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Erweiterte Neuausgabe - An einem eisigen Frühlingstag im Jahr 1363 verlassen drei junge Menschen ihre Heimatstadt Lübeck, das mächtige Haupt der Hanse: Der Bäckersohn Lando, vom vermeintlichen Vater ungeliebt. Seit dem Tod der Mutter wandelt Lando am Abgrund. Die Schankmagd Immeke ist seit ihrem siebenten Lebensjahr auf sich allein gestellt. Sie flieht vor Zudringlichkeiten und einem trostlosen Leben. Elias, ein Novize ohne Wurzeln, der verzweifelt das Wissen der Welt aufsaugt. Sie stehen zwischen Kindheit und Erwachsenwerden. Gemeinsam suchen sie einen Ort, der ihnen Schutz und ein besseres Leben gewährt. Doch ein fanatischer Mönch, dessen dunkles Geheimnis der Novize enthüllt hat, ist ihnen auf den Fersen und sinnt auf Rache. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe des 2012 erschienenen Romans "Lando und der Mönch des Todes"
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Seitenzahl: 232
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Jung war ich einst, einsam zog ich, da ward wirr mein Weg; glücklich war ich, als den Begleiter ich fand: Den Menschen freut der Mensch.
Aus der »Edda«
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Glossar
Die Tage nach Mutters Tod waren trostlos und fad wie ungesalzene Gerstengrütze. Lando wischte sich über die Augen. Er seufzte und schob Brennholz in den Backofen. Wie glühende Zungen leckten die Flammen an den Aststücken. Es rauschte und knackte. Funken sprühten.
Sein Vater, der Bäckermeister Johan van Ehlen, saß auf der Ofenbank, einen Krug Gewürzbier in den gewaltigen Händen, und starrte ins Leere. Einzig Dietrich, der Geselle, schuftete und hetzte, dass ihm Schweißtropfen die Schläfen hinabrannen.
»Ich schaff die viele Arbeit nicht, Meister«, klagte er ein um das andere Mal, doch der Bäckermeister schwieg, als sei er vor Kummer stumm und taub geworden.
Lando beobachtete, wie sich Feuer in Holz fraß und es in verkohlte Stücke und graue Asche verwandelte.
»Tagträumer«, schnaubte Dietrich und drohte mit der Faust.
Lando riss sich von den tanzenden Flammen los, griff nach dem Reisigbesen und wirbelte mit ihm über die Steinplatten. Alles, was seine Mutter im Haus geleistet hatte, war ihm zugefallen, selbst das Kochen, Waschen und Saubermachen. Manches Mal meinte er, ihre Schritte auf der Stiege zu hören. Dann lauschte er und blickte erwartungsvoll auf die ausgetretenen Holzstufen. Er konnte nicht begreifen, dass sie diese nie mehr hinabsteigen würde.
»Tölpel!«, donnerte der Geselle. »Hör auf! Der Dreck, den du aufwirbelst, gerät mir in den Teig.«
Wenige Tage später bestimmte Dietrich ihn dazu, das Backwerk zum Markt zu bringen und feilzubieten.
»Weshalb ich?«, rief Lando. »Warum machst du das nicht?«
»Weil ein Geselle in der Backstube steht und backt und nicht seine Zeit auf dem Markt vergeudet und Brot feilbietet.« Dietrich knallte einen Teigklumpen auf die Arbeitsplatte. »Schweig und füg dich. Sonst sage ich es deinem Vater, wenn er aus seinem selbstsüchtigen Halbschlaf erwacht.«
Lando knirschte mit den Zähnen. Es war ein Elend, der Jüngste der Familie zu sein. Wie gern würde er wie seine großen Brüder Thorwald und Harmen das Elternhaus verlassen und bei Meister Klambeck in die Lehre gehen. Er würde den Ofen in dessen Backstube anfeuern und Brotlaibe in der durchwärmten Diele formen.
»Du bleibst hier und hilfst, wo es nötig ist«, hatte Vater ihm stattdessen vor einem Jahr eröffnet. »Wir sind nicht wohlhabend genug, um auch noch das Lehrgeld für dich aufzubringen.« So war es denn Vaters Geiz gewesen, der Lando an das Haus band und wie einen Knecht schuften ließ. Und jetzt sollte er auch noch Backwerk auf dem Markt verkaufen. In der zugigen Holzbude, die auf dem Bäckermarkt als Verkaufsstand diente, froren einem die Zehen ab. Nie hatte er verstanden, wie seine Mutter es im Winter dort ausgehalten hatte. Wolllappen hatte sie sich morgens um die Lederschuhe gewickelt, bevor sie in die hölzernen Trippen geschlüpft war. So war sie losgestapft mit ihrem Karren voller Brot. Dreimal am Tag war Lando zu ihr auf den Bäckermarkt gelaufen und hatte ihr Feldsteine gebracht, die er im Ofen für sie gewärmt hatte. Sie hatte sie in die rot gefrorenen Hände genommen, an ihren Bauch gedrückt und ihm still zugelächelt.
