Last night at the Telegraph Club - Malinda Lo - E-Book + Hörbuch

Last night at the Telegraph Club Hörbuch

Malinda Lo

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Beschreibung

Was, wenn deine Liebe verboten ist? Die siebzehnjährige Lily wächst Mitte der 50er Jahre in der chinesischen Community von San Francisco auf. Als sie bei einem Schulprojekt Kathleen kennenlernt, wird ihr klar, dass sie anders ist – und anders fühlt – als die anderen Mädchen. Die beiden freunden sich an und besuchen nachts heimlich eine verbotene Lesbenbar, den Telegraph Club. Hier taucht Lily in eine Welt ein, die sie maßlos fasziniert. Und ihr wird klar, dass sie mehr für Kath empfindet. Doch das Amerika des Jahres 1954 ist kein sicherer Ort für zwei Mädchen, die sich verlieben, schon gar nicht in Chinatown. Als ihre nächtlichen Besuche des Telegraph Club auffliegen, hat dies Folgen für Lilys Familie. Dennoch kann und will sie ihre Liebe zu Kath nicht aufgeben.

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Zeit:13 Std. 3 min

Sprecher:Irina Salkow

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Malinda Lo

LAST NIGHT AT THETELEGRAPH CLUB

Aus dem amerikanischen Englisch von Beate Schäfer

Für alle Butches und Femmes, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

1950

Senator Joseph McCarthy verfasst eine Liste von angeblichen Kommunisten, die im amerikanischen Außenministerium arbeiten.

Der Koreakrieg beginnt.

Judy Hu heiratet Francis Fong.

4. Juli 1950

LILY nimmt am dritten Picknick der Chinese American Citizens Alliance zum Unabhängigkeitstag teil, an dem auch der Miss-Chinatown-Wettbewerb abgehalten wird.

1951

Dr. Qian Xuesen wird unter Hausarrest gestellt, weil man ihn verdächtigt, Kommunist zu sein und mit der Volksrepublik China zu sympathisieren.

Judy nimmt Lily mit in den Vergnügungspark Playland at the Beach.

Im Prozess Stoumen gegen Reilly verfügt der Oberste Gerichtshof von Kalifornien, dass das Recht auf Versammlungsfreiheit auch für Homosexuelle gilt. Damit sind Treffen in Bars eindeutig erlaubt.

PROLOG

Dicht bei der Bühne drängten sich die Miss-Chinatown-Bewerberinnen hinter einer Sichtschutzwand. Kaum eine Viertelstunde war vergangen, seit Lily Hu auf dem Weg zur Toilette hier vorbeigekommen war, doch von den Mädchen war da noch nichts zu sehen gewesen. Dass sie wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, hatte etwas Aufwühlendes.

Lily war dreizehn und konnte sich nicht erinnern, schon mal einer Gruppe chinesischer Mädchen begegnet zu sein, die aussahen wie diese: in knappen Badeanzügen und mit High Heels, perfekt geschminkt und frisiert. Sie wirkten so amerikanisch.

Lily ging langsamer und kam schließlich fast ganz zum Stehen. Das Schaulaufen fing gleich an; wenn sie noch länger herumbummelte, würde sie womöglich die Vorstellung der Kandidatinnen verpassen. Sie sollte zurück zu dem Platz vor der Bühne, wo ihre Familie eine Picknickdecke auf dem Rasen ausgebreitet hatte. Trotzdem trödelte sie und gab sich Mühe, nicht zu auffällig hinzustarren.

Es waren zwölf Mädchen, die teils Einteiler, teils Bikinis trugen, manche davon weiß oder schwarz, andere meeresgrün oder waldgrün. Die bloßen Arme und Beine der Kandidatinnen erstrahlten in der heißen Mittagssonne, ihre glänzenden dunklen Haare waren in Locken gelegt und zurechtgesteckt. Dazu knallroter Lippenstift, tiefrot lackierte Fingernägel und glatte gebräunte Haut. Jedes Mädchen wirkte wie eine Variation des immer gleichen Themas.

Die Absätze ihrer High Heels bohrten sich ins Gras. Immer wieder hob eines der Mädchen den Fuß, um zu verhindern, dass ihr Schuh in der feuchten Erde versank – der Anblick erinnerte Lily an die Rehkitze in ›Bambi‹, die auf staksigen Beinen laufen lernten. Eines der Mädchen, im schwarzen Bikini und mit besonders hohen schwarzen Schuhen, trat von einem Bein aufs andere und blieb tatsächlich mit dem Absatz im Boden stecken. Ihr Fuß hob sich ein wenig aus dem Schuh, sodass sich eine aufgescheuerte Stelle an ihrer Ferse zeigte. Das Mädchen runzelte die Stirn und wollte mit den Zehen ihren Schuh wieder befreien, doch dabei glitt gleich der ganze Fuß heraus. Die rosige Rundung ihrer nackten Ferse, das zart gebogene Fußgewölbe, die eingezogenen Zehen, die in der Luft schwebten. Lily sah ertappt weg; es kam ihr vor, als würde sie einer Frau dabei zuschauen, wie die sich in aller Öffentlichkeit auszog.

Erst brummte ein Mikrofon, dann verkündete ein Mann auf Englisch: »Willkommen beim dritten Picknick der Chinese American Citizens Alliance zum Unabhängigkeitstag und zum diesjährigen Miss-Chinatown-Wettbewerb!«

Die auf dem Rasen versammelte Menge klatschte und jubelte. Eine ältere Frau mit einem Klemmbrett in der Hand scheuchte die Mädchen hinter der Sichtschutzwand zu einer ordentlichen Reihe zusammen, damit sie nacheinander die Bühne betreten konnten. Endlich wandte Lily sich ab und folgte dem Weg zum Rasen vor der Bühne.

Sie entdeckte ihre Familie in der Menge; alle drängten sich auf der kratzigen alten Armeedecke zusammen, auf der in weißen Buchstaben der Name ihres Vaters prangte – Captain Joseph Hu. Um sie herum saßen andere Familien, alle hatten es sich unter dem strahlend blauen Himmel bequem gemacht und blickten jetzt erwartungsvoll zur Bühne vor dem Hauptgebäude.

Lily sah, wie ihre Mutter aufstand und den vierjährigen Frankie auf die Füße stellte. Ihr Vater reichte ihr von unten die Handtasche, dann steuerte sie mit Frankie auf den Rand des Rasens zu. Onkel Francis und Tante Judy, die neben Lilys Vater hockten, verfolgten das Geschehen auf der Bühne mit ganz unterschiedlichen Mienen. Onkel Francis wirkte vollkommen versunken, Tante Judy guckte skeptisch. Von Eddie, Lilys anderem Bruder, war weit und breit nichts zu sehen, wahrscheinlich trieb er sich mit seinen Freunden herum.

Lily und ihre Mutter begegneten sich auf dem Trampelpfad.

»Frankie muss aufs Klo«, erklärte Mama. »Nimm dir von dem Brathähnchen, da ist noch was übrig.«

Während Lily über den Rasen ging, knallten Feuerwerkskörper. Gleißende Sommerhitze brannte auf ihre schwarzen Haare herunter und setzte sich in ihnen fest. Hier in Los Altos war der Sommer genau, wie man ihn sich vorstellte, so richtig mit Eis-am-Stiel-Wetter, ganz im Gegensatz zu San Francisco mit seinem ewigen Nebel und der kühlen Luft. Im Lauf des Tages hatte Lily immer mehr von dem abgestreift, was sie am Morgen in der Wohnung in Chinatown angezogen hatte. Jetzt trug sie nur noch eine kurzärmlige Bluse und einen Baumwollrock und wünschte sich, sie hätte Sandalen angezogen statt der festen Schuhe und Socken.

Bei ihrer Familie angekommen kniete sie sich auf die Decke und schnappte sich das letzte Stück Brathähnchen. Ihre Freundin Shirley Lum, deren Familie ganz in der Nähe saß, winkte sie zu sich. »Kann ich mich zu Shirley setzen?«, fragte Lily ihren Vater. Er nickte, während der Moderator die Teilnehmerinnen des Schönheitswettbewerbs vorstellte. Ihre Namen schallten über den Rasen, als Lily mit dem Hähnchenschenkel in der Hand auf die Füße kam.

