Lass mich nicht allein mit ihr - Tex Rubinowitz - E-Book

Lass mich nicht allein mit ihr E-Book

Tex Rubinowitz

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Beschreibung

Dieses Buch nennt sich selbstbewusst «Roman». Dabei heißt der Ich-Erzähler wie der Autor. Er weist auch gewisse biographische Gemeinsamkeiten mit diesem auf, aber was er vom Stapel lässt, ist so haarsträubend, voller irrer Zufälle, identitätenverbiegend, dramatisch und unernst, dass man nur folgern kann: Das ist nicht das wahre Leben, das ist Quatsch. Oder Literatur, eine wilde Räuberpistole, mit Doppelgänger, geheimen Botschaften (Schlüssel, Schließfach, heikle Polaroids, USB -Stick), einer erotischen Obsession (Vorabendserien-Diva Anja Kruse) und einem Toten im Kleiderschrank. Doch der Erzähler fährt sich immer wieder selbst in die Parade, verliert sich in intimen Bekenntnissen, Aufzählungen, Abschweifungen, reflektiert über Kunst und über Hochstapler in der Kunst; und immer wenn er es wirklich zu bunt treibt, schaltet sich ein ziemlich unsympathischer Lektor ein, um ihm den Marsch zu blasen und klarzustellen, was gerade geht auf dem Buchmarkt: Sogleich beginnt der Erzähler folgsam einen brutalen Thriller, um nach ein paar Absätzen doch wieder in eine völlig andere Richtung zu preschen, denn dieses phantastische Buch tut vieles – es verwirrt, reizt zum Lachen und zum Nachdenken, blendet durch Virtuosität, unterhält aufs Köstlichste –, aber brav eine Geschichte erzählen, das tut es nicht.

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Seitenzahl: 340

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Tex Rubinowitz

Lass mich nicht allein mit ihr

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Dieses Buch nennt sich selbstbewusst «Roman».

Dabei heißt der Ich-Erzähler wie der Autor. Er weist auch gewisse biographische Gemeinsamkeiten mit diesem auf, aber was er vom Stapel lässt, ist so haarsträubend, voller irrer Zufälle, identitätenverbiegend, dramatisch und unernst, dass man nur folgern kann: Das ist nicht das wahre Leben, das ist Quatsch. Oder Literatur, eine wilde Räuberpistole, mit Doppelgänger, geheimen Botschaften (Schlüssel, Schließfach, heikle Polaroids, USB-Stick), einer erotischen Obsession (Vorabendserien-Diva Anja Kruse) und einem Toten im Kleiderschrank.

 

Doch der Erzähler fährt sich immer wieder selbst in die Parade, verliert sich in intimen Bekenntnissen, Aufzählungen, Abschweifungen, reflektiert über Kunst und über Hochstapler in der Kunst; und immer wenn er es wirklich zu bunt treibt, schaltet sich ein ziemlich unsympathischer Lektor ein, um ihm den Marsch zu blasen und klarzustellen, was gerade geht auf dem Buchmarkt: Sogleich beginnt der Erzähler folgsam einen brutalen Thriller, um nach ein paar Absätzen doch wieder in eine völlig andere Richtung zu preschen, denn dieses phantastische Buch tut vieles – es verwirrt, reizt zum Lachen und zum Nachdenken, blendet durch Virtuosität, unterhält aufs Köstlichste –, aber brav eine Geschichte erzählen, das tut es nicht.

Über Tex Rubinowitz

Tex Rubinowitz, geboren 1961 in Hannover, lebt seit 1984 als Witzezeichner, Maler, Musiker und Schriftsteller in Wien. 2014 erhielt er den Bachmann-Preis.

Ein Jahr später erschien bei Rowohlt «Irma», und die Süddeutsche Zeitung urteilte: «Das Buch ist bestürzend gut.»

Ich habe mir immer vorgestellt, dass die Einsamkeit der Sitz der Angst ist, dort lebt und atmet sie, und eine schwere Dunkelheit nistet sich in der Seele ein. Und während man selbst von der Einsamkeit verschlungen wird, macht der Rest der Welt einfach weiter.

Tracey Emin

Die Stopp-Start-Methode

1.

Als ich etwa sieben Jahre alt war, hat man mir einen vermeintlichen Tumor aus dem Leib operiert. Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, wie ich im Krankenhaus lag, ein viel zu kleines Gitterbettchen, für Babys, weil nichts anderes frei war, ich musste mit angewinkelten Knien schlafen. An die Operation kann ich mich natürlich nicht mehr erinnern, aber meine Mutter hat dann viel später erzählt, dass das kein Tumor war, kein reines Gewebe, kein böser Matsch, nein, es war etwas mit einem Zahnrudiment und langen schwarzen Haaren. Die Ärzte schlossen daraus, dass meine Mutter, ohne dass sie es wusste, mit Zwillingen schwanger gewesen war und ich im Mutterleib meinen eigenen Zwilling verschluckt haben musste.

2.

Mein Lektor fragte mich, ob ich wisse, warum sich meine Bücher nicht verkaufen würden. Ich fragte ihn zurück, ob er es denn wisse. Er meinte, ja, aber er wolle es nur mal von mir wissen, ob ich da so eine Vermutung hätte. Ich könne es mir denken, sagte ich; Bücher verkauften sich nun mal nicht mehr so gut, das sei doch allgemein bekannt, es gebe keine nachwachsende Lesergeneration. Er meinte, der eigentliche Grund sei aber ein anderer. Wenn er es mal etwas direkt sagen dürfe: Ich hätte nichts zu erzählen. Ich würde dem bisschen von mir Erlebten und Nacherzählten vertrauen und glauben, das reiche schon, bisschen Stuck ranklatschen da und dort, mehr ist da nicht, und am Ende soll dann der Stuck die ausbleibende Geschichte ersetzen.

Das Problem war, dass ich bereits nichts mehr nachzuerzählen hatte, mit meinem Latein am Ende war, das meiste war auserzählt, ich war auserzählt, was sollte ich denn jetzt noch erfinden, und vor allem, wie? Und was interessiert mich überhaupt? Sex? Verbrechen? Alkohol? Die SVA-Formel, zu der mir nichts anderes einfällt als die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, die SVA, der ich monatlich Unsummen in den Rachen warf, ohne je nennenswert krank zu werden, Summen, mit denen sich andere Arme, Beine und Köpfe reparieren lassen. Von MEINEM GELD, das ich nicht verdiene, «verdiene» in jeder Hinsicht.