Nie wieder würde sie lächeln.
Die Kälte war schuld an Mutters Schicksal. Sie hatte den Husten gebracht, dann das Fieber und schließlich den Tod.
Ein Hauch von Frost lag in der Luft. Über den Dächern der Stadt kletterte die Sonne das Himmelsgewölbe empor und tauchte die farbig geschlämmten Fronten der Backsteinhäuser in hellrotes Morgenlicht. Lando zog mit steif gefrorenen Händen den Brotkarren über einen Bohlenweg. Er musste achtsam sein, denn wie leicht geschah es, dass eines der runden Brote vom Karren purzelte.
Je näher er der Stadtmitte kam, desto mehr Karren, beladen mit Gemüse, Brotlaiben und Fässern, rumpelten mit ihm den Marktbuden entgegen. Frauen, eingewickelt in wollene Umhänge, trugen Körbe und klapperten auf hölzernen Trippen an ihm vorbei. Lando fühlte einen Stich in seinem Herzen, als er die Bäckerbuden im Schatten der hochaufragenden Kirche Sankt Marien erreichte. Seit er denken konnte, hatte hier seine Mutter das Backwerk feilgeboten.
»Endlich, Lando! Das Roggenbrot ist schon seit dem Vormittag aus. Hast du mir auch ordentlich Nachschub mitgebracht?«, so hörte er ihre Stimme in seinem Innern. Hatte er erwartet, sie würde in der Holzbude stehen und ihm zunicken? Glaubte er, ihr Tod war nur ein Hirngespinst, ein böser Traum, weiter nichts? Ein Schlag auf seinen Rücken holte ihn in die zugige Wirklichkeit des Bäckermarktes zurück. Alle Stände, bis auf den seinen, waren schon aufgebaut und beschickt. Brote und Kuchen türmten sich auf den Auslagen. Lauthals wurden Mandelhörnchen, Krumme Krapfen und Roggenbrot angepriesen.
»Gott zum Gruß, mein junger Freund«, rief eine scheppernde Stimme, die nur einem gehören konnte. Lando fuhr herum.
»Meister Friedolf! Gott schenke Euch einen guten Morgen!«
»Gleichfalls, gleichfalls, Lando.« Der klapperdürre Paternostermacher verneigte sich übertrieben tief vor ihm. Immer, bevor Meister Friedolf sich morgens an seine Arbeit gesetzt und Bernsteine zu kleinen Perlen für Gebetsketten gedrechselt hatte, war er in aller Frühe zu Mutters Stand gekommen, um sein Brot bei ihr zu kaufen. Es sei das beste, hatte er stets behauptet. Dagegen sei das Backwerk der anderen reinster Schweinedreck.
Der Paternostermacher stellte sich auf die Zehenspitzen.
»So mich meine trüben Augen nicht täuschen, ist Eure Frau Mutter schon wieder nicht hier. Ist sie denn noch immer leidend?« Er wippte auf den Füßen. Seine kleinen Fuchsaugen blickten umher.
Lando wusste, wie sehr Meister Friedolf seine Mutter geschätzt hatte. Wie sollte Lando ihm beibringen, was mit ihr geschehen war? Er kramte in seinem Kopf nach sanften Worten, doch fand er nur Traurigkeit und Leere. Um Zeit zu gewinnen, begann er, das Dachgestänge der Bude abzuladen. Als das Schweigen ihm unerträglich wurde, stieß er hervor: »Tot ist sie! Tot und begraben.« Er ließ zwei Holzstangen neben den Karren fallen und biss sich auf die Unterlippe, bis sie schmerzte.
Meister Friedolf erbleichte. Er bekreuzigte sich und schien gleichzeitig in sich zusammenzusacken. Mit den Fingerspitzen rieb er sich den Nasenrücken und murmelte: »So, so, sie hat uns also verlassen, die gute Heilwig.«
Er ließ die Arme hängen, als gehörten sie nicht mehr zu ihm. »Tot und begraben«, wiederholte er. »Soso.«
»Ja, tot und begraben!«, rief Lando lauter, als er wollte.
