LARA. die Jagd. - Thea Wilk - E-Book

LARA. die Jagd. E-Book

Thea Wilk

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Beschreibung

Frühling. Das Leben geht weiter. Jedoch nicht für Lara. Drei Jahre, vier Monate und zwei Tage ist es her, seit Lara Bobbi mit sich die Treppe hinuntergerissen hat. Seitdem hat sie ihr Leben darauf ausgerichtet, Bobbi bei einem weiteren Zusammentreffen überlegen zu sein. Sie hat tägliche Routinen aufgebaut, um dieses Zusammentreffen herbeizuführen, und dabei eine Spur gefunden. Als sie von ihrem Hausmeister einen Stapel Postkarten erhält, die nur von Bobbi stammen können, entschließt sie sich, der Spur zu folgen. Dabei stößt sie jedoch nicht nur auf Bobbi. Und sie ist auch nicht die Einzige, die sich auf der Jagd befindet.

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Inhalt

Moment mal …

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

EPILOG

Rezensionen

Über mich

Mein Podcast

108 Dinge, die ich vor dem Schreiben meines ersten Buches gern gewusst hätte.

Wenn du wieder gehst

Lu & Nik. Dezember. Ein Jahr später

Lu & Nik. Und Ben. Zwei Jahre später.

Nur für diesen Moment.

Laufe Lebe Liebe.

Siebzehn Jahre. Ohne mich. Mit dir.

Danke!

An Mama, Freya & Jona!

Ihr macht jedes Buch zu etwas Besonderem.

Weitere Kurzgeschichten zu diesem Buch

findest du in meinem Newsletter.

theawilk.de/newsletter

Auf den Weg.

Nicht das Ziel.

PROLOG

‚Es ist noch nicht vorbei, Lara. XOXO, F.‘

Schweiß rann mir über den Körper, als ich aufschreckte.

Die Worte hallten nach.

Ich versuchte, die Stimme zu greifen. Wer hatte gesprochen? Bobbi oder Finn? Konnte mir mein Unterbewusstsein einen Hinweis darauf geben, wer die Nachricht geschrieben hatte?

In meinen Träumen war es kein Zettel, den mir die Hotelmitarbeiterin in einem Umschlag überreichte. In meinen Träumen stand jemand hinter mir und flüsterte die Worte in mein Ohr. Aber jedes Mal, wenn ich mich umdrehen wollte, wachte ich auf.

Wenn ich die Augen wieder schloss, um den Traum weiterlaufen zu lassen, waren es andere Bilder, die in meinen Kopf strömten.

Sieben Punkte hinter Bobbis Ohr.

Bobbi und Finn, die am Strand miteinander sprachen. Kurz bevor sie und ich durch die eiskalten Wellen tauchten.

Bobbi am Boden der Jolle.

Bobbi, wie sie mit zerschundenem Gesicht ihren Bruder erschoss.

Bobbi, wie sie in meiner Küche Cornflakes aß, während ich an einen Stuhl gefesselt versuchte, den Ton meines vibrierenden Telefons zu übertönen.

Bobbi, wie sie mich die Treppe hinunterstieß. Wie Finn meinen Großvater die Treppe hinunterstieß. Und meine Mutter.

Es waren jedes Mal die gleichen Bilder. Jedes Mal waren es Bobbi oder ihr Bruder, die den Mittelpunkt dieser Bilder ausmachten.

Schließlich war es zu viel. Ich riss die Augen auf, unterdrückte die Tränen und sprang auf. Ich durfte die Emotionen nicht zulassen. Weder die Trauer über den Verlust meiner Familie noch die Wut auf mich selbst, weil ich Bobbis Spiel nicht früher durchschaut hatte. Und vor allem würde ich der Angst keinen Raum geben.

Eins

BOBBI

Der Typ war ein Vollidiot. Hatte er wirklich geglaubt, ich würde mich von ihm hierherlocken lassen, ohne Verdacht zu schöpfen? Nun ja, ich war eine gute Schauspielerin. Ich hatte mich in den vergangenen drei Jahren sogar noch gesteigert. Dank unzähliger YouTube-Videos von Menschen, die zu dumm waren, mit ihrem Wissen Geld zu verdienen und es stattdessen kostenlos verbreiteten. Sie sollten Bücher schreiben und sie verkaufen.

Ich sollte Bücher schreiben und sie verkaufen. Ich hatte sogar schon einige Titel im Kopf: ‚Wie du die wahren Verbrecher in deiner Mitte ausmachst‘, ‚Morden, ohne erwischt zu werden‘ oder ‚Wähle dein Opfer mit Bedacht‘. Ich vermutete allerdings, dass die Nische zu klein wäre, um mit den Verkäufen reich zu werden.

Ich war also eine noch bessere Schauspielerin und keine Schriftstellerin geworden, seit ich Lara das letzte Mal gesehen hatte. Ja, ich dachte noch immer an sie. Jeden verdammten Tag dachte ich an sie. Aber das war auch das Einzige, was mir von ihr geblieben war. Sie versteckte sich vor den sozialen Medien und natürlich konnte ich sie nicht besuchen. Also musste ich an sie denken. Ich idealisierte ihr Bild, das sich in meinen Kopf geprägt hatte, und träumte von unserer gemeinsamen Zeit und davon, wie es wohl gewesen wäre, wenn wir uns nicht hätten trennen müssen. Und wie es sein würde, wenn wir uns wiedersahen.

