Last Exit - Goetheturm - Ralf Schwob - E-Book

Last Exit - Goetheturm E-Book

Ralf Schwob

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Beschreibung

Showdown in Sachsenhausen! Ein missglückter Banküberfall in Mannheim. Ein gelinkter Kleinkrimineller mit Spielschulden. Und vier Jungs, die auf einem Rastplatz an der A67 einen Toten und eine Tasche voller Geld finden … 1982, am Tag, als Helmut Kohl Bundeskanzler wird, finden Gummi, Andy, Bernd und Meier auf einem Parkplatz an der Autobahn einen toten Bankräuber samt Beute. Die Jungs geraten in Panik und fliehen. Als die Polizei später am Fundort eintrifft, sind Geld und Pistole längst verschwunden. Hat sich einer von ihnen in der Nacht die Beute geholt? Gleichzeitig muss Komplize Jimmy seine Spielschulden in Frankfurt begleichen. Zu allem bereit, sucht er in der südhessischen Provinz nach seinem Anteil, bevor es auf dem Sachsenhäuser Goetheturm zu einem unerwarteten Finale kommt …

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Ralf Schwob
Last Exit – Goetheturm
Rhein-Main-Roman
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2015 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlagabbildung: © andreiuc88 - Fotolia.com
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-164-9
Für Metal Dust: Michael, Jürgen und Bernd
I got holes in my shoesI got holes in my teethI got holes in my socksI can’t get no sleepI’m trying to make a millionAC/DC

Freitag, 1. Oktober 1982

Das Letzte, was Jimmy hörte, war ein Knall. Dann hörte er nichts mehr, außer einem quälend hohen Pfeifton. Jimmy riss die Augen auf und sah den stummen Schrei aus dem Mund der blonden Bankangestellten, die sich die Hände auf die Ohren presste. Er sah die geräuschlose Explosion des Bonbon-Glases, das auf den Boden fiel, als er die Tasche mit dem Geld über den Tresen zog. Er sah das Brüllen des Filialleiters, der sich vor ihnen aufgebaut hatte. Der Filialleiter trug einen dunklen Anzug und eine bunte Krawatte mit Micky-Mäusen. Er war bestimmt Familienvater, Hobbykünstler, ADAC-Mitglied. Vielleicht war er auch Fremdgeher und betrog seine Frau jeden Freitagnachmittag im Hinterzimmer mit der hübschen Blondine, die immer noch schrie, ohne dass Jimmy es hören konnte. Aber wer hätte gedacht, dass der Filialleiter auch Dirty Harry war? Dass er zumindest glaubte, er könnte es sein? Dass er eine Pistole auf Jimmy und Udo richten würde, als sie es fast schon geschafft hatten, eine lächerliche kleine Weiberpistole, die der Mann auf einmal von Gott weiß woher hervorgezaubert hatte? Der Filialleiter riss die Arme hoch, brüllte und schoss, das konnte Jimmy noch hören, und auch das Dröhnen, das danach in der Luft lag, und die Schreie und das Fluchen hörte er, denn der Schuss war verdammt laut, lauter als der Filialleiter gedacht hatte, das konnte Jimmy an seinem überraschten Gesicht ablesen. Aber der Schuss, der Jimmy taub machte, kam gar nicht aus der Waffe des Filialleiters, sondern wurde keinen halben Meter entfernt direkt neben seinem Ohr abgefeuert. Udo verfehlte den Filialleiter, aber der ging trotzdem zu Boden und sank zwischen die beiden bäuchlings auf dem schmutzig grauen Teppich liegenden Kunden, einem älteren Herrn im Sportsakko und einem langhaarigen Jeansträger, die sich vorhin ohne zu zögern auf den Boden geworfen hatten, als Jimmy sie dazu aufgefordert hatte. Der Filialleiter verabschiedete sich nach seiner Heldentat in eine erlösende Ohnmacht, und Jimmy drehte sich mit einem Pfeifkonzert im Kopf zu seinem Kumpel um. Udo stand leicht schwankend neben ihm, sein rechter Arm mit der Waffe hing nun schlaff am Körper herunter, die Finger umkrallten die Pistole, die linke Hand hatte er mit gespreizten Fingern auf den Bauch gepresst. Seine Augen, die Jimmy durch die Sichtschlitze der schwarzen Ski-Maske sehen konnte, drückten Erstaunen aus, aber keinen Schmerz. Er sah den schmalen Mund seines Komplizen, der jetzt immer wieder ein Wort formte, das Jimmy nicht hören, aber ihm schließlich nach dem zweiten oder dritten Mal von den Lippen ablesen konnte: R-A-U-S.
Draußen vor der Bank zerrte ein kleiner struppiger Hund an seiner Leine und kläffte sie zähnefletschend an, ansonsten war niemand zu sehen. Sie hatten die Filiale gezielt ausgesucht, weil sie abseits lag und freitags nach dem früheren Büroschluss kaum noch jemand in dieser Gegend unterwegs war. Dass ausgerechnet heute noch kurz vor Feierabend zwei Kunden die Filiale aufsuchten, war Pech. Auch mit der Angestellten hatten sie nicht gerechnet. Und mit der Pistole des Filialleiters schon mal gar nicht. Jimmy schwitzte, er hatte das Gefühl, unter der muffigen Ski-Maske keine Luft mehr zu bekommen. Am liebsten hätte er sie sich sofort vom Kopf gerissen, um wieder freier atmen zu können, um den kühlen Herbstwind, der hier draußen wehte, im Gesicht zu spüren. Er versuchte schneller zu laufen, aber das Pfeifen in seinen Ohren verlangsamte seine Schritte. Er hätte nie gedacht, dass der Verlust des Gehörs sich derart hemmend auf die Beweglichkeit des ganzen Körpers auswirken könnte. Udo lief stark vornübergebeugt, aber mit großen Schritten vor ihm her. Seine Haltung erinnerte Jimmy an einen Orang-Utan, der etwas erbeutet hatte und es nun schnell in Sicherheit bringen wollte. Sein Komplize erreichte als Erster die Ecke und verschwand aus Jimmys Blickfeld. Für wenige Sekunden tauchte ein überscharfes Bild vor seinem inneren Auge auf, das ihm zeigte, was sie gleich in der engen Gasse erwarten würde: zwei schräg zueinander geparkte Streifenwagen und drei, vier Polizisten mit Maschinengewehren, die über die Kühlerhauben der Fahrzeuge hinweg auf sie anlegten, dahinter ein dicker Bulle in Zivil mit einem Megafon in der einen und einem knatternden Sprechfunkgerät in der anderen Hand: Wir haben sie, wir haben sie, wir haben ...