»Miss Elizabeth Ding!«

»Miss May Chinn Eng!«

Lily setzte sich zu Shirley auf die Decke – ein altes weißes Tischtuch –, schlug die Beine zur Seite und zog damenhaft den Rock darüber.

Shirley beugte sich zu ihr und sagte: »Ich finde die dritte am besten, die in dem gelben Bikini.«

»Miss Violet Toy!«

»Miss Naomi Woo!«

Lily biss in ihr Hähnchen. Die Haut war noch knusprig, das Fleisch saftig und angenehm salzig. Sie hielt die Hand darunter, damit nichts auf die Decke fiel. Auf der Bühne präsentierte sich jetzt ein Mädchen nach dem anderen. Die hochhackigen Schuhe ließen sie stolzieren und ihre Hüften hin- und herschwingen. Aus dem Publikum kamen Pfiffe, gefolgt von Gelächter.

»Das Mädchen in dem schwarzen Bikini übertreibt«, kommentierte Shirley.

»Wie meinst du das?«, fragte Lily.

»Guck sie dir doch an! Die tut, als ob sie ein Hollywoodstar wäre, so, wie die dasteht.«

»Aber die stehen doch alle so.«

»Nein, die da legt’s total drauf an, die hält sich für perfekt.«

Lily konnte keinerlei Unterschied zwischen dem Mädchen in Schwarz und den anderen erkennen, aber sie erinnerte sich an den Anblick von ihrem nackten Fuß in der Luft und schämte sich seltsamerweise ein bisschen für sie. Alle Bewerberinnen lächelten, stemmten die Hände stolz in die Hüften und drückten den Rücken durch. Sie müssten jetzt noch eine Runde auf der Bühne drehen, erklärte der Moderator, damit die Jury ihre Gesichter und ihre Figur begutachten könnte, woraufhin wieder geklatscht wurde.

Die Jurymitglieder saßen an einem Tisch vor der Bühne. Sehen konnte Lily sie nicht, aber sie wusste, um wen es sich handelte: Zwei waren wichtige Männer aus Chinatown, einer ein bekannter weißer Unternehmer, außerdem gab es noch eine Frau – sie kam aus Honolulu und war Siegerin des chinesischen Schönheitswettbewerbs auf Hawaii gewesen. Lily hatte vorhin beobachtet, wie die junge Frau ihren Fans Autogramme gab; sie trug ein prächtiges Kleid mit Blumenmuster und hatte eine üppige rosa Blüte im Haar.

»Guck, jetzt kommt mein Liebling«, sagte Shirley.

Das Mädchen in dem gelben Bikini war größer als alle anderen und hatte mehr Kurven. Ihr welliges schwarzes Haar hatte sie mit Kämmen nach hinten gesteckt, sodass man ihre funkelnden Ohrhänger gut sehen konnte. Als sie am Bühnenrand entlanglief, ertönten wieder Pfiffe aus dem Publikum. Am anderen Ende angekommen blieb sie stehen, winkelte ein Knie an und warf einen koketten Blick über die Schulter. Applaus brandete auf und Shirley klatschte begeistert mit.

Lily, immer noch mit dem Hähnchen in der Hand, blickte von der Bühne weg. Auf einmal fühlte sie sich unwohl. Sie verstand diese plötzliche Beklommenheit nicht recht. Es kam ihr vor, als sollte lieber niemand mitbekommen, wie sie die Mädchen anschaute. Ein paar ältere Männer aus Chinatown, die rauchend ganz in der Nähe saßen, musterten die Bewerberinnen gelassen. Einer aus der Runde grinste einen anderen an, es lag etwas Abstoßendes in seinem Gesichtsausdruck. Dann machte er eine seltsame Handbewegung, so als würde er etwas zusammendrücken, woraufhin der andere Mann lachte. Lily ließ den Blick auf ihren Brathähnchenrest sinken – der Knochen erinnerte sie an die Ferse des Mädchens in Schwarz, ganz aufgescheuert von der harten Schuhkante.

»Komm, wir gehen auf die Bühne!«, sagte Shirley verschwörerisch, packte Lily an der Hand und zog sie über den Rasen.

»Aber das können wir doch nicht –«

»Willst du denn nicht wissen, wie das ist?«

Es wirkte gefährlich, rebellisch – jedenfalls ein bisschen. Die Sonne tauchte alles in ein schweres goldenes Nachmittagslicht, die Show war vorbei, ringsum packten die Zuschauer ihre Sachen zusammen und begannen sich auf den Heimweg zu machen.

»Na gut«, stimmte Lily zu und Shirley kreischte begeistert auf.

Die letzten paar Meter rannten sie fast, und als sie die Treppe erreichten, blieb Shirley so abrupt stehen, dass Lily mit ihr zusammenstieß.

»Stell dir mal vor«, sagte Shirley verträumt, »wie es sich anfühlen muss, Miss Chinatown zu sein.«

Heute war nach der Bekanntgabe der Siegerin Unmut aufgekommen. Lily hatte die leisen Buhrufe gehört, die sich unter den Applaus mischten, und die Auserwählte war rot angelaufen, in einer Mischung aus Stolz und Bestürzung. Ein Mann hatte auf Englisch Richtung Bühne gerufen: »Die sieht aus wie ein Pin-up-Girl, nicht wie ein chinesisches Mädchen!«

Lily hatte ihn heimlich beäugt; er saß neben dem Mann, der die anzügliche Handbewegung gemacht hatte. Der hatte sich hinübergebeugt und dem anderen auf die Schulter geklopft, dann begann ein angeregtes Gespräch zwischen den beiden, dem Lily nicht ganz folgen konnte – die beiden sprachen im Taishan-Dialekt, sie konnte nur die Wörter für Schönheit und Frau heraushören.

»Jetzt komm schon, Lily!«

Shirley war bereits die Treppe hochgerannt und hatte Lily abgehängt. Die griff jetzt nach dem wackligen Geländer und eilte die Stufen hoch. Mikrofon und Ständer waren weggeräumt, die Bühne war vollkommen leer. Shirley stellte sich in die Mitte und ließ ihre Hüften genauso schwingen wie vorhin die Bewerberinnen; sie spielte Schönheitskönigin.

Zögernd beobachtete Lily ihre Freundin dabei, wie sie über die weite, sich leerende Rasenfläche schaute. Jemand stieß einen Pfiff aus, was Shirley zu gefallen schien, sie lief rot an und machte einen kleinen Knicks.

»Nächstes Mal gewinnst du!«, rief eine körperlose Stimme.

Shirley kicherte und warf Lily über die Schulter hinweg einen Blick zu. »Komm schon! Von hier oben hat man eine tolle Sicht.«

Genau in dem Moment, als Lily am vorderen Bühnenrand bei Shirley ankam, knallte in der Ferne eine ganze Batterie von Feuerwerkskörpern. Die Nachmittagssonne stand in ihrem Rücken, sodass ihre Schatten auf den Rasen fielen, und während Shirley die Hand zu einem königlichen Winken hob, betrachtete Lily ihre dunklen, lang gezogenen Umrisse im Gras. Überall lagen leere Glasflaschen und zusammengeknüllte Papiertüten herum, die Grashalme waren an vielen Stellen platt gedrückt von den Decken und Menschen.

»Lily!«

Die Stimme kam von links, schräg hinter der Bühne. Lily trat ein Stück zurück, um besser sehen zu können, und entdeckte Tante Judy, die vom Parkplatz kam und ihr zuwinkte.

»Zeit zu gehen!«, rief ihre Tante.

Lily winkte zurück und zog Shirley am Arm. »Wir müssen los.«

»Ach, nur noch ein bisschen!«

Lily bewegte sich zur Treppe, und als sie sich nach Shirley umdrehte, stand die immer noch am Bühnenrand und blickte versonnen in die Ferne. Die Sonne tauchte ihren Hinterkopf in einen goldenen Schein, der wie eine Krone wirkte, das Gesicht lag im Schatten. Ihr Profil, der sanfte Schwung von Nase und Mund, wirkte noch süß und mädchenhaft. Doch ihre Brüste rundeten sich merklich, und so, wie sie den Rock ihres Kleides anhob, kamen auch ihre Hüften gut zur Geltung. Ob ein chinesisches Mädchen wohl so aussehen sollte?

