Lass uns über den Tod reden - C. Juliane Vieregge - E-Book

Lass uns über den Tod reden E-Book

C. Juliane Vieregge

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Beschreibung

Wie gehen wir mit dem Tod eines geliebten Menschen um? Können wir die Leerstelle füllen, die der Verstorbene hinterlässt, geht das Leben einfach weiter? Welche Rituale können uns helfen? Uns fehlt eine Kultur des Sterbens und der Trauer. Mit dem Sprechen fängt es an.
Lass uns über den Tod reden!, forderte C. Juliane Vieregge Hinterbliebene von Eltern oder Ehepartnern, Kindern oder Geschwistern auf. Außerdem hat sie mit Menschen gesprochen, die beruflich mit dem Tod zu tun haben. Entstanden sind 18 vielschichtige, berührende und sehr persönliche Geschichten. Ergänzt werden sie um Essays zum Umgang mit Sterben, Tod und Trauer in unserer Gesellschaft.
Die Autorin sprach mit Joe Bausch, Ulrike Bliefert, Christopher Buchholz, Jochen Busse, Monika Ehrhardt-Lakomy, Gisela Getty, Hans Jellouschek, Roland Kachler, Enno Kalisch, Dieter Thomas Kuhn, Hans Christof Müller-Busch, Axel Nacke, Boris Palmer, Ilse Rübsteck, Katrin Sass, Jan Schmitt, Arsène Verny und Horst Walther.

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Seitenzahl: 421

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, März 2019 entspricht der 1. Druckauflage von März 2019 © Christoph Links Verlag GmbH Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected] Umschlag: Christiane Hemmerich Konzeption und Gestaltung, Tübingen

Inhalt

Vorwort

I

»Meine Mutter hat mir mit ihrem Abschied ein Lebensrätsel aufgegeben«

Der Tod als Auftraggeber

»Dafür hat er sein ganzes Leben lang gekämpft«

Boris Palmer über den Tod seines Vaters Helmut Palmer

»Ich möchte ihnen nicht vergeben«

Jan Schmitt über den Suizid seiner Mutter Mechthild Schmitt

»Ich war ihm wohl zu seltsam«

Jochen Busse über den Tod seines Vaters Klaus Busse

»Der Lacky war ein Verrückter«

Monika Ehrhardt-Lakomy über den Tod ihres Mannes Reinhard Lakomy

II

»Dass er mir vertraute, war für mich ein Geschenk«

Der Tod als Versöhner

»Da war etwas Größeres, nur das zählte noch«

Enno Kalisch über den Tod seiner Eltern Elke und Klaus-Dieter Kalisch

»Ich suche keine Schuldigen mehr«

Katrin Sass über den Tod ihrer Mutter Marga Heiden

»Mein Vater war wie ein Kind«

Christopher Buchholz über den Tod seines Vaters Horst Buchholz

III

»Die Trauer webt sich in das Leben ein«

Der Tod als Lebensbegleiter

»Ich will nicht Abschied nehmen, loslassen schon gar nicht«

Roland Kachler über den Verkehrsunfalltod seines Sohnes Simon

»Wenn ich die Wohnung verlasse, winke ich ihm zu«

Arsène Verny über den Unfalltod seines Sohnes Valerian

IV

»Ich schäme mich dafür, dass ich in dieser Situation nicht nah genug an ihn herangekommen bin«

Der Tod als Weichensteller

»Der Suizid ist etwas, das die Anderen betrifft«

Hans Christof Müller-Busch über den Selbstmord seines Bruders Klaus

»Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte meine Mutter vielleicht noch ein Jahr länger gelebt«

Ulrike Bliefert über den frühen Tod ihrer Mutter Ursula Bliefert

»Nicht, weil ich irgendetwas verbrochen hätte, sondern weil ich Jüdin bin«

Ilse Rübsteck, geb. Falkenstein, über den allgegenwärtigen Tod im Arbeitslager Riga

V

»Lebe im Hier und Jetzt!«

Der Tod als Lehrmeister

»Der Tod ist wie die Liebe, er ist einfach da«

Dieter Thomas Kuhn über seinen verstorbenen Bruder Michael

»Es gibt wichtigere Dinge im Leben als zu gefallen«

Hans Jellouschek über den Tod seiner ersten Frau Margarete Kohaus

»Es ist ganz anders, als wir es uns vorstellen«

Gisela Getty über den Tod ihrer Zwillingsschwester Jutta Winkelmann

VI

»Einen besseren Beruf kann ich mir für mich nicht vorstellen«

Der Tod als Berufender

»Sterben tun nur die Anderen«

Axel Nacke über seine Arbeit mit Todkranken

»Es könnte immer der letzte Tag sein«

Horst Walther über seinen Beruf als Bestatter und seine verstorbene Frau Marion Walther

»Wir müssen uns mal über etwas unterhalten«

Joe Bausch über das Sterben im Knast, über den Tod seines Vaters Joseph Bausch und die Hospizbewegung

Ein Narr legt sich zur Ruh

Nachwort

Anhang

Literatur

Dank

Die Autorin

Für Tobias und Charlotte

Vorwort

Am 7. September 2009 ist mein Vater gestorben. Wie schon in den Wochen zuvor war ich bei ihm, als er starb. Für lange Zeit ließen mich die Bilder seines Sterbens nicht mehr los.

Je mehr ich mich damit beschäftigte, desto mehr fiel mir ein, was ich alles hätte anders, besser machen können! Für die schönen Momente, die ich in seinen letzten Tagen mit ihm teilen durfte, bin ich unendlich dankbar. Und dennoch erlebte ich die entscheidenden Momente seines Sterbens und Todes als von Mangel und Unsicherheit bestimmt.

Noch nie habe ich so deutlich empfunden: Uns fehlt eine Kultur des Sterbens. So wie uns auch eine Kultur des Trauerns fehlt. Der Tod ist uns fremd geworden, er liegt so außerhalb unseres Erfahrungshorizontes, dass jeder mehr oder weniger auf sich selbst gestellt ist bei dem Vorhaben, sich einen lebensnahen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer anzueignen. Das war der Hintergrund, auf dem ich begann, mir und anderen Fragen zu stellen:

Wie kann ich die noch verbleibende gemeinsame Zeit nutzen, wenn ein geliebter Mensch unheilbar krank ist?

Was kann ich für diesen Menschen in seiner schwersten Stunde tun?

Welche Rituale können dem Sterbenden und mir helfen?

Wie kann ich mit meiner Trauer weiterleben?

Wie kann ich den Verstorbenen in meiner Erinnerung bewahren?

Ich sehe meine eigene Geschichte insofern als exemplarisch an, als bestimmte Erfahrungen, die ich gemacht habe, verallgemeinerbar sind, andere wiederum nicht. Wie viel schwerer muss der Abschied von einem nahestehenden Menschen sein, wenn es sich nicht um den alten, »lebenssatten« Vater handelt, sondern um den Lebenspartner, die Schwester, den Bruder oder das eigene Kind?

Der Tod stellt eines der rätselhaftesten Mysterien der Menschheit dar. Dass ein Mensch einfach nicht mehr existiert, übersteigt unsere intellektuelle Vorstellungskraft. Erst recht sind wir emotional damit überfordert, uns mit der radikalen Unabänderlichkeit der Situation abzufinden. Wo ist diese Person, die eben noch durch die Tür gegangen ist, die eben noch mit mir gesprochen hat, jetzt? Und wie soll ich ohne sie weiterleben?

Die Verantwortung für meinen Vater, die ich in der Zeit seiner Erkrankung in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß übernommen hatte, fiel erst Wochen später von mir ab. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich unsere Vater-Tochter-Beziehung extrem verändert: von der Tochter zur Fürsorgerin und Verwalterin wichtiger Vorgänge zu Hause und in der Klinik. Vom Nehmen zum Geben. Bei meinem Vater war es umgekehrt: Vom Geber wurde er zum Nehmer – ein Rollentausch, der ihm viel schwerer fiel als mir.

Nachdem mein Vater gestorben war, nachdem auch der besinnungslose Aktionismus der Beerdigung und der Rechtsfragen vorbei war und ich wieder zum Nachdenken kam, meldeten sich massive Zweifel an.