Jimmy bog um die Ecke und sog scharf die Luft ein, aber dort stand nur der schwarze BMW, den sie selbst vor einer gefühlten Ewigkeit dort abgestellt hatten. Udo öffnete die Fahrertür, stieg aber nicht ein, sondern blieb stehen und stützte sich mit beiden Armen aufs Autodach, als Jimmy zu ihm aufschloss.
„Lass mich fahren, du bist verletzt!“ Es war ein komisches Gefühl, mit dem Pfeifen in den tauben Ohren zu sprechen. Seine eigenen Worte hörten sich für ihn an, als spräche er unter Wasser.
Udo hatte ihn aber offenbar gut verstanden. Er nickte und deutete auf die blaue Sporttasche mit dem Geld. Jimmy ging um den Wagen herum und warf die Tasche auf den Beifahrersitz, dann sagte er: „Jetzt leg dich endlich hinten rein, ich fahre.“
Jimmy wurde ungeduldig, weil sein Kumpel immer noch keine Anstalten machte, in den Wagen zu steigen. Er stand einfach nur da und sah ihn über das Autodach hinweg an. Und dann richtete er seine Pistole auf Jimmy.
***
„Fahr mal rechts ran!“, brüllte Bernd vom Rücksitz, aber Meier hörte nichts. AC/DC hämmerten gerade „Highway to hell“ durch die Boxen in der Hutablage und Meiers Welt war ein einziger verzerrter Gitarrenriff, auf dem er mit seinem Opel Kadett im Affenzahn über die Autobahn heizte als wär’s ein Ferrari.
„Rechts ran!“ Jetzt brüllte auch noch Andy vom Beifahrersitz, packte ihn an der Schulter und schaltete sogar die Innenraumbeleuchtung ein, der Depp, der blöde, das kann der doch jetzt nicht bringen, dachte Meier und seine Augen wanderten in den Rückspiegel: hinter ihm machte Bernd mal wieder sein besorgtes Arztsohngesicht, und Gummi hielt sich eine Hand auf den Bauch und die andere vor den Mund.
Meier schüttelte unwillig den Kopf und wandte sich wieder der Straße zu. Irgendwas war jetzt anders: das Licht war wieder aus, die Musik aber auch. Die Tachonadel zitterte kurz unter der 80 km/h-Marke, ein Lkw setzte hinter ihm zum Überholen an und zog kurz darauf links mit langgezogenem Signalhorn an ihnen vorbei. Meier hätte schwören können, mit mindestens 120 Sachen unterwegs zu sein ...
Andy beugte sich zu ihm rüber, zeigte bedeutungsschwanger nach hinten auf den Rücksitz und sagte: „Jetzt halt schon an, der kotzt dir sonst noch ins Auto ...“
Der Lkw scherte wieder ein und Meier bemerkte, dass die Musik gar nicht ausgeschaltet, sondern die Lautstärke lediglich so weit heruntergedreht war, dass Gummis unterdrücktes Würgen jetzt mühelos AC/DC übertönte. „Also gut“, sagte er, „am Parkplatz in Büttelborn fahr ich raus.“
Jeden Freitagabend holte Meier seine drei Freunde mit dem Kadett ab. Er war fast vier Jahre älter als die anderen und der Einzige, der bereits Führerschein und Auto besaß. Während Gummi, Andreas und Bernd noch zur Schule gingen, stand er schon voll im Berufsleben, wie er selbst gern betonte, und zwar als Produktionshelfer bei Wick in Früh-, Spät- und Nachtschicht.
Heute Abend waren sie in Darmstadt in der „Krone“ gewesen, und Gummi, der sich normalerweise den ganzen Abend an einer Flasche Bier festhielt, hatte gegen halb elf, als die Band eine Pause machte, bereits die fünfte Flasche geleert. Sie saßen im dämmrig beleuchteten Konzertsaal im ersten Stock an einem der langen Biertische, und Gummis Blick war immer glasiger geworden. Als Meier ihn einmal aus Versehen leicht anstieß, wäre er fast von der Bank gefallen. Nach der Pause legte die Band, ein Metal Trio aus Aschaffenburg, wieder los und Gummi versuchte es mit Headbangen, wäre aber beinahe der Länge nach vor der Bühne hingeknallt. Das war der Moment, in dem Bernd entschied, dass es wohl besser sei, Gummi nach Hause zu bringen. Andreas hatte nur mit den Schultern gezuckt, die Band brachte es irgendwie eh nicht richtig, aber Meier war trotzdem sauer wegen der fünf Mark Eintritt, die sie in den Sand gesetzt hatten.
Die Scheinwerfer des Kadetts fingen das blauweiße Parkplatzschild am Rand der Autobahn ein. Meier nahm den Fuß vom Gas und lenkte den Wagen auf die Zufahrt. Er fuhr so dicht es ging an den Grünstreifen heran und bremste abrupt ab. Andy riss sofort die Beifahrertür auf, sprang heraus und klappte die Rückenlehne seines Sitzes nach vorne, damit Gummi auch aussteigen konnte, aber der verfing sich mit dem Fußgelenk im Sicherheitsgurt und musste von Andreas erst noch befreit werden, bevor er schließlich mit großen Schritten auf den Grünstreifen zutorkelte, wo er bereits nach ein paar Metern von der Dunkelheit jenseits des Parkplatzes verschluckt wurde.
Meier beugte sich über die nach vorn geklappte Rückenlehne des Beifahrersitzes und sah durch die offene Tür nach draußen, wo Andreas und Bernd, der ebenfalls ausgestiegen war, neben dem Kadett standen und neugierig in die Richtung starrten, in der Gummi verschwunden war.
„Siehst du ihn noch?“
„Nee, du?“
Bernd schüttelte den Kopf. Beide drehten sich um und sahen Meier erwartungsvoll an, als könne der nachts besser sehen, dann hörten sie, wie Gummi sich irgendwo in der Dunkelheit übergab.
Meier verdrehte die Augen, ließ sich zurück in den Fahrersitz fallen und atmete tief durch. Er stellte den Motor ab und die Scheinwerfer auf Standlicht.