TEIL I

Träumen darf ich doch, oder?

August bis September 1954

1

Diese Frau hat so viel Glamour.« Shirley stieß Lily an, damit sie auch hinsah.

Hinten im Restaurant saßen zwei weiße Frauen an einem Tisch in einer Nische. »Ob sie wohl zu einer Show will?«

Es war Freitagabend und beste Essenszeit, das Eastern Pearl war fast bis auf den letzten Platz besetzt. Trotzdem wusste Lily sofort, wen Shirley meinte. Die roten Papierlampions an der Decke warfen einen warmen Schein auf die blonden Haare der Frau; zu einem French Twist hochgesteckt wurden sie von etwas Funkelndem zusammengehalten, das perfekt auf ihre tropfenförmigen Ohrringe abgestimmt war. Sie trug ein ärmelloses königsblaues Satinkleid mit tiefem Rundhalsausschnitt, das ihre seidige Haut in Szene setzte; ein passendes blaues Bolerojäckchen hing über der Stuhllehne. Ihre Begleiterin war weniger auffällig angezogen. Sie trug Hosen – graue Flanellhosen – und dazu eine in den Bund gesteckte weiße Bluse mit weichem Kragen. Ihr Haar war kurz geschnitten, in der aktuellen Mode, aber an ihr wirkte das weniger jungenhaft-kokett, sondern fast schon männlich, was Lily näher hinschauen ließ. Auch ihre Körperhaltung strahlte etwas leicht Maskulines aus. Das faszinierte Lily, auch wenn sie nicht hätte sagen können, wieso.

Als ihr bewusst wurde, dass sie die Frau anstarrte, schaute sie rasch nach unten auf das wirre Knäuel von Stoffservietten, das vor ihr lag. Neben ihr arbeitete sich Shirley flink durch ihren eigenen Stapel und verwandelte die Servietten in ansehnliche Schwäne. Schon seit ihrer Kindheit hatte Lily mit Shirley unzählige Stunden im Restaurant von deren Familie verbracht und über die Jahre immer wieder kleine Aufgaben übernommen. Jetzt standen die beiden kurz vor ihrem Abschlussjahr in der Highschool, aber einen anständigen Schwan bekam Lily immer noch nicht hin. Sie faltete den, den sie gerade in der Hand hatte, wieder auf und begann von vorne.

Am Wochenende zog es eher Touristen ins Eastern Pearl als wie sonst die Chinesen aus dem Viertel. Laut Shirley lag das vor allem daran, dass das Lokal auf der Empfehlungsliste einer der Reiseagenturen stand, die in Chinatown Führungen anboten – das brachte viel Kundschaft. Lily hätte gern gewusst, ob auch die beiden Frauen in der Nische nur als Besucherinnen in der Stadt waren, und sie warf wieder einen verstohlenen Blick in ihre Richtung.

Die Blonde holte ein silbernes Zigarettenetui aus der Handtasche, woraufhin ihre Begleitung ein Streichholzbriefchen aus der Hosentasche zog und sich vorbeugte, um ihr Feuer zu geben. Die Blonde legte die Handfläche schützend um die Flamme und zog beim Inhalieren die Hand ihrer Freundin dicht an ihr Gesicht. Dann lehnte sie sich wieder zurück und hielt der anderen das Etui hin. Die nahm sich auch eine Zigarette, steckte sie mit einer schnellen Bewegung an und führte sie zwischen Daumen und Zeigefinger vom Mund weg. Rauchschwaden ringelten sich zur rot beleuchteten Decke.

»Was machst du denn da für ein Chaos?«, fragte Shirley mit einem Blick auf Lilys armselige Schwäne. »Die werden Ma nicht passen.«

»Tut mir leid«, sagte Lily. »Ich kann das einfach nicht.«

Shirley schüttelte den Kopf, schien aber nicht verärgert. So war es immer. »Ich mach sie noch mal neu«, sagte sie und zog die Servietten zu sich.

Einen Moment lang saß Lily nur da und sah zu, wie Shirley den misslungenen Schwan aus der Serviette schüttelte, dann griff sie nach dem ›Chronicle‹. Die Theater- und Filmkritiken hatten es ihr angetan, auch die Gesellschaftsspalten las sie gern, mit den vielen Fotos von Frauen in Pelzen und Diamanten. Ob die Blonde wohl auch schon mal in der Zeitung gewesen war?

»Vielleicht ist sie ja eine Erbin«, sagte Lily zu Shirley. »Die Blonde da drüben.«

Shirley hob kurz den Blick und schaute durchs Restaurant. »Vielleicht hat sie eine Goldmine?«

»Ja, ihr Vater ist vor Kurzem gestorben und hat ihr ein Vermögen hinterlassen –«

»Aber dann hat sie entdeckt, dass sie einen Halbbruder hat –«

»Der ihr jetzt das Erbe streitig macht –«

»Und darum hat sie eine Privatdetektivin angeheuert, die ihn verführen soll!«

Lily war verwirrt. »Was?«

»Na ja, was glaubst du denn, wer die andere Frau ist? Die wirkt doch wie ein weiblicher Privatdetektiv. Was für eine Frau sieht sonst so aus? Vielleicht war sie ja undercover unterwegs.«

Amüsiert fragte Lily: »Wo denn?«

»Keine Ahnung.«

Dieses Spiel – sich Geschichten ausdenken über fremde Leute hier im Lokal – spielten die beiden schon seit Kindertagen, aber meistens verlor Shirley schneller die Lust als Lily.

»Hast du die Anzeige gesehen, die meine Eltern in die Zeitung gesetzt haben?«, fragte Shirley, während sie einen neuen Serviettenschwan neben die anderen stellte – sie standen alle ordentlich in Reih und Glied, wie eine seltsame kleine Armee.

»Nein.«

»Die ist heute drin, ich hab sie vorhin gesehen. Blätter weiter, sie ist auf der Seite mit den Nachtclubkritiken.«

Folgsam blätterte Lily bis zur Kolumne ›Abendstunden‹, die eine halbe Seite einnahm. Der Rest war voller Anzeigen von Lokalen und Nachtclubs, die sie rasch überflog, auf der Suche nach einem Inserat fürs Eastern Pearl. KOMMZUJULIAN’S XOCHIMILCO: DERBESTEMEXIKANERDERSTADT. CHINESISCHESVARIETÉ – EXKLUSIVESFÜNF-GÄNGE-MENÜ, NACHWAHLCHINESISCHODERAMERIKANISCH – FORBIDDENCITY. Unter einer Zeichnung von vier Gesichtern – Vater, Mutter, Sohn und Tochter, mit einer Schleife im Haar – stand GUTESLEBENBEGINNTMITEINEMDINNERBEIGRANT’S.

»Da ist sie!« Shirley zeigte auf eine Anzeige unten auf der Seite. Ein schlichtes schwarzes Rechteck mit fett gedruckten weißen Buchstaben: ERLEBENSIEFEINSTEASIATISCHEKÜCHEIMEASTERNPEARL – DASBESTELOKALINCHINATOWN.

Doch Lilys Blick wurde von einem quadratischen Kasten direkt über der Eastern-Pearl-Annonce angezogen. TOMMYANDREWS, HERRENIMITATORIN stand dort. WELTPREMIEREIMTELEGRAPHCLUB, 462 BROADWAY. Das ziemlich große Inserat zeigte das Foto einer Person, die wie ein gut aussehender Mann wirkte, im Smoking und mit zurückgegelten Haaren. In Lilys Innerem wurde es seltsam still, als müsste ihr Herz erst durchatmen, bevor es weiterschlagen konnte.

»Sie ist nicht groß, aber Pa glaubt, dass die Leute sie trotzdem sehen«, sagte Shirley. »Was meinst du?«

»Oh, ich – ja, das tun sie bestimmt«, antwortete Lily.

»Diese Seite interessiert doch alle, oder? Schließlich wollen die Leute wissen, welche Stars in der Stadt sind.«

»Ja, klar. Ich bin sicher, die Leute sehen eure Anzeige.«

Shirley nickte zufrieden und Lily zwang sich, ihren Blick von dem Tommy-Andrews-Foto zu lösen. Auf der anderen Seite des Restaurants bezahlten die beiden Frauen ihre Rechnung. Die im blauen Kleid holte eine Geldbörse hervor, während die mit den kurzen Haaren zu Lilys Überraschung ein Herrenportemonnaie aus der Hosentasche zog. Ihre Dollarnoten segelten weich auf den Tisch.