«Sie immer mit Ihren Formeln, SVA, soso. Wie hieß die Formel in Ihrem letzten Buch? SDGA, was war das noch mal? Sich den Gegebenheiten anpassen? Glauben Sie, dass nur Sex, Verbrechen und Alkohol vorzukommen brauchen, und die Geschichte beginnt zu rollen? Ich muss nicht lange recherchieren und kann Ihnen aus dem Stand Beispiele nennen, bei denen das nicht funktioniert. Sie können auf der anderen Seite ein Buch über Äpfel schreiben, und das wird gekauft wie verrückt, gibt ja grad ein gutes Beispiel dafür.»

Äpfel? Ich glaube in «Altes Land», das Buch, das er offenbar meint und das seit zwei Jahren auf den oberen Rängen der Bestsellerlisten festgenagelt ist, geht es um Kirschen, aber ich korrigierte ihn nicht. Kirschen, ich soll also ein Buch über Kirschen schreiben, weil es vielleicht gerade Mode ist, irgendwas rural Gefärbtes, warum nicht gleich über Rüben? Der Rübenmörder. Immer wenn er Rüben aß. Kohlrübe, gedeihe.

Das wird nichts, aber er hatte recht, ich hatte wirklich nichts zu sagen, weil ich ja auch nichts erlebt hatte und noch weniger erlebe. Wie auch, ich mache ja nichts. Aus dem Vor-sich-hin-Brüten-in-der-ungelüfteten-Stube entsteht nichts Nennenswertes; nichts Deprimierenderes als ein Vakuum, und wenn darüber hinaus noch etwas entstünde, wäre das so unglaubwürdig, dass jeder Leser schnell ausgestiegen wäre, wie aus einem Bus, der in die falsche Richtung fährt. Mir ein Rätsel, wie ich 2014 diesen Literaturpreis bekommen konnte, den Charles Barsotti Award for Short Fiction (BASF). In den Zeitungen hieß es hinterher, der Jahrgang sei eben ein schlechter gewesen und ich von den Schlechten noch der Beste, dass ich mir darauf aber nichts einbilden dürfe, dass mir der Preis «passiert» sei, auch wenn er mir eigentlich nicht zustünde, IMMER muss ich mich dafür rechtfertigen, ein Preis der ewigen Rechtfertigungen, das ist für mich der Preis des Preises. Das wäre doch mal eine Marktlücke, konsequent Preise zu vergeben, die die Preisträger blamieren.

Und damit das dann mal ein Ende hatte, fing ich die Sache mit dem Klauen an, ich klaute mir einfach für mein letztes Buch «Virna» alles Mögliche aus dem Internet, etwa von der einfachsten, zugänglichsten Quelle, aus Wikipedia, ich schrieb da einfach ab, und dann war ich plötzlich der Dieb, der Plagiator. Aber es war ja beabsichtigt, durch die Schande war ich die Bürde des Preises und der ewigen Zurechtweisungen los, der Fokus war verschoben, ich konnte wieder normal atmen. Das Pikante indes, nein, das Schöne an diesen Plagiatsvorwürfen war aber nicht nur, dass ich einerseits die fraglichen Stellen (es ging um Spatzen als Standvögel und um einen Gitarristen, der stets mit einem über den Kopf gestülpten Eimer auftritt) höchstpersönlich in die Wikipedia geschrieben (kleine Prokrastinationsmaßnahme, bei Stillstand immer mal ein bisschen bei Wikipedia rumschrauben) ich mich also gewissermaßen selbst bestohlen hatte, sondern dass andererseits auch der Plagiatsvorwurf von mir selbst kam. Ich hatte in der FAZ unter Pseudonym einen Text über «Virna» platziert, aber keine normale Rezension, keine inhaltliche Kritik, sondern das Buch sozusagen buchhalterisch pinzettiert und gescannt, oder zumindest so getan, als hätte ich es nach eindeutig erkennbaren Plagiatsstellen gescannt. Das war dann ein kleiner Aufreger im Sommer 2015. Ich hatte mich an mir selbst bedient und mich selbst daraufhin angezeigt, um davon abzulenken, dass ich einen Preis gewonnen hatte, von dem behauptet wird, dass er mir nicht zustünde: Wie soll auf so einem wackligen Fundament überhaupt noch etwas Neues, etwas Inspirierendes gedeihen? Und was? Eine Kohlrübe?

Als ich dann in der Folge in einem Interview der ‹Süddeutschen Zeitung› darauf angesprochen wurde, entschuldigte ich diese plagiierenden Passagen dann als Sollbruchstellen, der Roman habe als riskant kriminelle Variante einer konkreten Poesie im Geiste des Fluxus brechen, alles habe kaputtgehen sollen, damit der Fluss des Erzählens wieder zu fließen anfangen könne. Die inkriminierten faktenbasierten Stellen hatten auch gar nichts mit der Geschichte zu tun, die standen da im Text einfach nur so rum. Diese Taktik nennt sich die Stopp-Start-Methode, das kommt aus der Urologie, sie zählt zu den effektivsten Wegen, einem vorzeitigen Samenerguss vorzubeugen. Ich spielte sowohl in der Inkognito-Selbstbezichtigung als auch in dem Interview die Rolle des geheimen Literatur-Urologen. Aber das begriff natürlich weder der Mann von der SZ, der aber zumindest freundlicherweise so tat, als verstünde er, noch sonst jemand, das war so konstruiert und falsch und diente dem Verkauf von «Virna» am Ende auch nicht wesentlich. Fluxus war schon immer eine misstrauisch beäugte Randkunst, einzig und allein, weil Fluxus ja nichts will: das möglichst Absichtslose und Bedeutungsarme in ständiger Bewegung, ein Seufzer hier, eine Spur auf dünnem Eise da, nichts anderes war das, was ich hinterließ, und dann auch immer noch mit dem Stigma des müffelnden Plagiats. Abgelaufene Kunst eben, auch noch zum Selbstzweck. Nichts zu erzählen haben und das Nichtvorhandene mit glitschigen Gehirnkapriolen verbrämen, um sein zerknülltes Ego zu retten; kein Wunder, dass da niemand mehr folgen kann oder mag. Insofern hatte mein Lektor recht.

3.