Der Parkplatz lag im gelblichen Licht der Lampen, die am Rand der Parkzone aufgestellt waren. Hinter den wenig einladenden Picknicktischen aus Beton und den grünen Mülltonnen mit den blauen Abfallsäcken versank die Umgebung fast sofort in der Finsternis. Meier kurbelte das Fenster herunter und zündete sich eine Zigarette an. Die Luft roch nach Herbst und Zuckerrüben.
Er hatte eigentlich geglaubt, dass sie die einzigen nächtlichen Rastplatzbesucher seien, aber als sich seine Augen nun immer besser an das Schummerlicht gewöhnten, konnte er die Umrisse eines weiteren Fahrzeugs ausmachen, das ein Stück weiter vorne ebenfalls nahe am Seitenstreifen parkte. Die Türen des Autos waren alle geschlossen und die Innenraumbeleuchtung ausgeschaltet. Wahrscheinlich knutschten da nur zwei oder rauchten einen Joint, aber Meier hatte plötzlich ein komisches Gefühl, das er sich nicht erklären konnte.
Vor einer knappen Stunde noch hatte er sich in der „Krone“ auf die Toilette verabschiedet, in eine der Klokabinen eingeschlossen und selbst eine kleine Tüte durchgezogen. Die anderen hatten davon nichts bemerkt, nur Andreas hörte nicht auf, ihn nach seiner Rückkehr vom Klo dämlich anzugrinsen. Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein. Manchmal machte ihn das Kiffen so ein bisschen paranoid, was auch sein merkwürdiges Gefühl mit dem Auto da vorne erklären würde.
Er hätte den Joint mit seinen Freunden teilen sollen. Andreas war sonst eher ein stiller Typ, aber heute Abend ziemlich aufgekratzt und in Partylaune, den hätte er zu so was bestimmt nicht lange überreden müssen; und Gummi war ja von Anfang an gut drauf gewesen, zumindest bis er es mit dem Bier übertrieben hatte. Nur Bernd hätte wahrscheinlich wieder mal nur arrogant gelächelt und den Kopf geschüttelt. Bernds Vater war Stationsarzt im Kreiskrankenhaus, und manchmal hatte Meier das Gefühl, dass er sich deshalb für was Besseres hielt. Also hatte er gar keinen von ihnen gefragt und sein Dope einfach allein geraucht.
Die Lichter des Autos vor ihm flammten plötzlich auf, und Meier fiel vor Schreck beinahe die Zigarette aus der Hand, bekam sie aber im letzten Moment noch zu fassen und schnippte den Stummel aus dem Fenster. Er spürte sein Herz bis in den Hals schlagen und starrte auf den Wagen vor ihm, der jetzt langsam zu rollen begann, aber schon nach ein paar Metern abrupt einen Satz nach vorne machte, so dass der Motor absoff wie bei einem Fahranfänger. Einen Moment lang tat sich nichts, dann wurde der Motor erneut angelassen. Das Fahrzeug fuhr an, rollte ein Stück nach vorne und blieb dann mit laufendem Motor stehen.
„Was macht der denn da?“
Erneut fuhr Meier der Schreck in alle Glieder. Andreas beugte sich durchs offene Fenster zu ihm in den Wagen und sah ihm direkt ins Gesicht.
„Scheiße, Mann, muss das sein?“
„Erschreckt?“ Andy grinste. „Das is’n 3er BMW, oder?“
„Das is’n großes schwarzes Auto mit einem am Steuer, der nicht fahren kann. Was ist denn jetzt mit Gummi?“
Andreas deutete mit dem Kinn zur Beifahrerseite, wo Bernd gerade dabei war, ihren immer noch arg angeschlagenen Freund wieder ins Auto zu bugsieren. Gummi kauerte schließlich halb liegend auf der Rückbank, den Kopf mit offenem Mund und geschlossenen Augen ans Seitenfenster gelehnt.
„Der sabbert dir jetzt die Scheibe voll“, sagte Andreas und grinste.
Meier winkte ab und machte ihnen Zeichen, wieder einzusteigen. Er wollte einfach nur nach Hause, sich eine Dose Bier aufmachen und seinen Restrausch vor dem Fernseher ausklingen lassen.
„Okay, dann wollen wir mal wie ...“, setzte er an, wurde aber vom Lärm eines aufheulenden Motors unterbrochen. Der Wagen vor ihnen bewegte sich keinen Meter, aber offensichtlich trat der Fahrer jetzt das Gaspedal voll durch, ohne zu kuppeln.
„Spinnt der, oder was?“, brüllte Andy in das Aufheulen des Motors hinein, und wie als Antwort darauf ebbte der Lärm wieder ab.
„Mit dem stimmt doch was nicht“, flüsterte Bernd, der sich mittlerweile auf dem Beifahrersitz niedergelassen hatte.
„Ganz genau“, sagte Meier langsam, „und deshalb hauen wir jetzt auch ab, Andy mach dich jetzt endlich rein hier oder du kannst laufen!“
„Wart’ doch mal!“
Der Fahrer des BMW hatte es nun offensichtlich doch geschafft, den ersten Gang einzulegen und zuckelte seelenruhig in Schlangenlinien auf die Auffahrt zu.
„Der will doch so nicht etwa auf die Autobahn?“ Bernd beugte sich nach vorne, so dass seine Nase fast die Windschutzscheibe berührte. Meier hob kurz die Schultern.
„Vielleicht braucht er Hilfe.“ Bernd stieg wieder aus und lief dem Auto hinterher, winkte und rief dem Fahrer zu, er solle anhalten.
Meier schlug mit der Faust aufs Lenkrad. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, dass sie sich hier als gute Samariter betätigten.
Er sah, dass jetzt auch Andreas losspurtete und der Wagen tatsächlich langsamer wurde, bis er sich nur noch stotternd im Schritttempo bewegte. „Kupplung“, murmelte Meier, „tritt doch endlich die verdammte Kupplung, du Depp.“ Aber der Fahrer des BMW tat nichts dergleichen, das Fahrzeug verlor zusehends an Tempo, machte schließlich einen letzten kleinen Sprung nach vorne und blieb dann schräg auf dem Fahrstreifen stehen.