Meister Friedolf zuckte zusammen.
Wut kochte in Lando hoch, Wut auf Meister Friedolf und seine Trauer. Er wollte das nicht auch noch ertragen. Er hatte wahrhaftig genug mit sich selbst zu tun.
»Wie ist es geschehen?«, fragte Meister Friedolf leise. Er bohrte seinen Zeigefinger in eines der zahlreichen Löcher seines Mantels.
»Sie litt an bösem Husten und hatte beim Atmen stechende Schmerzen«, erzählte Lando. »Gekrümmt hat sie sich und …«
»Hat sie dir noch etwas sagen können?«, unterbrach Meister Friedolf ihn.
»Nein. Nichts. Sie ist ohne ein Wort gegangen.« Lando fuhr sich über die Augen.
»Und die Letzte Ölung?«, fragte der Paternostermacher zaghaft. »Hat sie noch beichten können?«
»Nein.« Lando schüttelte heftig den Kopf. Er wollte die Bilder vertreiben, wollte nicht mehr daran denken, wie er seinen Vater immer wieder angefleht hatte, einen Priester zu holen. Wie der nur abgewinkt und gesagt hatte: »Sie stirbt nicht, verflucht!«, sich abgewandt und das Zimmer so überstürzt verlassen hatte, als sei er auf der Flucht.
»So ist sie ohne Beichte …« Meister Friedolf blinzelte mit Tränen in den Augen. »Oh, heilige Jungfrau Maria. Lass sie nicht der Hölle anheimfallen. Sie hat es nicht verdient.«
»Sie ist nicht in der Hölle!«, behauptete Lando.
»Versündige dich nicht«, flüsterte Meister Friedolf und wedelte wild mit den Händen. »Das kannst du nicht …«
»Sie ist nicht in der Hölle«, beharrte Lando. »Ein Engel ist mir an ihrem Sterbebett erschienen.«
»Ein Engel?« Meister Friedolf sah ihn aus schmalen Augen an. »Wann hast du einen Engel gesehen? Wie sah er aus?«
»Er war groß, hell, fast weiß«, log Lando, »und wunderschön. Schöner als alles Irdische. Schöner als alles, was ich bisher gesehen habe. Er hat Mutter an die Hand genommen und zu mir gesagt: ›Fürchte dich nicht. Ich führe sie in das himmlische Reich. Sie wird ein Engel werden und dich immer beschützen‹. Ja, das hat er gesagt.«
Eine Träne floss, verharrte kurz in einer von Meister Friedolfs Lachfalten und suchte sich dann ihren Weg bis zum Kinn, an dem sie hängen blieb. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und ließen zwei Zahnlücken sehen.
»Ein Engel soll sie werden«, flüsterte er. »Ein Engel, ja, ja. Ins himmlische Reich. Das hat sie verdient, die gute Heilwig.« Weitere Tränen rannen ihm die Wangen hinab. Er schniefte und wischte sich mit dem Ärmel quer über das Gesicht.
Lando hatte den Paternostermacher noch nie weinen sehen. Er trat von einem Fuß auf den anderen, schwankte zwischen Unbehagen und dem tröstenden Gefühl, mit seiner Trauer nicht allein zu sein.
»Verzeiht mir, Meister, doch ich muss den Stand beschicken.«
»Gewiss«, sagte Meister Friedolf. »Gewiss.«
Er legte ihm für die Länge eines Atemzugs seine Hände auf die Schultern. Lando meinte, deren Wärme durch den dicken Wollstoff zu spüren. Schließlich nickte der Paternostermacher kurz, wandte sich ab und eilte, ohne sich noch einmal nach Lando umzudrehen, davon.
Wie von Sinnen stolperte Meister Friedolf in die Hundestraten. Die Worte, die er vor sich hin murmelte, schmeckten gallebitter.
»Sie ist tot. Tot und begraben, meine Heilwig.«
Er stieß die Tür seines Hauses auf und taumelte in die Diele. »Tot und begraben.«
Hinrich, der Geselle, hockte auf einer Holzbank am Fenster.
»Wer ist tot und begraben, Meister?«, fragte er und sah von einem Bernstein auf, den er gerade schliff.
