Lani und das Geheimnis der Zeitgeister - Patricia Morganti - E-Book

Lani und das Geheimnis der Zeitgeister E-Book

Patricia Morganti

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Beschreibung

Seit dem Tod ihrer Mutter lebt die zehnjährige Lani allein mit ihrem Vater Zhaki. Die beiden haben sich mit dem Schicksal arrangiert - Lani hat die Leere, die der Verlust ihrer Mutter hinterlassen hat, mit doppelten und dreifachen Portionen Zhaki gefüllt. Alles könnte gut sein, wäre da nicht Lanis Angst, ihren Vater auch noch zu verlieren. Drohumila, eine alte Stoffpuppe ihrer Mutter und eine halbvergessene Geschichte aus der frühen Kindheit, führen Lani nach Lilâha: Wie Lani die Insel betritt, hat sie die Erinnerungen an ihre Vergangenheit vergessen - und die Zukunft erscheint ihr vollkommen bedeutungslos. Hier gibt es gibt nur das Jetzt. In diesem Zustand der Sorglosigkeit schliesst Lani Freundschaft mit dem Jungen Dejan. Sie leben in den Tag hinein, glücklich und gedankenlos. Bis Lanis Puppe, die sie bei der Ankunft auf der Insel verloren hat, wieder auftaucht. Und mit ihr alle Erinnerungen. Vorbei ist die Idylle. Und plötzlich kann Lani Dejan nicht mehr trauen. Verzweifelt versucht sie herauszufinden, wie sie wieder nach Hause kommt. Gleichzeitig lässt sie das Gefühl nicht los, dass dies alles etwas mit ihrer Mutter zu tun und sie noch eine Aufgabe zu erfüllen hat. Ohne eine Vorstellung davon zu haben, was sie erwartet, folgt Lani schliesslich dem Drang ihres Herzens. Bis in den Schattenwald. Doch von da, so flüstern die Geschöpfe Lilâhas, gibt es kein Zurück.

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EPUB
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Seitenzahl: 289

Veröffentlichungsjahr: 2017

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PATRICIAMORGANTI

Hier müsste das FSC- oder Recyclinglogo stehen. Zu meinem grossen  Bedauern bietet tredition (noch) keinen nachhaltigen Buchdruck an. Um die Buchherstellung trotzdem verantworten zu können, investiere ich einen Teil des Erlöses in das Wiederaufforsten von Bäumen durch greenbeltmovement.org

© 2017 Patricia MorgantiIllustration Cover: Elisa FrauenfelderLayout Cover: Hanna WilliamsonSkizzen: Tina KollerLayout Inhalt: Philip IezziLektorat: Beate Rothmaier

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Paperback:

ISBN 978-3-7439-0625-9

Hardcover:

ISBN 978-3-7439-0626-6

e-Book:

ISBN 978-3-7439-0627-3

Das Werk, einschliesslich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für meinen Papi, der als Junge davon träumte, Schriftsteller zu werden

Zhaki

1

Das Sirren war ganz leise, darauf folgte ein Geräusch, wie wenn ein Insekt gegen eine Scheibe prallt. Dann war es still. Lani ging zum Fenster und betrachtete das leblose, hummelähnliche Wesen auf dem Fensterbrett. Es tat ihr leid – eben noch am Leben und jetzt tot. Sorgfältig klaubte sie das Insekt vom Sims und ging in die Küche.

„Baba, hier. Es ist gegen die Scheibe geflogen…“ Lani hielt ihrem Vater das tote Insekt vors Gesicht. Er liess es sich auf die flache Hand legen, betrachtete es und ging dann zu seinem Arbeitstisch. Er kippte das Insekt unter das Mikroskop, welches dort stand, knipste das Licht an, drehte an einem Rädchen, schaute durch die Okulare und drehte noch einmal.

„Ein Skabiosenschwärmer“, sagte Zhaki, stand auf und machte seiner Tochter Platz. Lani schob sich die Haare hinter die Ohren und betrachtete ihren Fund durch das Mikroskop. Zoomte und schaute. Bis ihr das Tierchen so gross erschien wie eine Katze. Oder wie ein Pferd.Ein Haustier mit Pelz und Flügeln und fünf Beinen…

„Ich habe dir Schachteln ins Zimmer gestellt. Falls du anfangen möchtest, die Sachen, die du nicht mehr brauchst, einzupacken.“ Lanis Stimmung verschlechterte sich schlagartig. Warum musste ihr Vater sie ständig daran erinnern, dass sie nur noch einen Monat hier wohnen würden? Zhaki legte seiner Tochter die Hände auf dieSchultern, aber Lani schlüpfte unter ihnen weg und rannte ins Haus, die Treppe hoch in ihr Zimmer. Sie kickte einen Umzugskarton über den Boden und liess sich bäuchlings aufs Bett fallen. Auf dem orangefarbenen Blatt unter ihrem Schreibtisch lag eine dünne Staubschicht. Lani wandte ihren Blick ab.

Sie fand es immer noch ungerecht. Würde ihre Mutter noch leben, dürften sie hierbleiben. Laut Vorschriften mussten hier mindestens drei Personen wohnen. Die Verwaltung war ihnen schon entgegengekommen, wie Zhaki bei ihren endlosen Diskussionen stets betonte. Sie hätten schon vor drei Jahren in eine kleinere Wohnung umziehen müssen. Seit ein paar Wochen ging Lani nun schon in die neue Schule. Sie vermisste ihre Freundinnen. Missmutig stand Lani auf, nahm ein paar Bücher aus dem Gestell und liess sie in einen Karton fallen. Als das unterste Regal leer war, merkte sie, dass die Schachtel bereits jetzt viel zu schwer war. Sie nahm einen Teil der Bücher wieder heraus und warf einige Plüschtiere hinein. Dann schob sie die Schachtel an die Wand und liess sich auf den Boden sinken. Sie nahm einen Mangacomic, blätterte ihn lustlos durch, legte ihn wieder weg und starrte auf ihre Füsse. Seit sie den Umzugstermin hatten, war ihr Leben plötzlich voller Sorgen.