Vor gut einem Jahr bekam ich vom Österreichischen Kulturinstitut in London eine Art Aufenthaltsstipendium, einen Monat konnte ich im Institut wohnen, ich hatte dafür nichts weiter zu tun, als am Ende einen kleinen Text abzuliefern. Das wäre, dachte ich, vielleicht meine Rettung, mal wegkommen, aus dem eigenen Mustopf, in eine andere Umgebung, vielleicht würde mir ja etwas einfallen, vielleicht könnte ich in der Fremde etwas aus mir rausschaufeln, oder die Fremde würde etwas aus mir rausschaufeln.

Ich war zuletzt vor etwa dreißig Jahren in London gewesen, ich hätte nicht mal sagen können, ob sich die Stadt verändert hat, dreißig Jahre in Absenz lässt diese Frage gar nicht mehr zu. Ich kann über London nichts mehr sagen, weshalb ich mir vornahm, herzukommen, um festzustellen, dass ich die Stadt eigentlich auch gar nicht brauche. Und wenn mir die Stadt dann doch gefiele, könnte ich ja immer noch etwas Positives schreiben, aber ich bezweifelte, dass mir das gelingen würde, ich bin zu alt, um noch mal eine Euphorie zu entwickeln, die vor dreißig Jahren vielleicht noch leicht erzeugbar gewesen sein mag.

Das Kulturinstitut befindet sich im Stadtteil Knightsbridge, ein vollkommen versiegeltes, aseptisches Viertel, das es einem schon mal leicht macht, London nicht zu mögen, eine Stadt, deren Bewohner ständig klagen, sie sei so hart zu ihnen.

Weshalb die Londoner auch gleichzeitig erschöpft und nervös sind, und extrem laut, ich verstehe nicht, warum alle so schreien müssen, man bekommt Kopfschmerzen, weil man seine eigenen Gedanken nicht denken kann und die Formulierung der Gedanken nicht hören kann, es ist alles so mühsam. Jemand im Institut meinte, die Stadt sei antsy, ameisig, das trifft es aber nicht, das meint kribbelig, elektrisiert und wäre ja etwas Interessantes, kribbelig ist hier aber gar nichts, auch wenn sich London oder die Londoner gerne so sähen, es ist nur gärender Stress hier, und der muss kompensiert werden durch aggressive Lärmfolter, und dann sickern Stress, Druck und Krach, gebunden mit Bier, Schweiß, Tränen und Kotze, in die Teppichböden, woran sich Milliarden Milben ihre Mägen verderben. Vielleicht schreien die Briten so, weil sie irrigerweise glauben, dass diese überall ausliegenden unappetitlichen Teppichböden auch noch das ganze Meinungszeug und die vulgären Witze und die hohlen Phrasen schlucken und nichts davon mehr übrig bleibt, und morgen schon ist ganz London an seinem Krach gänzlich erstickt, und niemand kann sich mehr an die Bewohner erinnern, vor allem sie selbst nicht.

Ich saß in meinem Monat in London jeden Tag im unspektakulären Royal Oak Pub in der Tabard Street 44, Stadtteil Newington, und versuchte meinen Auftragstext zu schreiben. Ich hatte über dieses Pub schon einmal geschrieben, in «Virna», aber das war erfunden, ich hatte das Lokal damals einfach blind ausgesucht, als Platzhalter, für irgendein vermilbtes Lokal unter Abertausenden in London. Im Buch war ich mit der titelgebenden Virna in der Stadt, um mich von ihr zu trennen, das war aber reine Fiktion, in Wirklichkeit war ich mit ihr in der Sowjetunion gewesen, genauer gesagt in Bratsk. Ich hatte sie dort kennengelernt, als ich mit der Transsibirischen Eisenbahn im strengen Winter 85 durch Sibirien nach Peking fuhr. In Bratsk musste ich aussteigen, weil mir im Zug jemand meine Schuhe gestohlen hatte. Ich verdächtigte den sinistren Nordkoreaner aus dem Nebenabteil, konnte es aber nicht beweisen, weil er plötzlich verschwunden war, auch konnte ich ja nicht in Socken nach Peking. Die Bahnpolizistin war eben Virna. Auch wenn eine Anzeige gegen einen unbekannten Langfinger sinnlos war, half sie mir neue Schuhe zu kaufen, sie empfahl mir Filzstiefel. Wir verbrachten einen schönen Abend in einer stark verräucherten Kneipe namens Безоар Сфера (Bezoarkugel), und sie wollte alles über London wissen, das war so eine Art Traumstadt von ihr, unerreichbar. Ich konstruierte ihr irgendwas zusammen, alles, was sie hören wollte, so gut kannte ich die Stadt ja auch nicht, und ein Bestandteil meines Berichts war eben ein erfundenes Royal Oak Pub, und sie sagte immer wieder, gut, dann stellen wir uns jetzt eben vor, wir sitzen im Royal Oak Pub, beschreib mir alles, wie bewegt man sich dort, wie gestikulieren Briten, wie viel Frauen kommen auf wie viel Männer, wie kommuniziert man worüber, wer sitzt dort und wo und wie, wie sind die anderen Gäste? Sie küsste mich, inmitten einer ihrer vielen Fragen, so unvermittelt und heftig, es war wie ein Kussraub oder als ob sie mich zum Schweigen bringen wollte. Jetzt wüsste sie genug über das Pub und London, sagte sie dann. Mir blieb der Atem weg, und mit ihm die Antworten, sie rammte mir unterm Tisch ihren Polizeifilzstiefel in den Schritt, ich versuchte in meiner Verwirrung und weil der Kellner ein bisschen wie Jürgen Prochnow aussah, noch irgendwas über «Dune» zu erzählen, den neusten Film von David Lynch, in dem Jürgen Prochnow mitspielte und der mich so begeistert hatte, kurz vor meiner Abreise, ein bisschen über den Inhalt, das Spice und die Sandwürmer, ich sagte, ich würde gerne mit ihr so einen Sandwurm mit Klopfen anlocken und dann zureiten. Sie kannte Lynchs Filme nicht, nur seinen Comicstrip «The Angriest Dog in the World», den ihr ihr Bruder, der als Zuhälter in Los Angeles lebte, aus der Zeitung ausschnitt und wöchentlich nach Bratsk schickte, damit sie Englisch lernte, was für eine gute Art, eine Fremdsprache zu lernen. Sie verstand zwar den Strip meistens nicht, aber sie hätte über diesen zornigen Hund tatsächlich Englisch lernen können.