Ich hätte mehr mit ihm sprechen müssen. Ich hätte entschiedener gegen das über die Jahrzehnte zur Gewohnheit gewordene Schweigen zwischen uns angehen müssen. Ich hätte sein Sterben anders gestalten können, wenn ich besser vorbereitet gewesen wäre. Ich hätte ihm mehr Mut auf seinem letzten, schweren Weg zusprechen und mehr Zuversicht vermitteln sollen in Hinsicht darauf, was ihn zweifellos noch belastete und worüber er, warum auch immer, die Decke des Schweigens gelegt hatte.

»Ich dachte immer, ich sei ein Liebling der Götter«, sagte mein Vater mit der ihm eigenen Selbstironie angesichts der Tatsache, dass auf seine alten Tage der Krebs sich in seinem ganzen Körper ausgebreitet hatte. Er hielt das für ungerecht und vollkommen überflüssig. Er war ja bereit zu sterben! Andererseits konnte er die Unausweichlichkeit seines Sterbens nicht fassen – der Antagonismus eines hochaktiven, an der Welt interessierten und auf die Welt Einfluss nehmenden Lebens, wie er es geführt hatte.

Entgegen seinen früheren Ansagen wollte er bewusst sterben. Auf eine beinahe wissenschaftliche Weise interessierten ihn die körperlichen Vorgänge bis hin zu den Ausfällen seines vom Krebs und vom Morphium beeinträchtigten Gehirns.

»Ich kann nicht mehr«, sagte er einmal und sah mich verzweifelt an.

Selten bin ich mir meiner eigenen Unzulänglichkeit so bewusst gewesen. Erst in den letzten Jahren hatte sich unser kompliziertes Vater-Tochter-Verhältnis in eine wohlwollende, gegenseitige Akzeptanz gewandelt. Doch die Sprachlosigkeit zwischen uns hielt an. Auch angesichts des Todes blieb so vieles ungesagt.

Hinterher weiß man mehr.

Wie soll man sich dem Tod stellen? Auf diese wie auch auf die zuvor genannten Fragen will das Buch Antworten finden.

Die Personen, die hier zu Wort kommen, sind mit ihrer Trauer und den Erinnerungen an ihren Verstorbenen in den Alltag zurückgekehrt. Trotz ihrer schmerzhaften Erfahrungen waren sie bereit, genau hinzuschauen, genau hinzuhören, genau auszusprechen, was oft schwerfällt zu sagen. So unterschiedlich sie sind, so unterschiedlich sind ihre Erfahrungen, die damit keinerlei Wertung oder Beurteilung unterliegen.

Mit den Stimmen meiner Interviewpartnerinnen und -partner bekommt der Tod verschiedene Gesichter: des Schreckens, der Wut, der Verzweiflung, der Angst, der Verlassenheit, der Dankbarkeit und der Hoffnung auf der Suche nach Wegen mit und aus der Trauer. Ohne ihre Bereitschaft, mit mir zu reden, wäre das vorliegende Buch nicht entstanden.

Ich danke ihnen für ihre Zeit und ihre Geduld. Vor allem danke ich ihnen für ihr Vertrauen.

I

»Meine Mutter hat mir mit ihrem Abschied ein Lebensrätsel aufgegeben«

Eltern sind nicht so, wie wir sie als kleine Kinder wahrnehmen: perfekte Erwachsene mit klarem Blick auf sich und ihre Umwelt. Eltern sind Menschen, die mit sich selbst kämpfen, die nach ihrer Identität suchen und nach ihrem Platz in der Welt, so wie es – auf die eine oder andere Art – wohl jeder Mensch tut.

Nicht selten wird der Kampf oder die Suche als Auftrag an die nächste Generation weitergegeben. Als Beispiel sei genannt, wie viele Kinder den Beruf ihrer Eltern anstreben oder auch den nicht erreichten Beruf beziehungsweise die nicht erreichte Berufung. Dies gilt sogar über den Tod hinaus. Immer wieder erstaunt es mich, wenn relativ alte Menschen sagen: »Das hätte meiner Mutter gefallen«, oder: »Wenn das mein Vater wüsste.«

Das Spiegeln des eigenen Lebens in den Augen der Eltern scheint niemals aufzuhören. Anders gesagt: In dieser alltäglichen Form hat der Auftrag der Eltern lebenslange Gültigkeit.

Aufträge über den Tod hinaus können sich auch in anderen menschlichen Beziehungen ergeben, etwa durch Ehepartner, Geschwister oder sehr enge Freunde.

In den wenigsten Fällen wird der Auftrag durch eine direkte Aufforderung erteilt. Die Angehörigen erfühlen ihn vielmehr als eine Art innere Verpflichtung. Sie nehmen die Herausforderung an, um wie selbstverständlich ihre eigenen Lebenslinien darin einzubinden. Der Auftrag beruht nicht auf Gegenleistungen. Er kann ganz und gar einseitig sein, er kann ins Aus führen – oder zu einem großen Befreiungsschlag! Er kann sogar ins Gegenteil dessen umschlagen, was sich die Eltern oder andere fiktive Vertragspartner von diesem Deal erhofft haben. Die Auftragsausführung steht allein in der Verantwortung derjenigen Person, die ihn annimmt.

Beweggrund und Antrieb des Vertrages ist es, eine Aussöhnung, zumindest einen harmonischen Abschluss der Beziehung mit dem oder der Verstorbenen zu finden. Derjenige, der die Herausforderung annimmt, will damit eine Geschichte vollenden. Wie diese Vollendung aussieht, weiß er anfangs meistens selbst noch nicht.

Eines Tages überreichte mein Vater mir eine Kiste. Er sagte: »Du interessierst dich doch für diese alten Sachen.« Er sagte, die Kiste habe er von seiner Großmutter geerbt, das Erbe durchaus als Ehre verstanden, aber er habe nur ein einziges Mal hineingeschaut. Es seien die Lebenszeugnisse seines Onkels, der wie er Günther geheißen habe und im Ersten Weltkrieg, gerade 19-jährig, gefallen sei.

Damit drehte er, der durch den Zweiten Weltkrieg Traumatisierte, sich um, froh, die Last los zu sein.

»Briefe und Bilder von Günther V., 03.07.1897 bis 05.11.1916«, stand auf dem Deckel. Ich schnitt die dicke Schnur auf, öffnete die Kiste und fing an zu lesen. Das tat ich in den nächsten Jahren immer mal wieder – die Kiste übte einen fast masochistischen Sog auf mich aus. Anschließend verschloss ich sie mit einem zunehmend mulmigen Gefühl.

Obenauf lag der Zueignungsbrief meiner Urgroßmutter an meinen Vater. Darunter ein Stapel vergilbter Kriegs-Landkarten. In einem Album mit Fotos aus Noyon (Frankreich) – Günthers Stationierungsort – waren auch die Briefe an seine Eltern eingeklebt. Einen Stapel Briefe an seine Großeltern in Naumburg hielt eine Schnur zusammen.

Der eifrig korrespondierende 18-Jährige bedankt sich in jeder Feldpost für Briefe und Pakete. Er bedankt sich für Süßigkeiten, getrocknete Würste, ausgeschnittene Fortsetzungsromane und Wäsche. Was war das für ein seltsamer Krieg, in dem Wäsche- und Fresspakete hin- und hergingen?

