelt, die Frage der Trägerschaft geklärt und die Finanzierung der Berufsschule rechtlich vereinheitlicht. 1938 wurde eine reichseinheitliche Berufsschulpflicht eingeführt, d. h. ab 1938 wurde der vormals obligatorische Besuch der Berufsschule für alle Lehrlinge verpflichtend. Damit war in den späten 30er Jahren des 20. Jahrhunderts durch die zentralistische Politik des NS-Staates die Form der Pflichtberufsschule juristisch fixiert.27
Während ideologisch der Arbeitsbegriff dominierte, stieß der Berufsgedanke in Form der Berufsschule auf das Interesse der institutionellen NS-Politik. Sie sollte zum Zentrum eines gestuft-geordneten beruflichen Schulwesen werden und damit zum Aufstiegsvehikel entwickelt werden. Zugleich wurde sie aber zweitrangig neben die betriebliche Berufsausbildung gestellt.28
Sie blieb, trotz des Aufschwungs der schulischen Berufsbildungsdiskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zunächst für das Handwerk reserviert. Diese Situation führte zu massiven Kontroversen zwischen Handwerk und Industrie, zumal sich die Qualifikationsanforderungen in der Industrie aufgrund des beschleunigten technischen Fortschritts bis 1914 stark veränderten. Bereits 1911 erfolgte die erste vertikale Berufsdifferenzierung in Facharbeiter, Angelernte und Hilfsarbeiter. Ab 1919 wurden erste Lehrgänge für die Metallindustrie entwickelt und ab 1920 begann die Industrie ein eigenes, vor allem auf dem Lehrgangskonzept beruhendes Modell der Berufsausbildung einzuführen. 1925 wurde als erstes Berufsbild das des Maschinenschlossers erarbeitet. Das Ausbildungsmodell, das die Industrie etwa ab Mitte der 1920er Jahre entwickelt hatte, umfasste z. B. Lehrwerkstätten, standardisierte Lehrgänge sowie Ordnungsmittel, in denen Berufsbild, Ausbildungsplan und Prüfungsanforderungen geregelt wurden.29 Die Industrie suchte aber auch die Zusammenarbeit mit dem Handwerk, und konnte es 1925 für einen gemeinsame Arbeit im Arbeitsausschuss für Berufsbildung – AfB – gewinnen. Aus diesem führt die ordnungspolitische Entwicklungslinie der handwerklichen, industriellen und auch kaufmännischen betrieblichen Berufsausbildung über das 1941 gegründete Reichsinstitut für Berufsbildung 1941 zum heutigen Bundesinstituts für Berufsbildung – BIBB –, das 1969 gegründet wurde30
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Berufsbildung in den Betrieben als Qualifizierung für die Erwerbsarbeit dem »Recht der Wirtschaft« subsumiert, die Berufsbildung in den Schulen hingegen in die Gesetzgebungskompetenz der Länder gegeben. Daraus ergab sich eine politische Dualität in der Berufsbildung zwischen dem Bund und den Ländern. Mit dem Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern vom 19.12.1956 wurde – neben der Handwerkskammer und der Handwerkordnung – auch der wirtschaftlichen Selbstverwaltung für Industrie und Handel eine neue rechtliche Grundlage für die Steuerung ihrer Berufsausbildung gegeben. Seitdem sind für die beiden größten Ausbildungsbereiche die Zuständigkeiten durch Kammern geregelt.31
Entscheidend für die Entwicklung des Berufs zu einem universalen Regulationsprinzip der Ausbildung in Deutschland war insgesamt, dass Handwerk und Industrie ihren Beitrag leisteten. Das Berufskonzept des Handwerks mit seiner ethischen Komponente wirkte in den Industriesektor hinein, der keine historisch gewachsene Form von Beruflichkeit kannte. Die Industrie wiederum entwickelte ordnungspolitische und didaktische Konzepte – z. B. Berufsbild oder Lehrgang – die sich auch für die Ausbildung im Handwerk als fruchtbar erwiesen. Die bereits in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandene Verbindung von betrieblicher und berufsschulischer Ausbildung bildet die Grundlage für das Duale System. Als Fachbegriff wurde Duales System zum ersten Mal in einem Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen aus dem Jahre 1964 verwendet. Zusätzlich juristisch gestärkt wurde es durch die Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes – BBiG – 1969, in dem der Betrieb als Lernort rechtlich abgesichert und Berufsfähigkeit als Zielkategorie festgelegt wurde:
»Die Berufsausbildung hat die für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten (berufliche Handlungsfähigkeit) in einem geordneten Ausbildungsgang zu vermitteln. Sie hat ferner den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen zu ermöglichen.«32
Das BBiG, das 2005 und 2020 reformiert wurde, regelt gemeinsam mit der Handwerksordnung die handwerkliche, industrielle, kaufmännische und verwaltende sowie die landwirtschaftliche und hauswirtschaftliche Berufsausbildung in Deutschland. Durch ein Berufsbildungsgesetz mit solcher Regelungsbreite hebt sich Deutschland von vielen anderen Ländern ab. Es bildet die Grundlage dafür, dass das Duale System zu einem auch international viel beachteten ausbildungspolitischen Erfolgsmodell wurde.33
Der Beruf war bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Forschungsgegenstand für die Sozialwissenschaften attraktiv geworden. Die mit Beginn des Deutschen Kaiserreichs einsetzende Nutzung für Erhebungszwecke (vgl. das Kapitel oben »Der Beruf als Organisationsprinzip des Arbeitsmarkts«) ermöglichte auch soziostrukturelle Analysen auf empirischer Basis.