Irgendwann musste sie aufs Klo, und sie fragte mich, ob ich mitkäme, nur zuschauen, nichts sonst, keine Hintergedanken. Ich ging mit. Sie schien es zu genießen, für mich zu pissen, oder genoss, dass ich es genoss, aber ich genoss es nicht wirklich oder vielleicht nicht so, wie sie es sich erhoffte, es war nur, nun ja, interessant, das ganze Damentoiletten-Prozedere, das mehr von einem Ritual hat und sich vom männlich sorglosen, ja spielerischen (Namen in den Schnee schreiben) Pisspragmatismus doch sehr unterscheidet.

Als die Bezoarkugel schloss, nahm sie mich mit zu sich nach Hause, in eine deprimierend monotone Plattenbausiedlung, in der viele Fenster nicht mal Scheiben hatten, sondern nur Zeitungspapier, bei minus 30 Grad, das muss man sich mal vorstellen. Eine Fensteröffnung war sogar mit einem Ölgemälde abgedeckt, auf dem ein Fenster abgebildet war, aus dem eine pausbäckige und dickarmige Kolchosearbeiterin im bunten Sommerkleid mit einer Sichel winkte, als wollte sie die Luft schneiden.

Ich weiß von der Nacht nur noch, dass Virna eine sogenannte Schlupfwarze hatte, auf der linken Brust, und auf allen zehn Zehen schwarze Haare, sie sahen ein bisschen aus wie Fliegen. Am nächsten Tag brachte sie mich und meine Filzstiefel wieder zum Zug. Sie küsste mich nicht, sie sagte, sie würde gerne, aber Uniformierten sei das in der Sowjetunion verboten. Ich sah sie nie wieder.

Und jetzt saß ich endlich im richtigen und einzigen Royal Oak Pub, aber eigentlich nur, um sicherzugehen, dass ich nicht wirklich hier saß, und auch wirklich noch nie hier war, und in gewisser Weise war ich immer noch nicht hier, weil der Krach ja gar keine physische wie psychische Materialisation zuließ.

Dennoch war das Lokal ganz nett, sie verkauften sogar Enteneier, nicht mal gekochte, sondern rohe, wie mir der Wirt auf Nachfrage sagte, manchmal verkaufen sie auch Marmelade, ich war allerdings zu schwach zu fragen, nach welchen zyklischen Gesetzen diese Angebote funktionieren. Bücher verkauften sie übrigens auch, Eier, Bücher, Marmelade, vielleicht war das ein Code oder ein zu lösendes Rätsel, eine Lotterie, was kommt als Nächstes? Hufeisen? Wer es errät, gewinnt ein Pferd?

Auch in dieser Idylle inmitten des galoppierenden Krachs gelang es mir nicht, etwas zu schreiben, es funktionierte einfach nicht. Jeden Morgen ging ich in den nahe dem Institut gelegenen Hyde Park, zum Schwimmen in der Serpentine, das war meine Londoner Routine, und sie war so ekelhaft. Ich machte das unbewusst ganz sicher, um mich zu bestrafen, das Wasser des Teichs ist unfassbar dreckig, ja ölig, man bekam zur klebrigen Haut auch noch einen Juckreiz, das Wasser war flach, beim Kraulen berührte man mit den Fingerspitzen den Boden, der mit strähnig grauen Wassergräsern bewachsen war, am Grund sah ich zwischen den Gewächsen Gerümpel, alte Farbeimer, eine Flosse und eine Wäschespinne. Das Ufer war vollgeschissen von den großen Gänseherden, die hier überall rumwatschelten, im Wasser schwamm man mit Hunden. Das einzig Sympathische war, dass mit mir regelmäßig ein Mann schwamm, der nur ein Bein hatte, seine Prothese legte er stets am Ufer ab, er wusste sicher, dass er jeden damit erschreckte. Vielleicht wollte er sich für den Verlust des Beins an der Gesellschaft rächen.

Als mein Monat zu Ende ging, hatte ich außer einem hartnäckigen Juckreiz nichts vorzuweisen. Ich sagte den Leuten im Institut, dass alles ganz toll gewesen und ich dankbar sei, ihnen aber jetzt noch nichts geben könne, ich würde das von Wien aus machen und ihnen dann schicken. Ich hatte vor, das einfach verplätschern zu lassen, bis sich kein Mensch mehr daran erinnerte, dass ich noch etwas abliefern musste. Und dann kommt der nächste Stipendiat, und ich bin niemals dort gewesen.

Aber dann folgte nach etwa einem halben Jahr vom Institut eine Mail. Ich bekam gleich ein schlechtes Gewissen, doch in der Mail stand, sie dankten recht schön für den Text. Sie fänden diese Perspektive «spannend», dass ich mich sozusagen selbst durch einen anderen beobachte. Ob es recht sei, den Text auf die Homepage des Instituts zu stellen? Ich schrieb verdattert zurück, ja, ist gut, sollen sie nur machen. Diese Sorge war ich also los, ohne zu wissen, woher dieser Text plötzlich kam.

Sie fragten, wie sie ihn denn kennzeichnen sollten, denn er sei ja augenscheinlich so angelegt, als stamme er nicht von mir. Was solle drunter stehen? In Vertretung Tex Rubinowitz? Auftragstext Rubinowitz? Armand Rubinowitz? Wer ist überhaupt dieser Armand im Text? Ob ich dazu vielleicht etwas sagen möchte? Ich antwortete, ich kenne keinen Armand und es sei mir egal, wie sie das kennzeichnen, sie könnten selbst entscheiden, was sie für richtig erachteten. Danach hörte ich nie wieder etwas von ihnen, und auf der Homepage erschien auch kein Text.

4.

Tex wollte mal einen Tag alleine sein, nur für sich die Stadt erkunden, und ich verstehe das. Ich hatte zwar zu tun an diesem Tag, wir waren gerade im Stress mit einem sehr großen Kunden, wir lebten praktisch von ihm, Ford. Die größten Kunden sind meist die konservativsten, sie können sich nichts wirklich Originelles leisten, sie zahlen viel dafür, möglichst unsichtbar zu sein, paradox, aber es ist eben so. Der Ford Sierra bekam serienmäßig eine doppelt obenliegende Nockenwelle eingebaut, und das sollte ich nun beschreiben. Aber ich konnte nicht, es ging nicht, ich wusste nicht mal, wie man doppelt oben liegt und was Nocken überhaupt sind. Ich musste mal raus, ich verließ das Büro und dachte, ich folge Tex ein bisschen auf Abstand, wie ein Detektiv, vielleicht inspiriert mich das, nicht unbedingt für die Nockenwellen, einfach irgendwie frei werden, indem ich mir von ihm die Stadt zeigen ließ, die ich schon so gut zu kennen glaubte, sozusagen mit stellvertretenden Augen das sehen, was ich schon lange nicht mehr sehe.