Im Herbst 1915 berichtet er über eine »zehnwöchige russische Offensive« und heftige Gefechte und dass er einen toten Russen beerdigt habe. Im Frühjahr 1916 hat sich die Lage geändert, der Junge schildert »sehr gemütliche, wenn auch etwas enge Unterstände«, »bombensicher und mit elektrischer Beleuchtung, Matratzen, Federkissen und Eßgeschirr, auf Deutsch: aller Comfort.«

Das Schießen hört er nur aus der Ferne. Nächtliche Beobachtungseinsätze im Schützengraben wechseln mit Fernsprechdiensten. Tägliche Ausritte führen ihn nach Noyon, das »nicht ganz so groß wie Naumburg« sei. Er schreibt der Großmutter: »Du fragst, was Du mir schicken sollst? Da bin ich ganz Materialist: am liebsten etwas Kräftiges zu essen.« Und weiter: »Jedenfalls ist es hier überraschend ungefährlich, so daß Ihr Euch keine Sorge um mich zu machen braucht!«

Beruhigt der Junge seine Familie, oder entspricht seine Darstellung den Tatsachen? »Wir haben noch immer viel langweiligen Dienst. Alles sehnt sich danach, mal wieder an aggressiven Unternehmungen teilnehmen zu können.«

Ein Jahr später, am 5. November 1916, die Todesnachricht: »Zu meinem großen Schmerz muß ich Ihnen Mitteilung machen vom Heldentode Ihres Sohnes Günther, unseres lieben Kameraden.« Auf vier Seiten schildert der Kriegsgenosse die letzten Tage des Gefallenen. Er versichert, dass dieser sofort bewusstlos gewesen und einen schnellen Tod gestorben sei. »Er hat nicht gelitten.«

Dies entspricht der üblichen Form, alle Mütter gefallener Söhne sind in beiden Weltkriegen auf die gleiche Weise getröstet worden.

Einen ganzen Schuhkarton gepresst voll mit Kondolenzpost überflog ich nur, in vielen Fällen vor der Sütterlinschrift kapitulierend. Hier fand ich auch sämtliche Rechnungen, von der Überführung der Leiche bis zum Kanonenschuss am Grab. Die Offiziellen schreiben vom »Feld der Ehre« und trösten, »daß Ihr Sohn fürs Vaterland treu und mutig in den Tod ging«. Die anderen, Freunde und Verwandte, weinen mit den Eltern.

Am 23. November 1917 wird Günther »Im Namen Seiner Majestät des Kaisers und Königs« posthum das Eiserne Kreuz Erster Klasse verliehen. Wofür? Fürs Sterben? Ganz hinten im Album entdeckte ich die Medaille, noch an die Originalpappe geheftet.

Was für ein trauriger Pomp! Das viele Unverständliche dieser Dokumente – sowohl inhaltlich als auch äußerlich durch die schwer zu entziffernden Handschriften – deprimierte mich mit jedem Öffnen der Kiste mehr. Mit seinen Briefen war mir der Junge, der mein Großonkel war, allmählich vertraut geworden. Ich glaube, er war lustig. Besonders in den Briefen an seine Großmutter zeigt er diese Seite von sich. Er liebte gutes Essen, Bücher, Briefeschreiben, Abenteuer. Er war ein hübscher Kerl. Die ganze Sinnlosigkeit seines Todes fiel mich an, sobald ich die vergilbten Dokumente in die Hand nahm.

Vielleicht hatte mein Vater gehofft, dass ich die Briefe und Dokumente irgendwann einmal transkribieren, digitalisieren, konservieren würde. Doch eines Tages hatte ich plötzlich keine Lust mehr auf das alles und vor allem keine Lust auf das schlechte Gewissen aufgrund des Wissens, dass ich das alles niemals tun würde.

Ich verschnürte die Kiste, so wie es vor Jahrzehnten schon meine Urgroßmutter und später mein Vater getan hatten, und schob sie in den hintersten Winkel der Abstellkammer. Schluss, aus!

Jedes Jahr zur Weihnachtszeit, wenn ich die Christbaumdeko hervorkrame, begegne ich der Kiste und nicke dem toten Großonkel kurz zu. Mehr nicht, Auftrag erfüllt!

Boris Palmer hat es da schon deutlich schwerer. Sein Vater habe sich als Weltretter verstanden, erzählt Tübingens Oberbürgermeister, und tritt damit nicht nur ein in familiärer, sondern auch in politischer Hinsicht großes Erbe an. Helmut Palmer war Pomologe und Bürgerrechtler und kandidierte bei mehr als 250 Bürgermeister-, Landtags- und Bundestagswahlen in Baden-Württemberg. Seinem Spitznamen Remstal-Rebell machte er alle Ehre durch ein ebenso unkonventionelles wie streitbares Auftreten gegenüber Behörden, aber auch im privaten Umfeld. Einige Jahre Sendepause zum Vater legte der Sohn ein, um ihr Verhältnis auf ein neues Fundament zu stellen, um Trennendes und Gemeinsames zu erkennen. Als Boris Palmer zum ersten Mal auf Anhieb in das Bürgermeisteramt gewählt wurde, war ihm plötzlich klar, dass er das erreicht hatte, was der Vater sein Leben lang für sich angestrebt hatte.

Direkt aufgefordert wurde Jan Schmitt von seiner Mutter, ihr Lebensrätsel zu entschlüsseln. Als sie sich mit Tabletten vergiftete, hinterließ sie auf ihrem Schreibtisch ein geheimnisvolles Arrangement aus Fotos, Tagebüchern und Briefen. Elf Jahre brauchte der Sohn, bis er die Kraft fand, die Herausforderung anzunehmen. Schmitt stieß auf ein schreckliches Familiengeheimnis und entdeckte eine Vergangenheit voller Gewalt, Tabubrüche, Schweigen und Schuld. Diese Schuld nicht als seine eigene zu erkennen, war der erste Schritt, die schwere und belastende Lebensaufgabe anzunehmen.

An seinen Eltern hat sich auch Jochen Busse abgearbeitet. Man muss es schaffen!, lautete das Credo des Vaters, dessen größte Angst darin bestand, dass der Sohn ein Versager werden könnte. Wo die Eltern sich mit Lebenslügen, mit Krankheit und Verdrängung behalfen, um den eigenen Ansprüchen nach außen hin gerecht zu werden, da entdeckte der Sohn die Schauspielkunst als Rettungsanker, als lebenslange Therapie. Eine radikal diesseitsorientierte Lebenshaltung war für ihn die einzige Möglichkeit, neben einem zeitlebens kränkelnden Vater und der damit verbundenen morbiden Dauerangespanntheit im elterlichen Haus zu überleben. Vom Tod lässt Busse sich nicht berühren, der Tod begegnet ihm nicht – mit Produktivität und Schaffenskraft steht er gegen ihn an. Jedoch spricht keine Todesverdrängung aus Busses Worten, sondern eine produktive Anverwandlung.

Mit einer Himmelfahrtsfeier verabschiedeten sich Multitalent Monika Ehrhardt-Lakomy und ihre engsten Freunde von ihrem an Krebs verstorbenen Ehemann Reinhard Lakomy. Beinahe 40 gemeinsame, unglaublich produktive Schaffensjahre lagen da hinter ihr. Das gemeinsame Werk, Musik für Kinder, weiterzuführen, hat sich Ehrhardt-Lakomy zur Aufgabe gemacht. Ihr Mann hat ihr einen reichen Fundus hinterlassen, auf dem die Texterin und Schriftstellerin aufbauen kann. Diese verdammte Wehmut, die gehe nicht weg, stellt sie lakonisch fest. Die Arbeit an neuen Musikproduktionen und regelmäßig ausgebuchten Aufführungen ist ihre Art, die Trauer um ihren Lebens- und Arbeitspartner zu bewältigen.

»Dafür hat er sein ganzes Leben lang gekämpft«

Boris Palmer über den Tod seines Vaters Helmut Palmer

Mein Vater, Helmut Palmer, starb Heiligabend 2004. Da lag ein zehnjähriges Krebsleiden hinter ihm.

Ich war nicht weit von ihm weg, in Tübingen in meiner Wohnung. Leider wurde ich von der Klinik nicht informiert, obwohl ich ausdrücklich darum gebeten hatte. Dass er jetzt tatsächlich starb, das war absehbar, es konnte jeden Tag passieren. Ich war am Vorabend noch bei ihm gewesen, und dann erreichte mich die Nachricht, er sei vor einer Stunde gestorben.

Ich war traurig und wütend, dass mir die Chance, dabei zu sein, nicht gegeben worden war. Wenigstens war er nicht allein gestorben, eine fremde Person hatte an seinem Bett gesessen. Wir wissen ja nicht, was er noch wahrgenommen hat, aber ich wäre doch sehr gerne in diesem Moment bei ihm gewesen.