„Wir könnten dein neues Zimmer grün streichen. Oder blau.“ Lani zuckte zusammen und drehte den Kopf. Zhaki stand im Türrahmen.Mission Aufheitern,dachte Lani. So nannte sie im Stillen Zhakis Versuche, stets alles inspositive Licht rücken zu wollen. Sie widmete ihre Aufmerksamkeit dem Bleistift, der vor ihr auf dem Boden lag. „Wir werden uns an die neue Wohnung gewöhnen. Der Wald ist dann sogar noch näher und du wirst den gleichen Schulweg haben wie deine neuen Klassenkameraden.“Alles wird gut,äffte Lani in Gedanken Zhakis Lieblingsspruch nach. Ihre Finger kratzten am roten Bleistiftlack. „Alles wird gut, auch wenn du mir das nicht glauben magst“, sagte Zhaki prompt. Der Lack fiel in kleinen Flocken auf den Teppich. Aus dem Augenwinkel sah Lani, wie Zhaki zögerte, als sei er unschlüssig, ob er ins Zimmer kommen sollte oder nicht.

„Ich mach uns was zu essen“, sagte er schliesslich und machte kehrt. Lani atmete aus. Sie warf den Bleistift aufs Bett und stand auf. Sie wusste, dass es Zhaki genauso schwerfiel von hier weg zu ziehen. Und sie wusste auch, dass er recht hatte. Was den Umzug betraf. Aber das war nicht der wirkliche Grund für Lanis Kummer.

2

Die letzte Schulstunde schlich träge dahin. Lani hörte nicht, was die Lehrerin sagte, hörte nur das leise Klicken des Zeigers auf der Uhr ihrer Banknachbarin, der gerade wieder einen Sprung auf die Zwölf zu machte. Das war der Vorteil, wenn man ganz hinten sass. Man konnte seine Ohren je nach Bedarf auf Nahoder Ferngeräusche einstellen.

„Kommen deine Eltern auch?“

„Was?“ Lani drehte den Kopf zu ihrer Banknachbarin.

„Ob deine Eltern auch kommen“, wiederholte Alessia flüsternd ihre Frage und als Lani, anstatt zu antworten, sie nur verwirrt anschaute, fügte sie hinzu: „An den Elternbesuchstag.“ Lanis Magen zog sich zusammen.

„Wann ist der?“

„Morgen. Wir haben doch vor zwei Wochen ein Blatt bekommen.“ Lani erinnerte sich an das orange Blatt.Liebe Eltern, wir laden Sie herzlich usw.Sie hätte das Blatt zu Hause abgeben müssen. Aber sie hatte es nicht abgegeben. Sie sah es deutlich vor sich – wie es unter den Schreibtisch segelte. Sie hatte es nicht daran gehindert. Lani holte tief Luft und versuchte, den Knoten in ihrem Bauch auszuatmen.

„Bei mir kommt meine Mutter und vielleicht noch Thommy, mein Bruder, aber der ist sich nicht sicher, ob er freiwillig ein Schulhaus betreten soll“, redete Alessia weiter und kicherte.

„Ich habe gar nichts erzählt zu Hause“, sagte Lani trotzig. Alessia blickte sie aus grossen Augen an. Sie sah aus wie eine Elfe oder sonst ein Wesen, das niemandem auch nurein Haar krümmen könnte. Plötzlich hatte Lani den übermächtigen Wunsch, diesem Mädchen ihre Sorgen anzuvertrauen. Da schrillte die Schulglocke. Stühle scharrten über den Boden, die letzten Worte der Lehrerin gingen im einsetzenden Geschnatter der Schüler unter. Lani nahm ihren Rucksack, stopfte ihr Mäppchen hinein und schob den Bleistift, den sie sich von Alessia geliehen hatte, zu ihr rüber.

„Warum hast du nichts erzählt?“ In Alessias Stimme lag ehrliches Interesse, doch Lani kam sich mit einem Mal nur noch lächerlich vor.

„Ich finde Elternbesuchstage nun mal so überflüssig wie Schleimschnecken in den Schuhen!“ Mit einer abrupten Bewegung zog Lani ihren Rucksack über die Tischkante, drehte sich um, bugsierte sich so rasch wie möglich aus dem Schulzimmer, rannte über die Steinfliesen im Flur und durch die eisenbeschlagene Tür ins Freie.

Lanis Hals war wie zugeschnürt. Wie hatte sie auch nur daran denken können, Alessia zu erklären, warum sie den Zettel ihrem Vater nicht gezeigt hatte? An ihrer alten Schule hatten die anderen Kinder Zhaki gekannt, seit dem Kindergarten oder noch länger. Lani hatte sich gar nie Gedanken darüber gemacht. Aber jetzt – Lani fürchtete die Frage, die unweigerlich kommen würde: Irgendjemand, da war sie sich sicher, würde fragen, ob dieser Mann ihr Grossvater sei. Und dann würde sie womöglich zu heulen beginnen, denn mit dieser Frage wäre ihr wundester Punkt ans Licht gebracht: Dass sie einen so alten Vater hatte. So alt, dass er womöglich bald sterben würde. Lani kämpftegegen die aufsteigenden Tränen, während sie die Strasse hinunterrannte und in den Kiesweg einbog, der zu ihrem Haus führte. Sie vergass, sich unter den Honigduftblumen zu ducken, sodass ein Regen aus feinen, weissen Blütenblättern auf sie herab rieselte. Ohne Zhaki, der in der Küche hantierte, hallo zu sagen, rannte sie in ihr Zimmer, die Tür lauter als beabsichtigt hinter sich zuschlagend, warf sie sich auf ihr Bett und weinte ins Kissen.