Hinter der Theke öffnete sich die Schwingtür zur Küche. Shirleys Mutter streckte den Kopf heraus und rief: »Shirley, komm mal und hilf mir.«

»In Ordnung, Ma«, antwortete Shirley mit einem entnervten Stöhnen in Lilys Richtung. »Rühr die Servietten nicht an. Ich mach sie später fertig.«

Das Glöckchen an der Eingangstür klingelte und Lily sah den beiden Frauen hinterher, wie sie das Lokal verließen. Die mit den kurzen Haaren hielt ihrer Freundin die Tür auf, dann waren sie weg und Lily starrte wieder auf die Anzeige vom Telegraph Club.

462 Broadway – der Adresse nach lag er nur ein paar Blocks entfernt vom Eastern Pearl. Es gab einige Clubs auf dem Broadway, die meisten gleich östlich von der Columbus Avenue. Lilys Eltern schärften ihr immer wieder ein, nicht dort entlangzugehen, diese Gegend sei etwas für Erwachsene und für die Touristen, sagten sie. Ordentliche chinesische Mädchen hätten dort nichts zu suchen. Genau genommen auch andere Mädchen nicht. Lily wusste, dass sie diese Clubs für geschmacklos halten sollte, doch jedes Mal, wenn sie den Broadway überquerte (immer tagsüber natürlich), blickte sie die breite Straße hinunter, mit der Bay Bridge in der Ferne, und betrachtete die verschlossenen Eingangstüren. Sie hätte zu gern gewusst, was sich hinter ihnen verbarg.

Ihre Hände waren feucht. Sie warf einen Blick über die Schulter, doch hinter der Theke war niemand. Rasch riss sie die Seite mit der Anzeige des Telegraph Club heraus, faltete sie zu einem ordentlichen kleinen Rechteck zusammen und schob es tief in ihre Rocktasche. Dann schlug sie die Zeitung zu und steckte sie zurück in den Stapel unter der Theke. Während sie die Zeitungen wieder gerade richtete, fiel ihr auf, dass ihre Fingerspitzen mit Druckerschwärze verschmiert waren. Sie rannte zur Toilette, drehte den Wasserhahn auf und rieb so lange mit der groben pinken Seife über ihre Finger, bis auch der kleinste Rest verschwunden war.

2

Vom Eastern Pearl bis zur Wohnung der Hus lief man kaum zehn Minuten, doch an diesem Abend kam Lily der Heimweg endlos lang vor. Gleich vor dem Lokal musste sie minutenlang bei dem alten Mr Wong stehen bleiben, der gerade seinen Importladen nebenan zusperrte. Und sobald sie um die Ecke zur Grant Avenue gebogen war, rief ihr Charlie Yip von seinem Imbissstand zu, ihre Lieblingssorte Wa Mooi1 sei heute im Angebot. Sie kaufte eine kleine Tüte davon, die sie mit ihren Brüdern teilen wollte, und verstaute sie vorsichtig in ihrer Rocktasche, darauf bedacht, die zusammengefaltete Zeitungsseite nicht zu zerknittern.

Vor dem Shanghai Palace blockierte eine Gruppe weißer Touristen den Gehweg. Sie hatten sich für ihren Abend in Chinatown extra schick gemacht und es war nicht zu übersehen, dass sie schon einige Cocktails intus hatten. Unbemerkt schob Lily sich an ihnen vorbei, musste aber einer Zigarettenkippe ausweichen, die eine Frau in Pelzstola achtlos hinter sich warf. Sie schoss einen ärgerlichen Blick auf die Frau ab, doch da hupte schon ein Auto und sie musste aus dem Weg springen. Eingeklemmt zwischen den Touristen und einem geparkten Buick blieb ihr nichts anderes übrig als zu warten, bis die Ampel rot wurde, dann erst konnte sie sich zwischen den Autos auf die andere Straßenseite durchschlängeln.

Dort angekommen blickte sie noch einmal zurück Richtung Broadway und North Beach. Wo genau der Telegraph Club wohl lag? Sie malte sich ein großes Neonschild über einem Eingang mit Markise aus. Dann fielen ihr die beiden Frauen aus dem Eastern Pearl wieder ein und sie sah vor ihrem inneren Auge, wie die beiden den Telegraph Club betraten und sich an einen kleinen runden Tisch dicht bei der Bühne setzten. Gleich würde Tommy Andrews auftreten und singen, todschick angezogen.

Am liebsten hätte sie auf der Stelle die Zeitungsannonce herausgeholt und sich noch einmal Tommys Gesicht angeschaut, aber sie widerstand der Versuchung. Da vorne war schon die Clay Street, sie war fast zu Hause. Das letzte Stück lief sie schneller.

Lily schloss die Haustür auf und eilte die vielen Holzstufen hoch bis ins zweite Obergeschoss. Sie hängte ihre Jacke an die Garderobe, zog die Schuhe aus, schlüpfte in ihre Pantoffeln und tappte an der verschlossenen Schlafzimmertür ihrer Eltern vorbei Richtung Wohnzimmer.

Ihr Vater saß mit der Zeitung auf dem Sofa und rauchte seine Pfeife. Eddie und Frankie, ihre jüngeren Brüder, lümmelten auf dem Teppich herum und lasen Comics. Als Lily ins Zimmer kam, schaute ihr Vater von der Zeitung hoch und lächelte sie an. Dabei spiegelte sich das Licht der Lampe in seinen runden Brillengläsern.

»Hast du schon was gegessen?«, fragte er. »Wie geht’s Shirley?«

»Gut. Wir haben im Lokal gegessen, ja. Wo ist Mama?«

»Die ist früh ins Bett. Falls du doch noch Hunger hast, in der Küche stehen Reste.«

Eddie sah sie über die Schulter hinweg an. »Kuchen gibt’s auch. Im Cameron House war heute Kuchenbasar.«

Lily erinnerte sich an die Salzpflaumen und zog die Tüte aus der Tasche. »Wollt ihr was davon? Ich hab sie bei Charlie Yip gekauft.«

Frankie sprang auf und riss ihr die Tüte aus der Hand, woraufhin sein Vater ihn ermahnte: »Aber nicht zu viele. Gleich ist Schlafenszeit.«

Lily wusste jetzt schon, wie der restliche Abend verlaufen würde. Ihr Vater würde die Zeitung fertig lesen – noch etwa eine halbe Stunde, schätzte sie. Ihre Brüder würden sich lautstark beschweren, wieso sie nicht länger aufbleiben durften, müssten um zehn Uhr aber trotzdem ins Bett. Bis dahin könnte sie es sich mit den dreien im Wohnzimmer gemütlich machen und versuchen in ihrem Buch zu lesen, doch ihr war klar, dass sie dafür viel zu unruhig war. Stattdessen ging sie in die Küche und setzte den Wasserkessel auf. Während sie wartete, stellte sie sich ans Fenster bei der Spüle und starrte hinaus in die hell erleuchtete Stadt. Jedes dieser Lichter stand für das Leben von anderen Menschen: Fenster von Schlafzimmern und Wohnräumen, Scheinwerfer von Autos, die steile Straßen hinaufkrochen. Lily fragte sich, wo die beiden Frauen aus dem Restaurant leben mochten und wie ihr Zuhause wohl aussah. Unwillkürlich griff sie in ihre Rocktasche und berührte die zusammengefaltete Zeitungsseite.