Und dann habe ich erst mal lange geweint

Zum Glück konnten alle meine Geschwister und ich uns fünf, sechs Tage vor seinem Tod an seinem Krankenbett versammeln. Wenn es irgendeinen Vorteil an der Krebserkrankung gibt, dann den, dass man die Chance bekommt, sich von dem Sterbenden zu verabschieden.

Anschließend haben wir Geschwister den ganzen Abend miteinander verbracht. Wir sind zusammen essen gegangen. Dazu muss man wissen, dass meine Geschwister über ganz Deutschland, teilweise sogar über die Welt verteilt sind. Der Einzige, der hier in Tübingen lebt, bin ich.

Die Beerdigung war sehr berührend für mich. Mein Bruder schaffte es, mit der Gitarre ein Lied vorzutragen, das er unserem Vater zuvor in der Klinik noch wie zum Abschied gespielt hatte. Das war sehr emotionsgeladen. Davor habe ich großen Respekt, ich hätte das nicht geschafft. Mein Bruder hat zu dem Lied auch selbst gesungen. Das finde ich eine tolle Leistung. Es waren viele Weggefährten und Freunde da, sodass ich die Beerdigung in sehr positiver Erinnerung habe.

Und jetzt, zehn Jahre später, sehe ich meinen Vater in dem Stück Zur Liebe verdammt fürs Schwabenland im Landestheater Tübingen. Das heißt, ich sehe nicht ihn, sondern vier Puppen, die ihn darstellen sollen. Das Erste, was ich während der Vorstellung dachte, war: Mensch, die Puppen treffen ihn erstaunlich gut! Ich kann mich mit dem Bild, das da auf der Bühne von unserer Familie und von der Dynamik innerhalb unserer Familie gezeichnet wird, bestens identifizieren. Jede dieser Palmer-Puppen stellt eine Facette seiner vielschichtigen Persönlichkeit dar, die sich auf die Weise stärker herausarbeiten lässt, so haben mir das die Theatermacher erklärt. Ich glaube, für den Zuschauer ist das gar nicht so konkret greifbar, weil die Perspektiven dauernd wechseln, aber ich finde das sehr stimmig. Die Puppen reden miteinander. Dadurch bieten sie eine Reflexionsfläche, auf der ich meinen Vater wiedererkennen kann, das finde ich bemerkenswert. Die Texte sind fast alle von ihm, der ganze Text besteht aus Originalzitaten. Die meisten kenne ich oder sie rufen zumindest Erinnerungen in mir wach. Die Theateraufführung war für mich unheimlich dicht und authentisch. Zehn Jahre nach dem Tod ist man ja nicht mehr jeden Tag mit den Gedanken beim Vater. Aber nach dieser Vorstellung war auf einmal alles wieder da.

Mein Vater war ein Mensch, der Unrecht nicht ertragen konnte

Dafür hat er sein ganzes Leben lang gekämpft: für Gerechtigkeit. Geprägt haben ihn die Jahre des »Dritten Reiches«, die er rückblickend als Unrecht gegenüber der Menschheit, aber natürlich auch als Unrecht sich selbst gegenüber begriffen hat. Als »jüdischer Mischling 1. Grades«, wie das damals hieß, also als Halbjude, hatte er am eigenen Leib vielfältige Formen der Diskriminierung und der Herabsetzung erfahren und eigentlich nur durch Glück überlebt. Andere mit der gleichen Abstammung haben nicht überlebt. Dieses Bewusstsein hat ihn für sein Leben geprägt.

Er konnte cholerisch und aufbrausend sein. Er war ein Dickschädel. Einer, der wenig bereit zu Kompromissen war, sodass aus dem Antrieb, Gerechtigkeit in der Welt, aber auch Gerechtigkeit für sich selbst zu erringen, ein lebenslanger Kampf wurde.

Mein Vater war 423 Tage im Gefängnis, das sind zusammen ein Jahr und zwei Monate. Eine verdammt lange Zeit, wenn man bedenkt, dass keines seiner Vergehen eine kriminelle Handlung im eigentlichen Sinn war. Deswegen würde ich ihn auch nicht als militant bezeichnen. Aber wenn er sich angegangen fühlte, schreckte er vor Sachbeschädigung nicht zurück, oder er wehrte sich auch mal körperlich. In dem Zusammenhang war dann immer und immer wieder seine jüdische Herkunft ein Thema. Sie war für ihn ein Quell der Diskriminierung und damit auch Grund für sein politisches Engagement.

Er war ein fordernder Vater

Viele würden das heute als nicht kindgerecht ansehen, was wir damals als normal erlebt haben. Für uns war es normal, morgens um drei Uhr aufzustehen und dann einen 16-Stunden-Tag mit dem Vater zu arbeiten, mit zwölf oder 13 Jahren! Das verstößt, glaube ich, gegen das Arbeitszeitgesetz, Mindestlohn, Kinderschutz und weiß der Kuckuck was alles. Heute würde der Weiße Ring anklopfen, aber für uns war es Alltag. Das hat mir auch nicht geschadet. Das ist das eigentlich Verblüffende: Mein Vater arbeitete rund um die Uhr, aber dadurch, dass er uns in sein Arbeitsleben voll integrierte, also in den Marktbetrieb, in die Politik – da wurden wir auch mitgeschleppt – und in das Baumschneiden, den Obstbau, verbrachte ich sehr viel Zeit mit ihm. Nur nicht so, wie andere Familien das tun. In die Wilhelma gingen wir selten. Daran hatte er kein Interesse. Unsere gemeinsame Zeit war Arbeitszeit.

Bis ich 16, 17 Jahre alt war, hab ich ihn verehrt und alles klaglos ertragen, was er verlangt hat. Obwohl er oft sehr ungerecht war. Er hatte die Eigenschaft, an nichts schuld zu sein. Er fand immer einen Grund, warum die anderen schuld waren, gerne auch ich. Etwa wenn im Lkw etwas gefehlt hat, dann hatte ich Schuld, weil ich es am Vorabend nicht kontrolliert hatte.

Dann kam die Phase der Emanzipation, und ich fing an, mich zu wehren und mich gegen den Vater zu stellen. Während des Studiums in Tübingen hatte ich einige Jahre lang wenig Kontakt zu ihm und zog mich bewusst zurück, weil ich merkte, dass ich die Auseinandersetzungen nicht durchstehen, also nicht gewinnen konnte. Ich half ihm nur noch auf dem Wochenmarkt, wenn meine Mutter mich ausdrücklich darum bat, ansonsten sahen wir uns monatelang überhaupt nicht. Telefonieren war weder seine noch meine Sache, sodass es in dieser Zeit zu einer großen Distanz kam. Erst mit Ende 20 konnte ich mich über die Politik wieder mit ihm identifizieren und er sich mit mir. Da wollte er auch wieder mehr mit mir diskutieren, weil er erkannte, dass ich politisch gesehen sein Erbe antrat.

Viel Zeit für Erziehung nahm sich mein Vater nicht. Für die Erziehung, das familiäre Umfeld und den inneren Halt oder auch Zusammenhalt war unsere Mutter zuständig. Sie hielt ihm den Rücken frei, führte ein offenes Haus und bewies immer wieder eine große Toleranz. Unser Vater war oft nicht zu Hause, weil er sich ständig im Wahlkampf befand. Auf diese Weise ergaben sich Freiräume für uns, die Schule oder das Freibad, wo wir uns entfalten konnten. So dominierend er war, wenn er anwesend war, hatten wir doch auch unsere eigene Welt.

Wir sind eine sehr heterogene Familie: sechs Kinder von vier verschiedenen Müttern

Mit vier von den fünf Geschwistern hatte ich ständig Kontakt. Mit meinem Bruder sowieso, mit ihm wuchs ich gemeinsam auf. Drei andere Halbgeschwister waren immer wieder bei Familienereignissen dabei. Nur ein Halbbruder war uns allen nicht bekannt. Von dessen Existenz wussten wir überhaupt nichts. Zwei Jahre vor dem Tod meines Vaters kam er erst für mich auf die Welt, persönlich kennengelernt habe ich ihn tatsächlich erst an diesem gemeinsamen Abend kurz vor dem Tod meines Vaters. Seither ist es so, dass wir vier sind, die sich häufig treffen und auch engen Kontakt haben, besonders mit meiner Halbschwester und meinem Bruder, die auch alle das Theaterstück über unseren Vater gesehen haben. Die zwei anderen Halbgeschwister, die jeweils als Einzelkinder aufwuchsen und nie mit ihm zusammenlebten, sind weiter weg, wir halten jedoch Kontakt über E-Mails.