»Niemand, den du kennst«, knurrte Friedolf und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Schweig und schaff! Tu das, wofür du bezahlt wirst. Und du …« Er fuhr zum Lehrling herum, der in einer Ecke auf einem Holzschemel saß und Bernsteinperlen auf eine Kette zog. »Du fegst die Werkstatt, Bertram! So verdreckt will ich es hier nicht haben.« Er stieß mit der Stiefelspitze Bernsteinsplitter fort, wandte sich um und stampfte die schmale Stiege hoch. Es war ihm kaum noch möglich, die Tränen zurückzuhalten, doch mit keiner Menschenseele konnte er sein Leid teilen. Niemand durfte wissen, wie sehr er Heilwig geliebt hatte, schließlich war sie das Eheweib des Bäckermeisters Johan van Ehlen gewesen und nicht das seine. Er flüchtete in seine Kammer und zog die Tür hinter sich zu. An die Wand gelehnt, ballte er die Fäuste. Verflucht sei ihr Vater, der selbst Bäckermeister gewesen war und seine Tochter nur mit einem Amtsbruder verheiraten wollte. Alles hatte er versucht, um den elenden Stiernacken von dessen Verbohrtheit abzubringen, wahrhaftig alles, doch es war vergebens gewesen. Nichts hatte seine Meinung ändern können, nicht einmal die Münzen, die Friedolf ihm unter die Nase gehalten hatte, seine gesamten Ersparnisse nach Jahren harter Arbeit.
Meister Friedolf stieß sich von der Wand ab und kniete sich vor eine kleine Truhe, die neben seinem Bett stand. Er hob den gewölbten Deckel an. Einen Beutel aus grünem Samt zog er heraus und schüttelte den Inhalt in seine hohle Hand. Dort lag er nun, der Ring aus honigfarbenem Stein. Er fing Sonnenlicht, das spärlich durch die kleinen, mit Sprossen eingefassten Glasscheiben fiel. Meister Friedolf streichelte mit der Zeigefingerspitze goldgelbe Blumenranken, die er für Heilwig in das Schmuckstück geschnitzt hatte. Der Ring gehörte ihr. Sie hatte ihn ablegen müssen, als Meister van Ehlen zurückgekehrt war. Die feige Ratte.
Friedolf schloss die Augen. Hätte die Pest doch ihn hinweggerafft, stattdessen nahm sie Heilwigs Töchter, die unschuldigen kleinen Dinger.
Seit diesem Tage haderte er mit Gottes Allmacht. Jede Stunde. Immer.
Elias nutzte die Zeit zwischen der Sext und dem Mittagsmahl, seinem Lehrmönch Bruder David zu entwischen. Dies war in den Zeiten, in denen immer mehr Mönche von dem heimtückischen Antoniusfeuer heimgesucht wurden, nicht weiter schwierig. Alles ging drunter und drüber, alltägliche Arbeiten blieben liegen und ein jeder war in Sorge, selbst zu erkranken.
Bis vor wenigen Tagen noch war Bruder Johannes Elias‘ Lehrmönch gewesen. Er hatte den Novizen wie einen Schatten verfolgt. Keine Sekunde hatte er ihn aus den Augen gelassen, doch dann war auch er erkrankt und lag nun im Krankensaal, dicht an dicht mit seinen Leidensgenossen.
Bruder David war der Cellerar des Klosters und sorgte für Nahrung und Kleidung der Brüder. Trotz seiner vielfältigen Aufgaben hatte er angeboten, sich Elias‘ Ausbildung und Obhut außerhalb der Schulzeiten anzunehmen.
Der Novize schlug den Weg zur Bibliothek ein. Dort wollte er nach Schriften von Meister Eckhart suchen, denn in einem Nebensatz hatte Bruder David ein Traktat erwähnt, das aus dessen Feder stammte. Es handelte davon, wie edel der Mensch geschaffen wäre in seiner Natur und wie göttlich es sei, wozu er aus Gnade zu gelangen vermöchte. Bruder David hatte ihm Eckharts Überlegungen zum äußeren und inneren Menschen dargelegt, und der Novize war so sehr von diesen Gedanken ergriffen worden, dass es ihn danach verlangte, sich in aller Ruhe in das Traktat zu vertiefen.
Mit raschen Schritten überquerte Elias den Hof, doch vor der Zelle des Pförtners hielt er inne. Aus ihr war ein Klagelaut gedrungen, der ihm durch und durch gegangen war. Litt Bruder Thomas Schmerzen? War er womöglich gestürzt?