Sie machte sich eine Tasse Jasmintee und nahm sie mit in ihr Zimmer, das eigentlich gar kein richtiges Zimmer war, bloß eine vom Wohnbereich mit einer Schiebetür abgetrennte Nische. Die Tür ließ sie erst einmal offen. Ihr Vater hatte die Kammer früher als Büro genutzt, doch als Frankie vier geworden war, hatte Lily darauf bestanden, ein eigenes Zimmer zu bekommen – sie könne unmöglich noch länger in einem Raum mit ihren Brüdern schlafen. Also hatte sie jetzt ihren eigenen Rückzugsort, egal wie winzig. Es war gerade genug Platz für ein schmales Bett, eine alte Kommode mit Schubladen, die sich nie richtig schließen ließen, und ein paar hohe Bücherstapel – einer der Stapel diente als wackliger Tisch für ihre Nachttischlampe. Vor dem kleinen Fenster am Fußende ihres Betts hing ein kurzer Vorhang aus blauem Samt, über und über mit Pailletten bestickt. Lily hatte ihn selbst gemacht, im Handarbeitsunterricht in der Junior-Highschool. Sie hatte ihn kaum aufgehängt, da lösten sich schon die ersten Fäden, aber ihr gefiel der Vorhang trotzdem. Er erinnerte sie an die Science-Fiction-Romane, die sie mochte, mit Bildern von den Weiten des Weltalls auf dem Einband.

Während sie wartete, dass ihr Vater und ihre Brüder endlich schlafen gingen, putzte sie sich die Zähne und kramte in ihrem kleinen Reich herum. Sie faltete Wäsche, die sie auf dem Bett hatte liegen lassen, und sah die Matheunterlagen aus dem letzten Schuljahr durch, um zu entscheiden, was sie wegwerfen konnte. Dabei hatte sie unentwegt die Zeitungsseite in ihrer Rocktasche im Sinn: Sie hörte das leise Rascheln, als sie sich zum Einräumen der Kleider hinkniete; sie spürte, wie die Kanten des Papiers sanft ihre Hüfte streiften, als sie sich aufs Bett setzte.

Es schien Stunden zu dauern, bis ihr Vater und ihre Brüder das Wohnzimmer verließen. Nachdem sie endlich schlafen gegangen waren, schloss Lily die Schiebetür zu ihrer Nische und zog sich ihr Nachthemd an. Sie holte die Zeitungsseite hervor und legte sie oben auf den Bücherstapel, der ihr als Nachttisch diente. Sie hatte das Papier zu einem kleinen Rechteck zusammengefaltet, doch jetzt begann es, sich von selbst zu öffnen, wie ein Schmetterling, der die Flügel ausbreitet.

Verblüfft schaute sie zu, bis es sich nicht mehr rührte. Draußen kämpfte sich ein Cable Car rumpelnd die Straße hoch, die Glocke der Bahn schien im gleichen Rhythmus zu schlagen wie Lilys pochendes Herz. Sie nahm ein paar Bücher vom Stapel neben dem Bett und zog Arthur C. Clarkes ›Vorstoß ins All‹ heraus, das ihr Tante Judy geschenkt hatte. Sie legte das Buch aufs Bett, schob sich ein Kissen in den Rücken und griff endlich nach der Anzeige.

Behutsam faltete sie das Papier ganz auf und strich es glatt. Und da war Tommy Andrews, wie ein Filmstar versonnen in die Ferne blickend, das Haar umgeben von einem leuchtenden Schein. TOMMYANDREWS, HERRENIMITATORIN. Vor einer Weile hatte sie Werbung für eine Show in einem anderen Nachtclub gesehen, in der stand: JERRYBOUCHARD, WELTBESTEHERRENIMITATORIN! Dazu hatte die Abbildung einer Frau in Frack und Zylinder gehört – ihre Kurven waren unübersehbar und unter der Hutkrempe lugten ihre lockigen Haare hervor. Das Bild war Lily falsch vorgekommen, irgendwie lächerlich. Ganz anders dieses Foto. Tommy sah gut aus und wirkte charmant. Ihr Bild hätte auch in Shirleys Zimmer an der Wand hängen können, neben den Fotos von Tab Hunter und Marlon Brando.

Vor einer Weile hatte Lily die Abbildung einer Mondkolonie aus einem ›Popular Science‹-Heft herausgerissen (ihr Vater kaufte die Zeitschrift manchmal für Eddie) und über ihre Kommode an die Wand gehängt. Als Shirley das sah, hatte sie Lily aufgezogen, sie sei ja der reinste Junge, und Lily hatte die Mondkolonie wieder verschwinden lassen. Wenn sie richtig mutig und verwegen wäre, würde sie den Schriftzug TOMMYANDREWS, HERRENIMITATORIN einfach abschneiden und das Foto dorthin hängen, wo mal die Mondkolonie gewesen war. Garantiert käme nie jemand darauf, dass die Person auf dem Foto kein Mann war – nicht einmal Shirley.

Aber so mutig war Lily nicht, das wusste sie. Sie legte die Anzeige neben sich aufs Bett und schlug ›Vorstoß ins All‹ auf, zwischen dessen Seiten noch zwei andere zusammengefaltete Ausschnitte versteckt waren. Der erste stammte aus einer alten Ausgabe von ›Life‹, die sie in einer Kiste vorm chinesischen Krankenhaus entdeckt hatte. Darauf war die junge Katharine Hepburn zu sehen, die sich entspannt in einen Sessel lümmelte, die Beine lässig über eine der Armlehnen geworfen. Sie trug weite Hosen und ein Jackett, hielt eine Zigarette in der Hand und schaute wie abwesend zur Seite. Ihr Blick wirkte selbstsicher, als wüsste sie Bescheid, und die Haltung ihrer Schultern strahlte einen Hauch Männlichkeit aus.

Lily konnte sich noch gut erinnern, wie sie beim Blättern in der Zeitschrift über dieses Foto gestolpert war. Es war ein warmer Septembertag gewesen, sie stand auf dem Gehweg, die Sonne schien ihr direkt auf den Kopf. Sie hielt inne und starrte so lange auf das Bild, bis sich ihre Haare anfühlten, als würden sie vor Hitze brennen. Dann riss sie – schnell, bevor sie es sich anders überlegen konnte – die Seite aus dem Heft. In dem Moment war jemand an ihr vorbeigelaufen und hatte sie überrascht angesehen, aber weil es sowieso schon zu spät war, tat sie, als hätte sie den Blick gar nicht bemerkt. Stattdessen hatte sie die Seite zusammengefaltet, sie in ihre Schultasche gesteckt und die Zeitschrift zurück in die Kiste gelegt.

Der andere Ausschnitt war ein Zeitungsartikel über zwei ehemalige Air-Force-Pilotinnen, die nach dem Krieg einen eigenen Flugplatz eröffnet hatten. Es gab auch ein kleines Foto von den beiden, auf dem sie dicht beieinandersaßen und in den Himmel schauten. Sie trugen beide die gleichen Sonnenbrillen, Kragenhemden und Hosen, und die Frau rechts im Bild, mit kurzen, zerzausten Haaren, hielt schützend die Hand der Frau links. Die Kurzhaarige kümmerte sich um die Maschinen, ihre Freundin war Fluglehrerin. Sie wirkten lange nicht so spektakulär wie Katharine Hepburn, aber ihre lässige Verbundenheit war umso faszinierender.

Der Artikel stammte aus einer Zeitschrift über das Fliegen, die Lily letztes Frühjahr in der öffentlichen Bücherei gefunden hatte, als sie für ein Referat recherchierte. Sie konnte sich noch lebhaft erinnern, wie sie das Heft damals in den ruhigsten, entlegensten Winkel der Bücherei getragen und die Seite unter dem Tisch herausgerissen hatte, so leise wie möglich. Ihr war vollkommen klar, dass das nicht in Ordnung war, aber sie musste dieses Foto unbedingt haben, auch wenn sie selbst nicht ganz verstand, warum. Verstohlen hatte sie dann eine Fünfzig-Cent-Münze auf der Ausleihtheke liegen lassen, als könnte sie die Beschädigung von Bibliothekseigentum auf diese Art wiedergutmachen.

Jetzt legte sie die Pilotinnen neben Katharine Hepburn und Tommy Andrews auf ihr Bett und sah von einem Foto zum anderen, immer wieder. Sie hätte nicht in Worte fassen können, warum sie diese Bilder gesammelt hatte, spürte es aber in allen Gliedern: Da war dieser hitzige, unruhige Drang, sie zu betrachten – und beim Betrachten etwas zu begreifen.

3

Das Elevator Girl bei Macy’s war eine junge Chinesin in einem himmelblauen, mit gelben Blumen bestickten Cheongsam2. »Guten Morgen«, begrüßte sie Lily und ihre Mutter. »Welche Etage, bitte?«

»Guten Morgen«, sagte Lilys Mutter. »Wir möchten in die Abteilung für die junge Miss.«

»Jawohl, Ma’am.« Das Elevator Girl drückte auf den Knopf für den dritten Stock. Sie schien nicht viel älter zu sein als Lily selbst, trotzdem kannte Lily sie nicht, also war sie wohl nicht in San Francisco aufgewachsen.