Jedes von uns sechs Geschwistern entwickelte ganz unterschiedliche Reaktionen auf diesen starken, dominanten Vater.

Unsere überdurchschnittlich guten Schul- und Berufsergebnisse würde ich aber nicht unbedingt auf einen Abgrenzungswunsch zurückführen. Da spielte wohl eher die Kombination aus Begabung und sozialem Hintergrund eine Rolle. Ich wollte in erster Linie interessengeleitet studieren. Mich bewegte – ganz klassisch mit Faust – die Frage: Was hält die Welt im Innersten zusammen? Was ist des Pudels Kern? Und da erschien mir eine Kombination aus einer grundständigen Naturwissenschaft und einer grundständigen Geisteswissenschaft genau das Richtige, um die Welt zum einen über den Calculus zu erklären und sie zum anderen historisch zu durchdringen.

Das Latinum hatte ich schon in der Schule gemacht, das Graecum im Sinne des klassischen humanistischen Bildungsideals dann an der Universität. Mir hat mal ein Lehrer gesagt: Wer Platon nicht im Original gelesen hat, ist kein Mensch. Ganz so hart würde ich es nicht ausdrücken, aber seine Worte haben mich beschäftigt.

Mitte der neunziger Jahre wusste ich, dass ich in die Politik gehen würde

Bis dahin hatte ich die Meinung meines Vaters übernommen, dass Parteipolitik nichts für mich sei, sondern dass ich mich eher sachorientiert und unabhängig engagiere. Etwa in meiner Funktion als Studierendenvertreter und Referent für Umwelt und Verkehrsfragen beim AStA, wo ich mich erfolgreich für die Einführung des Semestertickets und die Nachtbusse in Tübingen starkmachte. Später leistete ich Überzeugungsarbeit in verschiedenen Tübinger Supermärkten, dass es besser sei, die Milch des Tübinger Milchwerks ins Regal zu nehmen, statt Milch aus großer Entfernung herzutransportieren. Das ist ja wirklich Unsinn! Ich las also die Ökobilanzen, und dann stellte ich mich vor die Läden und befragte die Leute, ob sie dieses Angebot auch gerne hätten. Mit den Ergebnissen ging ich anschließend zu den jeweiligen Geschäftsführern, um diesem Kundenwunsch zur Erfüllung zu verhelfen, und bei einigen klappte es tatsächlich. Bis heute!

Doch dann kam der Moment, als ich merkte, mit den Grünen konnte ich mich so stark identifizieren, dass ich erstmals bereit war, mich in eine Partei einbinden zu lassen. Spätestens mit dem Bundestagswahlkampf 1998, unter der Parole »Kohl muss weg«, ließ ich mich wirklich von der Partei begeistern und stieg von da an als Parteipolitiker auch beruflich auf.

Politik macht mir Spaß. Ich will ja etwas verändern. In keinem anderen Bereich habe ich die Chance, so viel mit anderen Menschen gemeinsam zu bewegen.

Tatsächlich habe ich mir vieles von meinem Vater abgeschaut, was die Rhetorik und die Methodik angeht

Wenn es passt, zitiere ich meinen Vater schon mal mit einem besonders markanten und bekannten Spruch, um dann aber wieder zu meinem eigenen Stil überzugehen. Was ich sicher ihm zu verdanken habe, ist die relativ unkomplizierte, offene und direkte schwäbische Art, auf Leute zuzugehen. Das habe ich schon auf dem Wochenmarkt gelernt. Zu jemandem hinzugehen und zu sagen: »Hier bin ich, und ich habe das und das Anliegen«, macht mir nichts aus, während es für andere eine große Hürde ist.

Ich habe aber durchaus auch von ihm gelernt zu erkennen, was mir nicht gefällt, um mich infolge dessen bewusst anders zu verhalten, als er es getan hat. Es gab ja unzählige Vorfälle, in denen er Leute wissentlich vor den Kopf gestoßen hat. Schon sehr früh habe ich mir vorgenommen, das nicht so zu machen.

Immer wieder hat er, aus meiner Sicht ohne nachvollziehbaren Grund, Kunden zur Sau gemacht und sie regelrecht von unserem Stand weggejagt. Ich dachte dann: »Die arme Frau!« – meistens waren es ja Frauen –, und lief hinterher und entschuldigte mich mit einer Schale Erdbeeren. So kann man natürlich nicht mit den Leuten umgehen.

Man sollte niemanden unnötig gegen sich aufbringen. Aber ich habe auch keine Lust, mich – das ist ein Satz von Winfried Kretschmann – abschleifen zu lassen wie einen Kieselstein, nur um nicht mehr anzuecken. Das ist mir zuwider.

Wenn ich anecke, muss ich allerdings akzeptieren, dass der Andere sich wehrt. Ich kann dafür sorgen, um im Bild zu bleiben, dass die Ecken nicht so scharf geraten, dass Blut fließt. Es reicht, wenn man sich hin und wieder mal ein bisschen anstößt. »Lieber Stein des Anstoßes sein als anstößig«, steht auf meinem Elternhaus geschrieben. Eine Balance zu finden, das ist entscheidend.

Ein anderer Leitspruch meines Vaters lautete: »Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt.« Ich muss mich da immer wieder zäumen. Den Impuls, sich nichts gefallen zu lassen, hat er uns – mehr als mir lieb ist – mit auf den Weg gegeben. Das ist oft nicht produktiv, und man macht sich damit das Leben schwer. Mein Vater hat viele Menschen unterwegs verloren und sich auch nie darum gekümmert, was aus ihnen geworden ist. Er ging einfach weiter, und wer nicht mitkam, der blieb halt zurück.

Als ich 2001 Landtagsabgeordneter der Grünen wurde, war mein Vater schon stolz auf mich, auch wenn er es so direkt nie gesagt hätte. Aber er verschickte Faxe an Zeitungsredaktionen, dass er jetzt seinen eigenen Abgeordneten habe!

Mein Vater verstand sich als Weltretter

In dieser leicht ironischen Überspitzung würde ich mich auch so sehen. Im Sinne von Max Weber bin ich Verantwortungsethiker, kein Gesinnungsethiker. Auf der gesinnungsethischen Basis ist keine Verständigung möglich. Es gibt halt nicht nur eine Gesinnung, sondern mehrere, unter Umständen gegensätzliche. Der Gesinnungsethiker ist nicht in der Lage, Kompromisse einzugehen, weil er damit von der reinen Lehre abweichen müsste. Deswegen ist in der Politik meiner Meinung nach die Verantwortungsethik das Richtige. Was nicht bedeutet, dass ich ohne Gesinnung wäre. Ich vertrete in der Politik ganz klar fundierte, ethische Werte. Um kompromissfähig zu bleiben, muss man immer wieder einen Schritt zurücktreten und sich die Frage stellen: »Was bewirkt diese Handlung, über die wir gerade reden, objektiv betrachtet für alle?«, und nicht nur: »Wie steht sie im Verhältnis zu meiner Gesinnung?«

Schon in meiner Funktion als Landtagsabgeordneter habe ich kein Auto besessen. Man bekommt eine Freifahrkarte für das ganze Land, wozu also Auto fahren? Zumal die Arbeitszeit wegfiele, die man im Zug gewinnt und gut nutzen kann.

Was aber sicherlich viel mehr im öffentlichen Gedächtnis hängengeblieben ist, war meine Rückgabe des Dienst-Mercedes im Jahr 2007 als Oberbürgermeister von Tübingen und der Ersatz durch ein CO2-sparsames Hybridfahrzeug japanischer Herkunft. Das hat damals einen Aufruhr verursacht! Und vielleicht hat diese Aktion ihren Teil dazu beigetragen, dass die Elektrifizierung des Antriebsstranges, die damals von der deutschen Autoindustrie noch boykottiert und als Irrweg abgekanzelt worden ist, mittlerweile bei allen Premiumherstellern verfolgt wird, als Hybrid und perspektivisch auch als Elektroauto. Klar, das hat jetzt die Welt noch nicht gerettet, aber eingeschlagen hat es!