Rund um das Österreichische Kulturinstitut ist nicht die beste Gegend für eine kleine Verfolgung im Geheimen, man kann sich nicht in Menschenmengen verstecken, weil es keine gibt, es gibt keine Bänke, der einzige Park in der Nähe ist klein und abgeschlossen, Schlüssel haben nur die Anrainer. Er tut so, als sei es ein öffentlicher Raum, aber es ist nur eine Simulation, denn ein Park ist ja kein Park, wenn keiner drin ist. Ich lehnte entfernt am Zaun und wartete, dass Tex aus der Tür des Instituts tritt. Um nicht zu deutlich erkennen zu lassen, dass ich hier auf jemand wartete, stöberte ich ein bisschen in meinem kleinen Telefon. Bei Facebook sah ich eine dieser dummen automatisch generierten Aufgaben:

«Lieber Armand, Facebook möchte dich auf eine kleine Reise in die Vergangenheit schicken. Hier ist ein Foto, das du heute vor genau vier Jahren gepostet hast, erinnerst du dich? Schau dir an, was du in dieser Zeit noch so gemacht hast.»

Das Foto zeigt eine an irgendeiner Hauswand befestigte blaue Plakette, auf ihr stand:

Luke Howard

1772–1864

Namensgeber der Wolken

Lebte und starb hier

Ich konnte mich an die Aufnahme erinnern. Ich saß beim Fotografieren auf dem Oberdeck eines Busses, und das Schild hing an einem desolaten Gebäude, dessen Fenster mit weißen Platten zugenagelt waren. Ich konnte mich nicht daran erinnern, warum ich in dem Bus saß und wohin ich fuhr, aber an das Schild konnte ich mich erinnern, ganz besonders natürlich, weil ich es fotografiert hatte und weil ich so fasziniert war von Luke Howards Titel: Namensgeber der Wolken, ephemerer und lieblicher als etwas, was sonst so auf diesen Plaketten steht.

Weil Tex nicht aus dem Institut kam, suchte ich mit meinem Telefon die Adresse der Plakette. Bruce Grove Nr. 7 in Tottenham. Zufälligerweise war ich gestern in Tottenham gewesen. Konnte Facebook das wissen? Hatte es deshalb das Foto aus dem Haufen rausgesucht, und nicht wegen diesem von verblödeten Robotern konstruierten Vierjahreserinnerungsspielchen, hatte es mich beobachtet und den Moment gewählt, um mich mit schnöden Koinzidenzen zu zermürben? Ich hasse Koinzidenzen und will, dass sie irgendwann mal aufhören, einen zu belästigen und so zu tun, als wären sie etwas, wofür wir dankbar sein müssen. Kleine Lottogewinne der Erschöpften, das sind Koinzidenzen.

Ich googelte ein bisschen etwas über Luke Howard, den Namensgeber der Wolken. Britischer Chemiker und Amateur-Meteorologe. Zwischen 1818 und 1820 veröffentlichte er regelmäßig über das Klima von London. Das war die Zeit, in der er den Wolken ihre Namen gab, weil sie offenbar bis dahin keine hatten. Cumulus, Stratus, Cirrus, Cirrostratus, Cirrocumulus. Ein Gedicht aus klumpigen Zischlauten.

Plötzlich kam Tex auf mich zu. Ich erstarrte und war schon darauf gefasst, dass ich mir jetzt eine Geschichte würde ausdenken müssen. Er nahm aber keine Notiz von mir. Ich war in mein Handy vertieft, tat also beschäftigt, tauchte mit gesenktem Kopf in den Wolken ab, und er ging ganz knapp geradewegs an mir vorüber, seine Schulter war eine Schulter von meiner entfernt. Ich verstaute mein Telefon in der Tasche und begann ihm zu folgen, darauf bedacht, nicht zu flink und ihm nicht zu nahe zu sein, mein Herz schlug jetzt schneller, hoffentlich hörte er mich nicht.

Tex ging, ohne zu hetzen, inspizierte neugierig seine Umgebung, bewegte sich aber auch irgendwie zielgerichtet. Er sah an den Gebäudefassaden hoch, an denen er vorbeikam, aber nie zu lange, es war ein fließendes Observieren. Ich ging ein paar Meter hinter ihm, mein Tempo war sein Tempo, nach einiger Zeit fühlte ich mich weniger wie ein ihn verfolgender Schatten, sondern eher anonym wie eine Filmkamera. Ich war eine Kamerafahrt, wenn ich nach unten geschaut hätte, während da keine Schuhe gewesen, sondern Schienen.

Tex hatte ein neutrales, graues T-Shirt an. Ich wollte mehr über ihn erfahren und versuchte es über seinen Gang, seine Schultern, die Haut um den Hals, da konnte man ja lesen, wie so einer ist. Das T-Shirt schlotterte fahl um seine resignativen Schultern, die Frisur konnte sich nicht entscheiden, was sie sein sollte, nur die Hose war eine Hose, die sprach gar nicht.

An einer Kreuzung stoppte er und drückte auf den Ampelknopf, er wartete auf Grün, wenn ich jetzt weiterging, würde ich ihn einholen, wenn ich stehen bliebe, wäre das unlogisch und noch auffälliger, also tauchte ich wieder in meinem Telefon ab.

Luke Howard, der Namensgeber der Wolken, hat einen starken Einfluss auf Goethe gehabt, der dem britischen Chemiker ein Gedicht widmete. In dieser kleinen Ampelphase hatte ich das Gedicht schnell gefunden, und versuchte es gleich auswendig zu lernen.

Er aber, Howard, gibt mit reinem Sinn

Uns neuer Lehre herrlichsten Gewinn.

Was sich nicht halten, nicht erreichen läßt,

Er faßt es an, er hält zuerst es fest;

Bestimmt das Unbestimmte, schränkt es ein,

Benennt es treffend! – Sei die Ehre dein! –

Wie Streife steigt, sich ballt, zerflattert, fällt,

Erinnre dankbar deiner sich die Welt.