Meier beobachtete, wie sich seine beiden Freunde langsam der Fahrertür näherten und dann unschlüssig davor verharrten. Wie die ersten Menschen vorm Feuer, schoss es ihm durch den Kopf. Er sah im Rückspiegel Gummi auf der Rückbank schlafen und dachte für einen Moment daran, einfach durchzustarten und abzuhauen, sollten die beiden doch einen romantischen Nachtspaziergang über die Rübenfelder nach Groß-Gerau machen. Der Herbst hatte zwar schon Einzug gehalten, aber die Nacht war windstill und nicht allzu kühl, das würde die beiden Jungs schon nicht umbringen. Er hatte jedenfalls keinen Bock auf diese Scheiße. Unentschlossen fummelte er am Zündschlüssel herum, aber dann stieg er doch aus und ging zu ihnen hinüber.
Je näher er dem schwarzen BMW kam, umso mehr hatte er das Gefühl, dass es ein Riesenfehler gewesen war, den Rastplatz anzusteuern. Er hätte einfach weiterfahren und Gummi notfalls ins Auto kotzen lassen sollen. Die Gesichter seiner beiden Kumpels hatten im trüben Schein der Parkplatzbeleuchtung eine ungesund gelbliche Färbung angenommen.
„So, und jetzt?“
„Wir müssen nach dem Fahrer sehen“, stellte Bernd fest.
„Dazu musst du aber die Tür aufmachen.“ Meier sah Bernd herausfordernd an, und Andreas blickte vom einen zum andern.
Das Abblendlicht des BMW war immer noch eingeschaltet, aber im Inneren des Wagens war alles dunkel.
Meier fragte sich, ob es an den Scheiben liegen konnte, die abgetönt zu sein schienen. Langsam ging er ein paar Schritte auf das Auto zu und lauschte angestrengt, konnte aber außer dem Rauschen der Autobahn in seinem Rücken nichts hören. Er blieb vor der Fahrertür stehen, sah einige böse Kratzer im schwarzen Lack, die trotz des spärlichen Lichts gut zu erkennen waren, drehte sich zu seinen Freunden um und rief: „Lasst uns lieber verschwinden, das geht uns doch alles nichts an.“
Andy machte einen Laut, als entwiche sämtliche Luft aus seinen Lungen und blieb mit hängenden Schultern stehen, aber Bernd kam mit großen Schritten auf Meier zu. Er sah ihn an, biss sich auf die Unterlippe und nickte. Dann klopfte er energisch gegen die Scheibe auf der Fahrerseite.
„Hey, alles in Ordnung mit Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?“
Bernd ging einen Schritt zurück, weil er offenbar damit rechnete, dass die Fahrertür geöffnet werden würde, aber nichts geschah. Meier ließ den Blick über die Büsche schweifen, die den Rastplatz von der Autobahn trennten, und glaubte auf einmal, ganz deutlich eine Bewegung ausmachen zu können.
„Das reicht, wir verschwinden jetzt ...“ Er packte Bernd am Arm, um ihn zum Aufbruch zu bewegen, aber der rührte sich nicht vom Fleck, stattdessen näherte sich nun auch Andreas den beiden.
„Und? Was ist?“
„Nix is, siehste doch und jetzt hauen wir ...“
Bernd ließ seinen freien Arm vorschnellen und riss die Fahrertür des BMW auf. Die Innenraumbeleuchtung sprang an und tauchte die Szenerie im Wagen in kaltes Licht.
Horrortrip. Das war das Erste, was Meier dachte. Was er da sah, das sah er eigentlich gar nicht wirklich, das waren nur die Auswirkungen des Joints in seinem Kopf. Er schloss die Augen für einen Moment, presste die Lider fest zusammen, sodass er kleine rote Sonnen explodieren sah, und hätte sich nicht gewundert, wenn er immer noch in der Klokabine in der „Krone“ gesessen hätte, wenn er dort abgedriftet wäre und der ganze Trip hierher auf den Rastplatz nach Büttelborn nur in seinem zugeknallten Hirn stattgefunden hätte. Kurz bevor er die Augen wieder öffnete, war er fest davon überzeugt, dass es genau so war, dass er gleich die mit Eddingsprüchen beschmierte Klotür sehen und das Kommen und Gehen an den Pinkelbecken davor hören würde.
Stattdessen hörte er Andreas.
„Um Gotteswillen, um Gotteswillen, um Gottes ...“ murmelte sein Freund, als laufe in seinem Kopf eine hängende Schallplatte. Bernd sagte nichts, sondern starrte nur auf den Mann im Fahrersitz.
Er saß nach hinten gelehnt, auf den ersten Blick hätte man glauben können, er mache nur ein Nickerchen, die Hände über dem Bauch gefaltet. Sein schwarzes Hemd war aufgeknöpft und das Unterhemd nach oben geschoben, sodass die Hände über dem Nabel lagen, nur dass anstelle des Nabels ein rotschwarzer Krater zwischen seinen blutverschmierten Fingern hervorquoll. Der Kopf des Mannes war in den Nacken überstreckt, der Mund leicht geöffnet, die erloschenen Augen auf den Wagenhimmel gerichtet.
Meier sah, wie Bernd sich dem Mann vorsichtig näherte, es sah aus, als schleiche er sich an, um ihn nicht zu wecken. Er hielt einen Moment inne und drehte sich dann zu seinen Kumpels um.
„Der ist tot,“
„Tot, tot, tot ...“ Andreas war ziemlich hinüber.
„Und das ist noch nicht alles ...“ Bernd winkte sie heran.
Meier ärgerte sich. Warum hatten sie nicht einfach auf ihn gehört, als noch Zeit genug gewesen war, um einfach zu verschwinden? Er wäre am liebsten immer noch in seinen Kadett gestiegen und davongefahren, aber irgendetwas war jetzt ins Rollen gekommen, dem er sich nicht entziehen konnte.
„Da ...“ Bernd deutete auf den Beifahrersitz, und Meier sah sofort, was er meinte. Eine blaue Adidas-Sporttasche mit aufgezogenem Reißverschluss, die bis obenhin mit etwas vollgestopft war. Meier musste sich ein Stück weiter in den Wagen beugen, wobei er versuchte, möglichst viel Platz zwischen sich und dem Toten zu lassen. Erst konnte er gar nichts erkennen, aber dann sah er die Haufen blausilberner Hunderternoten, die mit einer Banderole zu akkuraten Päckchen gebündelt waren. Vor der Tasche lag eine halbautomatische Pistole, wie er sie schon öfter in deutschen Krimis gesehen hatte, keine der angesagten amerikanischen Magnum-Revolver, sondern eine eher unscheinbare, schwarze Waffe, wie sie auch Streifenpolizisten trugen.