Mein Vater war nach dem Krieg in die Lehre in die Schweiz gegangen und kehrte mit einer am dortigen Obstbauminstitut in Oeschberg entwickelten Schnitttechnik zurück. Die versuchte er in den fünfziger Jahren in Württemberg zu verbreiten, und dabei schlug ihm sehr viel Widerstand entgegen, teils, weil die Leute nicht hören wollten, dass sie alles radikal anders zu machen hätten als bisher, teils aber auch wegen seines jüdischen Hintergrundes. Von ihm wollte man sich gleich zweimal nicht sagen lassen, wie man was zu machen habe. Das gipfelte in der Behauptung, der »Jud« wolle die Obstbauern nur am Geldbeutel erleichtern und ihre Erwerbsquellen vernichten, weshalb man seine Schnittkurse wohl besser gar nicht erst besuche. Die Sache ist als Württembergischer Obstbaukrieg in die Geschichte eingegangen.

Und heute? Kann man feststellen, dass sich diese Schnitttechnik bewährt und für großkronige Bäume als die bessere durchgesetzt hat, sowohl was die Lebenszeit der Bäume angeht als auch die Qualität der Früchte! Weil bei diesem Schnitt die untersten Kronpartien genauso viel Sonnenlicht abbekommen wie die oberen, hat mein Vater ihn den »demokratischen Schnitt« genannt.

Gut, er war auch dafür bekannt, dass er mal eben in fremde Gärten einstieg und kurzerhand die Obstbäume umschnitt. Zum Glück war ich nur selten dabei, und als Kind verstand ich die Tragweite auch nicht, besonders wenn es sich um nicht eingezäunte Obstwiesen handelte.

Als ich jetzt zum zweiten Mal die OB-Wahl gewann, und weil meine Mutter an dem Wahlabend anwesend war, erwähnte ich in meiner Rede auch meinen Vater, dass ich ihm viel zu verdanken habe und dass ich an so einem Abend natürlich an ihn denke. Ich zeigte den Leuten auf dem Marktplatz die Stelle, wo er mir das Verkaufen von Obst beigebracht hatte. Das war ein eindrücklicher Moment.

Noch eindrücklicher war aber vor acht Jahren meine erste Wahl. Daheim am Computer, um 18.30 Uhr, als das vorläufige Endergebnis da war, wurde mir plötzlich klar: Jetzt bin ich überraschend Oberbürgermeister! Da habe ich mich auf das Fahrrad gesetzt und bin zum Rathaus geradelt. Ich weiß noch genau, an welcher Stelle auf der Straße die Tränen runtergelaufen sind, weil mir bewusst wurde:

Jetzt habe ich das erreicht, was mein Vater sein Leben lang wollte, und er kann nicht dabei sein

Erst danach hat sich mir die Frage gestellt, inwieweit man eigentlich durch den Vater determiniert ist, weil es ja schon auffällt, dass ich sozusagen seine lebenslange Mission erfüllt habe. Doch dem Vergleich mit meinen fünf Geschwistern, von denen niemand in die Politik gegangen ist, entnehme ich die Erkenntnis, dass es immer noch eine freie Entscheidung gibt. Mein Vater hat natürlich die Voraussetzungen geschaffen, die ich auf meine Weise genutzt habe, während meine Geschwister sie ganz anders genutzt haben. Dass ich Oberbürgermeister geworden bin, hat nichts mit Schicksal zu tun, sondern ich habe mich dazu entschieden, und die Tübinger Bürger haben sich entschieden, mich aktiv darin zu unterstützen. Die Kreuze auf die Stimmzettel hat ja nicht mein Vater aus dem Jenseits gemacht.

Wenn ich auswärts Vorträge halte, dann stelle ich heraus, dass wir es in Tübingen geschafft haben, Wohlstand und Bevölkerungswachstum mit sinkendem Klimaschaden und abnehmender Naturzerstörung zu verbinden, und das bei deutlich gestiegenen Ausgaben für Soziales, insbesondere für die Kinderbetreuung. Das nennt man klassisch-nachhaltige Entwicklung. Daran arbeite ich. Es macht mich stolz, dass wir so gute Ergebnisse vorweisen können. Ich sehe sie – so viel zum Thema »Welt retten« – als einen kleinen Beitrag dieser Stadt zu den großen Aufgaben des 21. Jahrhunderts. Wir zeigen, dass es geht. Nur indem man das dokumentiert, besteht die Chance, dass die gesamte Welt sich auf diesen Weg macht!

Ich bin sehr detailverliebt und sachorientiert. Wenn Sie hier mit den 50, 60 Menschen aus dem Führungsteam der Stadtverwaltung reden, bin ich sicher, dass die sagen werden: »Der OB weiß über alles genau Bescheid.« Das ist auch mein Grundanspruch.

Ich finde, Politik wird viel zu oft von der Feldherrenwarte aus betrieben

Bevor man sich auf einen Hügel stellt und für alle die Richtung vorgibt, sollte man sich besser erst mal unten im Schlachtfeld bewegen. Und dann kann man sagen: »So, jetzt weiß ich, wie es geht.«

Das mache ich eigentlich immer so: Ich will da genau rein! Das andere, was meinen politischen Stil kennzeichnet, ist, den Problemen nicht auszuweichen. Man kann Politik sehr konsensorientiert und immer schön diplomatisch betreiben, das kommt auch gut an, wie man bei Frau Merkel sieht. Mir liegt das aber nicht. Ich finde, gerade in der Kommunalpolitik hat man die Chance, sich – im positiven Sinne – intensiv zu streiten, indem der Dissens ausgetragen wird und die Argumente gesichtet, erklärt und letztlich verstanden werden. Deswegen gehe ich die Dinge direkt an, sage meine Meinung und rede nicht um den heißen Brei herum.

Ich weiß, das finden nicht alle gut. Es allen recht zu machen, geht als Oberbürgermeister sowieso nicht. Doch die Wahlergebnisse zeigen, dass viele Leute meine Haltung honorieren, und selbst wenn sie sich im Einzelfall mal über mich ärgern, sagen sie doch insgesamt: »Der ist einer, bei dem man weiß, wo er steht.«

Im Unterschied zu meinem Vater, der immer ein Einzelkämpfer war, habe ich eine Partei im Rücken, die Grünen, ohne die ich die Wahl niemals gewonnen hätte. Klarheit in der Aussage, die auch mein Vater geschätzt und kultiviert hat, verbinde ich mit Werbung für meine politische Position. Mein Vater hat eigentlich nie für seine Sache geworben, sondern immer nur gekämpft. Das führt dazu, dass man zwar eine begeisterte Anhängerschaft hat, aber eben auch sehr viele Gegner. Ich habe zumindest so viel geworben, dass ich eine Mehrheit für meine Position und für meine Person gewinnen konnte.

Der berühmte blaue Anzug zum Beispiel: Ich hatte ein Buch geschrieben mit dem Titel Eine Stadt macht blau. Die entsprechende Klimaschutzkampagne hieß »Tübingen macht blau«. Dafür hatte ich mir diesen knallig blauen Anzug nähen lassen, um das Thema zu visualisieren. Die Leute sollten sofort ein Bild vor Augen haben, wenn sie beispielsweise an meine Vorträge zurückdachten. Der blaue Anzug, so hässlich er ist, war eine Provokation, und als solche hätte er sicher auch meinem Vater gut gefallen. Aber die Provokation war kein Selbstzweck, sondern sie beinhaltete eine sachliche Zielsetzung.

Bei allen Unterschieden ist es mir nicht unangenehm, mit meinem Vater verglichen zu werden

Ich finde, dass jemand, der so wenig Rücksicht auf sich selbst genommen und so engagiert für seine Sache gekämpft hat, Anerkennung verdient. Manfred Rommel hat einmal gesagt, in der deutschen Geschichte sei mein Vater der zweitbeste Beleidiger nach Martin Luther gewesen. Ich vermisse seine Originalität. Die Dinge auf unterhaltsame und treffende Weise auf den Punkt zu bringen, darin war er genial. Politische Plattitüden zu entlarven, indem er unverblümt etwas entgegensetzte, darin war er schwer zu übertreffen.