Tex war verschwunden, ich hatte mich wohl zu lange mit dem Gedicht beschäftigt. Ich blickte von meinem Handy rüber zum Hyde Park, sah keine Spur von ihm, er war wohl im Park. Ich hatte ihn verloren, blöd, das wäre leicht vermeidbar gewesen. Ich ging durch das Tor des Parks, über den Sandstreifen für die sinnlosen Pferde, und suchte alles ab nach dem Mann mit dem grauen T-Shirt. Ich lief weiter Richtung Serpentine, vorbei an im Gras liegenden Familien, die sich in der englischen Sonne zu sonnen versuchten. Eine Gruppe spielte Frisbee, sie warfen ihre giftgrüne Scheibe zwischen den Sonnenden und deren Sonne. Ein kleiner Junge und zwei etwas ältere Mädchen standen beieinander, der Junge hielt einen langen Stock in der Hand, die Mädchen fragten, was er damit vorhabe, der Junge antwortete: «Vielleicht setzt sich ja ein reicher Vogel drauf.»

Ich war erleichtert, als ich Tex dann doch sah. Er schwamm im Wasser auf mich zu, kraulend; statt der normalen hatte er eine Schwimmbrille an und eine gelbe Badekappe aus Stoff auf dem Kopf. Wieder war ich überzeugt, dass er mich bemerkt haben musste, aber als er am Rand war, drehte er um und schwamm davon. Am Ufer lag ein Bein, da hatte wohl einer seine Prothese vergessen, oder jemand hatte sie einem Einbeinigen gestohlen, was ich in seiner Niederträchtigkeit plötzlich gut fand.

Um mich ein bisschen auszuruhen und um eine gute Beobachtungsposition auf den Schwimmer zu haben, setzte ich mich auf eine Bank. Etwas weiter entfernt von mir war eine Gruppe mit vier Leuten, zwei Paare augenscheinlich, sie waren aber noch in Hörweite, und ich lauschte ihrem Gespräch, während ich Tex bei seinen monoton geschaufelten Bahnen zusah.

Eine Frau hatte ihren Kopf auf dem Schoß eines Mannes abgelegt, als sei er ihr zu schwer geworden. Sie sei, wie sie erzählte, im Begriff zu kündigen. Sie erzählte, dass sie ihren Job satthätte, morgen würde sie ins Büro des Chefs gehen und einfach sagen, sie könne das nicht mehr ernst nehmen hier, diese Arbeit könne man nur ironisch machen, und es sei ihr egal, was er darauf sagen werde. Die andere Frau meinte, das sei eine richtige Entscheidung, und reichte ihr ein Würstchen im Schlafrock.

Über mir ballten sich ein paar Wolken, die einfach nur aussahen und vielleicht uninterpretiert aussehen wollten wie normale Wolken. Tex schwamm weiterhin seine Bahnen, mal atmete er links, mal rechts, mal nach dem zweiten, mal nach dem vierten Schlag, eine Ordnung war nicht zu erkennen. Ich ließ ihn nicht aus den Augen, er war leicht zu orten mit seiner gelben Badekappe, ein leuchtender Punkt, erst wurde er kleiner, dann wieder größer, so als ob jemand in Zeitlupe Tennis auf der Oberfläche des Wassers spielen würde.

Die Frau neben mir sah ihren Mann an, vermutlich war es ihr Freund, und sagte, sie sei müde von London, sie seien schon viel zu lange hier. Der zweite Mann gab ihr recht, auch er wolle weg. Alles sei zu teuer, es sei schwer, sich über Wasser zu halten. Die ganzen schönen Galerien, sagte die Frau halb verzweifelt, und sie habe nicht mal Zeit, sie zu besuchen. Aber jetzt, beruhigte sie der Mann, wo der Sommer nun mal angekommen sei, werde es doch alles etwas leichter, und man könne sich häufiger in den Parks treffen.

Ich versuchte mich zu erinnern, was ich eigentlich vor vier Jahren, im Sommer 2013, so gemacht hatte und wohin ich wollte, als ich das Foto der Plakette vom Bus aus machte. Ich konnte mich zwar an das vernagelte Gebäude erinnern, an sonst aber nichts, so als sei auch alles andere außerhalb der Plakette vernagelt gewesen. Es wird ein Tag wie dieser gewesen sein. Und die Wolken werden nicht anders ausgesehen haben als heute.

Mir fiel auf, dass die Gruppe neben mir verstummt war. Ich drehte mich etwas um, um es nicht wie Starren aussehen zu lassen, und sah, wie die Frau, die eben noch auf dem Schoß des Mannes lag, seine Hose öffnete und seinen Schwanz rausholte. Sie nahm ihn in den Mund, während die andere Frau zusah. Der andere Mann legte seine Arme um die beobachtende Frau, seine Hände auf ihren Brüsten, unter ihrer Bluse. Niemandem sonst in diesem Park schien das aufzufallen, die Leute mit dem Frisbee spielten ungerührt mit ihrer trostlosen Scheibe. Aus der Ferne hätten sie sowieso nichts sehen können, was die vier da trieben.

Der zweite Mann knetete weiter die Brüste der Frau, seine Hände bewegten sich weiter nach unten, zwischen ihre Beine, er schob ihr den Rock hoch und spreizte mit Daumen und kleinem Finger wie mit einer Zange ihre Schenkel, während er immer zu dem anderen Paar schaute. So wie der Mann, mit der Frau im Schoß zusah, wie der andere Mann die andere Frau berührte, ihre Blicke waren verbunden wie schnell zwischen ihnen gewobene, kommunizierende Spinnenfäden, mal oben, mal unten, mal zwischen Mann und Mann, mal zwischen Frau und Frau, und das alles auch noch von mir aus dem Augenwinkel beobachtet, sozusagen als Protokollant der Blicke. Der Mann schob ihren Unterhosensaum zur Seite und tauchte zwei Finger in sie, zog diese heraus und führte sie zu den Lippen der Frau, wie aus einem Honigtopf. Sie leckte sie ab und schob sie seufzend wieder nach unten.

Tex kam aus dem Wasser, die Sonne glitzerte auf seiner Haut. Ich fühlte mich wieder wie eine Kamera und zoomte ihn heran, um ihn besser sehen zu können. Das Licht war grell und spiegelte sich auf der Wasseroberfläche, es war schwer, irgendetwas zu erkennen, es war wie ein überbelichteter Film. Aber was ich sah, war, dass das Bein offenbar fortgegangen war, es war nicht mehr da.

5.

London war lange vorbei, auch London als vertane Chance. Ich fuhr ratlos hin und kam noch ratloser zurück, na, toll.