Meier zog seinen Oberkörper vorsichtig zurück und war erleichtert, als er wieder vor dem Wagen stand, ohne den Toten berührt zu haben. Er atmete zweimal tief durch. Jetzt war Andreas dran.
„Wir müssen zur Polizei!“ Bernd stemmte die Arme in die Hüften. „Sofort!“
Meier sagte nichts. Wieder hatte er das Gefühl, als beobachte sie jemand. Was war das? Polizei hatte Bernd gesagt. Und er mit rot unterlaufenen Augen, die Pupillen so groß wie Stecknadelköpfe.
„Was meint ihr, wie viel Geld ist da drin?“ Andreas tauchte wieder aus dem Wagen auf und hatte die Augen zu Schlitzen verengt.
„Scheißegal!“
„Das sind mindestens ... Ich meine, wenn die ganze Tasche wirklich voll ist mit ...“
„Egal!“ Bernd tobte. „Wir müssen die Polizei informieren, und zwar sofort!“
Andreas stand der Mund offen, er schien Bernd gar nicht zuzuhören.
Meier sah etwas neben dem Auto liegen, es musste herausgefallen sein, als Bernd die Tür aufgerissen hatte. „Ich gehe jedenfalls nicht zu den Bullen“, sagte er und freute sich über Bernds überraschten Gesichtsausdruck.
„Aber ...“
„Nee, nix aber, wir hauen jetzt ab, was wir schon längst hätten tun sollen, und wenn du’s nicht lassen kannst, mach halt ’nen anonymen Anruf, aber halt uns da raus, ja?“
Bernd sah ihn ungläubig an, er schien zu überlegen, aber dann nickte er.
„Also gut. Dann los.“ Meier scheuchte die anderen zum Kadett zurück und stieß die Fahrertür mit dem Fuß zu. Er hörte das Klacken des Schließmechanismus, der gerade so weit einrastete, dass die Innenraumbeleuchtung erlosch.
Gummi schlief schnarchend auf dem Rücksitz, als sie wieder in den Kadett stiegen. Andreas zwängte sich neben ihn. „Mann, oh Mann, was für ein Ding ...“
„Ja“, sagte Meier, „was für ein Ding.“ Bernd sagte nichts, sondern sah Meier interessiert an.
„Ist was?“
Bernd schüttelte den Kopf. „Fahr schon, damit ich den Notruf machen kann.“
„Aber anonym, am besten von einer Telefonzelle aus.“
„Ja doch.“
Meier ließ den Motor an und steuerte den Kadett langsam in großem Bogen um den BMW herum. Im Rückspiegel sah er das Fahrzeug mit dem Toten immer kleiner werden.
„Mann, oh Mann, oh Mann ...“, murmelte Andreas auf der Rückbank immer wieder vor sich hin, dann hatten sie den Beschleunigungsstreifen erreicht und Meier gab Gas.

Samstag, 2. Oktober 1982

Der Filialleiter hatte seinen Komplizen mit der kleinen Automatik erwischt, so viel war mal klar. Jimmy dachte daran, wie Udo an dem BMW gestanden hatte, die Arme angewinkelt auf dem Autodach, die Pistole in der rechten Hand, sogar den Kopf hatte er einen Moment lang auf den Unterarm gebettet und die Augen geschlossen, das Arschloch. Er musste Atem schöpfen nach dem Spurt aus der Bank. Sich bereit machen fürs Finale. Das schwarze Hemd war ihm aus der Hose gerutscht und ein dunkler, feuchter Fleck hatte sich in Nabelhöhe ausgebreitet.
Jimmy nahm den Schlüssel für Zimmer 212 vom Tresen und stieg über die schmale Treppe in den zweiten Stock. Die Flure waren mit abgetretenen Teppichen gepolstert, die man, den verblichenen Farben und Mustern nach zu urteilen, irgendwann in den 60er Jahren angeschafft und seitdem nicht allzu oft gereinigt hatte. Jimmys Unterkunft lag am Ende des Flurs, er öffnete die Tür mit dem Schlüssel, an dem eine kleine Billardkugel als Beschwerung hing.
Das Fenster war geöffnet, eine leichte Brise wehte die Gardinen ins Zimmer. Trotz des Durchzugs roch es penetrant nach Mottenkugeln. Eine wacklige Garderobe hing gleich neben dem Eingang, darunter der Feuerfluchtplan, gegenüber die Tür zum Badezimmer. Im Hauptraum stand links das Bett und auf der anderen Seite ein einfacher Beistelltisch mit einem klobigen Münzfernseher. Kein Kleiderschrank. Kein Stuhl.
Jimmy ging ans Fenster und sah hinaus. Vollgestopfte Mülltonnen unten auf dem Gehsteig, ein Stück weiter die Straße hinunter parkte ein ramponierter Opel Ascona, die hohen Fenster der Altbauten auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren zugemauert.
Er schloss das Fenster, zog sich bis auf die Unterwäsche aus und legte sich rücklings aufs Bett, den angewinkelten Arm über den Augen. Sofort stürmten die Bilder des Nachmittags auf ihn ein: Er sah noch einmal über das Wagendach des BMW und in die Mündung der Pistole, sah Udos entschuldigendes Lächeln. Er spürte keine Angst, weil er es noch gar nicht kapiert hatte. Kapiert, dass sein Kumpel die ganze Beute für sich wollte, kapiert, dass er dem Falschen vertraut hatte und gleich sterben würde. Aber dann war Udo einfach in den Wagen gestiegen und davongefahren.