Aber dieser Moment stellte nicht unbedingt den idealen Zeitpunkt für Träumereien dar. Ich sah nach unten. Die Augen des Typen waren noch immer aufgerissen. Wer hätte sie auch schließen sollen? Er selbst konnte es nicht mehr. Es waren zwar nicht mehr Entsetzen und Schock, die sich in seinen erschlafften Zügen abzeichneten, aber ich hatte das Bild davon noch genau vor mir. Wie jedes Mal fragte ich mich, ob die Ursache dafür der Schock über ihr Ableben oder über den Anblick des Fotos war, das ich ihnen präsentierte, während sie zu Boden sanken.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass ein kleines rothaariges Mäuschen - ja, ich hatte inzwischen rote Haare und verbarg meine wahre Natur noch immer gern - ihn überwältigen würde. Er hatte mich überwältigen wollen, aber nicht mit meinem Messer gerechnet, das nun in seinem Bauch steckte.

Es sah aus wie das Messer, das ich im Haus von Laras Großvater ‚gefunden‘ hatte.

Aber es war keines der beiden. Natürlich nicht. Vermutlich lagen sie irgendwo vakuumverpackt in einem Büro bei den Bullen.

Ich hatte mir das gleiche Messer besorgt, was gar nicht so leicht gewesen war. Ich hatte dafür in eine größere Stadt fahren müssen und das war immer gefährlich. Ich trug dann jedes Mal ein Kopftuch, eine Sonnenbrille und eine Schwimmweste unter einem großen Pullover, damit meine Statur eine andere Form annahm.

Die Sache war es wert gewesen. Jedes Mal, wenn ich das Messer benutzte, dachte ich an Lara.

Natürlich tötete ich nicht wöchentlich einen Menschen damit. Ich war kein Monster und ich wählte meine Opfer mit Bedacht. Eigentlich war es nicht mal eine Wahl. Die Namen standen seit Jahrzehnten fest. Nein, ich benutzte es auch, um Schlösser zu knacken, Gurken zu schneiden und mir die Fingernägel zu reinigen. Wobei, das hatte ich irgendwann aufgegeben. Ich war kein Cowboy und bekam es einfach nicht hin, ohne mir wenigstens eine Schnittwunde zuzuziehen.

Ich sah in den alten Stollen hinein und schüttelte den Kopf. Dieser alte Typ hatte tatsächlich geglaubt, ich würde ihm so blind vertrauen, dass ich ihm bis tief in den Wald folgte, um mir eine alte Mine anzusehen. Natürlich hatte ich ihn erst auf den Gedanken gebracht. Ich hatte vorgegeben, mich für die Geschichte der Stadt zu interessieren, und er hatte angeboten, mir etwas davon zu zeigen.

Aber sobald wir den Stollen betreten hatten, hatte er mich gegen die Wand gestoßen und seine Finger um meinen Hals gedrückt. Für eine Sekunde länger wäre ungünstig gewesen, weil er mir nach zwei Sekunden mit ausreichend Druck den Kehlkopf an die falsche Stelle geschoben hätte. Das Messer hatte sein Shirt, seine Haut und sein Herz so schnell durchdrungen, dass seine Finger sich gelöst hatten, ohne mich verletzt zu haben.

Ich hatte gelernt, wie ich zustechen musste, damit der erste Stoß ausreichte. Als Frau, die kaum groß genug war, um ohne Sitzerhöhung Auto zu fahren, durfte ich es nicht auf einen Kampf ankommen lassen. Ich musste schnell und präzise vorgehen.

Allerdings lag er nun etwas zu nah am Eingang des Stollens. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er noch im Sonnenlicht über mich herfallen würde. So ein Dummkopf.

Das Dorf war ein paar Kilometer entfernt, aber wenn sich ein Spaziergänger hierher verirrte, würde er ihn entdecken. Natürlich konnten auch Tiere den Körper ans Tageslicht zerren. Aber wenn sie dies taten, würden sie wohl nicht viel von ihm übrig lassen. Deshalb sah ich meine pelzigen Freunde nicht als Risiko an.

Ich seufzte, ging in die Hocke und griff mit den Händen unter seine Achseln. Angewidert verzog ich das Gesicht, als sein kalter Schweiß meine warmen Finger benetzte. Zum Glück trug ich ein Desinfektionsmittel bei mir. Ich sollte mir wirklich Handschuhe für diese Zwecke besorgen. Aber die verursachten Müll, der wiederum Spuren hinterlassen würde. Außerdem hasste ich diese Gummidinger.

Ich spannte den Bauch an und zog mit aller Kraft an seinem Körper. Der mit Schutt und Müll übersäte Untergrund erschwerte mein Vorgehen und nach fünf Metern gab ich es auf. Der Stollen war dunkel genug. Niemand würde ihn von außen sehen.

In ein paar Stunden würde ich weg sein. Ich hatte mit niemandem in diesem Kaff gesprochen und mich nur in der Dunkelheit gezeigt. Ihn hatte ich am Straßenrand kennengelernt. Mein Auto war einfach nicht wieder losgefahren. Ich kleines Dummchen hatte vergessen, den Gang zu wechseln. Normalerweise fuhr ich nur Automatik-Getriebe und hier, an einer Steigung, hatte ich es einfach nicht geschafft, im dritten Gang vom Fleck zu kommen. Er hatte den ‚Fehler‘ nach wenigen Minuten gefunden, ich hatte ihn gefragt, ob ich ihn zum Dank zu einem Kaffee einladen dürfte. Aus meiner Thermoskanne. Ich hatte ihn über das Dorf ausgefragt und die Umgebung und er hatte von der Bergbaugeschichte der Region erzählt. Dass sein Vater noch täglich in die Dunkelheit gefahren sei und all so etwas.

