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Tex Rubinowitz bereist Raum und Zeit, plaudert Geheimnisse aus, die er nicht kennen kann, und rückt historische Fakten in ein melancholisches Licht: Er spaziert mit David Lynch durch Salzburg, assistiert Marvin Gaye in Belgien beim Schreiben von »Sexual Healing«, wird mit Demis Roussos in einem Flugzeug entführt und erklärt Ludwig Wittgenstein zum eigentlichen Erfinder des Smileys. Mit stupender Wucht und humoristischer Wendigkeit werden essenzielle Themen, Menschen und Orte unzuverlässig behandelt, getroffen und abgereist. Jede dieser Geschichten schafft eine Parallelwelt voller Überraschungen und genialer Volten, ein Antidot, das Augen öffnet, und sei es die der Familie Feuerstein. In »Dreh den Mond um« zeigt sich der Meister der »Fröhlichen Unzuverlässigkeit« (Friedrich Nietzsche) und niveauvollen Kolportage auf der Höhe seines Könnens. Rubinowitz entwirft fantastische Erzählungen, die vor Originalität und sprachlicher Vitalität glühen und einen irren Sog erzeugen. Ein Buch wie eine Wundertüte. Man will sie nicht öffnen, weil man fürchtet, süchtig davon zu werden, und macht es dann doch.
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Seitenzahl: 382
Veröffentlichungsjahr: 2024
Tex Rubinowitz, geboren 1961 in Hannover, lebt seit 1984 in Wien, zeichnet Cartoons für verschiedene Zeitungen, schreibt, macht Musik mit seiner Band Mäuse und stickt auf Stoff. 2014 Gewinn des Ingeborg-Bachmann-Preises, zahlreiche Bücher, mehrere Platten, noch mehr Stickstoff.
© Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Mainz 2024. Alle Rechte vorbehalten
In Kooperation mit Tapete Records
1. Auflage Oktober 2024
ISBN print 978-3-95575-230-9
ISBN epub 978-3-95575-641-3
Lektorat: Jonas Engelmann
Layout und Satz: Oliver Schmitt
Cover unter Verwendung eines Fotos von Tex Rubinowitz
Ventil Verlag, Boppstr. 25, 55118 Mainz
www.ventil-verlag.de
SEKSUELE GENEZING
WELTMEISTER IM SCHEISSEREDEN
SCHATTENDIETER
MEIN FREUND HARVEY
SCHÖNES MÄDCHEN AUS ARCADIA
DIE FRAU, DIE DEN NIL VERKAUFT HAT
GOOD MORNING, LUXEMBOURG
BÄR UND MÖWE
EIN TROPFEN GEHT AN LAND
ICH KÖNNTE OHNE DEINE LIEBE NICHT LEBEN
ARRIVEDERCI HANS
DIVINE ERNA
DREH DEN MOND UM
SCHRÄNKE
RUF MICH AN WENN DU TOT BIST
DIE NÄHMASCHINE
ZURÖCK ZUR NULL
ALGORITHMUSRATEN AM NACHMITTAG
DECAF THE PLANET
GIMME DAT DING
DAS THEATER IN DER HOSENTASCHE
Neulich fragte mich eine Kellnerin in einem rumänischen Lokal, in das ich mich setzte, um eine schöne Sarmale – eine Art Wirsingwickel – zu vertilgen, und als erstes die Kerze auf dem Tisch ausblies, weil mich das Geflacker dieses falsch verstandenen Romantikaccessoires störte, ob ich mich nicht woanders hinsetzen wolle – als ob eine andere Kerze weniger nerven würde. »Nein«, sagte ich, »alles gut.« Das anachronistische Licht einer Simulation von Geborgenheit nervte und ich leide an etwas, das so abstrakt ist, dass sie mich sowieso nicht verstanden hätte. Aber es brachte mir schmerzhaft etwas ins Bewusstsein, was mir vor mehr als drei Dekaden passiert war, was damals begonnen und mich hierher geführt hatte.
Es waren die Jahre, in denen ich besonders stark unter meinem Bozeman’s Simplex litt, der medizinische Terminus dafür lautet »Positive Entzündung der Retina«. Vereinfacht und zum allgemeinen Verständnis erklärt, handelt es sich hierbei um einen sehr seltenen Sehfehler. Auch wenn eine genetische Disposition vorhanden ist, muss er allerdings nicht auftauchen – er ist wie ein Tier mit funktionslosen Augen, das in mir wie in einer Grotte lauert. Bei den meisten Betroffenen kommt er tatsächlich nie raus, bei mir schon, in kleinen Schüben, und 1982 war es besonders heftig.
Ich kann etwa 25 Mal mehr sehen als andere Menschen. Was wie ein Vorteil klingt, kann allerdings zur Belastung werden, denn unter Bozeman’s Simplex Leidende sehen nicht besser, schärfer oder weiter, sondern, wie gesagt, einfach mehr. Das heißt, ich sehe zusätzlich zum avisierten Objekt und den vielen Details, aus denen das Objekt besteht – wobei die Details wieder eigene autonome Objekte werden, die zusammengesetzt mitunter gar keinen Sinn ergeben –, noch eine Reihe weiterer Aspekte des Szenarios, peripheres Sehen wird das auch genannt. Es materialisieren sich die Geräusche und Gerüche, das Bild bekommt eine vierte Dimension, ein Bildermatsch der Möglichkeiten. Eine Ente etwa ist keine Ente, sondern wird zur Idee einer Ente, mit all ihren metaphysischen Möglichkeiten.
Das Ganze, also alles, was sich in meinem Blickfeld übereinander schiebt, wird zu einer optischen Kakophonie. Ich bekam immer häufiger zwiebelnde Kopfschmerzen, konnte mich nicht konzentrieren, auf nichts, auf das eigentliche Bild schon gar nicht; ich begriff es nicht, ich wurde blind, obwohl ich das Gegenteil von blind war – ich war supersehend, aber das half mir nicht. Ein visuelles Chaos feuerte eine Stalinorgel an Eindrücken auf mich ab, während ich mit dem Ordnen nicht mehr nachkam.
Mein Augenarzt Dr. Meinheimer empfahl mir eine Jodkur. Er verschrieb mir eine pure, unverschnittene Jodtinktur zu trinken, dreimal 10 cl pro Tag. Mit Jod hätte er schon gute Erfolge erzielen können, etwa bei hartnäckigem, okulärem Nystagmus, diesem unkontrollierten Augenzittern. Jod wirke offenbar wie ein Sedativ, Meinheimer nannte es gar ein Schmiermittel zum Sehen.
Was allerdings passierte, war, dass mein Augendruck so schlimm wurde, dass ich mir einbildete, meine Augen könnten wie Tischtennisbälle jeden Moment aus ihren Höhlen ploppen. Ganz davon abgesehen, dass sich vor das Bild und die vielen anderen, zusätzlich übereinandergeschichteten Bilder, die ich nach wie vor sah und die an eine überforderte Cortex weitergegeben wurden, ein hellbräunlicher Schleier legte wie eine nikotingilbe Gardine, Ocker gar, Ocker als generelle Verliererfarbe – du kannst nicht siegen in Ocker, mein Freund. Und sehen schon gar nichts.