»Sind Sie die Enkelin von Mrs Low?«, fragte Lilys Mutter sie. »Mrs Wing Kut Low aus der Jackson Street?«

Während der holzgetäfelte Fahrstuhl am zweiten Stock vorbeifuhr, antwortete das Mädchen: »Nein. Ich komme aus Sacramento.«

Vor dem Bedienfeld des Aufzugs war ein ziemlich unbequem aussehender Hocker am Boden festgeschraubt. Lily stellte sich vor, wie das Mädchen zwischen den Fahrten erschöpft auf den Hocker sank und aus den schwarzen Pumps schlüpfte, um die Füße zu entspannen. Den ganzen Tag in diesem beweglichen Kasten eingesperrt zu sein – die Türen öffneten und schlossen sich, aber es gab kein Entkommen –, das kam ihr erdrückend vor. Was für eine mühselige Art, ein bisschen Geld zu verdienen.

»Sacramento!«, rief Lilys Mutter, als läge das auf dem Mond. Der Aufzug wurde knarzend langsamer, sie hatten den dritten Stock fast erreicht. »Sind Sie denn allein hier in San Francisco?«

»Ich habe in Chinatown einen Onkel.«

»Aha.«

Der Tonfall ihrer Mutter verriet Lily, dass sie von diesem Arrangement nicht viel hielt. Als der Aufzug mit einem kleinen Pling im dritten Stock stehen blieb, hielt Lilys Mutter vor dem Aussteigen kurz inne und sagte zu dem Mädchen: »Falls Sie irgendwann einmal weibliche Unterstützung brauchen, können Sie sich gern bei mir melden. Ich arbeite im chinesischen Krankenhaus, als Krankenschwester auf der Entbindungsstation. Mrs Grace Hu.«

Das Mädchen schien sich unwohl zu fühlen. »Danke, Ma’am. Das ist sehr großzügig von Ihnen.«

Vor dem Aussteigen blickte Lily mit heimlicher Sympathie auf das Mädchen.

»Solche jungen Frauen machen mir Sorgen«, erklärte Lilys Mutter mit leiser Stimme, als sich die Aufzugtür hinter ihnen schloss. »In dem Alter sollten Mädchen nicht allein sein. Ich kann mir kaum vorstellen, dass dieser Onkel gut auf sie aufpasst.«

Lily vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war, der diesen Satz hätte hören können. Vor ihnen erstreckte sich in hellem Lichterschein die weitläufige Abteilung für die junge Miss. Kundinnen schlenderten von einer Auslage zur nächsten und äugten in die Vitrinen. Neben einem Glaskasten mit Hüten stand ein anderes Mutter-Tochter-Paar, das Mädchen im Teenageralter kicherte, als die Mutter ihr einen blauen Pillbox-Hut auf den blonden Locken feststeckte. Als Lily und ihre Mutter vorbeigingen, schauten die beiden kurz zu ihnen, wandten den Blick aber gleich wieder ab. Lily und ihre Mutter waren an diesem Morgen die einzigen Chinesinnen in der Abteilung – sie fielen auf und das machte Lily befangen. Ihre Mutter trug ein altmodisches braunes Kostüm mit breiter Schulterpartie und einen dazu passenden braunen Hut, den sie sonst nur aufhatte, wenn sie zur Kirche ging. Lilys billiger Rock und ihre Bluse stammten aus dem Ausverkauf, sie entsprachen kein bisschen dem, was jetzt modern war.

Lily ließ ihre Mutter ein Stück vorgehen, als würden die anderen Kundinnen dann nicht merken, dass sie zusammengehörten. Sie erschrak, als sie sich bei diesem Gedanken ertappte, und versuchte sich von ihren Schuldgefühlen abzulenken, indem sie zuerst eine Schmuckauslage betrachtete – silberne Knopfohrringe, schimmernde Perlenhalsbänder und Zirkonia-Armreifen, deren Steine wie Diamanten funkelten – und dann ihren Blick zu einem eingerahmten Werbeplakat schweifen ließ. Darauf waren drei Mädchen in Kombinationsmode zu sehen. Die mittlere trug eine Weste im Smoking-Stil über einer weißen Bluse mit Mandarinkragen und einem schmalen dunklen Rock. Eine Hand in die Hüfte gestützt und die Schulter leicht abgesenkt blickte sie mit kokettem Augenaufschlag direkt in die Kamera. Die andere Hand baumelte in einem Handschuh lässig herunter, ganz dicht an der Hand des Mädchens neben ihr, sodass sich die kleinen Finger fast berührten. Alle drei jungen Frauen lächelten bedeutungsvoll, als teilten sie ein Geheimnis miteinander.

»Möchten Sie etwas anprobieren?«

Lily löste ihren Blick von dem Plakat und sah eine Verkäuferin auf sich zukommen. »Ich schaue bloß«, sagte Lily verlegen.

Die junge Frau wirkte offen und freundlich, ihre hellbraunen Haare waren in einem kurzen Peter-Pan-Schnitt gestylt. Auf ihrem Namensschild stand MISSSTEVENS. »Diese Kombinationen sind ausgesprochen vielseitig«, erklärte sie und schob den Aufsteller mit dem Plakat zur Seite, um Lily die Anziehsachen in der Auslage zu zeigen. »Die Bluse passt auch wunderbar zu diesen Röcken mit A-Linie.«

»Oh, ich – ich weiß nicht«, stotterte Lily, trat aber einen Schritt näher. Die Smokingweste war aus dunkelblauem Stoff gearbeitet, mit einem schwarz abgesetzten fallenden Revers.

Miss Stevens holte die Weste aus der Glasvitrine und legte sie darauf. »Sie lässt sich von Hand waschen. Ein sehr schickes Stück.«

Lily ließ die Finger über den perfekt gebügelten Stoff gleiten.

»Ich kann Ihnen die passende Größe zur Ankleide bringen, wenn Sie möchten«, bot Miss Stevens an.

»Lily! Da bist du ja.«

Lily zog die Hand weg und schaute auf. Ihre Mutter kam auf sie zu, die kastenförmige schwarze Handtasche über die Schulter geschlungen und mit einer blonden Verkäuferin im Schlepptau, die lauter Hemdblusen und Röcke im Arm trug.

»Ich habe ein paar Sachen zum Anprobieren gefunden«, sagte ihre Mutter. Dann warf sie einen kurzen Blick auf die Smokingweste und hob die Augenbrauen. »Was ist denn das?«

»Eine wunderbare Kollektion zum Kombinieren, Ma’am«, erklärte Miss Stevens. Sie warf der blonden Verkäuferin einen kurzen Blick zu, dann sah sie wieder Lilys Mutter an, die sich der Auslage zuwandte, um die Weste und den Werbeaufsteller zu betrachten.

»Wann würdest du so was anziehen, Lily?« Der Tonfall ihrer Mutter war knapp und kritisch.

Lily war die Situation peinlich. »Weiß nicht. Ich hab ja bloß geschaut.«

»Die ist perfekt für Partys«, sagte Miss Stevens. »Wenn Miss Marshall den Umkleideraum für Sie vorbereitet hat, kann sie Ihnen auch dieses Ensemble zur Anprobe bringen.«

Die blonde Verkäuferin – Miss Marshall – trat einen Schritt vor, mit den Blusen und Röcken im Arm und einem erwartungsvollen Gesichtsausdruck, aber Lilys Mutter schüttelte den Kopf.

»Danke, aber das ist nichts für meine Tochter. Komm mit, Lily. Ich habe dir was zum Anziehen für die Schule rausgesucht, das musst du anprobieren.«

Lily warf Miss Stevens einen entschuldigenden Blick zu, dann lief sie ihrer Mutter und Miss Marshall hinterher. Miss Stevens antwortete mit einem dünnen Lächeln, bevor sie die Weste zusammenlegte und wieder in der Auslage verstaute.