Elias legte eine Hand auf die eiserne Klinke, zögerte jedoch, die Tür zu öffnen. Für gewöhnlich ging er dem Pförtner des St.-Christophorus-Klosters aus dem Weg, denn der spuckte Gift und Galle, sobald ihm etwas missfiel. Und vieles missfiel dem Hageren, die Nonnen, mit denen sich die Mönche das Kloster teilen mussten, jene weltlichen Mägde und Knechte, die niedere Arbeiten erledigten, und auch die Klosterschüler und Novizen. Seiner Ansicht nach zeigten sie weder den nötigen Ernst noch ausreichend Frömmigkeit.
Der Novize presste sein Ohr gegen das Holz des Türflügels. Er musste sichergehen, dass dort drinnen tatsächlich Hilfe nötig war. Nur wenn es unumgänglich war, würde er die Zelle des Pförtners betreten.
Ein klatschender Laut, wie der Hieb einer Peitsche, war zu hören, gleich darauf ein Ächzen. Wen um Himmels willen prügelte der Pförtner? Etwa einen der kleinen Klosterschüler, die dem turmhohen Bruder Thomas nur bis zum Bauchnabel reichten? Elias musste sich eingestehen, dass er dem Pförtner die maßlose Züchtigung eines Kindes zutrauen würde. Dennoch fehlte ihm der Mut zu klopfen. Gnade dem, der sich mit Bruder Thomas anlegte. Der Pförtner war nachtragend wie ein alter Ziegenbock.
Elias rang mit sich. Nichts schien in diesem Augenblick verlockender, als sich einfach davonzuschleichen.
Wieder ein Klatschen, ein Ächzen, ein qualvolles Stöhnen.
Nein, er durfte Augen und Ohren nicht vor dem Leid seiner Mitmenschen verschließen. Er musste herausfinden, auf welche Kreatur der bösartige Kerl so erbarmungslos eindrosch.
Elias spähte durch die Ritzen der Brettertür. Was er in der Zelle erblickte, ließ ihn schaudern. Der Mönch kniete mit entblößtem Oberkörper vor einem Kruzifix und geißelte sich mit einer dreischwänzigen Peitsche. Unerbittlich ließ er sie auf seinen Rücken sausen, der bereits mit roten Striemen übersät war. Rinnsale dunklen Blutes suchten sich ihren Weg durch wulstige Narben und frische Wunden.
Der Novize löste sich mit Grauen von dem Anblick. Ihm klangen die Worte seines Lehrmönchs in den Ohren, die er gebetsmühlenartig wiederholt hatte: »Irregeleitete sind sie, die Geißler, unterwandern fromme Seelen, flüstern ihnen unheilvolle Lehren ein und vergiften ihren Glauben. Wir müssen die geheimen Bünde der Flagellanten zerschlagen, wo wir nur können.«
Elias durfte es nicht verschweigen. Selbstgeißelung war ein Verstoß gegen die Regeln des Klosters, seit Papst Clemens der Vierte das öffentliche Geißlertum untersagt hatte. Als der Schwarze Tod vor Jahren in Lübeck gewütet hatte, so wurde ihm erzählt, waren mit ihm scharenweise Flagellanten in die Stadt gezogen und hatten in der Öffentlichkeit gebetet und sich die Rücken blutig gepeitscht. Damit wollten sie für die Sünden der Menschheit büßen und die Pest, diese Strafe Gottes, von sich abwenden. Die Bewegung wuchs und immer mehr Männer schlossen sich ihr an. Selbst Brüder der Abtei hatten sich dazu bekannt und sich mit Männern aus dem gemeinen Volk zusammengetan. Gemeinsam mit ihnen waren sie durch die Straßen gezogen, um sich in aller Öffentlichkeit zu geißeln. Trotz der päpstlichen Bulle waren sie nicht zu der Einsicht gelangt, sich von den Irrlehren der Geißelbrüder zu lösen. Sie wurden der Häresie beschuldigt und aus dem Orden verstoßen. Seitdem wurde keine Form der Selbstgeißelung in ihrer Abtei geduldet. Die Einhaltung der benediktinischen Regeln reiche vollkommen, um ein gottgefälliges Leben zu führen, hatte der Abt in einer Predigt betont. Alles andere verführe nur zum Ketzertum. Elias war also verpflichtet, Bruder David von seiner Entdeckung zu erzählen, und der würde entscheiden, ob der Abt des Klosters von dem Vergehen unterrichtet werden musste. Zuvor jedoch wollte Elias zur Bibliothek, zu sehr verlangte es ihn nach Meister Eckharts Schriften.