Alles wurde nur noch schlimmer. Vielleicht hatte Meinheimer mich viel zu hoch dosiert, oder er lag, was ich eher annahm, komplett falsch mit seiner Therapie, ein Holzweg aus Jod. Ich kam mir vor wie Liberace, der sich einbildete, durch eine von ihm oder irgendeinem Quacksalber erdachte Melonenkur seine HIV-Infektion in den Griff bekommen zu können. Jeden Tag zehn dieser albernen, so genannten Panzerbeeren essen und nichts als das, herrjeh, das sind am Ende des Jahres DREITAUSEND Melonen, und dann ist er trotzdem gestorben, vermutlich an Melonenüberdruss, die Melancholie der Melonenesser. Entsetzliche Vorstellung: vollgepumpt und aufgedunsen mit süßem, rotem Wasser und schwarzen Kernen.
Dr. Meinheimer war ratlos, aber er meinte, er könne mir als letzten Versuch eine Kur empfehlen, in einer Gegend mit jodhaltiger Luft, an der Nordsee beispielsweise. So fuhr ich ins belgische Ostende, das kannte ich, hier hatte unsere Familie, als es sie noch gab, ein paar trübe Sommer verbracht.
Es war November, mein Lieblingsmonat, grau, stürmisch, leergefegt alles. Ich weiß noch, dass ich mit dem Zug hinfuhr, von Wien aus, es gab noch eine Direktverbindung. Damals hatten die Fähren nach Großbritannien auch noch die Bedeutung, die sie heute nicht mehr haben, inzwischen sind sie Geisterschiffe. Aber ich wollte ja gar nicht über den Ärmelkanal, ich wollte mein Sehen heilen, die Schichten meiner verängstigten Blicke durchdringen. Würde das gehen? Was hatte ich zu verlieren?
Ostende ist keine schöne Stadt, eine disharmonische Rhapsodie in Waschbeton, Häuser ohne Augen, Nebelschwaden in den engen Gassen, eine Schnake stirbt am Fensterbrett. Hat nicht Gogol mal behauptet, der Mond würde in Ostende hergestellt? Die Stadt ist im Prinzip genau das, was ihr Name evoziert: Aus dem Osten kommt zwar das Licht, aber sonst nicht viel Gutes, also ist im Beginn praktischerweise auch gleich das Ende eingeschrieben. Das ist doch eine gute Ausgangsbasis für einen Neubeginn, einen letzten Versuch. Mein Sehen war überreich, aber funktionslos, nicht paralleles Sehen, paradoxes Sehen war es.
Mit törichter Hoffnung, aber tröstlicher Vorfreude fuhr ich hin. Ich müsste mir diese Freude nur bewahren, vielleicht würde irgendwas ja zurückschauen, was ich anschaue, und ich würde es erkennen. Nichts zu erwarten ist zumindest ein kleines bisschen mehr als gar nichts zu erwarten. Die Erinnerung weiß, wer ich bin, bildete ich mir ein. Es schaut ja immer etwas zurück, wenn man etwas intensiv betrachtet, und sei es das abwartende Bild, das man mit bestimmten Erwartungen und Wünschen auflädt. Manchmal erfährt man mehr über eine Sache, über die man nichts weiß, als über eine Sache, von der man zu viel weiß. Und ich wollte meine Augen wiedersehen, ich musste in die Fremde, um mich wiedersehen zu können.
»God, how I hate Elvis, he has a voice like a frog, and looks like a toad, he manages to make you feel like spawn«, hörte ich den Mann in »Benny’s Tearoom« am Nebentisch murmeln, als »In the Ghetto« im Radio lief. Er wendete seinen Blick nicht vom stumm laufenden Fernseher ab, so als sei er hypnotisiert und irgendetwas in ihm müsse kommentieren, was sonst noch so parallel an Leben passiert. Der Mann war wie ein Zombie abwesend, kaum hier und noch nicht mal dort, im Fernseher lief »Familie Feuerstein«. Und der Mann war Marvin Gaye.
Ich konnte es nicht fassen, bestellte mir ein Kirschbier und sprach die, wie ich fand, für mich inszenierte Situation an: »Mr. Gaye?« Mr. Gaye, der eben behauptete, sich wie Laich zu fühlen, reagierte nicht, er starrte nur auf die stummen Feuersteins, und tonlos war für ihn sicher keine schlechtere Sprachoption als Flämisch oder Französisch. Zumal ungesichert ist, welche Sprache eigentlich Laich spricht – und versteht. Im Restaurantradio lief nun Gregory Isaacs »Night Nurse«. In diesem Moment wandte er seinen Blick und schaute mich an, sah aber durch mich hindurch – ich hätte auch eine der staubigen Blattpflanzen sein können, die hier überall standen, oder eine der strickenden Omas, die zwischen den Blattpflanzen saßen und Eierlikör tranken. Ich hörte, oder etwas in mir hörte von Ferne: »Tell her it’s a case of emergency. There’s a patient by the name of Gregory«. Mr. Gaye nickte mir zu. War das ein Grüßen, eine Antwort auf meine Anrede, war es, weil ihm Gregorys Song eher gefiel als der vom King of Reibekuchen, Elvis Presley? Anzunehmen ist es, das läge auf der Hand. Ich fragte nicht, ich dachte: Jetzt könnten wir beide eine Weile so tun, als seien wir Joseph Roth und Stefan Zweig, die sich 1936 im Exil in Ostende trafen. Ob Marvin »Der Radezkymarsch« kannte? War ich nicht auch irgendwie im Exil meines Sehens? Was brachte Marvin hierher, war er ebenfalls im Exil? Vielleicht seines Hörens?
Ich musste irgendwas sagen, so als wollte ich einen fasslichen Köder auswerfen, um die surreale Situation an den Haken zu bekommen, aber es kam auch nur ein guttural gekrächztes Sozialgeräusch aus mir: »Flintstones, hm?« Das kam mir noch überflüssiger vor, ich hätte ja auch gleich den ganzen Raum beschreiben können, den Ort, Belgien, die strickenden Eierliköromas usw., aber zu meiner Überraschung ging er auf mein Angebot ein. Er murmelte mit seinem seltsam flatternden Timbre wie ein alter Schuh, dessen Sohle halb ab ist, eine Art Vortrag: »Vieles von dem, was ich heute bin, ist der Versuch, der zu sein, der ich mich damals nicht zu sein traute«, so fing Marvin an. Ich wusste nicht, was er meinte: War ihm nicht wohl, was redete er da, war das eine Art Coming-out? Warum erzählte er es mir, einem Fremden in »Benny’s Tearoom«, in Belgien? Wusste er etwas über mich? Und wenn ja, was? War ich ein Versuch, war Belgien ein Versuch? Ja, sicher, man ist und bleibt immer ein Versuch, eine Lösung wird nie geliefert, mein Bozeman’s Simplex ist auch nur ein Angebot für eine Lösung, eine Boje in unruhiger See, die mich daran erinnern soll, dass ich noch lebe, auf welche Art auch immer.