Im Umkleideraum hängte die Verkäuferin eine ganze Reihe von Kleidern, Hemdblusen, Röcken und dazu passenden Jacken auf eine an der Wand befestigte Stange. Lilys Mutter setzte sich auf ein Bänkchen an der Seite. »Zieh zuerst das braune Kleid an«, sagte sie. »Das da, das mit den schwarzen Knöpfen.«

Es war eine einzige Abfolge von braunen und grauen Kleidern und Röcken, dazu blassrosa oder babyblaue Hemdblusen aus Baumwolle, mit braven runden Kragen oder Umschlagbündchen an den dreiviertellangen Ärmeln. Eine etwas jüngere Version des Kirchenkostüms ihrer Mutter, unverfänglich, aber langweilig. Sehnsüchtig dachte Lily an die Smokingweste, doch während sie sich durch die Kleidung kämpfte, die ihre Mutter ausgesucht hatte, wirkte die Vorstellung immer abwegiger. Vielleicht hatte ihre Mutter recht. Wann sollte sie so etwas tragen? Beim Herbstball wäre es eine Sensation, aber Sensationen passten nun mal nicht zu ihr.

»Die Jacke ist zu groß«, stellte ihre Mutter fest, als sie prüfend das Kostüm betrachtete, in das Lily gerade geschlüpft war.

Die Jacke war beige und hatte einen eckigen Schnitt, Lily fand sie altmodisch. »Die gefällt mir sowieso nicht«, sagte sie.

»Du machst dieses Jahr deinen Abschluss«, erklärte ihre Mutter. »Da musst du entsprechend angezogen sein.« Sie öffnete die Tür des Umkleideraums, doch im Korridor war niemand zu sehen. »Wo ist denn die Verkäuferin?« Sie warf Lily einen Blick zu. »Warte hier. Ich bin gleich wieder da.«

Nachdem ihre Mutter verschwunden war, betrachtete sich Lily im Spiegel. Da musst du entsprechend angezogen sein. Lily wusste genau, wie ihre Mutter das meinte. Sie sollte anständig und seriös wirken. Die junge Frau im Spiegel sah wie ein Schulmädchen aus, herausgeputzt in den Sachen ihrer Mutter. Der Mund war zusammengekniffen, die Stirn in Falten gelegt, der Körper wurde von den Schulterpolstern der Jacke verschluckt. Könnte ihre Mutter sie jetzt sehen, würde sie sie ermahnen, nicht so undankbar zu sein. Sie kauften sonst so gut wie nie im Obergeschoss von Macy’s ein, höchstens wenn es einen großen Ausverkauf gab; aber jetzt war sie in der Abteilung für die junge Miss, mit der neuesten Mode, statt unten im Erdgeschoss, wo die Überbleibsel der letzten Saison als Schnäppchen verkauft wurden.

Lily dachte zurück an einen früheren Besuch bei Macy’s, als sie noch ein Kind gewesen war, höchstens neun oder zehn. Eddie hatte sich an Mamas Arm geklammert, während sie den Kinderwagen mit Baby Frankie durch die schweren Eingangstüren gehievt hatte. Es war ein Kampf gewesen, sie alle in den Aufzug und nach oben in den vierten Stock zu kriegen, wo die Weihnachtswerkstatt war. Lily erinnerte sich an die silbernen Schneeflocken an der Decke, an das Lametta auf den Schaukästen und die unzähligen Schachteln mit Spielzeugautos und Flugzeugen in den Regalen. Es gab auch eine Modelleisenbahn, die immer im Kreis um eine weihnachtlich geschmückte Ortschaft fuhr. Eddie war starr vor Ehrfurcht davor in die Knie gegangen, während es Lily zu einem Chemieset gezogen hatte, das auf einer Tischplatte aufgebaut war. Es gab einen Ständer mit Reagenzgläsern, einen winzigen Bunsenbrenner und allerhand seltsam gefärbte Flüssigkeiten in kleinen Glasampullen. Auf der Verpackung des Baukastens waren zwei Jungen zu sehen, die zusammen spielten, über ihren blonden Köpfen der Schriftzug: ENTDECKESCHONHEUTEDIEZUKUNFT!

Sie wusste nicht, wie lange sie dort gestanden hatte, in das Chemieset vertieft, doch auf einmal war ihre Mutter aufgetaucht, mit Eddie und Frankie im Schlepptau und vollkommen aufgelöst. Wo sie denn die ganze Zeit gewesen sei? Und was sie überhaupt hier tue? Lily hatte auf den Chemiebaukasten gezeigt und gefragt: »Kann ich den zu Weihnachten haben?«

Ihre Mutter hatte sie einen Moment lang gemustert und dann gesagt: »Möchtest du nicht lieber eine Puppe?«

Für Trotzanfälle war Lily damals schon zu alt gewesen, aber irgendetwas an der Reaktion ihrer Mutter machte sie furchtbar wütend. Sie ballte die Hände zusammen und verkündete: »Ich will keine Puppe!«

Das Gesicht ihrer Mutter verhärtete sich. Lily sah, wie ihre Hand zuckte, als wollte sie zuschlagen, doch dafür hätte sie Frankie und Eddie loslassen müssen. Stattdessen schnauzte sie: »Himmel noch mal, wir sind bei Macy’s. Sei still.«

Der scharfe Ton ihrer Mutter war für Lily so unerwartet gewesen, dass sie in Tränen ausgebrochen war.

Jetzt ging die Tür der Umkleide wieder auf und ihre Mutter kehrte zurück, zusammen mit Miss Marshall und zwei anderen Jacken. »Probier die hier an«, sagte ihre Mutter und gab ihr eine in einer kleineren Größe.

Lily tat, was ihre Mutter verlangte. Die kleinere Jacke passte ihr viel besser. Nachdem sie sie zugeknöpft hatte, lag sie um die Taille herum an, wie sie sollte, statt ihr sackförmig bis auf die Hüften zu hängen. Ihre Mutter zupfte an der Jacke, bis sie perfekt saß. Über die Schulter ihrer Mutter hinweg beobachtete Lily, wie Miss Marshall sorgsam ein einzelnes schwarzes Haar vom Revers der größeren Jacke zupfte und es unauffällig zu Boden fallen ließ.

»Viel besser«, verkündete Lilys Mutter und trat einen Schritt zurück, sodass Lily die Verkäuferin nicht mehr sehen konnte. Ein ungewohnter Ausdruck lag auf dem Gesicht ihrer Mutter und Lily brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass sie zufrieden war. » «3, sagte sie auf Kantonesisch. » .«4

Lily wandte sich wieder zum Spiegel. Sie sah ein chinesisches Mädchen in einem farblosen Kostüm – das Gesicht leer, ohne eigenen Ausdruck, ein bisschen langweilig. Anständig. Das Wort kam ihr so korrekt und unbeweglich vor wie ein stabiler Karton, in allen vier Ecken gleich schwer beladen. Ein anständiges Mädchen konnte man leicht einordnen; ihre Ziele waren klar. Sie wollte einen College-Abschluss, einen Ehemann, ein schönes Zuhause und liebenswerte Kinder, und zwar in exakt dieser Reihenfolge. Lily nahm das angespannte Lächeln ihrer Mutter wahr, die offenbar deutlich die Anwesenheit der Verkäuferin spürte, und plötzlich begriff sie, warum die Mutter für den Besuch bei Macy’s extra ihr Kirchenkostüm angezogen hatte. Egal wie scheußlich es sein mochte, es drückte ihr Bemühen um Anständigkeit aus. Ihre Mutter war eine durch und durch amerikanische Ehefrau und Mutter, keine Chinapuppe im Cheongsam, die man in den Aufzug abschieben konnte.

»Das wirkt seriös, aber auch sehr damenhaft«, sagte Miss Marshall. »Soll ich die Rechnung gleich fertig machen?«

4

Dieses Schuljahr sollt ihr nutzen, um eure Ziele zu klären, euch selbst besser kennenzulernen und herauszufinden, was ihr nach dem Highschool-Abschluss mit eurem Leben anfangen wollt«, verkündete Miss Weiland, die vorne im Klassenzimmer vor der Tafel stand. Sie war zierlich, ihr herzförmiges Gesicht war von hellbraunen Locken umrahmt und außerdem war sie auch noch die jüngste Lehrerin im Kollegium. Das führte dazu, dass gut die Hälfte der Jungen in der Klasse in sie verknallt war. Heute trug sie einen karierten grauen Bleistiftrock und eine eng anliegende pinke Bluse, die ihre Kurven derart betonte, dass Lily schon einige gemurmelte Kommentare zu ihrer Figur mitbekommen hatte.