Ich bin nicht spirituell eingestellt. In unserer Familie hat Religion keine Rolle gespielt. Zu Hause habe ich ein Bild von meinem Vater an der Wand hängen, das ich von einem prominenten Platz aus gerne anschaue. Ich habe eine umfangreiche Materialsammlung über ihn. Bis heute wird mir ständig neues Material zugeschickt, was dieser oder jener mit ihm erlebt hat. Dauernd bekomme ich Geschichten über ihn erzählt, wenn Menschen mich treffen. Auf diese Weise ist er immer präsent für mich und kann gar nicht in Vergessenheit geraten.

Mein Vater hat mir, glaube ich, zwei Ideale ganz besonders eingepflanzt: zum einen das brennende Bekenntnis zur Demokratie, auch zur Bürgerdemokratie oder direkten Demokratie, zur Schweizer Demokratie, wie er sagte. Und zum anderen das Engagement für den Umweltschutz.

Also bin ich nicht zufällig bei den Grünen gelandet, sondern weil mein Vater ein sehr intensives Verhältnis zur Natur hatte. Er konnte mitten in der Fahrt den Lkw anhalten und aussteigen, um mir schöne Details in der Landschaft zu erklären. Solche Erlebnisse haben sich bei mir auf die Weise manifestiert, dass ich nur in einer Partei Mitglied werden konnte, die sich Werte wie Umweltschutz und Nachhaltigkeit auf ihre Fahne geschrieben hat.

Vier Wochen vor seinem Tod, als ich morgens vor der Arbeit wieder einmal für zwei Stunden bei meinem Vater im Klinikum war, haben wir uns über unser Verhältnis ausgetauscht. Das hatten wir davor nicht oft gemacht, eigentlich ganz selten. Da hat er den schönen Satz gesagt: »Gell, mir hänn uns mehr mögen als mir g’sagt hännd?« Das hat mich tief berührt. Daran denke ich heute als Erstes, wenn ich an meinen Vater denke.

Das ist es, was bleibt.

Tübingen, 24. Juni 2015

© Ulrich Metz

Boris Palmer, 1972 geboren, wuchs in Remshalden als Sohn des »Remstal-Rebellen« Helmut Palmer und Erika Palmer auf. In Tübingen und Sydney studierte er Geschichte und Mathematik. Seit 1996 ist er Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen. Als Landtagsabgeordneter von Baden-Württemberg gehörte er zu den schärfsten Kritikern von »Stuttgart 21«. 2014 wurde Boris Palmer zum zweiten Mal in das Amt des Tübinger Oberbürgermeisters gewählt.

»Ich möchte ihnen nicht vergeben«

Jan Schmitt über den Suizid seiner Mutter Mechthild Schmitt

Der Suizid meiner Mutter mit seinen ganz besonderen Umständen hat das Thema Tod zu meinem Lebensthema gemacht.

»Wenn etwas zu schwer ist, gibt es immer noch die Möglichkeit, aus dem Leben zu gehen« – diese Option ist mir eingeschrieben und präsent, wie meiner ganzen Familie wahrscheinlich schon seit Generationen.

1996 hat sich meine Mutter mit Tabletten vergiftet. Vorher hat sie die Garage abgeschlossen, was sie sonst nie tat, sich hergerichtet, den Tablettencocktail eingenommen, sich ins Bett gelegt und ist gestorben. Eine Nachbarin fand sie ein paar Tage später. Sie sagte, meine Mutter habe wie Schneewittchen dagelegen, fein zurechtgemacht, geschminkt und frisiert, in einem schönen Kleid. Gehen, wenn es zu schwer wird – die Option war für sie Realität geworden. Sie war 53 Jahre alt.

Leider habe ich meine tote Mutter nicht gesehen, was ich sehr bedaure. Dadurch ist mir das Abschiednehmen noch viel schwerer gefallen, als es ohnehin schon war. Wenn ich sie so, wie sie mit aller Konsequenz aus dem Leben gegangen ist, gesehen hätte, dann hätte sich dieses Bild in mir verfestigen und ich hätte viel eher loslassen können. Auch meinen verstorbenen Vater habe ich nicht mehr gesehen. Ich habe mich davor gefürchtet.

Meine Mutter hat mir mit ihrem Abschied ein Rätsel aufgegeben

Ein Lebensrätsel. Eine grüne Mappe, Tagebücher und mehrere Versicherungspolicen lagen ordentlich hergerichtet auf ihrem Schreibtisch. Ich erinnerte mich, dass sie schon früher immer diese Kladden vollgeschrieben hatte, doch bei ihrem Tod hinterließ sie nur ausgewählte Hefte, die eindeutige Hinweise enthielten. In der grünen Mappe lagen ein Gedicht und zwei Fotos.

Das eine Foto zeigt meine Mutter in einem weißen Kommunionskleidchen und mit einer Kerze in der Hand, da ist sie neun Jahre alt. Das andere zeigt mich, ihren Sohn, als Neunjährigen. In Bremen gibt es so eine Skulpturengruppe, der Schweinehirt und seine Herde, und der Hirte bläst in sein Horn. Auf diesem Horn throne ich, in Jeansjacke und mit einem frechen Grinsen im Gesicht. Die beiden Fotos erschienen mir damals wie ein Auftrag: »Schau da hin! Wie war ich mit neun Jahren, und wie warst du?«

Ich wartete elf Jahre lang, bis ich mich dem Auftrag stellen konnte. Zuerst entwickelte ich eine ungeheure Wut, eine Wut darauf, dass sie mir ihr Leben praktisch vor die Füße geschmissen hatte. Es gab ja auch noch einen Abschiedsbrief, in dem ich namentlich genannt werde, im Gegensatz zu meinem Bruder und meiner Schwester: »Jan, sorge auch für Deine Geschwister.«

Damit hat sie mir eine wahnsinnige Bürde aufgehalst

Aber da wir uns emotional sehr ähnlich sind, nahm ich diese Bürde irgendwann an. Ich konnte gar nicht anders.

Als ich mich an die Recherche machte, fand ich heraus, dass meine Mutter ab ihrem neunten Lebensjahr sexuell missbraucht wurde. Der Täter war ein mit der Familie befreundeter Jesuitenpater, der im Haus der Familie ein- und ausging. Die Eltern freuten sich, wenn er kam. Die Stimmung zu Hause war oft gedrückt, doch wenn der fesche Pater den Raum betrat, ging die Sonne auf und es wurde gelacht, und so war er ein gern gesehener Gast.

Die Beziehung zwischen dem Pater und dem neunjährigen Mädchen, das meine Mutter war, wurde jedes Mal, bei jeder Begegnung, durch die Beichte entlastet und so die Ordnung wiederhergestellt. Die Schuldgefühle, das Unausgesprochene, das Schweigen-Müssen verstellten ihr völlig das Wissen darum, was hier eigentlich passierte. Dass ihr Gewalt angetan wurde! Dass ihr ein Unrecht geschah! So sah ihre Realität aus, die sie gelernt hatte wegzuschieben, zu verdrängen, abzuspalten, doch in dunklen Momenten meldete die Vergangenheit sich zurück. Jahrzehnte später kam durch eine gestalttherapeutische Sitzung heraus, dass auch ihr Vater sich an ihr vergangen hatte. Das war dann wohl die Wahrheit, mit der sie nicht mehr leben konnte.

All das erfuhr ich erst durch ihren Tod.

Mit knapp 16 Jahren kam sie in ein Waisenheim, ins Jugenddorf »Klinge« in Seckach. Meine Mutter war aber keine Waise. Die Unterlagen des Jugenddorfes bezeugen, dass die städtische Behörde im Fall Mechthild die öffentliche Erziehung angeordnet hat. Die Begründung lautet: »Tiefgreifende Milieuschädigung«. Und: »Die Heimunterbringung ist eilig!« Von einer Betreuerin des Jugenddorfes existiert ein handschriftlicher Akteneintrag: »Mechthild möchte an Weihnachten nicht nach Hause.« Für mich ist das ein deutliches Zeichen, denn in ihren Tagebüchern erwähnt sie immer wieder, dass sie ihr Zuhause als die Hölle empfunden habe.