Ich kannte seine Geschichte. Mein Vater hatte einen Artikel über seinen Vater geschrieben.

Und nun war er Geschichte. Genau wie unsere Väter.

Ich wischte das Messer an seiner Hose ab, desinfizierte die Schneide und meine Hände und trat wieder ins Tageslicht. Mein Wagen stand etwa zehn Fußminuten entfernt in der Nähe einiger verlassener Häuser. Eigentlich war es sogar eine ganze Siedlung, in der sich seit Jahrzehnten keine einzige Menschenseele aufhielt. Abgesehen von mir.

Ich hatte ihn darauf gebracht, seine Sightseeing-Tour dort zu beginnen, und ihn überredet, mein Auto zu nehmen. Vermutlich war er glücklich darüber, dass mein Auto an diesem Ort keine Aufmerksamkeit auf sich lenken und neugierige Fragen provozieren würde. Nun, darüber war auch ich froh.

Ich hatte mich in der letzten Woche in einem der besser erhaltenen Gebäude häuslich eingerichtet und war immer wieder ins Dorf geschlichen, um seine Routinen zu beobachten. Dreimal hatte ich die Aktion mit dem Auto am Straßenrand durchziehen müssen, bis er endlich vorbeigefahren war und angehalten hatte.

Mein Weg führte mich an alten Schienen entlang durch den Wald. Früher hatte es eine Bahnverbindung gegeben, die die Bergarbeiter direkt zur Mine gebracht hatte. Sie war zugewachsen und es sah so aus, als hätte sie seit Jahren niemand mehr betreten.

Als die Häuser in Sichtweite kamen, vibrierte mein Telefon. Das passierte nicht oft. Eigentlich gab es nur eine Person, die mich anrief, die diese Nummer überhaupt kannte. Er fragte einmal in der Woche nach, ob ich noch lebte. Irgendwie tat es gut, zu wissen, dass jemand sich dafür interessierte, ob mein Puls noch schlug.

Er schickte mir außerdem regelmäßig so viel Geld an eine Adresse in einer größeren Stadt, dass ich mir keinen Job suchen musste, was kompliziert gewesen wäre. Manchmal schaffte ich es nicht rechtzeitig dorthin und dann bestahl ich die Typen oder klaute Eier aus dem Hühnerstall eines Bauern. Zum Glück kam dies selten vor.

Ich versuchte, nicht zu stehlen, denn ich wollte keine uniformierte Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Also lebte ich bescheiden und teilte mir mein Geld sorgfältig ein.

In leerstehenden Häusern zu schlafen war eine Möglichkeit, die Scheine zusammenzuhalten.

Ich zog das Telefon aus der Hosentasche und nahm den Anruf entgegen. Es war ein Wunder, dass ich hier Empfang hatte.

„Du lebst.“

„Ja, das tue ich. Du offensichtlich auch.“

„Offensichtlich.“

„Was gibt es? Wir haben doch erst am Mittwoch unsere Vitalfunktionen besprochen.“

Er war niemand, der um den heißen Brei herum löffelte, und sprach den Grund für seinen Anruf ohne Umschweife aus: „Sie ist dir auf der Spur.“

Mein Herz tat einen ziemlich schmerzhaften Satz und brachte damit mein Sprachzentrum durcheinander. „Was … wie … woher …?“ Ich war zu aufgeregt, um meine Fragen auszuformulieren, aber er wusste, worauf ich hinauswollte.

„Nach all den sinnlosen Ideen, dich über Gesichtserkennung in sozialen Medien und bei der Lektüre von Verbrechensanzeigen zu suchen, hat sie endlich ins Schwarze getroffen.“

„Wirklich? Ist sie schon unterwegs?“

Er zögerte. „Nein, aber es kann nicht mehr lange dauern, bis sie losfährt.“

„Ganz allein?“

„Ganz allein.“

„Dann hat sie keine Angst mehr vor mir?“ Das waren gute Nachrichten. Sehr gute sogar. Wenn sie keine Angst mehr vor mir hatte, würde es leichter sein …

„Sie will dich töten, B.“ Er nannte mich nicht bei meinem vollen Namen, aus Angst, jemand könnte ihn belauschen. Ich hatte ihm vorgeschlagen, mich Trude zu nennen - nach der besten Freundin von Luise in Erich Kästners doppeltem Lottchen. Aber er fand die Idee nicht gut. Also sprach er mich auf die gleiche Weise an wie Serena ihre Freundin Blair in Gossip Girl. Ich hatte alle Staffeln fünfmal gesehen. Es war wirklich anstrengend, allein zu sein.

„Das glaubt sie jetzt.“

„Sie hofft, dass dein Tod sie endlich weiterleben lassen kann.“

„So ein Unsinn. Das letzte Mal, als Lara ein Mitglied meiner Familie getötet hat, hat das ihr Leben nicht gerade zum Besseren gewendet. Sag ihr, dass ich das gesagt habe.“ Ich lachte auf. Es klang etwas hysterisch und ich kicherte. Ich war so aufgeregt. Endlich gab es eine Nachricht von Lara, die etwas mit mir zu tun hatte. Sie würde mich finden. Und ich würde sie sehen. Sollte ich ihr entgegenfahren? Oder sollte ich hier auf sie warten?