Nach dem Tod ihrer Mutter vor sechs Jahren hatte Lani das plötzliche Loch in ihrem Leben mit doppelten und dreifachen Portionen Zhaki gestopft. Sie hatte nie bei Freundinnen übernachten wollen, weil sie glaubte, ohne Zhaki in der Nähe nicht einschlafen zu können. Wann immer sie mit ihm unterwegs war, hatte sie, nach einem verstohlenen Blick, ob niemand es sah, ihre Hand in seine geschoben. Auch dann noch, als sie schon zu alt dafür war, wie sie selber fand. Nie hatte sie gefürchtet, dass auch Zhaki etwas zustossen könnte, hatte in kindlichem Vertrauen darauf gebaut, dass das, was sie nicht aushalten könnte, nicht passieren würde. Aber irgendwann in den letzten Monaten hatte sie dieses Vertrauen verloren. Und seit vor Kurzem der Grossvater ihrer Freundin, der gleich alt gewesen war wie Zhaki, gestorben war, hockte diese Angst in Lanis Herzen: Dass auch ihr Baba bald sterben könnte. Der Gedanke, dass mit dem Umzug das Schicksal herausgefordert werden würde, war zwar absurd, aber hartnäckig wie eine Klette.

Mit brummendem Kopf trat Lani vor den Spiegel im Badezimmer und schaute in ihre verweinten Augen.

Blinzelte. Dann drückte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht, trocknete sich ab und ging langsam die Treppe hinunter. Zhaki sass am Tisch und war mit dem Mikroskop beschäftigt. Als er Lani kommen hörte, blickte er auf.

„Das Essen steht im Ofen“, sagte er und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Insekt, das auf dem Glas unter dem Objektiv lag. Lani ging in die Küche, öffnete die Ofentür und wollte die Schüssel herausnehmen, zog ihre Hand aber reflexartig zurück, „autsch!“ Sie bedachte den Ofen mit einem vorwurfsvollen Blick.

„Pass auf, die Schüssel ist heiss!“, rief Zhaki.

„Danke für die Information“, grummelte Lani und hielt die Hand unters kalte Wasser. Dann angelte sie nach den Topflappen, holte die Schüssel aus dem Ofen und stellte sie auf den Herd. Als sie den Deckel öffnete, hob sich ihre Stimmung: Der Duft von Zhakis Speziallasagne dampfte ihr ins Gesicht und verbannte ihre Sorgen für eine Weile in den hintersten Winkel der Küche.

3

„Lust auf einen Spaziergang heute Nachmittag?“, fragte Zhaki als Lani ihren Teller in die Spüle stellte. Obwohl Lani vorgehabt hatte, den Nachmittag alleine zu verbringen, nickte sie fast automatisch. Sie liebte die Spaziergänge mit ihrem Vater. Früher, wenn sie mit Zhaki losgezogen war, hatte sie sich jeweils vorgestellt, sie wären Räuber, die im tiefen Wald hausten oder wilde Piraten auf der Suche nach einem Schatz. Das war zwar vorbei, die Ausflüge deshalb aber nicht weniger schön.

Die Nachmittagssonne stand an einem wolkenlosen Himmel, als Lani und Zhaki das Haus verliessen. In der Nacht hatte es geregnet und die Luft roch nach feuchter Erde. Zhaki blieb unter den ersten Bäumen des Waldes stehen, schloss die Augen und sog die Luft tief in seine Lungen.

„Sauerklee!“, sagte er mit übertrieben feierlicher Stimme. Lani blickte sich um und rannte los: „Hier!“, rief sie und hatte auch schon begonnen, sich an den hellen, grünsauren Blättern gütlich zu tun. Zhaki bückte sich ebenfalls und ass ein paar Blätter.

„Hast du eigentlich noch einen Jokertag zugut in der Schule?“, fragte er.

„Ich glaube schon“, antwortete Lani.

„Ich dachte, wir könnten unseren kleinen Ausflug etwas verlängern. Irgendetwas besonders Wichtiges morgen in der Schule?“

„Nein“, sagte Lani rasch, „nur Deutsch, Mathe – aber dahab ich im Moment keine Probleme, Turnen und…“, Lani riss ein Kleeblatt aus der Erde. Aber anstatt es zu essen warf sie es auf den Boden. „Morgen ist Besuchsmorgen.“ Jetzt war es raus. Zhaki schaute seine Tochter an.

„Das hast du mir noch gar nicht gesagt. Ihr habt doch sicher eine Einladung…?“

„Ich hab sie verloren“, erwiderte Lani, bevor Zhaki den Satz beenden konnte. „Und dann hab ich es vergessen.“ Lani hockte noch immer im Sauerklee und starrte auf ihre Hände. Zhaki setzte sich auf einen mit Moos überwachsenen Baumstamm. Das Klopfen eines Spechts war zu hören und das leise Rascheln von Laub, wenn der Wind durch die Bäume strich. Nach einer Weile sagte Zhaki: „Ich mach dir einen Vorschlag: du sagst mir, weshalb dieser Besuchsmorgen so schlimm für dich ist. Das ‚Verloren‘ und ‚Vergessen‘ nehme ich dir nämlich nicht ab. Und wenn es wirklich so schlimm ist, nehmen wir den Jokertag erst recht für morgen. Einverstanden?“ Lani atmete tief ein und nickte. Sie drehte einen Grashalm zwischen den Fingern, zerrupfte ihn und liess die Grasschnipsel durch ihre Finger rieseln.