»Schau dir mal die Familie Feuerstein an, schau genau hin, was fällt dir auf, was siehst du?« Ihm zu erzählen, dass ich nichts bzw. ZUVIEL sah und also paradoxerweise noch weniger als nichts sah, ersparte ich mir, es wäre zu kompliziert geworden. Er hätte es genauso wenig verstanden wie die rumänische Kellnerin und letztlich auch wie Dr. Meinheimer – ich glaube, Jod ist auch nur eine Art Placebo, um mich zu beruhigen. Ich sagte: »Ich sehe nichts, oder vermutlich nicht das, was du meinst, was ich sehen soll?« Er sagte: »Schau genau hin!«
Als Marvin merkte, dass mir nichts auffiel, erklärte er: »Sieh dir mal die Augen genau an, sie haben unterschiedliche Augen. Die von Fred und Betty, Barneys Frau, sehen aus wie ›richtige‹ Augen, also menschliche, und die von Barney und Wilma wie die von Mutanten oder Robotern, oder sie sind evolutionär noch nicht so entwickelt, obwohl ja gerade Wilma den anderen geistig weit überlegen ist. Sie ist das Vernunftelement in der Serie. Warum hat sie dann diese toten Augen?«
Mein Erklärungsversuch, es könne ja sein, dass Wilma Barneys Schwester ist und Betty die von Fred, überging er.
»Noch seltsamer ist indes, dass Barney in frühen Folgen hohle Augen hatte, wie eine Amphibie.« Und da konnte ich Marvin korrigieren, Amphibien hätten Schlitze in den Augen, hohle Augen, hm, was könnte diese Leere nun wieder bedeuten? Barneys Ahnungslosigkeit, seine Bewunderung (für Fred), gar blinde Treue? Drogen vielleicht, sowas wie Belladonna? Wusste er mehr als wir? War er ein Spiegel von uns? Motto: Schau mich an, damit ich sehe, was du denkst. Ich sagte: »Vielleicht sollen die unterschiedlichen Augen der jeweiligen Familien nur ein ausgleichender Kontrast der Einheit sein, eine Art Yin-Yang-Prinzip?« Marvin murmelte nur sowas wie: »Möglich, möglich ist alles, wenn nichts möglich wäre, wären wir nicht hier. Das Unmögliche wird zum Angebot, aus dem wir etwas für uns konstruieren können, das ist der Fisch, der an Land geht.«
Hier? In »Benny’s Tearoom«? Er und ich, in Ostende, angespült vom Meer der Möglichkeiten? Ich, der ich mich nicht mal über meine Augen definieren konnte? Und er? Warum war er hier der Versuch dessen, der er früher nicht sein konnte? Testete er eine Möglichkeit? Plötzlich löste sich sein Blick von dem laufenden Fernseher, er fragte, ob ich das eben gehörte Lied mochte, diesen sanften Reggae, »Night Nurse« von Gregory Isaacs. Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern erklärte, dass sich das Genre Lovers Rock nennt, so eine Mischung aus Soul und Reggae. Er erzählte, dass dieser Sound ein Grund war, warum er den Vereinigten Staaten, seinem »Pseudoheimatland« (seine Worte), den Rücken gekehrt hätte, man sei dort solchen Genres gegenüber intolerant. Zusätzlich fürchtete er, sein impulsiver, jähzorniger, gewalttätiger Vater könnte ihm nach dem Leben trachten, deswegen sei er nach Großbritannien gegangen, aber auch da hätte man ihn nur auf seinen Legendenstatus reduzieren wollen, eine musikalische Weiterentwicklung sei dort nicht möglich gewesen. Der einzige, mit dem er befreundet war, war Martin Gore von Depeche Mode, mit ihm konnte man auch über andere Sachen reden. Er erzählte vom komplizierten Verhältnis zu seinem Vater, Martin über seine prägenden Jahre in Erfde, Schleswig-Holstein, und die Schwierigkeiten mit seinem Mitmusiker Vince Clarke, der dann ja auch, kurz nachdem sich die ersten Erfolge einstellten, die Band verließ. Irgendwann deutete Marvin an, ob er, Martin, eigentlich wisse, dass er schwarz sei, er wäre ein Bruder, irgendein negroider Tropfen Blut sei da wohl unbemerkt über viele Generationen weitergetropft. Martin war entsetzt, verstört, er wusste das alles nicht, konfrontierte seine (weiße) Mutter in Basildon, die dann kleinlaut zugab, dass sein biologischer Vater ein in Großbritannien stationierter afroamerikanischer GI war, nun kam es über den Umweg Marvins heraus, was sein Selbstbewusstsein nochmal komplett neu ausgerichtet habe. Zudem waren beide Crossdresser, liebten es, wiewohl heterosexuell, in Frauenkleidern herumzulaufen. Zwei Brüder im Fummel. Und dieses Changieren zwischen den Identitäten kam ganz sicher, wie sie gemeinsam konstatierten, daher, dass beide Väter, nunja, anwesend in Abwesenheit waren.
Aber auch in Großbritannien sei Marvin nie angekommen, die Kittelschürzen, Federboas und Nylonstrümpfe hatten es nicht unbedingt einfacher gemacht. In allerletzter Konsequenz, auf der Flucht (in Stöckelschuhen) vor der Vergangenheit – dem Vater, den dräuenden Schatten der eigenen Legende, dem, was nie mehr so sein wird, wie es einmal oder vielleicht auch niemals war, ja, der Vergänglichkeit in Orientierungslosigkeit, letztlich einer Flucht vor sich selbst – war er dann eben hier, in Belgien gelandet, mit der »letzten Fähre in ein besseres Leben«, wie er bitter lachend meinte, resignativ die Schultern hebend, so als sei die Sackgasse eine Chance. Kommt irgendwer denn jemals irgendwo an?
Ich war verblüfft, ich fand das alles faszinierend, denn dass nichts unmöglich ist, scheint offenbar die normative Kraft des Möglichen zu sein. Ich mochte das alles hier, auch, dass Marvin mir sein Vertrauen schenkte, und für einen Moment vergaß ich sogar meinen Bozeman’s Simplex, bildete mir ein, ich sähe besser, also wieder normaler, bräuchte nicht mal mehr Jod, Kirschbier in dieser wattierten Resignation würde schon reichen, mit Marvin auf der Flucht als Placebo, es ging mir gut. Ich fragte Marvin, was er von einem Ortswechsel hielte. Wir zahlten und gingen in die um die Ecke gelegene Kombuis.
Wir bestellten jeder einen großen Topf Muscheln, Fritten dazu und Mayonnaise, so dick, dass man mit ihr Wände verspachteln konnte, dazu Kirschbier, natürlich, Belgischer gehts nicht. Auf der Speisekarte stand noch Scholle, aber es sei ein komisches Gefühl, meinte Marvin, von einem gebratenen Fisch vorwurfsvoll nicht nur mit einem toten Auge angesehen zu werden, sondern gleich mit zweien, weil Schollen ja nun mal beide Augen auf einer Seite hätten. Vor allem, wenn es einen umtreibt, was die Feuersteins für »irreguläre« (seine Worte) Augen hätten und ich zusätzlich ein lästiges Augenleiden, wovon ich ihm in »Benny’s Tearoom« zu erzählen versucht hatte – immer wieder in Häppchen, auch wenn er nur mit halbem Ohr zuhörte, wie mir schien.
Marvin fühlte sich in der Kombuis augenscheinlich wohl, ich wies ihn diskret auf das in einer dunklen Ecke hängende Gemälde des berühmten belgischen Malers Fernand Khnopff hin, man sieht darauf ein nacktes Mädchen mit einem Teller Birnen, ich flüsterte, dass ich hoffe und bete, dass das kein Original ist, und er deutete verstohlen auf einen schweinsgesichtigen Briten am Nebentisch, der Khnopff vermutlich für einen Pädophilen hält, also »einen wie ihn«. Marvin mochte Briten nicht, als ich sagte, ich sei Deutscher, öffnete sich bei ihm eine Schleuse, wen oder was er alles nicht mochte. Seine Vorfahren kämen angeblich aus Botswana, er idealisierte meines Erachtens Botswana so sehr wie er Großbritannien verteufelte. Er fragte, ob mir bekannt sei, dass es in Botswana Pfand auf Eierschalen gäbe, nein, das war mir natürlich nicht bekannt, empfand das als ersten Idealisierungsgrund zwar extravagant nachhaltig, aber dennoch etwas zu unüberzeugend.