„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie dich findet?“

Ich sagte nichts. Er verstand sowieso nicht, dass ich wollte, dass sie mich fand.

„B?“

„Es klingt auch nach drei Jahren affig, wenn du mich so nennst. Oder möchtest du, dass ich deinen Namen auf seinen Anfangsbuchstaben reduziere?“

„Ich muss gleich auflegen. Wir reden schon viel zu lange. Ich wollte nur, dass du es weißt. Halt Ausschau nach ihr.“

„Ihr hübsches Köpfchen werde ich ganz sicher nicht übersehen.“

„Mach keinen Unsinn.“

„Pah, Unsinn. Nun hör aber auf.“ Dann überlegte ich. Ich konnte nicht riskieren, sie zu verpassen.

„Kannst du sie im Auge behalten?“

Er seufzte. „Sicher.“

Zwei

LARA

Hast du mich verstanden, du blöde Schlampe?“ Sein Mund war direkt neben meinem Ohr und er schrie dennoch so laut, dass ein leichtes Fiepen darin ertönte. Ich wurde wütend. Verdammtes Arschloch.

Er stand hinter mir. Sein rechter Arm lag um meinen Hals. Das linke Handgelenk drückte von hinten gegen meinen Nacken. Der Typ war stärker als ich und ich konnte seinen Atem auf meiner Haut spüren. Ich spürte, wie sich die Feuchtigkeit der Luft, die aus seinen Lungen drang, auf meine Wange legte. All das nahm ich im Bruchteil einer Sekunde wahr. Im nächsten Bruchteil schwang ich beide Hände nach hinten, griff nach den Fingern der linken Hand und riss sie nach vorne.

Bevor er darauf reagieren konnte, presste ich den Arm gegen meinen Oberkörper. Dann fixierte ich ihn mit der rechten Hand und hakte die linke an seinem rechten Handgelenk fest. Ich zog auch diesen Arm so weit herunter, dass ich mich aus dem Griff befreien konnte.

Ich drehte mich zu ihm, stieß mein Knie in seinen Schritt und hämmerte auf seinen Kopf ein. Zum Schluss sammelte ich meine Kraft noch ein letztes Mal, schleuderte ihn gegen die Mauer und rannte ein paar Meter von ihm weg. Er fiel nicht zu Boden. Er hatte die Hände in Richtung der Wand ausgestreckt und sich abgefangen. Langsam drehte er sich zu mir und ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Klasse, Lara.“

Ich schnaufte etwas und erwiderte sein Lächeln. Dann verzog ich das Gesicht und legte drei Finger auf mein Ohr, das noch immer wehtat. „Danke. Aber musstest du mein Trommelfell zum Platzen bringen?“ Ich funkelte ihn an.

„Es hat dich wütend gemacht.“

Ich verzog das Gesicht und brummte: „Ja.“

Peter lachte auf, kam zu mir und klopfte mir auf die Schulter. Dann wandte er sich zu den anderen acht Teilnehmern: „Wer ist als nächstes dran?“

Eine blonde Frau meldete sich. Sie war noch nicht lange dabei und, wie sollte es anders sein, sie erinnerte mich an Bobbi. Klein, zierlich, blond. Sie sah aus wie ein Engel. Ich wandte den Blick ab und ging zu meinem Handtuch und meiner Flasche.

„Kommst du nach dem Kurs noch etwas mit uns essen?“

Piya sah mich fragend an. Sie wusste, ich würde Nein sagen. Aber sie war die Einzige, die mich immer wieder fragte, ob ich Teil der Gruppe werden wollte. Nicht der Krav Maga Gruppe, in der ich seit drei Jahren fünf Mal in der Woche trainierte. Sondern Teil der sozialen Gruppe. Teil des sozialen Lebens.

Die anderen trafen sich regelmäßig, vermutlich verband sie so etwas wie Freundschaft. Aber ich war nicht hier, um Freunde zu finden. Schon gar keine weiblichen. Ich war hier, um mich gegen meine alte Freundin verteidigen zu können, wenn sie mir noch einmal über den Weg lief. Oder besser gesagt, wenn ich dafür gesorgt hatte, dass ich ihren Weg kreuzte.

Inzwischen fühlte ich mich stark und sicher genug, um diesen Schritt endlich zu gehen. Ich hatte gelernt, eine Waffe zu laden, zu entladen und gezielt damit zu schießen. Ich wusste, wie ich ein Messer versteckt halten und benutzen konnte und was ich tun musste, um mich gegen einen Angriff mit dieser Waffe zu verteidigen.

Ich wusste, wie ich mich befreien konnte, wenn ich an einen Stuhl gefesselt war und worauf ich achten musste, wenn ich einen dunklen Raum betrat. Ich konnte mich aus einem Würgegriff befreien und einen anderen Menschen mit einem einzigen Schlag oder Tritt handlungsunfähig zurücklassen.

Ich war bereit. Auch wenn ich nicht genau wusste, wofür. Würde ich sie nur festsetzen, um endlich Antworten zu bekommen? Oder wäre das unmöglich?

Zumindest wollte ich in dieser Bereitschaft keine Freunde. Ich wollte niemanden in meiner Nähe, der meine Pläne durchkreuzte. Und auch wenn ich Piya und ihre Tochter Livia wirklich mochte, würde ich nie wieder jemanden so nah an mich herankommen lassen, dass ich ihm blind vertraute. Oder dadurch riskieren, dass er bei dem Versuch, mir zu helfen, verletzt wurde.