Die Bibliothek war unverschlossen. Der greise Bruder Anselm, der für gewöhnlich über die wertvollen Bücher und Schriften wachte, redete seit Tagen wirres Zeug und lag mit kalten, blassen Gliedern im Krankensaal. Auch er war am Antoniusfeuer erkrankt, und niemand hatte daran gedacht, die Bibliothekstür zu verriegeln.
Bis zur Decke reichten die dunklen Regale. Elias durchmaß den Saal mit langen Schritten. Er musste sich beeilen, denn gleich würde zum Mittagsmahl geläutet. Sein Fehlen konnte auffallen und sowohl lästige Fragen als auch Bestrafung nach sich ziehen. Ihm blieb also keine Zeit, sich durch die Schriftzüge auf den Buchrü-cken zu lesen. Er musste das Verzeichnis finden, in dem der Bibliothekar jedes Buch und jede Schrift vermerkte.
Nach einigem Suchen entdeckte er es aufgeschlagen auf einem Lesepult. Sein Zeigefinger fuhr die Zeilen entlang. Er blätterte. Auf den ersten Seiten waren die verschiedenen Schriften der Bibel vermerkt, gleich darauf folgten die der Kirchenväter Thomas von Aquin, Ambrosius, Hieronymus und Augustinus, doch sie lockten Elias nicht. Jeden Tag hörte er ihre braven Lehren. Sie boten ihm nichts Neues, nichts Erstaunliches, nichts, das seine innere Welt aus den Angeln hob.
Er gelangte zu Namen, die ihm verlockender schienen, Dietrich von Freiberg und Johannes Tauler, und endlich fand er auch Meister Eckhart verzeichnet, doch war sein Name nur mit Mühe zu erahnen. Es schien, als hätte jemand an dieser Stelle die Tinte vom Pergament gekratzt. Sämtlichen Titeln seiner Predigten und Traktate war dies widerfahren und die Schriftzüge waren kaum noch zu entziffern. War es möglich, dass die Schriften von Meister Eckhart aus der Bibliothek entfernt worden waren? So verfuhr man für gewöhnlich nur mit Theologen, die einem falschen Glauben anhingen, Irrlehren verbreiteten und sich damit der Häresie schuldig machten.
Elias beeilte sich, aus der Bibliothek zu kommen. Er musste seinen Lehrmönch dazu befragen. Schließlich hatte der ihm von diesem Meister Eckhart erzählt.
Nach dem Mittagsmahl wandelten Elias und Bruder David durch den Kreuzgang, der das Gräberfeld des Klosters umschloss. Sein Lehrmönch blieb stehen und verschränkte die Arme.
»Weshalb Meister Eckharts Schriften aus der Bibliothek verbannt worden sind, willst du wissen?« Er ließ seinen Blick über die Grabstellen der Brüder gleiten.
»Nicht alle Lehren und Schriften des Meisters sind als häretisch verurteilt worden.« Der Mönch setzte seinen Weg fort. »Lediglich 28, und davon elf sogar nur als verdächtig. Dennoch ist Eckhart in Verruf geraten und seine Lehren wurden vergessen. Ein Jammer.« Er seufzte tief. »Dabei sind sie bemerkenswert, seine Ansichten. Der Seelengrund eines jeden Menschen, so sagt er, sei nicht erschaffen, sondern seit jeher da gewesen. Er ist wie Gott ungeschaffen und unerschaffbar. Ein faszinierender Gedanke, nicht wahr?«
»Der Seelengrund«, wiederholte Elias.
»Dies ist, was uns alle verbindet, Elias. Wir sind alle eins und vereint mit Gott. Dies gilt, nebenbei bemerkt, auch für einen Bruder Thomas.«
Der Novize hatte ihm kurz zuvor von dem Vergehen erzählt und Bruder David hatte dazu geschwiegen, doch seine Augen hatten sich verdunkelt.
»Ja, auch ein Bruder Thomas«, fuhr der Lehrmönch fort, »selbst wenn uns dies verwundern mag.« Er lächelte. Tatsächlich war der Gedanke für Elias unbegreiflich, wenn er an den Pförtner dachte, an seine turmlange, hagere Gestalt, an den Zinken in seinem Gesicht und die winzigen Augen, die einen jeden mit Missfallen musterten.