Das Jugendamt verfügt über keine Unterlagen mehr. Es gab Hochwasserschäden, einmal hat es sogar gebrannt, es waren die fünfziger Jahre. Ich vermute, mit »Milieu« ist das strenge, engherzige katholische Milieu gemeint, in dem sich die Familie meiner Mutter bewegte. Dieser Pater unterhielt wohl auch mit der Mutter meiner Mutter ein Verhältnis. Die Eltern führten eine unglückliche Ehe, und der Pater stellte das Gleichgewicht wieder her und sorgte für gelöste und heitere Stunden im ansonsten schwermütigen Alltag.

In ihren Tagebüchern beschreibt meine Mutter, dass sie der Preis für das zerbrechliche Glück der Familie gewesen sei

Dafür wurde sie angefasst, bedroht, sexuell missbraucht. Wie ist es möglich, fragt man sich, dass eine Familie so lange den Mantel des Schweigens über ein solches Verbrechen legen konnte? Doch Schweigen und Vertuschen gehen weiter, indem bis heute die Geschichte meiner Mutter in ihrer Familie geleugnet wird. Um die Beziehung zu dem Pater aufrechtzuhalten, wurde die jüngste Tochter geopfert. Ich glaube, so krass muss man das sagen.

Für das Ritual, mit dem der Pater sich und meine Mutter jedes Mal von ihrer Schuld befreite, legte er sich eine Stola um, beide mussten sich niederknien und Gott um Vergebung bitten, sowohl um seine als auch um ihre.

»Der Schuld-Trick hat ein Leben lang funktioniert«, notiert meine Mutter im Tagebuch. Einmal holte er sie offensichtlich auch in dem katholischen Jugenddorf ab – so weit schien sein Arm zu reichen –, um mit ihr fernab in einem Kloster Exerzitien zu vollziehen. Dieser permanente Kontakt in einem von beiden Elternteilen geduldeten Herrschaftsverhältnis zwischen einem Geistlichen und einem Kind ist der Hintergrund dafür, dass meine Mutter zeit ihres Lebens von einer Todessehnsucht erfüllt war.

Ihr Lieblingsspiel war Puppen beerdigen. In ihrem Tagebuch schreibt sie, dass sie zwei Mal schwanger gewesen sei, das erste Mal mit 14 Jahren. Es soll eine Totgeburt auf dem Küchentisch im Elternhaus gewesen sein. Das andere Kind, ein Junge, zwei Jahre später, wurde ihr weggenommen. Laut ihren Einträgen suchte sie jahrelang nach ihm. Meine Theorie ist, dass er in der »Klinge« versteckt wurde. Das Jugendamt, das für Mechthild die öffentliche Erziehung angeordnet und sie aus der Familie herausgenommen hatte, beschwert sich in einem Schreiben über ihre Unterbringung ausgerechnet in einem katholisch geführten Heim. Blieb sie doch damit weiterhin exakt dem Milieu verhaftet, das für ihr Unglück verantwortlich war.

Meine Mutter stieß mit ihrer Suche nach dem Kind auf eine Mauer des Schweigens

Als ich 2005 das Jugenddorf »Klinge« besuchte, fand ich dort Fotos von einer Säuglingsstation, die durch Spenden finanziert wurde. Wenn man heute danach fragt, existieren keinerlei Unterlagen oder Fotos mehr davon. Seltsam! Das ist ein ganz schrecklicher Moloch, ich muss sagen, dass ich durch die Geschichte meiner Mutter so weit weg vom Glauben gekommen bin, wie es weiter gar nicht geht.

Nachdem meine Mutter sich das Leben genommen hatte, begann ich, mich mit ihren Freundinnen zu treffen, und stellte zu meinem Erstaunen fest, dass Familie gar nicht so wichtig ist. Meine Mutter hatte sich ihre eigene Familie geschaffen, eine Ersatzfamilie aus Freunden. Einen ähnlichen Weg bin ich ja dann auch gegangen. Ich war der Einzige in der Familie, der sich mit der Geschichte auseinandersetzen, der wirklich wissen wollte, was da passiert war. Das war der erste Schritt. Mit dem »Sorge auch für Deine Geschwister« kam ich überhaupt nicht zurecht. Dann fing ich eine Therapie an, und dabei ist mir die Struktur unserer Familie sehr deutlich geworden. Indem ich nach und nach die ganze Dimension begriff, änderte sich meine Sichtweise.

Mit der seelischen Verarbeitung stiegen Bilder in mir auf, die ich nicht mehr vergessen konnte. Da wusste ich, dass ich mit diesen Bildern künstlerisch arbeiten musste. Elf Jahre, nachdem meine Mutter sich umgebracht hatte, begann ich mit dem Dokumentarfilm Wenn einer von uns stirbt, geh ich nach Paris. Er ist das Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem Suizid meiner Mutter.

Wenn man so eine Familiengeschichte offengelegt hat, kann keiner mehr behaupten, da habe nichts stattgefunden. In dieser Familie ist gewaltig etwas danebengegangen, und das Resultat war ein großer emotionaler Schaden bei meiner Mutter. Nun war der Film in der Welt, ein Opfer bekam damit endlich mal ein Gesicht. Wenn einer von uns stirbt, geh ich nach Paris war der erste Film, der sich mit dem Thema sexueller Missbrauch offensiv beschäftigte. 2009 kam er in Berlin ins Kino, danach ging die Welle richtig los. Für mich besteht da ein atmosphärischer Zusammenhang: 2010 machte Pater Klaus Mertes vom Canisius-Kolleg einen der größten Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche öffentlich.

Trotzdem werde ich den Suizid meiner Mutter auch mit dem Film nicht los

Er ist mein Lebensthema. Ich werde die Wut nicht los. Anfangs war ich nur wütend über die Zumutung, mich um etwas kümmern zu müssen, worum meine Mutter nicht geschafft hatte, sich zu kümmern. Ich war wütend und traurig: War ich es ihr nicht wert gewesen, dass sie weiterlebte? Je mehr Wissen um die Hintergründe ihres Selbstmordes ich mir aneignete, umso mehr wollte die Geschichte raus. Ich wollte, dass sie erzählt wurde, dass keiner mehr sagen konnte, das alles habe es nie gegeben.

Die Geschichte meiner Mutter ist auch meine Geschichte. Ich bin davon geprägt. Schon immer war ich sehr empfänglich für Dissonanzen, Spannungen, Unausgesprochenes. Von daher entsprach es mir, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich kann da gar nicht anders. Ich will immer wissen, was hinter dem Vorhang ist.

Im Vorfeld musste ich für mich klarstellen, dass ich keine Schuld am Unglück meiner Mutter trug und auch keine Schuld an ihrem Tod. Sie hätte es wieder probiert, sich das Leben zu nehmen. Sexualisierte Gewalt erlebt zu haben, ist wie todgeweiht zu sein. Meine Mutter war von Kindheit an eine Todgeweihte. Das musste ich mir immer wieder vergegenwärtigen.

Jeder hat seine Wahrheit in dieser Geschichte. Ich habe nicht den Anspruch, meine Sichtweise als absolut zu setzen. Der Film zeigt, wie ich das Leben meiner Mutter begreife, um zu verstehen, warum sie sich umgebracht hat. Das habe ich als meine Aufgabe angesehen. Für andere ist es vielleicht wichtiger, das Familienheil aufrechtzuerhalten.

Meine Mutter hat ihren Eltern vergeben. Diesen Moment, als ihre Mutter vor ihr niederkniet, um sie, die Tochter, um Vergebung zu bitten, schildert sie in einem Brief an ihre Freundin Ingrid.

Ich kann meinen Großeltern nicht vergeben. Ich muss ihnen auch nicht vergeben. Ich finde es ganz schrecklich, was sie getan haben, und der Krieg ist dafür auch keine Entschuldigung. Millionen Deutsche sind aus dem Krieg zurückgekommen, haben Verbrechen und schlimmste Sachen miterlebt oder sogar selbst begehen müssen, aber sind sie deshalb über ihre Kinder hergefallen? Haben sie deshalb geduldet, dass andere über sie herfallen?