Der Schweinebrite löste die Miesmuscheln aus ihrer Schale, legte sie in ein labbriges, kaltes Toastbrot und fing an zu mampfen, ich verkniff mir die Frage, ob es wohl in Belgien Pfand auf Miesmuschelschalen gebe, Marvin hätte die Ironie möglicherweise persönlich genommen. In seiner dumpfen Ignoranz gab es für den Briten keinen Sinn für die perfekte belgische Einheit, Mayonnaise lehnte er vermutlich als zu schwul ab, und zu Trinken gab’s ein nicht gerade unschwules Gemisch aus Rotwein und französischer Breizh-Cola. Was für ein entwürdigender Anblick, ein falsches Bild, Marvin schüttelte es, mich schüttelte es mit Marvin, paralleles Schütteln. Man will ja nicht rassistisch oder homophob sein, aber lustvoll ist es doch, dann und wann zu pauschalisieren.
Ich fragte ihn, was ihn für Gregory Isaacs Musik so einnähme, und er meinte, er möge das »Smoothe« sehr, das Laszive; Musik direkt aus den Lenden, höflich, aber unmissverständlich zu sagen, ganz dringend jemandem beiwohnen zu müssen, nicht an sich halten zu können (Bumsdruck). Der Inhalt, nunja, er mochte ihn, Krankenschwester als Fetisch, zwar eine billige Währung, aber so primitiv seien auch seine Hörer, er nehme sich davon nicht aus, er sei einer von ihnen, das, was er bedient, sei das, was er ist.
Er fragte, ob ich nicht für ihn, oder mit ihm, einen Song schreiben wolle, er hätte ein paar belgische Sessionmusiker kennengelernt, in einem Boxclub, wo sie an Sandsäcken ihre Wut wegdreschen. Da sei man ins Gespräch gekommen und habe ein paar Sessions gejammt, es sei aber nichts Brauchbares entstanden, nichts, was ihm so vorschwebe. Einer spielte Oboe, ein Instrument, das er, wie er sagte, noch nie verstanden habe, aber jetzt hier, mit dem Muscheltopf und mir »Halbblindem, so ein halber Stevie«, wie er scherzhaft meinte, vielleicht ginge was? Irgendwas in die Richtung von Gregorys Nachtschwester. Ich dachte nach. Bisweilen schrieb ich Lyrik, und so schlug ich ihm vor, wenn ihm das Krankenhaus als Topos tauge, entweder irgendwas Klinisches, Kaltes zu thematisieren, wie »Warm Leatherette« von The Normal, Sex im rasenden Auto, Unfall, Amputation, Tod in der Notaufnahme. Oder aber irgendwas mit Gesundwerdung, weil das ja auch etwas ist, was mich umtreibt, ich ja zum Kurieren hier war, das Naheliegende, und im Krankenhaus könnte sich ja auch etwas Amouröses entwickeln. Oder jemand laboriert an gebrochenem Herzen, und die Krankenschwester hat das heilsame Elixier (»Love Potion Nr 9«). Marvin sagte, das erste Beispiel sei ihm zu morbid, das sei nicht er, dieses Spiel mit der Gefahr, außerdem habe Grace Jones mit einer Coverversion davon ein Jahr zuvor einen großen Erfolg gehabt, und Grace mochte er nicht, die wollte ihn mal »vernaschen«, und ihre offensive Art, ein »mannish woman« (Mannsweib), da hätte er es mit der Angst zu tun bekommen. Aber das zweite Beispiel, da sei Schwung drin, wir könnten es so nennen, »Sexual Healing«, vielleicht gar auf Flämisch. Wir fragten die Kellnerin, augenscheinlich eine Lesbe, also nicht als Anmachtaktik missinterpretierbar, was »Sexual Healing« auf Flämisch heißen würde. Sie schrieb auf einen Bierdeckel »Seksuele Genezing«, aber das klang uns zu, nunja, scheppernd.
Er war ganz bei der Sache, was ich erstaunlich fand, weil mir nicht so ganz einleuchtete, warum er das nötig hätte oder hatte, mit einem Wildfremden gleich mal ein neues Lied zu planen, zu bauen. Was sah er in mir? Vertrauen durch Zufall? Wenn nicht mal ich ihn klar fokussieren konnte – ich sah Einzelteile, sah ihn auf der Flucht, sah seinen wutschnaubend herumlaufenden Vater. Aber das konnte auch den vier weiteren Kirschbieren geschuldet sein. Er murmelte, dass das Rot des Bieres zum Krankenhaus des Liedes passe. »Get up, get up, wake up, wake up«, so solle das beginnen, die Krankenschwester solle den Patienten wecken, sie hätte da eine gute Therapie. Ich behielt für mich, dass ich das alles ganz furchtbar plakativ fand, denn wenn man von einer Soullegende eingeladen wird, mit ihm einen Song zu schreiben, schlägt man das nicht aus. Ich hätte in so einer Situation auch über Mayonnaise geschrieben; wer wäre ich, wenn ich es nicht täte? Ich war heiß auf den Job, ja, das war ich.
»I’m hot like an oven« schlug ich vor. Er ist heiß, hat Fieber, liegt im Bett und bittet die Schwester, zu messen, WIE heiß er sei, sowas in der Art? Marvin nickte und wir skizzierten grob ein Szenario, in welche Richtung es gehen könnte, während Marvin Songideen summte und immer wieder dieses gehauchte: »Get up, get up, wake up, wake up«. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, wenn er schon so heiß ist, eine neue Fetischebene einzubauen und die Krankenschwester ihn mit Topflappen untersuchen zu lassen.
Baby, I’m hot just like an oven
I need some lovin’
And baby, can you bring pot holders?