„In der Schule werden alle denken, dass du mein Grossvater bist“, sagte Lani ohne den Blick zu heben. Zhaki hob die Augenbrauen.

„Das macht dir solche Sorgen?“ Er klopfte auf den Platz neben sich. Lani setzte sich zu ihm und versuchte, den Kloss in ihrem Hals herunterzuschlucken.

„Nein. Es ist nicht wegen der anderen. Es ist…. vor Kurzem ist Tanjas Grossvater gestorben. Er war…“ – Lani musste tief Luft holen um weitersprechen zu können – „er wargleich alt wie du.“ Die letzten Worte wurden durch ein Schluchzen erstickt. Zhaki zog Lani an sich. Sie vergrub das Gesicht in der Wolle seines Pullovers, atmete seinen Duft ein, während der alte Mann seiner Tochter sanft über den Rücken strich.

„Muss Pipi machen“, murmelte Lani nach einer Weile und stolperte hinter ein Gebüsch. Zwischen den Bäumen funkelten die Sonnenstrahlen. Eine Spinne versuchte, das goldene Leuchten in ihr Netz zu weben. Als Lani zurückkam, hatte Zhaki sein Telefon in den Händen und tippte eine Nachricht an Lanis Lehrerin.

„Es gehört sich zwar nicht, einen Jokertag so kurzfristig anzumelden“, murmelte er, „aber ab und zu gibt es wichtigere Dinge als Anstand.“ Er schickte die Nachricht ab und liess das Gerät wieder in seinem Rucksack verschwinden. Normalerweise freute sich Lani, wenn ihr Vater solche Pläne schmiedete – doch jetzt quälte sie der Gedanke, dass dies vielleicht der letzte Ausflug mit Zhaki sein könnte.Hör auf!,fuhr sie sich selber an. Ihr Vater war kerngesund und er konnte noch dreissig Jahre leben. „Woran ist Tanjas Grossvater denn gestorben?“, fragte Zhaki. Lani schluckte und bemühte sich um eine feste Stimme: „Er hatte einen Herzinfarkt.“

„Hmm…“, machte Zhaki. „Ich war zwanzig, als ich meine Mutter verloren habe. Und einundsiebzig, als mein Vater vorletztes Jahr starb… und Mama wurde uns vor sechs Jahren genommen. Der Tod kann uns ganz schön zum Narren halten.“

Sie gingen weiter. Der Weg verlor sich zwischen den Bäumen, tauchte unverhofft wieder auf und führte zu einer Wiese mit kniehohen Gräsern und wilden Blumen. Zhaki lehnte seinen Rucksack an einen Baum und sah sich um. Dann heftete er seinen Blick auf den Boden und ging in die Hocke.

„Was ist?“, fragte Lani. Zhaki winkte sie heran. Unzählige Heuschrecken hüpften herum. Zwischen den Halmen hatten dicke, grünlichbraune Spinnen ihre Netze gespannt. Tödliche Fallen – so viele, dass die Wahrscheinlichkeit, als Heuschrecke in ein Netz zu geraten, viel grösser war als die, nicht hineinzugeraten. Lani schauderte. Sie schaute einer Heuschrecke zu, die – scheinbar unbekümmert und ziellos – von einem Halm zum nächsten sprang. Dabei verfehlte sie mehrere Netze nur um Haaresbreite. Fasziniert beobachtete Lani die Heuschrecken und die lauernden Spinnen; gleichzeitig beschlich sie beim Anblick dieses tödlichen Szenarios ein Gefühl der Ungeheuerlichkeit. Sie stellte sich vor, sie wäre ein Insekt, geriete in ein klebriges Netz, sähe ein riesiges, haariges, achtbeiniges Viech auf sich zu krabbeln und würde dann bei lebendigem Leib eingewickelt und ausgesogen werden. Den Heuschrecken schienen die Netze keinen Eindruck zu machen – solange sie nicht darin zappelten.

„Die Heuschrecken scheinen keine Angst zu haben“, sagte Lani ohne den Kopf zu heben. Da! Lani zuckte zusammen, als eine Heuschrecke geradewegs in ein Netz sprang. Sie zappelte, hielt still, zappelte erneut. Aus dem Zappeln wurde ein gelegentliches Zucken, das bald ganz aufhörte. Die Spinne kam hinter einer Blume hervor. Ohne Eilekrabbelte sie den zarten Fäden entlang auf das erschöpfte Insekt zu.

„Glaubst du, die Heuschrecke hat Angst?“, fragte Lani. „Ihr Instinkt sagt ihr vermutlich, dass sie in Gefahr ist. Sie klebt fest und kann nicht mehr hüpfen. Aber ob sie Angst hat?“ Zhaki hielt inne, von dem Geschehen genauso fasziniert wie Lani.

„Ich weiss es nicht, Lani. Aber es scheint mir eher so, dass sie sich aus dem Netz befreien will, weil sie wieder hüpfen möchte und nicht so sehr, um der Spinne zu entrinnen, denn dazu müsste sie ja um deren Gefährlichkeit wissen.“ Die Spinne war inzwischen dabei, das Insekt in weissliche Fäden einzuwickeln.

„Vielleicht hatte die Heuschrecke keine Angst, weil sie gar nicht wusste, dass sie sterben könnte?“ Lani blickte zu Zhaki. „Baba, gibt es die Angst nur dann, wenn man weiss, dass es den Tod gibt und die Zukunft und dass in der Zukunft irgendwann der Tod kommt?“ Lani hatte schnell gesprochen. Zhaki runzelte die Stirn.

„Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt, meine liebe Lani. Ich denke, die Angst steht tatsächlich immer im Zusammenhang mit der Zukunft. Wir haben vor etwas Angst, das geschehen könnte oder geschehen wird – in der Zukunft. Selbst wenn diese Zukunft nur eine Sekunde weit weg liegt – es ist die Zukunft. Wenn eintritt, wovor wir Angst hatten, kann das zwar sehr schlimm sein, aber die Angst davor wird verschwunden sein. Wüssten wir nicht um die Zukunft, hätten wir auch keine Angst.“ Nach einer Pause fügte Zhaki hinzu: „Die Hoffnung gäbe es wohl auch nicht, denn sie ist das Gegenstück zur Angst und betrifftebenso wie diese die Zukunft.“ Zhaki blickte seine Tochter an; „Lani, die Zukunft bringt nicht nur den Tod. Da ist noch ganz viel Leben. Und wenn du dir so viele Sorgen machst, verpasst du das Leben. Ausserdem – ich denke, dass wir Menschen, nein, dass überhaupt kein Lebewesen einen Grund hat, den Tod zu fürchten.“Den eigenen vielleicht nicht,dachte Lani.

„Und irgendwie geht es immer weiter“, sagte Zhaki, als hätte Lani ihre Gedanken ausgesprochen. „Selbst wenn man glaubt, nie wieder glücklich sein zu können, so kann man es doch wieder werden.“

4

Lani blinzelte in die Sonne und schloss die Augen. Schwarze und orange Punkte tanzten hinter ihren Lidern. Sie dachte an die Schule und den morgigen Besuchstag. Und plötzlich konnte sie sich einfach freuen, hier zu sein. Sie wusste, dass in Zhakis Rucksack zwei Schlafsäcke, eine Isolierdecke, der Hobokocher und irgendwelche zusammengewürfelten Vorräte aus der Küche waren, aus welchen Zhaki später ein Nachtessen zaubern würde. Weder sie noch ihr Vater würden morgen in der Schule sein. Sondern hier, im Wald, wo es keine Rolle spielte was andere dachten oder fragten und wo ihre Sorgen allmählich ihre Bedrohlichkeit verloren.

„Baba?“ Lani schaute sich um und sah ihren Vater neben dem kleinen Pfad auf einem Baumstrunk sitzen. Er stand auf, als Lani auf ihn zukam, kramte in seiner Jackentasche, zog etwas in Papier gewickeltes heraus und streckte es Lani entgegen. Sie nahm das Päckchen und schnupperte daran. Der Duft von frisch gebackenem Brot stieg ihr in die Nase. Sie nahm das Papier ab und betrachtete das Brötchen in ihrer Hand: „Feigen… mmh – und Cashewnüsse. Und…“, Lani runzelte die Stirn, hielt das Brötchen erneut an ihre Nase – „Colafrösche? Baba, hast du Colafrösche in dieses Brötchen getan?!“

„Probier mal!“, meinte Zhaki fröhlich. „Wenn es schmeckt, backe ich eine ganze Ladung für den nächsten Schulbesuch!“

„Ha ha“, machte Lani, doch die Heiterkeit in Zhakis Augenund das Zucken um seine Mundwinkel machten Lani ganz froh und sie biss ins Brötchen.

„Wu twägst jegliche Veantwotung fü män Wohlegehn!“ Zhaki grinste wie ein Schulbub, drehte sich um und schlug einen schmalen Pfad ein, den Lani nicht kannte und der tiefer in den Wald hineinführte.

„He!“, rief Lani, als sie an einer Ranke hängen blieb.

„Das sind Brombeeren“, sagte Zhaki.

„Ach. Da wäre ich nie draufgekommen“, entgegnete Lani während sie ihre Jacke aus den Dornen befreite.

„Wir haben es gleich geschafft.“ Eine weitere Dornenranke kratzte über Lanis Gesicht und zog an ihren Haaren, doch sie achtete nicht mehr darauf. Was vor ihr lag, war viel schöner, als dass die aufgeritzte Haut schmerzte: Eine in das warme Gold der Abendsonne getauchte Lichtung breitete sich vor ihnen aus. Birken wuchsen rund um die Lichtung. Zwischen den leuchtend weissen Stämmen glitzerte es, als ob ein Riese mit Kristallkonfettis gespielt und sie liegen gelassen hätte. Lani konnte ihren Blick nicht davon lassen. Erst jetzt sah sie, dass es Wasser war, das glitzerte. Die Wiese fiel leicht ab und ging sachte in einen Teich über. Oder war es ein See? Viele der Birken ragten aus dem Wasser. Als ob sie überflutet worden wären. Und doch schien das Wasser hierher zu gehören. Während Lani mit Staunen beschäftigt war, breitete Zhaki die Decke aus, nahm eine kleine Pfanne, ein Messer, Zwiebeln, Tomaten und eine Aubergine aus seinem Rucksack.

„Kannst du bitte das Feuer machen?“, bat er Lani und begann, alles klein zu hacken.

Lani löste sich vom Anblick und sammelte kleine Ästchen zusammen, schichtete sie in dem kleinen Kocher auf und entzündete die Zeitung, die sie darunter gestopft hatte. Bald züngelten die Flämmchen bis über die Metallränder hinaus und eine halbe Stunde später stand eine Pfanne voller dampfender Spaghetti auf dem Waldboden, daneben ein kleiner Topf mit Tomatensauce.

„Sauce für die Waldelfe?“ Lani nickte und Zhaki vermischte Sauce und Spaghetti. „So, hau rein.“

„He, das darf nur Dumbledore sagen!“, protestierte Lani und stopfte sich eine Riesenladung Spaghetti in den Mund.