Und Jimmy war stehen geblieben, wie damals, als er sieben Jahre alt gewesen war und allein der Blick des Krämerladenbesitzers gereicht hatte, ihn am Weglaufen zu hindern. Der Mann im weißen Edeka-Kittel mit seinen pomadisierten Haaren und der riesigen Hornbrille nahm ihm die beiden Brausebonbons, die er gestohlen hatte, noch nicht einmal ab, sondern legte ihm nur eine seiner knochigen Hände auf die Schulter und begleitete ihn dann schweigend nach Hause, wo Jimmys Mutter rauchend im Morgenmantel in der kleinen Küche saß und die Anschuldigungen des Krämers wegflirtete, so wie sie es auch immer tat, wenn sie mit der Miete im Rückstand war oder das Sozialamt jemanden schickte. Jimmy begriff sehr früh, dass dieses Flirten und Kokettieren mit Männern das einzige Mittel war, das seiner Mutter zur Verfügung stand, um sich aus unangenehmen Situationen zu retten oder sich hier und da einen kleinen Vorteil zu verschaffen. Nach einem kurzen Gespräch verabschiedete sie den gutmütigen Mann an der Wohnungstür, kam dann in die Küche zurück und schlug Jimmy zweimal so heftig ins Gesicht, dass ihm sofort die Tränen in die Augen schossen. Sie wartete, bis er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, dann beugte sie sich zu ihm herunter, sah ihn aus ihren großen müden Augen an, und sagte: „Entweder du hörst auf zu klauen, oder du lässt dich in Zukunft nicht mehr dabei erwischen.“
Seine Mutter verschwand im Schlafzimmer und Jimmy stand in der Küche, verheult und mit brennenden Wangen. Die Bonbons in seiner verschwitzten Hand ekelten ihn auf einmal an, und so kam es, dass sein erstes Diebesgut in der Mülltonne landete. Das Klauen aber hatte er deshalb nicht aufgegeben.
Und nun, 20 Jahre später, hatte wieder ein Blick gereicht, ihn erstarren zu lassen. Es war nicht die Pistole, sondern der bedauernde Blick seines Kumpels gewesen, der ihn vollständig gelähmt hatte, dieselbe alte, mitleidige Herablassung im Blick des Kaufmanns war es, die ihn fast vollkommen taub und bewegungsunfähig in der Seitenstraße hatte verharren lassen, nachdem Udo sich schon längst davongemacht hatte.
Er wusste nicht, wie lange er dort abholbereit für die Polizei gestanden hatte, aber als er sich wieder bewegen konnte, war er immerhin schlau genug gewesen, nicht sofort in seine schäbige Einzimmerwohnung zurückzukehren, sondern hatte sich ein paar Stunden im offenen Kellerverschlag eines Mietshauses versteckt, sich hinter einem alten Sofa in die Ecke gekauert und im Dunkeln gewartet, bis das Pfeifen in seinem Kopf etwas leiser geworden war und er wieder ansatzweise etwas hören konnte.
Freitagnacht war das Geräusch in seinen Ohren weiter abgeflaut, dafür hatte ihn die Angst, entdeckt zu werden, gepackt und fast die ganze Nacht wach gehalten, sodass er schließlich ein paar Sachen in eine Sporttasche gestopft hatte und aus der Wohnung geflohen war. Er ging zum Bahnhof, ohne zu wissen, wohin er eigentlich wollte, irrte durch die Quadrate der Mannheimer Innenstadt, landete in einer Eckkneipe, in der er so früh der einzige Gast war, bestellte trotzdem ein Bier und musste, als er sich eine Zigarette anstecken wollte, feststellen, dass sein Feuerzeug verschwunden war. Er ließ sich vom Wirt Feuer geben, der ihn kurz ansah und ihm dann eine fast leere Schachtel Zündhölzer über den Tresen schob mit der Bemerkung, die könne er behalten. Im Radio liefen die Nachrichten: Helmut Kohl war am Vortag in Bonn zum neuen Bundeskanzler gewählt worden, in Hessen begannen die Herbstferien ..., vor den Regional- und Lokalnachrichten warf er ein paar Münzen auf den Tisch, ließ das halbvolle Glas Eichbaum stehen und verschwand aus der Kneipe.
Das Hotelzimmer hatte er mit dem letzten Bargeld bezahlt, das er noch in der Tasche hatte, sein Konto war schon seit Wochen überzogen. Wenn er früher, als Kind, traurig oder verzweifelt war, was ziemlich oft vorkam, stieg er am Hauptbahnhof in die Straßenbahn und fuhr ohne Fahrschein raus nach Käfertal zu den Sullivan Barracks. Dort stellte er sich vor den Schlagbaum und beobachtete die US-Soldaten, die dort ein- und ausgingen. Die meisten ignorierten ihn, aber manchmal lächelte einer, strich ihm übers Haar oder gab ihm sogar einen Kaugummi. Chewing Gum war sein zweites englisches Wort, das erste war Daddy. Jimmys Vater war ein amerikanischer GI, das war alles, was er über ihn wusste. Als seine Mutter von Jimmys Fahrten zur Kaserne erfuhr, lachte sie nur humorlos und teilte ihrem Sohn mit, dass sein Vater schon längst wieder in den USA sei und dort wahrscheinlich eine andere Frau und einen anderen Sohn habe und Jimmy sich seine Ausflüge nach Käfertal in Zukunft sparen könne. Obwohl er bereits alt genug war, um zu verstehen, was das hieß, fuhr er trotzdem weiter zur Kaserne und stellte sich vor, wie einer der Soldaten ihn erkennen, ihm zuwinken und zu ihm rüberkommen würde. Er würde ihn an der Hand nehmen und dann würden sie nach Hause gehen.
Irgendwann hatte Jimmy natürlich damit aufgehört, er wusste allerdings nicht mehr, wann. Viel später hatte er schräge GI-Freunde, die ihm stangenweise Zigaretten und Kisten mit Whisky aus dem PX zum Weiterverkauf besorgten, und einmal hatte Jimmy einem von ihnen die Nase gebrochen, weil der grinsend behauptete, die deutschen Frauen seien alle leicht zu haben.
Jimmy nahm den Arm von den Augen und blinzelte in die Mittagsonne, die wie eingekeilt zwischen den Dachfirsten auf der anderen Straßenseite stand und jetzt genau in sein Zimmer schien. Er wollte aufstehen, um die Vorhänge zuzuziehen, konnte sich aber nicht aufraffen. Er roch den sauren Schweiß seiner Achseln, wollte duschen gehen, blieb aber liegen. So eine Scheiße, dachte er, so eine elende, gottverdammte Scheiße.
Er war kurz davor, einzunicken, als er Schritte hörte. Sofort war er wieder hellwach und richtete sich mit wild klopfendem Herz auf. Es konnte eigentlich nicht sein, nicht jetzt schon, aber die Schritte auf dem Flur kamen zweifellos näher. Jimmy hielt die Luft an. Sie waren mindestens zu zweit, jetzt hielten sie vor seiner Tür einen Moment inne, waren ganz ruhig, dann Flüsterstimmen und erneute Bewegung.