Wer hatte diesen Text geschrieben? Ich jedenfalls nicht. Was soll das, wer foppt mich hier und warum, und warum sagt er das nicht, warum gibt er sich als mich aus und löst das dann nicht auf und schreibt dann einen Text, in dem ich beobachtet werde, warum gibt er (oder sie?) sich nicht zu erkennen, beobachtet mich wer, folgt mir jemand? WARUM? Vielleicht sollte ich mich Armand nennen und Drehbücher für Pornos schreiben.

Es war der Zeitpunkt gekommen, den ich immer vor mir hergeschoben hatte, jetzt war er da, der Punkt, an dem mir nichts mehr gelang, an dem mir alles so schwerfiel, dass ich offenbar niemals ankommen würde. Ich war sprachlos. Dass mir nichts mehr gelang, ist rückblickend betrachtet, dann allerdings doch etwas, das mir gelang, die Erkenntnis ist ja immerhin schon mal etwas, nichts ist besser als gar nichts, eine Art Lamento der Einsicht, manche können darauf etwas bauen, einen Neustart vielleicht, noch mal kurz einatmen, dann los, ich allerdings nicht, mir schnürte es die Kehle vor Ratlosigkeit. Warum mir nichts mehr gelang, liegt in den Dingen verborgen, aber ich fand den Grund nicht, die Ursache und die Wirkung wollten nicht mehr zusammenkommen. Es war zwar etwas da, das ich von allen Seiten betrachten konnte, aber es schaute, wie mir schien, nur ratlos und etwas blöde zurück, egal was, alles eigentlich, alles, was ich gemacht hatte und noch mache, alles, was ICH JETZT IN DIESEM MOMENT MACHE, Essen, Schlafen, Sehen (ratloses und vermutlich dabei töricht aussehendes Ins-Nichts-Starren, warum nicht auch noch ein hübsch dekorativ von der geöffneten, rissigen Unterlippe baumelnder Speichelfaden?), die arme, von sich selbst versklavte Seele auslüften, wenn ich aufwache, bin ich erschöpft und verkatert, ich muss dafür nicht mal vorher etwas getrunken haben, es ist so, als hätte ich mich im Traum betrunken oder der Traum oder das Unterbewusste hätte mich abgefüllt. Schlaf zögerte ich deshalb hinaus, so lange es ging, ich aß auch nichts mehr, also im Sinne von kultiviertem Speisen als Sozialtechnik, ich schlang in größter Hast, ich würgte das Zeug panisch runter, irgendwas, nur um nicht mit dem Essen als Tätigkeit und dem Essen als Materie konfrontiert zu werden, wie auf der Flucht, langsames Essen hätte mich natürlich nicht direkt umgebracht, aber ich wäre sofort eingeschlafen, aus purer Langeweile.

Ich kann über so was nichts schreiben, ich kann das meinem Lektor ja gar nicht zeigen, der lacht mich doch aus. Einmal meinte er, wenn ich nichts zu erzählen hätte, dann könne er auch nicht mehr viel für mich tun, mir höchstens empfehlen, das Beste daraus zu machen. Ob man diese Leere nicht «umwidmen» könne, auffüllen mit Ideen, davon hätte ich doch noch welche, alleine diese Wikipedia-Aktion, ich hätte damals alles nur noch schlimmer gemacht, niemand hätte verstanden, was da wirklich vorgefallen war und dass das alles Rollen von mir waren, witzig habe er das nicht gefunden, niemand habe das witzig gefunden, aber zumindest hätte ich offenbar ein Talent, auf mich aufmerksam zu machen. Könnte man daraus nicht etwas kneten? Seine Worte. Wirklich wahr. Kneten? Einen Golem? Ein Buch wie ein Golem, zuerst etwas über Kirschen und jetzt einen Golem, na, ich weiß nicht.

Das Dumme an meinem jetzigen, gelähmten Zustand ist Folgendes: Sobald ich etwas angeschaut habe, auch im übertragenen Sinn, mich also mit etwas beschäftigt habe, schaut es nur zurück, blöde, wie ich vorhin beschrieb, weigert sich indessen standhaft, mir etwas zu geben oder auch nur wegzugehen. Die Ratlosigkeit wird unsterblich, oder weniger pathetisch: wird zu einem Gelee, in dem ich eingeschlossen bin, immer unbeweglicher und immer sehnsuchtsloser. Weshalb nicht ich, sondern etwas in mir Dinge macht, über die ich mich wundere. Wo die jetzt plötzlich herkommen! Wie kommt der Teil von mir darauf, dieses und jenes zu machen?

Eine Liste zu erstellen, das ist immer die erste Beruhigungsaufgabe, zu der ich einem kaputten Patienten raten würde, wenn ich Psychotherapeut wäre: Machen Sie eine Liste, strukturieren Sie das Häufchen Asche, das Sie für Leben halten, und wenn Sie sich dann einen schönen Aschehaufen zusammengelogen haben, pusten Sie ihn einfach weg, und so schaue ich zu meiner Beruhigung jetzt stumpfsinnig und manisch wie ein lückenstalkender Odontologe ABBA-Videos an, weil ABBA zwar nicht mein Leben ist, ich aber ohne ABBA nicht leben könnte. Ich versuche eine Ordnung in das zu bringen, was ich da sehe, schreibe die Songs zusammen, in denen Agnetha ein Diastema, und solche, in denen sie kein Diastema mehr hat.

Mit Diastema: Bang-A-Boomerang. When I Kissed the Teacher. Take a Chance On Me. Mamma Mia. Ring Ring. So Long. SOS.

Ohne Diastema: Knowing Me Knowing You. Summer Night City. One Of Us Is Crying. When All Is Said And Done. Gimme Gimme Gimme. Voulez Vous. Angel Eyes. Move On. Elaine. Eagle.