Nach dem Essen nahm Lani das Geschirr und ging zum See. Sie wollte nach sandigem Kies graben, um damit die Pfanne zu schrubben. Doch in dem Augenblick, da sie ihre Finger ins Wasser tauchte, zuckte sie heftig zusammen. Sie riss ihre Hände zurück und sprang auf die Beine. Was war das? Als ob sie in Brennnesseln gelangt hätte.Im Wasser?Mit pochendem Herzen starrte Lani auf das Wasser. Es kräuselte sich leicht und Ringe breiteten sich aus. Sie blickte auf ihre Hände: Kleine Wasserperlen schimmerten auf der Haut. Sie konnte keinerlei Verletzung oder sonst etwas Aussergewöhnliches feststellen.Vielleicht war es ein Fisch…aber dann hätte sie zumindest eine Bewegung wahrnehmen müssen. Lani ging erneut in die Knie, streckte ihre Hände aus und hielt sie dicht über die Wasseroberfläche. Dann, ganz langsam, tauchte sie eine Fingerkuppe ein. Augenblicklich war das Brennen wieder da. Lani widerstand dem Impuls, den Finger sofort wieder wegzuziehen. Nein, es war kein Brennen, eher einKribbeln. Und weder eine Pflanze noch ein Fisch berührten Lanis Haut. Sie schloss die Augen, holte tief Luft und tauchte alle zehn Finger gleichzeitig ein. Obwohl sie jetzt auf das Kribbeln gefasst war, jagte ein Schauer über ihren Rücken, als es durch ihre Finger kroch, als würden diese ein im Wasser lauerndes Nadeltierchen aufsaugen, dann durch Hände und Arme zur Mitte ihres Körpers und von da in jede Faser bis in Zehen- und Haarspitzen. Es war nicht unangenehm, und doch kostete es Lani alle Kraft, die Hände im Wasser zu lassen. Sie atmete aus und verharrte für Sekunden in dieser Position, erstarrt zwischen Panik und Faszination.

„Lass das Geschirr doch bis Morgen liegen, du siehst ja gar nichts mehr!“ Zhakis Stimme riss Lani aus dem Bann. Sie zog ihre Hände zurück, sammelte Pfanne und Besteck ein und ging zu ihrem Vater zurück. Schweigend nahm sie den Becher Tee, den er ihr gab.

„Mama hat mir diesen Platz gezeigt“, sagte Zhaki. Er warf Lani einen Seitenblick zu, als ob er darauf warten würde, dass Lani protestieren, sich abwenden oder rasch das Thema wechseln würde. Früher hatte er ihr oft von Mama erzählt, davon, wie Lani als kleines Kind beim Haare waschen gekreischt hatte und wie Mama dann eine Schaumpiratin aus ihr gemacht hatte. Oder von gemeinsamen Ausflügen und von Omeletten, die sie zusammen gebacken hatten. Manchmal hatte er auch von den immer häufiger werdenden Spitalbesuchen erzählt, die sich, als Lani drei war, in ihre Leben geschlichen hatten. Manchmal, wenn Zhaki die Spitalaufenthalte und MamasKrankheit in seinen Geschichten weggelassen hatte, hatte Lani gesagt: ‚Du hast den Schluss vergessen, Baba.‘ Und Zhaki hatte dann immer geantwortet: ‚Wieso Schluss? Es geht doch weiter, meine kleine Luftschlange. Und Mama ist immer bei uns.‘ Oft hatte Lani sich mit den Worten ‚erzählst du mir von früher?‘ in Zhakis Arme gekuschelt. Seit einiger Zeit jedoch wollte Lani keine Geschichten mehr hören. Sie hätte selber nicht genau sagen können, warum. Vielleicht hatte es mit ihrer Angst zu tun – sie wollte nicht daran erinnert werden, dass ein Mensch, den man gerne hat, plötzlich sterben kann. Vielleicht hatte es aber einfach damit zu tun, dass sie kein kleines Mädchen mehr war.

Ein Käuzchen rief irgendwo und plötzlich wünschte Lani sich, Zhaki möge mehr erzählen. Anstatt ihn darum zu bitten, starrte sie in ihren Tee und schwieg. Zhaki blickte seine Tochter an. Dann sprach er leise weiter: „Wir kannten uns noch kaum, als sie mich das erste Mal hierher führte. Es war Frühling, die Luft noch kühl und das Gras feucht von der vergangenen Nacht. Deine Mama ging direkt zum Wasser.“ Lani zuckte kaum merklich zusammen. Das Wasser – hatten ihre Eltern, hatte ihre Mama hier gebadet? Nervös wartete sie auf Zhakis nächsten Worte.

„Deine Mama ist eine halbe Ewigkeit einfach nur dagestanden und hat aufs Wasser geschaut.“ Zhaki blickte durch die Dunkelheit auf den See, als wolle er sehen, was seine Frau damals gesehen hatte. „Ich habe mich neben sie gestellt und auch geschaut. Es war schön aber nach ein paar Minuten bin ich mir blöd vorgekommen dabei.“

„Habt ihr gebadet?“, fragte Lani und verschüttete einwenig Tee. Ihr Vater lachte;

„Mama hat bei jeder Gelegenheit gebadet!“

Lani stellte ihren Becher auf den Boden und steckte die Hände unter die Achselhöhlen, als könnte sie so ihre Nervosität abklemmen.

„Sie zog sich aus – sie sah wunderschön aus – und fragte mich fröhlich, ob ich auch Lust auf ein Bad hätte.“ Alle Sinne Lanis waren auf das ausgerichtet, was sie gleich zu hören bekommen würde.