I can’t hold it much longer
Marvin fand das gut, er habe immer Sam Cooke beneidet, dass der in »What a Wonderful World« einen Rechenschieber eingebaut hat (»Don’t know what a slide rule is for«), und jetzt würde er diesbezüglich zu Sam aufschließen. Plötzlich standen die Topflappen in einem sinistren Licht und ich bekam Zweifel: Sam war schon lange tot, er wurde 1964 erschossen; Marvin dürfe sowas nicht sagen, im Namen von ein paar Topflappen. Er sagte: »Ok, dann ändern wir es«, aber ich vermute, er hat mich nicht verstanden, weil er fragte, ob wir stattdessen vielleicht einen Schürhaken einbauen könnten? Ich gab ihm zu verstehen, dass es nicht um die Topflappen ginge, nicht um einen Schürhaken, oder was auch immer; es wäre heikel und brächte Unglück, wenn er sich diesbezüglich mit Sam Cooke vergleichen wolle, angesichts dessen gewaltsamen Ablebens. Marvin lachte, er lachte mich aus, fragte, ob ich wie Stevie Wonder nicht nur blind, sondern auch abergläubisch (»superstitious«) sei? Und ja, berechtigte Frage, bin ich es? Ich bin es wohl – wenn man überall Koinzidenzen erkennt, so als seien sie hinter einem her, wie der Teufel hinter der armen Seele. Das muss doch von irgendwem geplant sein. Dinge fallen nicht einfach so zusammen, man kann sie nicht erfinden, der Zufall ist die Normalität, passiert uns nicht alles, was uns passiert, ohne dass wir ein Mitspracherecht haben, und uns bleiben dann nur noch ein paar Seufzer am Ende, von denen wir müde und immer müder werden? Mein Bozeman’s Simplex – ich wurde fatalistisch und wunderte mich nicht mehr: Einer muss es doch kriegen, also warum eigentlich nicht ich? Marvin zuckte mit den Schultern, sein Lächeln von eben war zur Maske erstarrt, er fragte fast schon piepsend, ob ich meine, dass ihm, wenn er sich zu sehr mit Cooke identifiziere, ein ähnliches Schicksal ereile? Ich versuchte, ihn zu beruhigen: Nein, das wollte ich nicht sagen, aber ich rechne immer wie Edward Murphy damit, dass schief geht, was schief gehen kann, allerdings auch im positiven Sinn. Marvin sah mich ratlos an, ich sagte: »Gehen wir einfach davon aus, dass unser Lied ein Erfolg wird. Wenn es kein Erfolg wird, ist unser Erfolg zumindest, dass wir einen eventuellen Misserfolg auch einkalkuliert haben, aber lassen wir die verdammten Topflappen und Schürhaken aus dem Lied, es reicht, dass ein Ofen drin ist.«
Wir beschlossen uns am nächsten Tag wiederzusehen. Vielleicht hätte er sich mit seinen Musikern bis dahin schon ein bisschen an die Melodie herangetastet und ich könnte sie in ihrem Studio besuchen, mit dem, was ich geschrieben hätte.
Ich schlief schlecht, schwitzte, obwohl die Heizung runtergedreht und das Fenster offen war, wie ich immer zu schlafen pflege, auch im November. Draußen ein heftiger Sturm, ich dachte an den heißen Ofen im Lied, vielleicht hat der mich im Traum zum Schwitzen gebracht, sicher sogar, zumindest hatte der Schlaf weitere Teile des Liedes gebaut, ich konnte sie in den Wachzustand hinüberretten und schrieb sie sogleich auf:
Baby, I got sick this mornin’
A sea was stormin’ inside of me
Baby, I think I’m capsizin’
The waves are risin’ and risin’
The lighthouse keeper
Got Bozeman’s Simplex
Vielleicht könnte ich Marvin den Ofen ausreden, und die Augenkrankheit reinpflegen, eine maritime Referenz wegen der Nähe zum Meer, dem Ort unseren Exils, ein Benennen dessen, wovon ich, der Co-Autor, Heilung erhoffte, und ich mich zu Marvins blindem Leuchtturmwärter machte, mal sehen, ob ich damit durchkommen könnte.
Als ich das Studio, dessen Adresse in der Plopsalandstraat 27 er mir gestern noch gab, wobei er meinte, vor 15 Uhr bräuchte ich gar nicht erst anzutanzen (vorher schliefen oder boxten sie, oder beides), betrat, war ich einerseits erstaunt, wie klein doch alles war – es wirkte eher wie ein muffiges Wohnzimmer und roch nach Technikersalbe – und andererseits über die auf einem niedrigen Couchtisch neben überquellenden Aschenbechern (vom Geruch her zu schließen lauter Joints) herumliegenden Fetischmagazine (»Succulent Toes«, »Miss Behave«, »Saddlers on Request«), mit gezeichneten Covern von Eric Stanton. Aha, davon ließ sich Marvin wohl inspirieren, und als er dann hinter der schlierigen Scheibe, genau in dem Moment meines Eintretens, sang: »Please don’t procrastinate, it’s not good to masturbate« schwante mir, wie der »Hase« läuft, dass der Ofen wohl im Lied bleiben würde, oder im Aschenbecher, und ich den Leuchtturmwärter steckenlassen könnte.
Ich war überrascht, wie überschaubar auch das musikalische Equipment war, sie hatten nicht mal ein Schlagzeug und verwendeten stattdessen eine analoge Drum Machine, einen Roland TR-808, ein elektrisches Rhodes Piano und eine Rhythmusgitarre, das war alles, mehr nicht. Die Oboe, von der er mir gestern erzählt hatte, stand mit dem Mundstück nach unten in der Ecke, in ihr steckten zwei Rispen Strandhafer.
Marvin begrüßte mich winkend durch die Scheibe, deutete an, dass ich mich setzen solle, er sei gleich fertig mit seinem Gesangspart. Ich setzte mich, blätterte lustlos in den Schmuddelheften. Wer liest bloß sowas? Wem dient das? Bei was? Strapsmiezen mit Down Syndrom fesseln und knebeln einbeinige Nonnen, ohne jede nachvollziehbare klerikalkritische Intention, Männer mit Schürzen mit nichts drunter wienern die Schaftstiefel von rauchenden Frauen in SS-Uniformen, Politessen mit schlecht aufgeklebten Schnurrbärten setzen sich mit ihrer Körpergabelung auf die Gesichter von Männern, die halb ersticken, während sie teilnahmslos Strafzettel fürs Falschparken ausfüllen – in Hannover. Eigentlich war ich weniger entsetzt von dem Fetischzeug, als vielmehr enttäuscht: Warum brauchte er das? Um sich inspirieren zu lassen? Regte ihn sowas an? Was hatte ich denn dann noch für eine Funktion für ihn, für »unseren« Song, meine Idee mit der Heilung? Meine Vorstellung von der Funktion von Krankenhäusern und Krankenschwestern schien offenbar eine andere als seine zu sein.
Als Marvin erschien, wollte er mich gleich umarmen, diese hohle Sozialpantomime. Ich wich zurück und sagte, dass für eine Umarmung jetzt gerade nicht der richtige Augenblick wäre und mich die Magazine etwas irritieren würden. Er lachte, ich solle mich mal etwas locker machen, ich sei ja nicht nur abergläubisch, sondern auch ein »Babbit the Rabbit« (Spießerkarnickel). Aber nur, weil ich nichts mit den Themenkomplexen dieser Magazine anfangen konnte? Meines Erachtens war das alles noch VIEL spießiger, diese Regeln, das Zwänglertum, das Verkniffene, das Unterdrückte, dem offenbar nur mit weiterer Unterdrückung beizukommen war, nein danke. Ich war sauer, dass das, was gestern mit der Familie Feuerstein und mit den Fritten und Muscheln und dem kleinen Schreibauftrag so interessant begann, plötzlich schäbig, klein und nichtig gemacht wurde. Und dann sagte er einen eigenartigen Satz, wieder einmal: »Many secrets in life are completely meaningless, so it does not matter if you keep them for yourself or serve them with a cabbage roll.«
Angesichts eines solchen Satzes fühlte ich mich viel eher klein und nichtig. War ich tatsächlich der Spießer, für den mich Marvin hielt? Verstand ich eigentlich irgendwas? Was machte die Sarmale, der rumänische Wirsingwickel, plötzlich hier? Und war vielleicht mein Bozeman’s Simplex auch eine Spießerkrankheit? Eine Art Ventil, durch das etwas aus mir rauswollte, mein innerer Spießer? Ich wurde trotzig: Nein, das lasse ich nicht zu, eine einfache Lösung war mir zu, nunja, einfach, aber mir schien, dass sich seit gestern mein Blick irgendwie normalisiert hatte. Konnte es sein, dass die Jodbombe gestern, der große Muscheltopf, das ausgelöst hatte? Zusätzlich zum jodhaltigen Klima an der Nordsee? Oder heilte mich, dass ich mich mit einer anderen Heilung beschäftigt hatte, über den Umweg der seltsamen Augen der Feuersteins? Die komplette Ablenkung in exotischem Umfeld, während der mein Organismus einmal kurz nicht mit sich selbst beschäftigt war, sich die Augenkrankheit dafür entschied, dass nun aber das Limit erreicht sei, sie vielleicht ein Fehler war, mich nur mal ein bisschen testen wollte, spüren lassen wollte, wozu sie fähig ist, und jetzt ist aber auch mal gut. Grenzen wurden aufgezeigt, war vielleicht Dr. Meinheimer gar kein Augenarzt, sondern ein Psychologe, noch dazu mit den Methoden der Psychogeographie vertraut, damit, wie bekanntermaßen unsere Wahrnehmung in einem fremden geographischen und architektonischen Kontext unser psychisches Erleben und Verhalten beeinflusst und schärft, und also uns von uns selbst für einen Moment abzulenken in der Lage ist? War das Meinheimers Intention? Dieser Gedanke ließ mich leicht zittern – alles war für mich inszeniert. War Marvin ein Schauspieler, ein Mitarbeiter Meinheimers, der mich in »Benny’s Tearoom« mit den Augen der Feuersteins konfrontieren konnte?