Ich verbrachte meine Zeit damit, meinen Körper und meinen Geist zu trainieren. Um das Erbe meines Großvaters nicht aufzubrauchen, hatte ich vor einem Jahr selbst angefangen, Krav Maga zu unterrichten. Meine Schüler hassten mich. Ich war streng, ließ sie immer zehn Liegestütze mehr machen, als sie glaubten, schaffen zu können, und zeigte ihnen oft genug, wie es sich anfühlte, wenn einem jemand zu nah kam.

Erstaunlicherweise gab es trotz meiner Härte in meinen Kursen die geringste Fluktuation. Vielleicht lag es daran, dass ich jedem Teilnehmer von Anfang an erklärte, warum ich so vorging. Wir waren hier nicht in einem Fitness-Hüpf-Lalelu-Kurs. Die Frauen wollten lernen, wie sie sich gegen einen Angriff von jemandem verteidigen konnten, der der Meinung war, über ihr Leben bestimmen zu können. Und die meisten hatten dieses Training bitter nötig. So wie ich zu Beginn.

Es würde ihnen nichts helfen, wenn ich ihr Kumpel war. Ich wollte, dass sie stark waren. Ich wollte, dass sie wussten, wie es sich anfühlte, wenn man Angst hatte. Sie sollten in der realen Welt in der Lage dazu sein, über dieser Angst zu stehen.

Ich hatte mich zu Beginn vor dem Plastikmesser gefürchtet. Ich hatte Angst davor gehabt, wieder einem anderen Menschen ausgeliefert zu sein. Ich war langsam, zögerlich und ängstlich gewesen. So wie die meisten der Frauen und Mädchen, wenn sie in der ersten Stunde vor mir standen. Es war wichtig, ihnen das bewusst zu machen. Es war wichtig, dass sie sahen, dass sie noch schwach waren, damit sie eines Tages stark sein konnten.

Mit jedem Training kamen sie diesem Ziel einen Schritt näher. Manchmal kam ich mir vor wie ein Drill-Sergeant beim Seal-Training. Tatsächlich hatte ich mir von David Goggins einige Übungen abgeschaut, um die Kraft der Frauen zu maximieren. Sie sahen mich die gesamte Zeit über mit verzerrten Gesichtern an. Und doch hielten alle durch. Jede Einzelne ging über ihre Grenzen und war nach dem Training stolz, es geschafft zu haben.

Piya hatte meine Absage akzeptiert und stand inzwischen wieder bei den anderen Frauen, während Peter das Training beendete. Wir stellten uns in eine Reihe ihm gegenüber, verbeugten uns mit einem gemeinsamen „Kida!“ und verließen applaudierend die Trainingsfläche.

Als Erste trat ich aus dem Gebäude, kettete mein Fahrrad ab, setzte den Helm auf und fuhr zu meiner Wohnung. Nachdem Bobbi mich dort überfallen hatte, hatte ich ein paar Wochen im Hotel gelebt und war die Wohnungsanzeigen im Internet durchgegangen. Landesweit, wie Bill mir empfohlen hatte. Aber ich hatte nichts gefunden.

Deshalb hatte ich mich entschieden, nicht umzuziehen. Diese Wohnung würde mich jeden Tag an das erinnern, was passiert war. Aus diesem Grund drängte Bill mich darauf, umzuziehen. Aber für mich war diese Erinnerung wichtig. Sie motivierte mich. Sie machte mich stark und wütend genug, um meinen Weg weiterzugehen. Ich wollte nicht, dass die Angst mich motivierte. Es sollte die Wut sein. Die Wut auf das, was passiert war. Die Wut auf die Menschen, die mein Leben zerstört hatten. Zweimal.

Wenn ich mir diese Wut erhalten konnte, würde ich stark sein. Ich würde fokussiert sein. Hatte ich Angst, würde ich Fehler machen. Ich würde nicht den Mut aufbringen, um bestimmte Dinge zu tun. Ich würde mich verstecken, anstatt in den Kampf zu ziehen.

Das war es, was ich wollte. Ich wollte, dass all das endlich ein Ende hatte. Aber dafür musste ich Bobbi finden.

Drei

LARA

„Hallo, Kleines!“

Ich schreckte auf, ließ die Augen jedoch geschlossen. Ich führte mir jedes einzelne Detail meines Traumes erneut vor Augen. Ich war wieder im Strandhaus. Es war Winter und die Haustür stand offen. Ich befand mich auf der Treppe und beobachtete, wie Finn das Haus betrat. In der einen Hand hielt er die Pistole meines Großvaters, in der anderen ein Notizbuch.

Ein Geräusch löste das Bild auf und ließ einen dunklen Raum zurück, in den sich nach und nach Schattierungen mischten. Ich blinzelte, öffnete die Augen und sah zur Seite. Mein Telefon leuchtete auf, vibrierte und zeigte Bills Gesicht an. Er hatte es albern gefunden, dass ich ein Foto von ihm zu seinem Kontakt zugefügt hatte, aber mir gab es immer ein seltsam beruhigendes Gefühl, ihn zu sehen. Er war mein Anker und wann immer ich um meinen Großvater oder meine Mutter trauerte, dachte ich daran, wie vertraut Bill und ich in den vergangenen Jahren geworden waren. Ich lächelte.

„Hey.“ Meine Stimme klang kratzig. Ich sah auf den Wecker. Es war 8:54 Uhr und ich hatte nur vier Stunden geschlafen.