„Aber du kennst mich ja. Nicht, wenn das Wasser weniger als einunddreissig Grad warm ist und nicht, wenn es so nass ist. Mama aber ging hinein, schwamm ein paar Züge und kam tropfnass und noch schöner wieder heraus.“ Lani wartete gespannt. Doch Zhaki sagte nichts mehr – nichts davon, dass Mama erschrocken aus dem Wasser gesprungen oder irgendetwas Eigenartiges darin gefunden hätte. Lani spürte, wie die Anspannung von ihrem Körper wich und einem eigenartigen Gefühl Platz machte, halb Enttäuschung, halb Erleichterung. Doch fast im gleichen Augenblick kam ihr ein neuer Gedanke, welcher die Kraft hatte, die Enttäuschung hinwegzufegen:Mama hatte am Tag gebadet; als ich meine Hände ins Wasser hielt, war es Nacht!Lani bemühte sich, die nächste Frage belanglos klingen zu lassen: „Habt ihr, ich meine hat Mama… oder ihr beide – habt ihr auch einmal… in der Nacht hier gebadet?“ Zhaki nickte langsam.

„Ja. Stell dir vor, sogar dein alter Vater…“

Lani liess ihn nicht ausreden, „hat es, ich meine war das Wasser…“, sie suchte nach den richtigen Worten und stiess mit einer fahrigen Bewegung ihren Becher um. Eine kleineTeepfütze breitete sich aus und sickerte rasch in den Waldboden. „War es…“ – auf einmal kam Lani sich lächerlich vor. „Kalt?“, murmelte sie schliesslich in Richtung Boden. Zhaki runzelte die Stirn. Lani war plötzlich nur noch müde. Sie legte sich hin, die Arme um den Körper geschlungen. Zhaki breitet den zu einer Decke geöffneten Schlafsack über sie aus.

„Es war eine helle Nacht damals“, sprach er weiter, „der Mond war fast voll. Es war sehr warm und Mama gelang es, mich zu überreden, mit ins Wasser zu kommen. Sie hat mein Argument, dass das ein komischer See sei, nicht als Ausrede gelten lassen. ‚Ein komischer See‘, hat sie gemurmelt. Ihre Augen hatten ein seltsames Leuchten und für den Bruchteil einer Sekunde habe ich in ihre Seele gesehen.“ Zhakis Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Er atmete tief ein und als er weitersprach, lag die wohlvertraute Heiterkeit in seiner Stimme: „Sie hat mich einfach nass gespritzt, ist voraus gerannt ins Wasser, ich hinterher und dann sind wir zusammen geschwommen. Und danach –“ Zhaki machte eine Pause und betrachtete Lani, deren Blick sich in der Finsternis der Nacht verlor, „haben wir dich gemacht.“

Lani rührte sich lange nicht, nachdem Zhaki zu sprechen aufgehört hatte. Vorsichtig, als sei er sich nicht sicher, ob er das Richtige tue, streichelte er ihr über die Haare. Ein kühler Wind strich um Vater und Tochter und liess die Blätter der Birken rascheln.

„Singst du mir Mamas Lieblingslied? Während ich einschlafe?“, fragte Lani leise. Zhaki drückte Lani einenKuss auf den Scheitel. Sie zog sich Hose und Pullover aus, kroch in ihren Schlafsack und blickte in den von Sternen übersäten und von einem blassen, runden Mond gekrönten Himmel.

„Ich werde singen bis du eingeschlafen bist, meine kleine Luftschlange. Und wenn es die ganze Nacht dauert.“ Eingelullt von der Stimme ihres Vaters, die das Lied ihrer Mutter sang, schlief Lani ein.

Als Lani am nächsten Morgen erwachte, war Zhaki bereits dabei, kleine Teigfladen zu formen und sie an den Rand des Kochers zu kleben. Spezial-Zhaki-Waldbrot. Dazwischen warf er Ästchen in die Flammen, welche im Innern des Kochers züngelten.

„Guten Morgen!“ Er drehte sich zu Lani um.

„Morgen“, murmelte Lani und streckte sich gähnend.

„Und? Morgenbad?“, fragte Zhaki. Schlagartig war Lani hellwach. Die Erinnerungen an letzte Nacht füllten ihren bis eben noch angenehm leeren Kopf. Einen Augenblick lang blieb sie still, dann sagte eine Stimme, die ihre war, auf die sie in diesem Moment aber keinen Einfluss hatte: „Ja, ich gehe mal schwimmen.“ Barfuss ging sie zum Wasser und zog sich dort bis auf die Unterhose aus. Sie blieb im weichen Moos stehen und starrte auf das Wasser. Von da auf ihren Fuss. Den sie irgendwann, wie im Zeitlupentempo, hob und hineintauchte. Das Wasser kühlte ihre Haut, kräuselte und verfärbte sich bräunlich vom aufgewühlten Schlamm. Nichts Aussergewöhnliches passierte. Lani machte ein paar Schritte ins Wasser, stellte sich vor, dass unter dem Sand kleine Krebse lauerten undtauchte ein, sodass ihre Füsse den Grund nicht mehr berührten. Sie schwamm ein paar Züge, drehte sich auf den Rücken und betrachtete die grünen Birkenblätter vor dem blauen Himmel. Aus den Augenwinkeln sah sie die weissen Stämme. Es war, als würde man durch einen Wald treiben.Ein komischer See,ging es ihr durch den Kopf. Die Sonnenstrahlen, welche vereinzelt durch die Blätter drangen, liessen das Wasser glitzern.