Ich ging Marvin frei heraus an: »Schöne Grüße von Dr. Meinheimer, schreibt er auch an ›Sexual Healing‹ mit?« Marvin grinste gelb, rollte sich einen Joint und sagte mal zur Abwechslung gar nichts. In meiner Hosentasche, in der ich Teile des Songs notiert hatte, knüllte ich den Zettel vor Wut und Erleichterung, weil ich einfach wusste, dass das hier alles Teil meiner Kur war. Ich sagte zu Marvin, dass ich gehen müsse: »Ich glaube, ich habe verstanden.« Ich öffnete die quietschende Tür, die, wie mir schien, eine Kadenz zweier Töne aus dem eben gehörten Lied von sich gab – tja, wundert mich jetzt auch nicht weiter, schreibt die Tür wohl auch an dem Song mit. Marvin rief mir noch nach: »Don’t forget your pot holders, Barney«, und dieser Satz bewies auch nur, dass das alles eine Scharade war, eine Inszenierung, ja, jetzt hatte ich es verstanden. Unten auf der Straße war ich dann tatsächlich den Bozeman’s Simplex los, noch ein bisschen trüber Ocker verschleierte meinen Blick, aber das waren vielleicht die Tränen der Enttäuschung, angereichert mit ein bisschen Restjod, der mir auf diesem Kanal aus den Augen suppte. Mir ging es gut, ich fühlte mich gut, jetzt konnte ich wieder zurück nach Wien fahren. Und um das Bild meiner Heilung zu komplettieren, watschelte wie bestellt eine Ente über die Straße, und diese Ente war tatsächlich nicht mehr als das, was sie ist, nicht was sie schien, auf einer Straße, die die Ente offenbar einfach gehen musste.
»Sexual Healing« wurde ein globaler Ohrwurm, produziert in einer Art gefälliger Reggaemelodie, ein klassischer Lovers Rock, es verkaufte sich über vier Millionen Mal weltweit, jeder pfiff die Melodie, sie wurde ein Haushaltsgegenstand, Kinder wurden zu dem Lied gezeugt, Kranke genasen, in muslimischen Ländern landete es auf dem Index. Ein Jahr später wurde Mavin Gaye, vier Tage nachdem er in suizidaler Absicht aus einem fahrenden Auto gesprungen war, mit drei Mänteln übereinander angezogen und seinen Schuhen an den falschen Füßen, und einen Tag vor seinem fünfundvierzigsten Geburtstag von seinem eigenen Vater mit einer Pistole erschossen, die Marvin ihm zu Weihnachten geschenkt hatte.
Ich habe das Lied nie wieder gehört.
Mir ist aufgefallen, dass im englischen Sprachraum alles sehr schnell mal underrated ist, während bei uns ebenso viel überschätzt ist. Unterschätzt ist bei uns eigentlich nie etwas, so wie im Englischen nichts überschätzt ist, woran das wohl liegt? Gibt es dort eine kokette Tiefstapelkultur und bei uns sind lauter Hochstapler unterwegs? Oder hat das mit unserer historisch weitergegebenen Unterwürfigkeit und einer falschen Bescheidenheit zu tun? Nur nicht immer so groß tun, bloß keinen Staub aufwirbeln und immer schön den Ball flach halten?
Bob Dylan – total überschätzt, hat auch viel Mist gebaut. ABBA – völlig überbewerteter Kitsch für die breite Masse. War Joseph Beuys ein Genie oder wird er maßlos überschätzt? Sowas liest man doch ständig und überall, auf der anderen Seite indes: »The most underrated bands: Roxy Music, Soft Machine, Portable People«. Das ist kein Witz, das spuckt Google als allererste Antwort aus, wenn man danach fragt. Danach fragt man sich selbst: Wie kommt das? Alle drei Bands sind doch von allergrößter Wichtigkeit und zwingender Bedeutung.
Unter einem YouTube-Video von Depeche Mode, nämlich zu »See You«, entspannte sich diesbezüglich folgendes kleines Gespräch. Jemand namens Dave Todd konstatierte: »This song is devastating, minor key, a song of yearning and loss, composed with a perfect sense of drama. Massively underrated.« Woraufhin ein Doc Ogen Clon zurecht fragte: »Underrated by whom?«, und Bou Bou Schröder die konzise Antwort lieferte: »By Eric Ramsbottom, 36 Eritrea Gardens, Ruislip.«
Ob wohl Tulpen im Senegal unterschätzte Blumen sind und in Holland überschätzte? Und bei Flaschenkürbissen verhält es sich genau umgekehrt? Oder werden Tulpen im Senegal überschätzt, resignativ nach dem Fuchs/Traube-Prinzip, weil es dort kaum welche gibt? Man hört so viel von ihnen, aber können Tulpen wirklich »was«? Gesichert hingegen ist, dass die Gruppe derjenigen Schweden, die ABBA für unterschätzt halten, etwa gleichgroß wie die der Slowenen ist, die finden, dass Laibach (die Band) überschätzt ist. Nämlich in beiden Ländern etwa sieben Prozent.
Das sind Fragen, oder Themen, über die ich mich mit Elfriede Jelinek per Mail ausgetauscht habe.
Gelegentlich stellte ich ihr Fragen literarischer Natur, weil ich an etwas schrieb, von dem ich noch nicht genau wusste, was es werden könnte, vielleicht ein unzuverlässiger Reiseführer, Bulgarien mit den Augen eines Bolivianers etwa? Dabei ging es aber eben auch immer wieder um die Frage, ob der häufige Gebrauch des adjektivischen »überschätzt« so unterschätzt ist, wie es unterschätzt ist, auf »überschätzt« zu verzichten. Ich stellte ihr die Frage, weil sie gerade etwas von Thomas Pynchon übersetzt hatte, der in Amerika als unterschätzt gilt (»I think ›Gravity’s Rainbow‹ is vastly underrated«), während die Übersetzung bei uns überschätzt wird (»Ich halte die gute Frau Jelinek als Übersetzerin für maßlos überschätzt«), beides Beispiele auf der ersten Seite bei Google nach diesbezüglicher Suche.