So gründete Max Webers berühmte Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, erschienen 1904/05/20,34 auf erwerbsstatistischen Erkenntnissen. In ihr beschreibt er Zusammenhänge zwischen individueller Sozialisation, konfessionsbedingter Kultur und ökonomischer Entwicklung. Sie trug entscheidend dazu bei, das Berufsthema nachhaltig in den Sozialwissenschaften zu verankern. Webers Definition von Beruf als soziologischer Grundkategorie lautet:
»Beruf soll jene Spezifizierung, Spezialisierung und Kombination von Leistungen einer Person heißen, welche für sie Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- oder Erwerbschance ist.«
Einige Absätze später fügt er auch den Qualifizierungsaspekt noch hinzu:
»Zum Gegenstand selbständiger und stabiler Berufe werden nur Leistungen, welche ein Mindestmaß von Schulung voraussetzen …«35
Seine Definition betont erstmals explizit den Zusammenhang zwischen Beruf und Erwerbschance; sie wurde zur Basis der modernen Berufskonzeptionen. Kritisiert wurde an ihr, insbesondere von Werner Sombart 1931, dass sie nicht die psychologischen Funktionen für das Subjekt und den inneren Beruf, d. h. Eignung und Neigung, integriert. Sombart fasst den Begriff anders. Er unterscheidet zum einen die objektive Bedeutung – von der arbeitsteiligen, spezialisierten Gesellschaft ausgehend –, zum anderen die subjektive – von der Person ausgehend. Beruf ist für ihn Funktion von Gesellschaft und Individuum. Letztere lässt sich nach Sombart nochmals unterteilen in Vocatio – Berufung oder innerer Beruf – und Occupatio – Beschäftigung oder äußerer Beruf. Er spricht in diesem Zusammenhang auch von Soll-Beruf und Ist-Beruf, die in einer Tätigkeit zusammenfallen können, aber auch in einer Weise auseinanderfallen können, dass eine einzige Person zwei Berufe ausübt.36
Auch für Fritz Karl Mann, 1933, ist der Zusammenhang, der bei Weber im Vordergrund steht – Beruf und Erwerbschance –, von untergeordneter Bedeutung. In ihrem sozialphilosophischen Ansatzpunkt widersprechen sich seines Erachtens die beiden Konstrukte sogar. Während die Berufsidee auf einem harmonischen Einfügen in die Gesellschaftsordnung gründet, setzt der Erwerbsgedanke einen Wettkampf der Menschen voraus. Der Erwerbstätige denkt individualistisch, der Berufstätige universalistisch, daher müssen Berufsbewusstsein und Erwerbssinn geschieden werden.37
Die skizzierten definitorischen Schwerpunktsetzungen verdeutlichen die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sich widerstreitenden Positionen bei der Bestimmung des Berufsbegriffs. Einerseits stand der Erwerbs- und Versorgungsgedanke im Vordergrund, andererseits die Neigungen des Individuums und der Beitrag für die Gemeinschaft. Webers Betonnung des Materiellen leistete allerdings einen wichtigen Beitrag dafür, dass sich auch die Industriearbeiterschaft im Berufsgedanken wiederfinden konnte. Spätestens in der Weimarer Republik hat sie sich dem Beruf zugewandt und Fabrik und Bildung gingen ein Bündnis ein (vgl. das Kapitel oben »Der Beruf als eine Leitidee im Bildungssystem«).
In der Zeit von 1933 bis 1945 dominierte der Arbeitsbegriff; die Verbindung von Arbeit, Nationalismus und Antisemitismus war Kernelement der NS-Ideologie.38 Dem Berufsgedanken widmete der Nationalsozialismus weniger Aufmerksamkeit.39
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war in der Bundesrepublik Deutschland geprägt durch eine Neubestimmung des Wertesystems. Wirtschaftliches Engagement überlagerte politisches Interesse. Der Großteil der Menschen zog sich zurück aus dem Öffentlichen und interessierte sich vor allem für den Wiederaufbau und die Mehrung des privaten Wohlstandes. Dies führte – begünstigt durch Marshallplan und Währungsreform – zu einer innerhalb kurzer Zeit einsetzenden wirtschaftlichen Erholung und zu einem konjunkturellen Boom, der bis in die 1970er Jahre hinein reichte.
Dieser Zeitraum, in dem auch der Sozialstaat weiter ausgebaut wurde, war die Blütezeit des Berufsgedankens im industriegeprägten Deutschland. Helmut Schelsky spricht bereits 1953 von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«.40 Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Kluft zwischen Industriearbeitern einerseits und Angestellten in der Verwaltung sowie im technischen oder im kaufmännischen Bereich andererseits sich immer mehr auflöst. Die wirtschaftlichen Verhältnisse und Lebensstile gleichen sich an, es gibt kaum noch Statusunterschiede. Der ideologisch aufgeladene Klassenbegriff wird obsolet; er wird ersetzt durch den Schichtbegriff. Zu ihm wiederum ist das Berufskonstrukt wesentlich anschlussfähiger, denn beide betonen mehr das Verbindende als das Gegensätzliche. Schelsky sieht den Beruf, d. h. das in ihm an die Person gebundene fachliche Können, als zweite soziale Sicherheit neben der Familie. Die im Beruf angelegte spezifische Form der Erwerbsarbeit ermöglicht Sozialkontakte und dient damit der psychischen Stabilisierung. Diese auf Fachqualifikation beruhende sozialintegrative Funktion ist gekoppelt mit dem Kontinuitätsdogma. Bestehen Beschäftigungssicherheit, Sozialkontakte und ausreichende Vergütung, gibt es keine Veranlassung den Beruf zu wechseln.41