Jimmy ballte die Fäuste, spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach und den Rücken hinunterlief. Er dachte an die Pistole, die in seine Lederjacke gewickelt unter dem Bett lag. Jetzt, dachte Jimmy, jetzt. Alle seine Muskeln waren angespannt, aber gleichzeitig war er unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Als nächstes hörte er, wie die Tür des gegenüberliegenden Hotelzimmers aufgeschlossen wurde. Der Mann flüsterte immer noch, aber die Frau sprach jetzt laut und deutlich.
„Soll sie doch ...“, sagte die Frau spöttisch und: „Jetzt stell dich doch nicht immer so an ...“ Jimmy hörte ihr kehliges Lachen und die beschwichtigenden Worte des Mannes, dann fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss und alles war wieder ruhig. Jimmy ließ sich zurück auf die Matratze sinken und atmete auf.
***
Es war nicht unbedingt eine Glaubensfrage, welchen Schnellimbiss man bevorzugte, aber nahe dran. Allerdings war der Imbisswagen der Metzgerei Siefert am Marktplatz während des samstäglichen Wochenmarkts derart umlagert, dass Bernd zumindest diesmal den „City Grill“ am Sandböhl vorgezogen hatte.
Er saß auf der niedrigen Mauer, die den Fußgängerbereich des Platzes von dem dahinter liegenden Parkstreifen und der Straße absetzte, und aß Pommes mit Mayo aus der Pappschale. Zwischen dem Imbiss, dem Zeitschriftenlädchen und der bereits für den Winter geschlossenen Eisdiele auf der einen und dem Kaufhaus auf der anderen Seite herrschte die übliche samstägliche Hektik kurz vor Ladenschluss: Frauen mit Einkaufskörben eilten mit großen Schritten über den Platz, um letzte Besorgungen fürs Wochenende zu machen, während ihre Männer rauchend vor den Geschäften auf und ab gingen. Ein paar Kinder machten sich an den Parkuhren zu schaffen und wurden von ihren Müttern zur Ordnung gerufen. Weiter vorne, wo sich der Platz zur Darmstädter Straße hin öffnete, hatten Atomkraftgegner einen Infostand aufgebaut und verteilten ihre gelbroten Sonnenaufkleber. Bernd hatte Andys Eltern, die dort jeden Samstag den atomaren SuperGAU verhindern halfen, nach ihrem Sohn gefragt und die lapidare Auskunft erhalten, der penne noch. War ja eigentlich klar.
Bernd hatte schlecht geschlafen. Die Geschehnisse der Nacht wollten ihn einfach nicht loslassen. Zuerst hatten sie Gummi nach Hause gebracht. Als sie vor dem Hochhaus am Europaring hielten, öffnete er kurz die Augen und sah sie an, als wäre er gerade auf dem Mond gelandet.
Gummi hieß eigentlich Thomas Grundmann. Seinen Spitznamen verdankte er dem Umstand, dass er in der Grundschule sommers wie winters immerzu grellgelbe Gummistiefel getragen hatte. So lange kannten Bernd und Andreas ihn nun schon. Die Gummistiefel hatte Thomas zwar schon längst gegen ausgetretene Cowboystiefel eingetauscht, aber den Spitznamen wurde er einfach nicht mehr los, was ihm aber ziemlich egal zu sein schien. Eine Zeit lang hatte er sogar behauptet, er habe seinen richtigen Namen vergessen und werde mit 16 verlangen, dass sein Perso auf den Namen Gummi Grundmann ausgestellt werde.
Bernd begleitete ihn nach oben. In der Aufzugskabine lehnte Gummi mit halbgeschlossenen Augen an der Rückwand und schwankte leicht mit dem Oberkörper vor und zurück, als sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte. Vor der Wohnungstür im fünften Stock überzeugte sich Bernd, dass sein Kumpel auch wirklich die Tür aufbekam. Als er es nach zwei fehlgeschlagenen Versuchen mit dem Schlüssel endlich geschafft hatte, legte Gummi bedeutsam einen Finger vor die Lippen, machte „Pssssst“ und torkelte in die dunkle Diele.
Unten ging Meier rauchend vor dem Kadett auf und ab, und Andy lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Beifahrerseite. Auf dem Rastplatz war Bernds erster Impuls noch gewesen, so schnell wie möglich die Polizei zu informieren, aber jetzt war er unsicher geworden. Was, wenn der Typ doch noch gelebt hatte, als sie ihn fanden? Wenn die Polizei nun irgendwelche Spuren von ihnen fand? Er dachte an die toten Augen des Mannes, an das Blut, die verdrehten Glieder. Bernd wollte nach dem Abi Medizin studieren und Arzt werden wie sein Vater. Entweder das oder der beste Hardrock-Gitarrist der Welt. Wahrscheinlich also ein Arzt, der in seiner Freizeit Gitarre spielte, irgendwie war ihm das schon klar. Aber was war, wenn er vorhin etwas übersehen hatte? Wenn er den Mann hätte wiederbeleben müssen?
„Ich mach mich ...“ Andy gähnte, stieß sich vom Auto ab und trottete davon, er wohnte gleich um die Ecke, in einem modernen doppelstöckigen Einfamilienhaus direkt an der Fasaneriemauer. Er hatte den Schock offenbar schon ganz gut verdaut, zumindest war er wieder der alte wortkarge Andy, den man kannte.
Bernd musste noch ein ganzes Stück den Europaring runter, am Landratsamt und kurioserweise auch an der Polizei vorbei, um nach Hause zu kommen. Sein Elternhaus lag im Paracelsusweg direkt gegenüber vom Krankenhauspark, den seine Eltern nur zu durchqueren brauchten, wenn sie zum Dienst mussten. Meier setzte ihn vor der Tür ab, bevor er sich selbst auf den Heimweg in die Nordsiedlung machte. Als Bernd ausstieg, lehnte sich Meier nochmal im Schein der Innenraumbeleuchtung über den Beifahrersitz nach draußen, deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Bernd und sagte: „Anonym.“ Bernd nickte und schloss die Autotür, er war zu durcheinander und zu müde, um sich über Meiers aufgesetztes Film-Gehabe zu ärgern. Wen wollte der eigentlich darstellen? Den Hilfsarbeiter-Paten aus der Heimstättensiedlung mit der French Connection?
Er schlich sich ins Haus, obwohl seine Eltern gar nicht da waren, machte auch kein Licht, sondern legte sich im Dunkeln angezogen auf sein Bett und versuchte, sich einzureden, dass sie sowieso nichts hätten tun können, dass es am besten sei, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen.