Immer schloss die Poetin ihre Mails mit »stets die Ihre« und einem aus Sonderzeichen zusammengebastelten Schwein. Unser letzter kleiner Austausch fand kurz vor ihrem Nobelpreis für Literatur statt, man sah sie hin und wieder in der Stadt, um das »Café Korb« schnürend, leicht erkennbar an dem roten Haarkoffer auf ihrem Kopf und dem Zeug von Issey Miyake am Leib. Ich habe für sowas ein Auge, erkenne ein Label sofort, reflexhaft muss ich dann, mit gekünstelt bulgarischem Deutsch, in mich hineinmurmeln: »Is sich schene Jacke von Issey Miyake.« Sie fand das gut, als ich ihr das später mal schrieb, trug aber von da an nur noch Yamamoto. In irgendeinem späten Text von ihr wird sogar behauptet, Miyake sei ein bulgarischer Modeschöpfer. Ich kenne und erkenne Mode, aber mache mir nicht (mehr) viel aus ihr, ich habe ein DKNJ (Donna Karan New Jersey) T-Shirt von Roz Chast, auf dem Knie habe ich mir mit 16 die Initialen von Karl Lagerfeld tätowiert, ich wollte sogar bei ihm studieren, als er mal in Wien unterrichtete. Ich bewarb mich mit einem selbstgenähten Hemd mit asymmetrischem Kragen – eine Kragenecke ragte, bei geschlossener Knopfleiste, über die andere – und auf der gesamten Vorderseite stand gestickt: »Symmetrie ist die Kunst der Armen«. Lagerfeld hat mich, vielleicht trotz oder gerade wegen meiner Knietätowierung, die ich in meiner Bewerbung natürlich nicht unerwähnt ließ, nicht genommen. Ach, und ich besitze Schuhe von Gucci, die mit der Biene auf den zwei Streifen. Ich sage aber immer Guzzi, um mich absichtlich noch dümmer zu stellen, als ich es ohnedies schon bin, denn wenn man sich dümmer macht, hat man immer einen Vorsprung vor den Wissenden. »Sich dumm stellen ist die Linguistik der Klugen«, das sagten schon die alten Etrusker.
Dass ich überhaupt Mailkontakt mit ihr hatte, kam nicht von mir, sondern ging von ihr aus. Am Tag, als bekannt wurde, dass Jelinek den Literaturnobelpreis bekommen sollte – zurecht, wie ich finde, auch wenn ich kein einziges ihrer Bücher gelesen habe –, malte ich sie, in einer Art mitternächtlichem Happening, als Hommage, in Öl auf ein zerschnittenes John-Galliano-Hemd, nachdem der betrunkene Modedesigner kurz zuvor in einer Bar in Paris den Gästen erklärt hatte, er liebe Adolf Hitler. Mit Galliano war ich fertig, obwohl ich ihn mal mochte, vor allem seinen Schnurrbart. Den Hemdfetzen nagelte ich roh wie Günther Uecker auf einen Holzrahmen. Ich hatte am nächsten Tag eine Ausstellung in einer Galerie, ich dachte, das mache ich jetzt auch noch schnell, ihr zu Ehren und weil ich eine populistische Natter bin. Ich malte sie nackt, sich in einem Martiniglas räkelnd, ein misogynes Motiv wie eines von Mel Ramos. »Die« Jelinek würde die Metaebene verstehen, und das tat sie auch, denn einen Tag nach der Ausstellung bekam ich eine erste Mail von ihr, sie schrieb höflich, dass sie gehört habe, dass ich »in Öl mache« und dass ich sie nackt gemalt hätte, das hätten ihr ihre Informanten zugetragen, ob sie dieses Bild kaufen und ob sie sich das denn überhaupt leisten könne? Ich schrieb zurück, ich wisse nichts über ihre finanziellen Verhältnisse und könne auf die Schnelle nicht ihren Nobelpreis von Schwedischen Kronen in Österreichische Schilling umrechnen – ich bin wirklich sehr dumm –, aber leider könne sie das Bild nicht bekommen, das ginge nicht, einzig, weil es am Tag der Eröffnung bereits verkauft worden sei, und zwar an die Stadt Wien, die damit eine Amtsstube auszustatten gedenke, um das Büropersonal zu quälen oder den Parteienverkehr zu irritieren und auf diese Art kafkaeske Bürokratie-Komplexitäten zu zertrümmern. Zurück schrieb sie, dass sie zerrissen sei zwischen Bedauern über die verhinderte Transaktion und diebischer Freude, wo sie jetzt hängen würde, aber ob es mir nicht möglich wäre, ein neues Bild anzufertigen, speziell für sie, sozusagen als Auftragswerk, ohne Umweg über eine Galerie oder Amtsstube. Und ich sagte, ja, gerne, das würde mir gefallen, und ich tat das dann auch, allerdings ließ ich mir Zeit. Ich wusste nicht, ob ich exakt dieses Motiv wiederholen sollte, mich selbst kopieren, oder ein anderes Sujet von Mel Ramos, etwa sie nackt eine Zigarre reitend oder sich aus einer Snickers-Verpackung schälend, als sei das ihre Kleidung.
Bis ich das Bild fertig hatte, fragte ich sie, ob sie mir vielleicht mit Rat helfen könne, bei einem Theaterstück, an dem ich gerade säße. Ich hatte gerade eine Ibsen-Phase und las alles, was ich von dem Mann mit den dreieckigen Backenbärten in die Finger bekam, ließ mir sogar aus Überassimilation selbst so einen Bart wachsen. Ich wollte eines seiner Dramen in die Jetztzeit transponieren, den Titel hatte ich bereits: »Was geschah, nachdem Hedda Gablers Pistole Ladehemmungen hatte?« Das Stück sollte nicht in Kristiania, wie Oslo zur Zeit Ibsens hieß, spielen, sondern im bulgarischen Plovdiv, auch das Personal hatte ich schon grob skizziert. Die Hauptfigur, also Hedda, wollte ich nach ihr schaffen, Jørgen Tesman nach Art von Elvis Presley und Ejlert Løvborg als Franz Kafka, den Assessor Brack sollte Blixa Bargeld geben, allerdings nur als sprechender Fliegenpilz. Und immer ging es auch um dieses Überschätzt/Unterschätzt-Antagonistenpaar, Rollen, in die Presley/Kafka immer wieder schlüpfen sollte, um mithilfe von Teleportation mal mit dem einen, mal dem anderen zu verschmelzen. Dazwischen eine kleine Songskizze, wie »You Ain’t Nothing But a Mistkäfer«, interpretiert vom Fliegenpilz, bis sie am Ende, nach etwas zu viel Teleportation, hängengeblieben zwischen zwei Phasenübergängen, ein bisschen aussehen wie zwei matschige Insekten, wie in David Cronenbergs »Die Fliege«. Hedda Gabler, die sich im Original am Ende ja am Klavier erschießt, greift in meiner Adaption gegen die zwei Fliegen zur Waffe, die aber, wie der Titel nahelegt, Ladehemmungen hat, dann zu einem Stein, den Satz »To kill two birds with one stone« paraphrasierend. Am Ende kommen die Jungs von Metallica als eine Art griechischer Chor, sie fechten ihre internen Bandquerelen aus, basierend auf Protokollen und Schnipseln aus Interviews, Dokumentationen, Backstagestreitereien. Die Musiker werden von Kakadus gespielt.