„Hast du dir wieder die Nacht um die Ohren geschlagen?“

„Guten Morgen, lieber Bill.“

Er schnaufte. „Guten Morgen.“

„Bist du joggen?“

„Was?“ Das Geräusch von Wind drang durch die Leitung an mein Ohr.

„Du schnaufst.“

„Was, nein, ich gehe mit dem Hund spazieren.“

„Und dabei schnaufst du?“

„Ich schnaufe nicht.“

„Wann wirst du endlich mehr Sport machen, Bill? Oder überhaupt Sport machen.“

Er seufzte. „Dieses Gespräch geht in die völlig falsche Richtung.“

„Warum? Ich bin nur egoistisch. Wenn du an einem Herzinfarkt stirbst, gibt es niemanden mehr, den ich als meinen Notfallkontakt angeben kann.“

„Such dir ein paar Freunde.“

„Pah!“ Ich grinste. Ich mochte unseren Schlagabtausch. Bei fast jedem Gespräch erinnerte ich ihn daran, dass er mehr für seine Fitness tun müsste, und er erklärte mir, dass ich einsam sterben würde, wenn ich mich den Menschen um mich herum nicht endlich öffnete. Ich wusste, dass er sich nur Sorgen um mich machte. Genau wie ich mir Gedanken darum machte, dass er viel zu früh sterben würde, wenn er nicht mehr auf sich achtete. Bill war einer von den Guten und er sollte ein langes und erfülltes Leben haben.

„Hast du gerade ‚Pah‘ gesagt?“

„Warum rufst du an, Bill?“

„Er kommt frei.“

Das Grinsen verschwand aus meinem Gesicht. Mein Herzschlag setzte aus und ich richtete mich auf. „Was?“

„Karl. Sie lassen ihn frei. Seine Reststrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Ich habe es gerade erst erfahren.“

„Wann?“

„Heute?“

Ich atmete endlich ein, verschluckte mich dabei fast an der Luft, die in meine Lungen strömte, und gab ein gurgelndes Geräusch von mir. „Was? Warum so plötzlich? Muss so etwas nicht verhandelt werden?“

„Das wurde es. Aber ich wurde nicht darüber informiert.“

„Aber … Aber …“ Mir fehlten die Worte. Sowohl jene, die über meine Lippen hätten kommen können, als auch jene, die notwendig waren, um einen klaren Gedanken zu fassen. Einzig drei schafften es durch die feste Masse, die der Schock heraufbeschworen hatte: Karl kam frei.

„Ich wollte nur, dass du es weißt.“

„Wo wird er wohnen?“

Er zögerte. „Das weiß ich nicht, aber er möchte dich treffen.“

Er wollte mich noch immer sehen. Drei Jahre lang hatte ich mich diesem Wunsch widersetzt. Er hatte mehrfach über Bill darum gebeten, dass ich ihn besuchte. Einmal hatte er mir sogar selbst einen Brief geschrieben. Seine Handschrift war kaum lesbar gewesen, was mich irgendwie beruhigt hatte. Sie unterschied sich dadurch von jener auf dem Willkommensgruß, mit dem Finn Bobbi und mich, nein, nur mich, nach der missglückten Flucht mit der Jolle erwartet hatte.

Er hatte mich in seinem Brief um Verzeihung gebeten, wollte dass wir über das sprachen, was passiert war. Er bereute, mich nicht gewarnt zu haben, beharrte aber darauf, dass er seinem Bruder nicht zugetraut hätte, einen Mord zu begehen oder jemanden ernsthaft verletzen zu können.

Ein einziges Mal hatte ich es bis zum Gefängnis geschafft. Ich hatte zwei Stunden an einer Bushaltestelle gelehnt und zu dem Stacheldraht gestarrt, der auf den drei Meter hohen Mauern lag. Aber ich war nicht hineingegangen. Als irgendwann die Besuchszeit zu Ende gewesen war und die Leute aus dem Gebäude geströmt waren, war ich auf mein Fahrrad gestiegen und zurück nach Hause gefahren.

Ich hatte Karl über Bill ausrichten lassen, dass ich es einfach nicht könnte und es das Beste wäre, wenn sich unsere Wege für immer trennten.

Offenbar hatte er diesen Wunsch nicht akzeptiert. Und jetzt, als er frei war, musste er das auch nicht mehr. Er konnte mich aufsuchen, wann immer ihm danach war. Er kannte schließlich meine Adresse. Und wenn nicht, hätte er sie sicher herausgefunden.

„Ich will ihn nicht treffen.“

„Bist du ganz sicher? Vielleicht würde es helfen. Vielleicht würde es dir endlich zu einem Abschluss verhelfen.“

Ich sprang aus dem Bett und presste den Kopf gegen das Glas meines Fensters. Es war kühler als meine Stirn und ich konzentrierte mich auf das Gefühl des Wärmeverlustes. „Ich werde erst einen Abschluss finden, wenn ich sie gefunden habe. Verstehst du das nicht?“ Bei der letzten Frage wandte ich mich vom Fenster ab und erhob meine Stimme.