Erfrischt und hungrig stieg Lani aus dem Wasser. Als sie ihr Tuch nehmen wollte, um sich darin einzuwickeln, fiel ihr Blick auf die noch ungewaschene Pfanne von der Nacht zuvor. Einen schwebenden Moment lang fühlte Lani wieder dieses Seltsame von letzter Nacht – doch das Gefühl verflüchtigte sich rasch. Lani nahm die Pfanne, wusch sie und ging zurück zu Zhaki.

„Ich bitte innigst um Entschuldigung, Madame – das Silberbesteck ist von einer glitzerwütigen Elfe gestohlen worden, der arme Holztisch von einer Horde Waldgnomen befreit und die Teller vom Porzellankönig annektiert worden. Sie müssen wohl mit dem Waldboden und ihren hübschen Händen vorliebnehmen.“ Zhaki deutete eine Verbeugung an.

„Den Witz hättest du gestern bringen sollen. Ausserdem esse ich Brot selten mit Besteck“, antwortete Lani trocken, setzte sich auf den Boden und liess sich von Zhaki einen Becher mit warmer Milch füllen. Sie bestrich zwei brotartige Fladen mit Honig, legte einen vor Zhaki auf die Decke und biss in den anderen hinein.

Die Sonne stand hoch am Himmel, als Lani und Zhaki aufbrachen. Eine Maus huschte, von ihren Schritten aufgeschreckt, aus dem Gebüsch und wuselte zwischen Lanis Füssen hindurch in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Lani drehte sich um und schaute zu, wie die Maus im Dickicht verschwand. Dann hob sie den Blick – und erstarrte.

„Baba…“, flüsterte sie, „der Weg ist verschwunden…“ Da, wo eben noch ein Pfad gewesen war, bedeckten wuchernde Brombeerranken den Boden, dazwischen blühten kleine, violette Blumen, unversehrt – so, als wäre hier noch nie jemand durchgegangen.

„Bist du sicher, dass hier ein Weg war?“, fragte Zhaki, der stehengeblieben war und jetzt auf Lani zukam. Er sprach leise und etwas in der Art, wie er seine Frage stellte, verwirrte Lani zutiefst: Er meinte seine Frage ernst, obwohl er doch eben denselben Pfad entlanggekommen war – den Pfad, der nicht mehr da war!

In Lanis Stimme lag ein Hauch Panik, als sie erwiderte: „Aber Baba, wir sind doch von da gekommen und es war ein kleiner Weg und da müsste man doch unsere Spuren…“ Lani brach ab. Sie spürte, dass ihre Erklärungen überflüssig waren.

„Gestern war der Pfad da, nicht wahr?“, meinte Zhaki und es war mehr Feststellung als Frage. „Dieser Pfad ist etwas eigensinnig. Auf diese Lichtung kommen nur sehr wenige Menschen.“ Zhaki zögerte, ehe er leise hinzufügte: „Und es ist jedes Mal so, als käme man zum ersten Mal hierher.“ Zhakis Worte hatten nichts Logisches an sich. Und doch sagte er das alles mit einer Selbstverständlichkeit, als oballes so wäre, wie es zu sein hatte.

„Komm“, sagte er, nahm seine Tochter an der Hand und führte sie aus dem Wald.

Es war kurz nach Mittag, als Lani und Zhaki zu Hause ankamen. Kurz dachte Lani an die Schule und ihre Klassenkameradinnen, die jetzt mit ihren Eltern beim Mittagessen sassen und über den Morgen redeten. Aber heute war die Schule so weit weg wie Afrika und Lani freute sich auf den freien Nachmittag, der vor ihr lag.

5

Der Himmel war von einem stählernen Blau, nur im Westen türmten sich einige Wolken. Lani legte sich mit einem Buch in den Liegestuhl und begann zu lesen. Nach wenigen Seiten legte sie das Buch weg und holte ihre Schulsachen. Sie versuchte, eine Rechenaufgabe zu lösen, legte den Stift aber schon nach ein paar Minuten wieder zur Seite. Es hatte keinen Sinn, sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank, fand nichts, worauf sie Lust hatte, schloss ihn wieder und ging, von einer inneren Unruhe getrieben, in ihr Zimmer. Sie packte ein paar Kleider in eine Schachtel, gab aber auch dieses Vorhaben rasch wieder auf. Immer wieder dachte sie an den seltsamen Weg und an den See. Fast meinte sie, das Kribbeln wieder zu spüren. Sie wurde vom Gefühl beschlichen, alles schon einmal erlebt zu haben. Oder hatte sie einmal so etwas geträumt? Lani ging wieder in den Garten, legte sich ins Gras und betrachtete die Wolken. Sie versuchte, an nichts zu denken, nicht an die letzten vierundzwanzig Stunden. Was ihr natürlich nicht gelang. Eine Wolke nahm die Form eines Drachens an und Lani schaute zu, wie der Kopf sich langsam verformte, bis aus dem Drachen ein flachgedrücktes Schiff geworden war, das sich rasch verzettelte. Eine andere Wolke sah aus wie ein Zwerg, dann wie ein Mädchen. Oder eine Puppe. Eine Puppe mit wirren Haaren.

Drohumila!Der Gedanke schlug ein wie ein Blitz. Lani sprang auf und rannte in ihr Zimmer. Hastig schob sie denSchreibtischstuhl vor den Schrank und stieg hinauf. Sie erinnerte sich vage daran, dass sie die Puppe vor etwa einem Jahr, als sie beschlossen hatte, zu alt für Puppen zu sein, ziemlich lieblos in den Schrank verfrachtet hatte; in die oberste, hinterste Ecke. Sie räumte einen Stapel Fotoalben und ein paar alte CDs weg und langte hinter die Schachtel mit der Beschriftung: Nichtaufräumbarer Kleinkram. Sie fühlte weichen Stoff unter ihrer Hand, schloss die Finger darum und zog die Puppe hervor.