Gut, also in späteren Jahren war das Diastema weg, andersrum wär’s ja auch eigenartig oder noch eigenartiger, allerdings hat sie zwischen ihren unteren Schneidezähnen immer noch eins. Warum verschwand dann oben die Lücke und ab wann genau, zwischen welchen musikalischen Phasen (der unschuldig stiebenden Bubblegum-Phase, der erwachsenen Phillysound-Phase oder der resignativen Eurotrash-Phase am Ende)? Und diese lückenhafte wie lückenlose Liste steht jetzt lose hier neben mir und schaut mich an, was soll sie jetzt, was soll ich jetzt mit ihr, was will sie von mir? Sie ist unvollständig, man könnte leicht googeln, wann genau sie ihre Zähne regulieren ließ und warum, man kann auch noch mehr Lieder hinzufügen. Warum sind nur die in der scheinwillkürlichen Liste, die einem gefallen, spielt das eine Rolle, ergibt sich dadurch eine höhere Wahrheit? Oder ist das aggressiver Interpretationsschlamm, mit dem ich mich selbst hypnotisiere? Ich weiß, dass es das ist, aber mache es dennoch, die billige Lust am Selbstbetrug. Man könnte einen Wikipediatext darüber schreiben, man könnte ihn ohne Quellenangabe zitieren, dann könnte man sich selbst anzeigen oder zur Abwechslung sich mal nicht rechtfertigen, sondern stattdessen sich fragen, wo man während des ABBA-Fiebers in Australien war und was man selbst für eine Krankheit hatte. Showaddywaddy-Scharlach in Salzgitter? Und schon wäre man wieder in der verhassten, stabreimschleudernden Witzelidiotengruppe, wie immer, wenn alles gesagt und getan ist.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass mir meine Mutter, als ich so etwa dreizehn war, verboten hat, ABBA zu hören, ich musste es heimlich tun. Sie spürte, dass diese Musik eine perfide Droge war, die meinen fragilen Geist lähmen und zermalmen wollte, die vorhatte, meine weiche Seele mit etwas schnell Aushärtendem zu impfen, und ist nicht etwa «Summer Night City» ein schamlos stampfender und dampfender Sexbeat, und was ist Fridas gehauchtes Ahaaaa in «Knowing Me Knowing You» anderes als ein finaler Orgasmusstoßseufzer, bevor sie den Mann kaltstellt? Wie soll ein Dreizehnjähriger das interpretieren? Mit Mickey-Maus-Argumenten? Sind doch nur lustige Piepsstimmen? Sind sie eben nicht, ABBA ist nicht lustig, ABBA ist galaktischer Giftmüll, ein Virus aus dem All, irgendwann haben das Wissenschaftler sogar mal glaubwürdig beweisen können, dass die vier Außerirdische sind, The Visitors, gekommen, um uns Sex und Tod und in Zuckerwatte verpackten Schmerz zu bringen. Viele meiner Generation sah ich auf dieses klebrige Fliegenpapier treten und nicht mehr davon loskommen (Honey Honey), aber mich hat es, wie ich mir einbilde, immun gemacht gegen andere Versprechungen der supermanierierten Art. Es kann aber auch sein, dass die ABBA-Hörerei darüber hinaus noch den einen oder anderen Fimmel gezeitigt hat, zu denen ich aber stehe.

Gut möglich, dass ich, durch die seifige Perfidität ABBAs angeregt, zu jener Zeit begann, gleichsam in Trance Busfensterscheiben abzulecken, hinter denen Leute saßen, und dann deren entsetzte Gesichter zu fotografieren, wobei ich eigentlich den Abdruck meines Unterbewusstseins in meinem Gesicht fotografieren wollte. Und während ich von meiner Kapitulation vor mir selbst verschluckt werde, fährt der Bus einfach weiter. Auf den entwickelten Fotos sehe ich dann immerhin später, dass sich mein Gesicht über das der Busgäste gelegt hat, ich mich über ihnen spiegele, sie mich durch mich anschauen. Das waren noch die analogen Zeiten mit den Dosenfilmen, jetzt kann ich nicht mehr fotografieren, geht nicht, weil es viel zu schnell geht, ein Foto ist nichts mehr wert.

Nichts von dem, was ich aufschreibe, wird wahr, nur weil ich es aufschreibe, es bleibt ein statisches Rauschen, das, was es vorher auch schon war, nur ohne mich als Zeugen. Und all das, was ich nicht aufgeschrieben habe und nie aufschreiben werde, bedeutet nicht automatisch, dass es nicht geschehen ist. Alles, was mir passiert, passiert mir ohne mein Zutun, trotzdem passiert nichts ohne mich, auch wenn ich es vielleicht nicht mitbekomme, es passiert sowieso, weil es eben passiert und ich meistens der schimmerloseste Zeuge bin, mit dem geringsten Anteil, also stimmen die Vorwürfe anlässlich des Literaturpreises («ist ihm nur passiert») auch nur zum Teil. Jemand hat mir mal gesagt, ich dürfe nichts einatmen, was ich nicht sehen kann. Ich habe das am Anfang nicht richtig verstanden, ich dachte, ich dürfe nichts einatmen, was ich sehen kann, aber das ist ja sowieso klar, wer will schon Spatzen einatmen, das Gefährliche ist eben das, was wir nicht sehen. Zu erzählen habe ich trotzdem nichts. Und immer noch nichts. Also ist das, was ich so einatme, auch vollkommen irrelevant. Ich muss mal wieder was für Wikipedia schreiben. Und dann irgendwas kopieren.

6.

Neulich erreichte mich eine Freundschaftsanfrage über Facebook. Ich bekomme oft solche Anfragen, und ich kann mir vorstellen, dass nicht wenige Geschichten so beginnen. Normalerweise ignoriere ich diese Anfragen, ich brauche keine Freunde, aber diese war interessant. Ich benutze Facebook so gut wie nie, schaue da selten rein, und wenn, dann nur oberflächlich, ich nehme das nicht so wichtig, da warten halt so ein paar Idioten, damit man sie anspricht oder abholt. Ich kenne mich auch nicht so aus, es besteht offenbar die Möglichkeit, dass bestimmte Nachrichten via Facebook an die normale E-Mail-Adresse geschickt werden, das hat vielleicht mit einem Prioritätsalgorithmus zu tun, ist mir im Grunde auch egal, es wäre mir egal, ich würde das ignorieren und ungeöffnet löschen, wenn diese Anfrage nicht so eigenartig gewesen wäre, sie kam nämlich von mir selbst.

Wie soll das gehen? Wie kann ich mich mit mir selbst befreunden wollen? Zunächst dachte ich, da hat jemand mein Facebookkonto gehackt. Mit der Anfrage kam auch eine Nachricht, in der stand: «Wenn du sterben solltest, bevor du aufwachst, bist du näher dran, als du denkst.» Klingt ja ganz logisch; auch wenn man im Schlaf bekanntlich nicht denkt, sondern ES für einen denkt, und man auch nicht eigentlich stirbt, sondern ES einem das abnimmt, könnte der Satz von mir sein, und ist er offenbar auch, aber vielleicht ist das ein Scherz, irgendwer will mich foppen. Habe ich Feinde? Habe ich jemanden enttäuscht? Ich bin in einem Alter, in dem ich