Jelinek gab mir einige brauchbare Tipps, sie fand die Grundidee gut, damit könne man arbeiten, sehr viel hineinprojizieren, das sei eine »elastische Menagerie«, die man auf alles umlegen könne, Trump und Václav Havel, Ilie Năstase und Liberace, grobes Tennis und groteskes Klavierspiel, Ping Pong mit Marek & Vacek, globaler Süden und Starbuck’s, Klimakrise und Kleptokratie, die Kakadus sollten immer wieder den Slogan »Keine Wahrheit ist gut genug, gesagt zu werden, in der Absicht zu verletzen« krächzen. Und es störe sie nicht, dass sie sozusagen zerrieben werde zwischen all den männlichen Protagonisten? »Parmesan und Partisan, wo sind sie geblieben? Partisan und Parmesan, sind wie ich zerrieben« (ihre Worte), als Yamamotos Wonderwoman in Ulan Bator – am Ende wusste ich nicht mehr, wovon sie eigentlich redete (Ulan Bator? Why?), ich stieg nicht mehr durch, verlor den Faden, und als ich das anmerkte, meinte sie, dass sie das auch so gedacht hätte, als eine Art Bewusstseinsschwachstrom, lose Fäden als Angebote, die man aufnehmen könne, oder es bleiben lassen. Alleine eine Figur wie Elvis sei doch dermaßen aufgeladen mit Informationen, dass er fast platze, einem Schicksal, dem er zuvorkam, indem er vorzeitig das Gebäude verließ, und wenn man das mit Ibsen konterkariere, wüchse die Projektionsfläche für Exzesse jeder Art und jedes Angebot, das man macht und das man annimmt. Und trotzdem: Ab der Mitte des Tages können wir unsere Politik wegtrinken, das passt dann schon, so machen es doch alle.
Aber was denn eigentlich aus dem Auftragswerk geworden sei, fragte sie, das versprochene Gemälde. Das war mir ein bisschen peinlich, denn ich hatte noch nichts, und durch die plötzliche Nähe zu ihr wuchsen bei mir die Skrupel, sie nackt zu malen, und auch Zweifel, ob Mel Ramos nicht doch der frauenverachtende Gullysultan ist, der falsche Prophet, als der er von den meisten, insbesondere Frauen, angesehen wird. Deshalb malte ich nur ein Porträt ihres markanten Gesichts, im Stile des frühen Willem de Kooning, ihr Kinn geriet mir ein bisschen zu dick. Ich fotografierte es und mailte es ihr, einmal, keine Antwort, ein zweites Mal, wieder nichts und als auch auf einen dritten Versuch nichts von ihr kam, verkaufte ich das Bild auf dem Flohmarkt für 20 Schilling. Ein Mann kaufte es, der gebrochen Deutsch sprach, irgendeine osteuropäische Färbung, vielleicht ein Bulgare. Als ich fragte, ob er wisse, wer die Abgebildete sei, antwortete er: »Is sich Weltmeister im Scheißereden.«
Ich sah ihn auf der Straße, auf der Shaftsbury Avenue in London, einen jungen Mann, raspelkurze blonde Haare. Er ging vor mir zur U-Bahn und trug eine Lederjacke, auf deren Rücken »Iannis Xenakis Jugend« stand. Ich fand das so eigenartig wie großartig, als spräche mich dieser Rücken direkt an. Er lockte mich durch Neugier, als das Gegenteil des »lasterhaften Rückens«, den Knut Hamsun seinen wütenden, im Hungerdelirium fantasierenden Protagonisten im Roman »Hunger« immer wieder verzweifelt auf unbescholtene Bürger in den engen Gassen Oslos projizieren ließ. Ich überholte den jungen Mann, sprach ihn geradeheraus an, natürlich auf Griechisch, eine Sprache, die ich wie keine zweite beherrsche und mir angesichts seines Rückens angebracht erschien: »Η πλἁτη σου μιλἁɛι, σύντροϕɛ« (»Dein Rücken spricht, Genosse«). Er schaute mich wie ein kopfloses Pferd beglückt idiotisch an und sagte, auf Englisch, dass er Griechisch nicht verstünde, was ich meine, was ich von ihm wolle. Ich erklärte, dass ich mich angesprochen fühle von der Botschaft, die er hinter sich hertrüge wie eine Monstranz der Arroganz und die ich für ein Bekenntnis hielt, eine geheime, wie zauberische Zugehörigkeit, den Popen der »Stochastischen Musik« mit einer Motorradgang zu kombinieren. Gangs grenzen sich mit ihren Rücken von anderen Gangs ab – du fährst hinter mir, also meine Gang führt dich an, lies, was ich dir mitgebe, atme meine Abgase ein. Und vor der »funktionierenden« Gesellschaft fuhren sie natürlich umso mehr her und davon – jeder will noch weiter als der nächste Außenseiter sein. Und dann auch noch mit dem unseligen deutschen Suffix »Jugend«, was wohl dahinterstecken könnte? Der junge Mann lachte gelb und erklärte, er sei Schwede, ihn würde nur »das was hinter der Musik sei« interessieren, und ja, natürlich will man sich doch immer abgrenzen, von den anderen: Lasst mich alleine, ihr versteht mich doch sowieso nicht, versucht es erst gar nicht, ihr seid die Aufziehinsekten, von denen ich auch mal eines war. Er freute sich, dass ich es dennoch versucht hatte, seinen klandestinen Nonkonformismus nachvollziehen zu wollen, vielleicht weil es mir ja ebenso ging, und ich merkte in dem Moment, dass sich hier zwei ähnlich Empfindende gefunden hatten. Ich fragte ihn, ob er mit mir ein frisches Glas Bier trinken würde, ich hatte einen Brand wie eine Bergziege, gestern wohl irgendwas Falsches falsch an einem möglicherweise zu richtigen Ort getrunken – ah, ich erinnere mich an zuviel Pepsi-Ice-Cucumber mit Ouzo mit einer Gruppe Ghanaer, in einem Laden namens »Young African Sporting Club«, in den ich zufällig gestolpert war, das war alles allzu laut, wild und undurchdringlich, aufreizende Juju-Musik, zu der wir wie Angezündete Sirtaki tanzten. Die ganze Zeit fürchtete ich, von der zweifelhaften Brühe ausgezonkt zu werden und bekämpfte diese Furcht paradoxerweise mit noch mehr davon. Jetzt war es 17 Uhr, da konnte man schon wieder. Er nickte, ja, gerne, nichts lieber als das, er hätte ein kleines Zeitfenster, er müsse nur nachher auf ein Konzert gehen, eine bestimmte Band träte in einem exklusiven Rahmen auf. Wir gingen in einen dem U-Bahneingang gegenüberliegenden Pub, den »The Duchess of the Doublets«. Sobald wir saßen und der Wirt kam, um unsere Bestellungen aufzunehmen, lauerte schon der unsterbliche Satz Winnetous in mir, so als müsse gesagt werden, was einmal gesagt werden muss: »Ich bitte um ein Glas Bier, deutsches Bier!«, weil der Häuptling in einer der Schriften Karl Mays mit dem schwe