Er seufzte. „Nur dass dieser Fund dein letzter sein könnte.“

„Oh, wie poetisch.“ Ich verließ das Schlafzimmer, trat auf die knarrende Diele und ging in die Küche. Dort füllte ich Wasser in die Kaffeemaschine und schaltete sie ein. „Es ist mir egal, ob du es verstehst. Ich werde kein normales Leben führen können, bevor Bobbi nicht tot ist oder hinter Gittern sitzt.“

„Vielleicht lebt sie ja gar nicht mehr.“

Ich nahm eine Tasse und ein Glas aus dem Schrank. „Bill, dieses Gespräch erinnert mich zu sehr an die letzten fünfhundert, die wir geführt haben.“

„Okay, entschuldige. Also, wie wäre es hiermit: Vielleicht hat Karl ein paar Antworten für dich, die du bisher nicht finden konntest.“

Ich hielt inne. Das Glas, das ich unter den Hahn hielt, lief über und das Wasser floss über meine Hand. Ich zog sie weg. Hatte Bill recht? Würde Karl mir helfen können? Vielleicht hatte er wirklich ein paar Antworten. Vielleicht würde er mir sagen können, ob Bobbi jemals Interesse daran gezeigt hatte, die Route ihres Vaters ebenfalls abzufahren. Ob sie sie überhaupt je erwähnt hatte. Ich war sicher, dass sie sie spätestens auf meinem Notebook entdeckt hatte. Mein Großvater hatte HKBs Notizbuch ebenfalls auf dem Stick gespeichert.

„Also gut.“

Bill brauchte ein paar Sekunden, bevor er antwortete. „Also gut?“ In seiner Stimme lagen Argwohn und Überraschung.

„Also gut, ich möchte ihn treffen. Aber allein. An einem Ort, wo uns niemand sieht.“ Ich hatte keine Lust auf das nächste Bild, das die sozialen Netzwerke mit meinem Gesicht versorgte. Mit meinem Gesicht und jenem des Mörders meiner Mutter und meines Großvaters. Auch wenn es nicht dieselbe Person war, das Gesicht war schließlich das gleiche. Ein gefundener Lückenfüller für die Zeitungen, in denen Bilder mehr sagten als die drei Worte, die darunter standen.

Denn auch nach drei Jahren wurde immer wieder eine Kamera auf mich gerichtet und wahrscheinlich hatten die Medien bereits Wind davon bekommen, dass Karl entlassen wurde. Ich hoffte, dass dieser Umstand nicht für neue Aufmerksamkeit sorgen würde.

Vier

LARA

Lara, du fehlst mir. Es tut mir leid, was passiert ist. Jeden Tag denke ich an dich und frage mich, ob es dir gut geht, ob du auch an mich denkst. Bitte sag mir, dass du eine winzig kleine Chance siehst, dass wir uns eines Tages wiedersehen. In Liebe, Bobbi

Ich starrte auf die in eindeutig weiblicher Handschrift niedergeschriebenen Zeilen. Sie standen auf einem cremefarbenen Blatt Papier, das in einem Umschlag der gleichen Farbe darauf gewartet hatte, dass ich es in meinem Briefkasten fand. Es konnte erst seit ein paar Stunden darin liegen, denn ich hatte meine Post am Vorabend kontrolliert. Auf dem Umschlag stand lediglich mein Name. Kein Absender, keine Briefmarke. Nur Lara Béyer.

Ich schloss die Finger zu einer Faust und zerknüllte auf diese Weise das Papier. Diese kleinen Gören. Immer wieder steckten mir Jugendliche solche Nachrichten in den Briefkasten. Im Internet konnten sie mich nicht finden, weil ich dort nicht zu finden war. Aber meine Adresse war ein offenes Geheimnis. Der Überfall war monatelang Gesprächsthema Nummer eins in meiner Straße gewesen und natürlich hatten ausreichend Menschen die Rettungswagen gesehen. So viele Menschen hatten vor dem Haus gestanden und gegafft. Aber niemand wollte Bobbi gesehen haben. Niemand hatte Bobbi dabei beobachtet, wie sie verschwunden war. Darum hatte sie niemand aufgehalten. Natürlich nicht. Niemand hatte auf sie geachtet. Diese Geier hatten nur darauf gehofft, Blut zu sehen zu bekommen.

Von Bobbi stammte der Brief jedenfalls nicht. Das erkannte ich spätestens daran, dass sich Glitzerkrümel im Umschlag befanden. Außerdem hatte ich schon vor zwei Jahren eine Gruppe Mädchen dabei erwischt, wie sie einen Brief dieser Art in meinen Briefkasten geschoben hatten. Seither war das ein Dutzend Mal vorgekommen.

Ich vermutete, dass es eine Art Mutprobe war, um in irgendeine kleine Gruppe von besonders coolen und selbstsüchtigen Mädchen aufgenommen zu werden. Es war ihnen egal, was sie mir damit antaten. Und ich? Ich war ihnen dankbar dafür, denn es schürte meine Wut noch weiter.

Allerdings zwang es mich auch, darüber nachzudenken, ob Bobbi tatsächlich so dachte. Ob sie an mich dachte. Denn ich dachte an sie. Zu meinem eigenen Bedauern waren dies nicht nur Rachegedanken. Ich konnte die Komplizin von Finn noch immer nicht mit dem Mädchen in Einklang bringen, das mich so tief in meinem Inneren berührt hatte. Ja, ihr Handeln war nur Schauspiel gewesen. Aber die Gefühle, die sie in mir hervorgerufen hatte, waren echt gewesen. Waren es noch immer. Deshalb war ich jedes Mal ein klein wenig enttäuscht, wenn der Brief sich als pubertärer Zeitvertreib herausstellte.