Er war eingeschlafen und Stunden später wieder aufgewacht, weil er erbärmlich fror, und sofort waren die Gedanken wieder da. Die rote Digitalanzeige seines Weckers zeigte 3:15 Uhr und er wusste, dass er jetzt nicht mehr einschlafen würde, also war er zur Telefonzelle am Altenheim gelaufen, um doch noch den anonymen Anruf bei der Polizei zu machen. Danach kam er sich wie ein Idiot vor, und dann wie ein feiger Versager, aber als er wieder in seinem warmen Bett lag, schlief er fast augenblicklich ein.
Gegen halb neun wachte er auf, weil seine Blase drückte. Er ging zur Toilette und legte sich wieder hin, wurde aber fortan von bizarren Träumen gequält, aus denen er immer wieder aufschreckte, nur um kurz darauf erneut wegzudämmern. Um elf klingelte es an der Tür und Bernd ging mit klopfendem Herzen öffnen. Er stand in T-Shirt und Unterhose vor den beiden Polizisten, die ihn ernst ansahen und zu dem am Straßenrand geparkten Streifenwagen hinüberdeuteten, aus dem ihm der Tote von der Raststätte zuwinkte.
Bernd erwachte schlagartig und diesmal ging er kein Risiko mehr ein, stand auf und setzte sich in die Küche. Auf dem Tisch lag etwas Geld und eine Notiz seiner Mutter, die ihn noch einmal daran erinnern sollte, dass sie Nachtdienst hatte und jetzt schlief. „Musik nur Zimmerlautstärke, am besten Kopfhörer!“, hatte sie aus leidvoller Erfahrung hinzugesetzt und zweimal dick unterstrichen. Sein Vater schien noch gar nicht vom Bereitschaftsdienst zurück zu sein, was nicht weiter ungewöhnlich war. Pünktlich konnte er selten einen Dienst beenden, und dann ging er meistens noch mal auf Station, um nach „seinen“ Patienten zu sehen.
Bernd hatte das Geld vom Küchentisch eingesteckt und war nach einer kurzen Katzenwäsche im Bad mit dem Fahrrad zu seinem Pommes-Mittagessen aufgebrochen.
Sämtliche Bänke auf dem Sandböhl waren jetzt von alten Männern und Frauen mit Gehstöcken in Beschlag genommen, die entspannt in die Herbstsonne blinzelten. Die Atomkraftgegner packten langsam ihren Stand zusammen, die Geschäfte schlossen fürs Wochenende, und Bernd warf die leere Pommesschale in einen der Abfalleimer. Er saß schon halb auf seinem Fahrrad, als er Meier die Kirchstraße herunterkommen sah. Der kramte im Gehen nach Kleingeld in seiner Jeans und steuerte ebenfalls den „City Grill“ an. Bernd stieg wieder ab, drehte sich um und schob sein Rad zügig in Richtung Kaufhaus, damit er seinen Kumpel im Rücken hatte und der ihn hoffentlich nicht sehen konnte. Keinen Bock auf Meier und seine dummen Sprüche heute früh, echt nicht.
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Meier sah den langen Schlacks zügig das gelbe Rennrad am Kaufhaus vorbeischieben, sah, wie der Typ Andys Eltern am Anti-AKW-Stand kurz zuwinkte, auf seinen Drahtesel sprang und davonfuhr. Meier dachte sich seinen Teil. Er hatte Bernd sofort an dem silbernen Gibson-Patch auf seinem Jeansjackenrücken erkannt. Der sollte mal bloß nicht zu sehr den Obermacker raushängen lassen, nur weil er ganz gut Gitarre spielen konnte, bis zu Ritchie Blackmore war es auch für Doktor Bernd noch ein weiter Weg.
Keine fünf Minuten später saß Meier an fast derselben Stelle auf der Mauer, wo vor kurzem noch Bernd gesessen hatte, und schaufelte ebenfalls Pommes in sich rein. Zusätzlich gönnte er sich noch eine Curry-Wurst und ein Cola-Bier, es war ja Samstag. Ein Rentnerpaar saß links von ihm auf einer Bank und verabschiedete sich gerade von einem ebenfalls älteren Herrn, der beim Erzählen ständig mit seinem Stock in der Luft herumfuhrwerkte. Gegenüber rollte eine Verkäuferin gerade die Wühltische, die im Eingangsbereich des Kaufhauses standen, nach drinnen, als eine Frau mit wehendem Mantel angerannt kam und sich an ihr vorbei in den Verkaufsraum drängte. Meier konnte sehen, dass die Verkäuferin etwas zu der Frau sagte und diese daraufhin erbost die Arme in die Hüften stemmte, aber da hörte er plötzlich laute Musik hinter sich und drehte sich um.
Ein aufgemotzter Golf fuhr direkt hinter Meier auf den Parkstreifen. Der Fahrer hatte „The Look of Love“ von ABC so laut aufgedreht, dass man es durch die geschlossenen Scheiben hören konnte. Wie Meier das hasste, diese ganze Popperscheiße mit den Marco Polo-Shirts, den schmalen Lederschlipsen und den bescheuerten Frisuren. Kauend musterte er den Typ, der aus dem Golf stieg und sich davonmachte, ohne Meier eines Blickes zu würdigen. Er wandte sich wieder seinem Mittagessen zu, nahm einen großen Schluck Diesel und rülpste, stopfte sich drei Pommes auf einmal in den Mund und vergaß dann zu kauen. Irgendetwas stimmte nicht. Langsam drehte er sich noch einmal um: neben dem albernen Golf stand tatsächlich der schwarze BMW.
Meier legte vorsichtig die Schale mit den Pommes ab, stand auf und warf einen Blick über den Sandböhl. Die Frauen waren verschwunden, das Kaufhaus jetzt geschlossen. Auch das Rentnerpaar hatte mittlerweile die Bank geräumt, der Platz war leer. Eine Gänsehaut lief über seinen Rücken und das Schlucken fiel ihm schwer. Mühsam würgte er den Speisebrei hinunter, dann stieg er über die Mauer und ging mit weichen Knien und vorgetäuschtem Kennerblick um den Wagen herum. Der BMW hatte keine Kratzer, ein GG-Kennzeichen und Scheiben, die nicht abgetönt waren. Es war dasselbe Fabrikat wie der Wagen auf dem Rastplatz letzte Nacht, das war alles. Natürlich, hatte er wirklich eben gedacht ...