Schweigend gingen Bruder David und der Novize nebeneinander her. Vielleicht würde Elias die Lehren von Meister Eckhart verstehen, wenn er sie sich selbst erschließen durfte.
»Du sagtest vorhin«, wandte er sich an seinen Lehrmönch, »dass nicht alle seine Schriften verboten seien. Warum aber findet sich in der Bibliothek kein einziges Traktat, keine Predigt? Warum wurde alles entfernt?«
»Weil die Angst gesiegt hat. Sobald das Urteil ergangen war, hat unser Abt sämtliche Werke verbrennen lassen, ohne einen Unterschied zu machen. Welch eine Verschwendung.«
»So ist alles …« Elias verstummte. Enttäuschung fraß sich in sein Herz.
»Nein, nicht alles.« Bruder David zog ein in Leder gebundenes Buch aus dem Ärmel seiner Kutte. »Ich war damals ein junger Mönch, fasziniert und zutiefst beeindruckt von Meister Eckharts Gedanken. So habe ich vor dem Feuer gerettet, was ich nur konnte. Verbirg das Buch gut.«
»Woher wusstest du, dass ich …«
Bruder David lächelte.
»Ich glaube, dich ein wenig zu kennen, Elias.«
»Danke, Bruder David. Ich werde die Schriften studieren, bis ich sie einigermaßen durchdrungen habe.« Elias nahm das Buch und verbarg es, wie sein Lehrmönch zuvor, in den Aufschlägen des Ärmels. »Ich weiß nicht warum, aber ich muss alles wissen und verstehen, dieses Woher und Wohin unserer Seelen und ebenso das Wofür. Alles hier muss doch einen Sinn haben.« Er spürte Bruder Davids Blick auf sich ruhen.
»Sag, Elias, seit wie vielen Jahren bist du bereits bei uns?«
Der Novize presste die Lippen aufeinander. Er ahnte, wie die nächste Frage lauten würde, doch das war es nicht, worüber er jetzt sprechen wollte. So zuckte er mit einer Schulter und hoffte, damit zu entkommen, doch sein Lehrmönch verzichtete ungern auf Antworten.
»Nun«, fragte er, »wie lange also?«
»Zwölf Jahre, Bruder David.«
»So warst du erst drei, nicht wahr, als du zu uns kamst? Was weißt du über deine Eltern? Warum gaben sie dich so früh zu uns?«
Genau dies war die zweite Frage, die Elias nicht hören wollte. Etwas schmerzte in seiner Brust, das war wie eine Spinne, die sich die meiste Zeit über verborgen hielt. Doch in Augenblicken wie diesen kroch sie hervor und biss.
Die Wahrheit war, er konnte sich nicht mehr erinnern. Es gab nur diesen Schmerz. Er hatte Vater und Mutter niemals wiedergesehen. Ihre Gesichtszüge waren längst verwischt.
Bruder David legte den Arm um Elias‘ Schultern.
»Du möchtest nicht darüber reden?«
»Es ist Vergangenheit, Bruder David. Es kümmert mich nicht, wer meine Eltern sind oder waren oder gewesen sind. Es hat für mich keinen Sinn, Dinge hervorzuzerren, die doch nicht mehr zu ändern sind. Darf ich jetzt gehen?«
Bruder David nickte.
Eines Tages stand Meister van Ehlen wie früher an dem langen Arbeitstisch und knetete gewaltig große Klumpen Teig. Lando kratzte Breireste aus einer Schüssel und fragte: »Geht es Euch nun besser, Vater?«
Als Antwort erhielt er ein Grunzen.
Sehnsüchtig blickte Lando zur Tür. Es zog ihn hinaus auf die Straße, möglichst weit weg von diesem trüben Haus.
»Wo ist Dietrich?« Er stellte das irdene Gefäß zurück zu den anderen Schüsseln.
»Einen Sack Salz holen«, erwiderte Meister van Ehlen knapp.
»Dann laufe ich ihm entgegen und helfe ihm beim Ziehen des Karrens.« Lando wich seinem Blick aus. Der Meister schwieg. Dies nahm Lando als sein Einverständnis. Er riss Mantel und Gugel vom Haken und stürzte aus der Tür.