Dennoch, ich glättete das Blatt Papier und legte es zu den anderen in das Schubfach meines Schreibtisches. Danach nahm ich auf dem Stuhl Platz und blickte auf den kleineren Zettel, der seit heute Morgen auf der schwarzen Lederunterlage lag. Darauf stand eine Telefonnummer. Karls Telefonnummer. Bill hatte sie mir gegeben. Ich hatte ihn gebeten, Karl nicht zu erzählen, dass ich mich mit ihm treffen wollte.

Bill hatte angeboten, mich zu begleiten, aber ich musste das allein tun. Sollte er gefährlich sein, hätte ich die erste Gelegenheit, zu überprüfen, ob ich mich in der echten Welt wehren konnte. Aber vielleicht suchte er wirklich nur nach einem Weg, sein Gewissen etwas zu erleichtern.

Ich legte den Zeigefinger auf das Papier, schob den Daumen an die untere Kante und hob es hoch. Ich hatte in den vergangenen Stunden so oft darauf gestarrt, dass ich die Zahlenreihe auswendig kannte. Dreimal hatte ich sie in mein Telefon getippt. Dreimal hatte ich die Nummer nicht gewählt. Stattdessen hatte ich das Haus verlassen und war zum Kiosk gegangen. Wenige Meter bevor ich ihn erreicht hatte, war ich überzeugt davon gewesen, Karl dort zu treffen. So, als müsste er noch immer da stehen. Wie vor drei Jahren. Natürlich hatte er nicht dort gewartet.

Also war ich wieder nach Hause gegangen, hatte diesen dämlichen Brief gefunden und saß nun hier. Ich zog mein Telefon aus der Hosentasche, legte den Zettel auf den Tisch und tippte die Nummer ein weiteres Mal ein. Und dieses Mal drückte ich auf das Hörersymbol, um den Anruf tatsächlich durchzuführen.

Es klingelte. Zweimal. Dreimal. Und dann sprang die Mailbox an. Es war nur die automatische Ansage, die mich dazu aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Ich tat es nicht, lauschte aber ein paar Sekunden der Stille und legte dann auf. Offensichtlich war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Vielleicht hatte er das Gefängnis auch noch gar nicht verlassen.

Ich legte das Telefon zu dem Zettel und stand auf. Es war 15 Uhr und in einer Stunde würde ich meine erste Stunde Krav Maga an diesem Tag geben. Vier Kurse unterrichtete ich heute und im Anschluss würde ich selbst eine Stunde mit Peter trainieren. Karl konnte ich danach anrufen.

Als ich fast sieben Stunden später zurück in meine Wohnung kam, drängte es mich zunächst in die Küche. Ich hatte seit dem Mittagessen nichts zu mir genommen außer Wasser und einem Energydrink. Mein Magen fühlte sich an wie ein einziges riesiges Loch, das seltsame Geräusche von sich gab.

Also stellte ich zwei Pfannen auf den Herd, legte in beide ein großes Stück Butter und holte dann Burger Patties, Eier, Brot und Gemüse aus dem Kühlschrank. Meine Ernährung hatte sich meinem Trainingsplan angepasst und mein Körper dankte es mir mit starken Muskeln. Ich goss mir ein Glas Milch ein und setzte es an die Lippen, als ich aus dem Wohnzimmer ein Geräusch vernahm. Auch meine Sinne hatte ich trainiert. Meine Augen scannten meine Umgebung auf mehr Details, meine Nase nahm auch die kleinste Veränderung in der Luft wahr und meine Ohren achteten darauf, ob sich um mich herum etwas bewegte. In diesem Fall war es harmlos. Das Vibrieren meines Handys schaffte zusammen mit der Holzoberfläche des Tisches ein brummendes Geräusch.

In den letzten Stunden hatte ich nicht an Karl oder den Anruf gedacht, den ich nach dem Training hatte tätigen wollen. Vielleicht, nein, wahrscheinlich hatte ich den Gedanken verdrängt. Eigentlich war es jetzt ohnehin zu spät, um jemanden via Telefon zu kontaktieren. Aber das sah der Anrufer offenbar anders.

Ich ging ins Wohnzimmer, aber als ich meinen Schreibtisch erreichte, war das Geräusch verklungen. Ich öffnete die Anrufliste. 43 verpasste Anrufe. 43! Alle von der gleichen Nummer. Karls Nummer. Ich schluckte. Offenbar steckte auch in ihm etwas sehr Ungesundes. Mein Entschluss, mit ihm zu sprechen, wankte. Andererseits offenbarte seine Penetranz, dass er sehr dringend mit mir sprechen wollte.

Im nächsten Moment klingelte das Telefon erneut.

Ich seufzte, ließ meinen Finger über dem grünen Hörersymbol schweben und zögerte. Ich hatte keine Lust auf dieses Gespräch. Da ich aber noch weniger wollte, dass er aus Verzweiflung vor meiner Tür auftauchte, senkte ich meinen Finger auf das Display.

„Hallo?“

„Lara!“ Er klang überrascht und aufgeregt. „Du nimmst ab.“

„Ähm, ja, entschuldige. Ich war nicht da.“ Wofür bat ich ihn um Verzeihung? Ich schloss die Augen. Das Gespräch machte mich nervös. Schon jetzt.

„Das ist doch nicht schlimm. Es tut mir leid, dass ich so oft angerufen habe, aber ich habe in den letzten drei Jahren wohl ein paar Manieren verloren.“

Ich sagte nichts.

„Ich bin auf jeden Fall sehr froh, dass du mit mir sprechen möchtest.“

„Ähm, ja, das …“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

---ENDE DER LESEPROBE---