Draußen wäre er fast über ein Schwein gestolpert, das vor dem Eingang den Schlamm durchwühlte. Lando rannte um zwei Ecken und wich einem Bettler aus, der sich auf eine Krücke stützte und ihm seine schmutzige Hand entgegenhielt. Eine streunende Katze ergriff vor Lando die Flucht. Sie sprang auf eine Mauerkrone und rettete sich in einen Obstgarten. In der nächsten Straße lehnte er sich rücklings an eine Hauswand und schöpfte Atem. Er dachte nicht daran, Dietrich beim Ziehen des Karrens zu helfen. Später würde er dann behaupten, er hätte den Gesellen im Gewirr der Gassen nicht gefunden, so würde er sich schon herauswinden. Er wickelte sich in seinen Mantel und streifte die Gugel über den Kopf. Er war in das Viertel der Kaufleute geraten. Hier waren die Straßen breit und mit runden Steinen gepflastert, sodass man nicht wie in den kleinen Gassen knöcheltief im Schlamm versank. Träger mit breiten Schultern schleppten prall gefüllte Säcke in die Dielen der Häuser. Von dort aus wurden die Waren mit Seilwinden auf die Speicherböden gezogen.
Die Treppengiebel der prächtigen Backsteinhäuser waren mit bunten Wetterfahnen geschmückt. Sie flatterten im Wind, der eiskalt vom Hafen her wehte und einen herben Pechgeruch mit sich brachte. Von hier aus erkannte Lando das Wirrwarr der Segel und Masten gleich hinter der Stadtmauer. Dort lagen sie, die bauchigen Handelsschiffe, prall gefüllt mit Pelzen und Stockfisch aus dem Norden und Weinfässern aus dem Süden. Unwiderstehlich lockten die Geräusche und Gerüche des Hafens. Lando stieß sich von der Hauswand ab und wollte gerade den Weg zur Trave einschlagen, da packte ihn jemand im Nacken.
»Da steckst du, elender Lump!«, brüllte sein Vater und schüttelte ihn. »Dem Gesellen helfen … ha! Den Teufel wolltest du tun. Herumlungern und dem Herrgott die Zeit stehlen, das ist alles, was du kannst.«
»Aber ich …« Weiter kam er nicht, sein Vater drosch auf ihn ein. Lando ging zu Boden und hielt sich die Arme vor das Gesicht. Der Schmerz bei jedem Schlag trieb ihm die Tränen in die Augen. Wenn es doch nur aufhören würde.
Endlich hatte sich der Bäckermeister ausgetobt. Schnaubend vor Wut zog Lando auf die Füße und schubste ihn vor sich her, der Backstube entgegen.
»Ein Nichtsnutz bist du!«, tobte er. »Ein Lügenbold. Aber warte nur. Ich werde dir das Gehorchen schon beibringen.« Er stieß ihn durch die offen stehende Bohlentür in die Diele. Lando versuchte sich zu fangen, stolperte jedoch über einen Hocker und fiel Dietrich in die Arme.
»Hollaho, hast du es aber eilig, an die Arbeit zu kommen.« Der Geselle grinste und stellte ihn auf die Füße.
Mit der Zeit lernte Lando es zu schätzen, auf dem Bäckermarkt zu stehen und Brot feilzubieten. Die Kälte war leichter zu ertragen als die groben Worte des Bäckermeisters und die Prügel, die Lando immer häufiger einstecken musste. Überdies kam jeden Morgen der Bernsteindreher Meister Friedolf an Landos Stand und wechselte ein paar Worte mit ihm. Er war der einzige Mensch, den sein armseliges Leben zu kümmern schien.
An einem Morgen im März rieb Meister Friedolf sich die rot gefrorenen Hände und sagte statt eines Grußes: »Gleich ist er da, der Krähenschwarm!«
»Welchen Krähenschwarm meint Ihr?« Verwundert blickte Lando in die Luft. Hoch über sich sah er die Spitzen der Zwillingstürme von St. Marien. Schwarze Vögel aber konnte er nicht entdecken, was gut war, denn Krähen verhießen nur lauter Unglück.
»Nicht dort«, sagte Meister Friedolf ungeduldig »Dort!« Er wies auf eine Gruppe von fünf Mönchen, die sich um Jakob Klambecks Stand drängten. In ihren schwarzen Habiten glichen sie wahrhaftig Krähen.
Lando beobachtete, wie die Geistlichen nach den Broten auf der Auslage griffen, sie drehten, wendeten und berochen.
»Was machen die da?«, fragte Lando, ohne seinen Blick von ihnen zu wenden.
»Sie begutachten«, erklärte Meister Friedolf.
»Warum tun sie das?« Lando runzelte die Stirn. »Ich denke, das Amt überwacht die Güte des Backwerks. Was haben die Klöster damit zu schaffen?«