Alle Schüler der Abschlussklasse mussten den Senior-Year-Orientierungskurs belegen, der entweder von Mr Stevenson oder Miss Weiland geleitet wurde – Mr Stevenson hatte den Ruf, den Mädchen nachzustellen, daher war Lily froh, bei Miss Weiland gelandet zu sein. Offiziell sollte der Kurs sie auf das Leben nach der Highschool vorbereiten, aber allgemein wurde es eher so gesehen, dass man dort mühelos gute Noten bekam und die meiste Zeit irgendwelche Filme über Partnersuche und gutes Benehmen anschaute.

»Es gibt drei Lerneinheiten«, erläuterte Miss Weiland. »Persönliche Entwicklung und Familienleben, Start in den Beruf und Verbraucherbildung. Heute machen wir erst einmal eine Bestandsaufnahme. Ihr bildet Vierergruppen und diskutiert ein paar Fragen, die ich an die Tafel schreibe. Immer vier Leute in einer Sitzreihe arbeiten gemeinsam. Schiebt schon mal die Stühle zurecht.«

Überall scharrten Stuhlbeine über den Boden, als die Viererteams zusammenkamen. In Lilys Gruppe waren Will Chan, der vor ihr saß, Shirley direkt hinter ihr und Kathleen Miller, die den Platz hinter Shirley hatte. Lily, Shirley und Will kannten sich schon von Kindheit an, sie waren zusammen in der Grundschule gewesen. Kathleen war erst seit wenigen Jahren in ihrer Klasse, wirklich mit ihr angefreundet hatten sie sich nie. Sie passte nicht recht in ihren Kreis: Lilys enge Freunde kamen alle aus Chinatown, Kathleen dagegen war weiß. Andererseits waren Lily und Kathleen schon seit der achten Klasse im selben Mathekurs und Lily hatte sie immer nett gefunden – nett, still und schlau.

Während sie ein Stück zur Seite rutschte, um Kathleen Platz zu machen, bekam sie mit, wie Will und Hanson Wong aus der Gruppe neben ihnen sich vielsagend angrinsten. Die beiden Jungen warfen ziemlich eindeutige Blicke nach vorne, wo Miss Weiland mit dem Rücken zu ihnen stand und die Fragen an die Tafel schrieb. Als sie die Hand hob, rutschte ihre Bluse aus dem Rockbund und die Abnäher des Rocks lenkten Lilys Blicke über die Rundung ihres Pos und die Beine bis ganz nach unten. Sie trug Nahtstrümpfe und direkt über ihrer Ferse prangte eine kleine Verzierung in Diamantenform.

»Hör auf zu glotzen«, zischte Shirley.

Schuldbewusst zuckte Lily zusammen, doch dann wurde ihr klar, dass Shirleys scharfes Wispern an Will gerichtet war. Der schaute Shirley mit einem betont unschuldigen Lächeln an. Lily ließ den Blick auf ihr Notizheft sinken, nahm ihren Bleistift und versuchte so zu tun, als hätte sie nichts mitbekommen.

»Okay, das sind also die Dinge, die ihr miteinander bereden sollt«, erklärte Miss Weiland. »Was war euer Kindheitstraum? Wovon träumt ihr heute? Und welche Schritte könnt ihr unternehmen, um euren Traum wahr werden zu lassen? Bestimmt eine Person aus der Gruppe, die die Leitung übernimmt und am Ende der Stunde euer Gespräch für alle zusammenfasst. Ihr habt zwanzig Minuten Zeit, über die Fragen zu sprechen, dann tragen wir die Ergebnisse aus den Gruppen zusammen. Ich gehe an jedem Tisch vorbei und schaue, wie ihr vorankommt.«

Sofort brach im Klassenzimmer wildes Gerede aus. Shirley schlug ihr Notizheft auf und sagte: »Will, du übernimmst die Leitung, das ist klar.«

»Okay, ich fass dann alles zusammen.«

Auch Kathleen hatte ihr Heft herausgeholt und schrieb die Fragen gewissenhaft von der Tafel ab.

»Ich finde, die Notizen sollte Lily machen«, sagte Shirley. »Sie hat die beste Handschrift.« Kathleens Stift blieb kurz in der Luft hängen, dann legte sie ihn weg.

»In Ordnung«, stimmte sie zu.

»Gut«, sagte Lily. »Wer fängt an? Erst mal Kindheitsträume, oder?«

»Ich wollte Basketballspieler werden«, sagte Will.

»Und ich Filmstar«, erklärte Shirley, lehnte sich zurück und tätschelte ihre Haare. Letzte Woche hatte sie sich in einem Salon in Chinatown eine Dauerwelle machen lassen und war furchtbar stolz auf ihre Locken.

Will grinste. »Du passt perfekt nach Hollywood.«

Shirley war geschmeichelt. »Weil ich schön bin?«

»Weil du immer so ein Drama machst«, sagte Lily und Will lachte.

»Na ja, ich weiß jedenfalls, was dein Traum war!«, gab Shirley zurück.

»Was denn?«

»Wolltest du nicht zum Mond? Was für ein komischer Wunsch!«

»Wieso denn komisch?«, wehrte sich Lily etwas verletzt. »Ja, ich wollte zum Mond. Will ich immer noch. Du nicht?«

»Garantiert nicht«, sagte Shirley. »Was soll ich denn da?«

»Ich würde schon gern hin«, warf Kathleen ein.

Überrascht drehten sich alle zu ihr und sahen sie an, während sie Shirley anschaute.

»Aha, also war das auch dein Traum?«, fragte Shirley mit einem Hauch von Herablassung in der Stimme. »Schreib das auf, Lily, für den Bericht.«

»Nein, ich wollte als Kind immer Amelia Earhart sein. Aber das mit dem Mond ist ein toller Traum.«

»Bist du denn schon mal geflogen?«, fragte Lily.

»Ja. In der achten Klasse durfte meine Wing-Scout-Gruppe einmal fliegen. Wir waren nicht besonders lange in der Luft – wir mussten uns ja abwechseln –, aber es war der Wahnsinn.« Kathleens Gesicht leuchtete vor Begeisterung.

»Wie ist das gewesen?«, fragte Lily. »Hast du Angst gehabt?«

Kathleen lächelte. »Am Anfang schon ein bisschen, aber als wir oben waren, hat das aufgehört. Da gibt es einfach zu viel zu sehen!«

Lily hätte gern nachgehakt – sie wollte alles über den Flug wissen –, doch Shirley sagte: »Lass uns weitermachen. Wir haben bloß zwanzig Minuten. Das Nächste ist der Traum von heute. Will? Was ist mit dir?«

Kathleens Lächeln verschwand. Lily warf Shirley einen kritischen Blick zu, aber die schaute jetzt Will an.

»Na ja, Basketballspieler will ich jedenfalls nicht mehr werden, das ist Kinderkram. Ich werde Rechtsanwalt. Willst du denn immer noch zum Film?«

Shirley lachte verlegen. »Red keinen Unsinn. Ich möchte heiraten und Kinder kriegen, ist doch klar.« Sie sah Lily an. »Du bist dran. Was möchtest du später am liebsten tun?«

Lily war unsicher, ob Shirley sie herausfordern wollte oder nicht. Ihr Tonfall klang höflich interessiert, aber wenn sich Shirley so anhörte, steckte meistens irgendwas dahinter. »Na ja, ich hätte nichts gegen einen Job wie den von meiner Tante Judy«, sagte sie zögernd und erklärte an Kathleen gewandt: »Die arbeitet für das Jet Propulsion Laboratory. Da werden Flugkörper entwickelt und so.«

»Wirklich?« Kathleens Miene hellte sich wieder auf. »Was macht sie denn da?«

»Mathematische Berechnungen. Die entwerfen dort Raketen – meine Tante nicht, aber die Ingenieure.«

»Hast du dann Mathe für Fortgeschrittene bei Mr Burke?«, wollte Kathleen wissen. »Gleich in der nächsten Stunde?«

»Ja, du auch?«

»Klar. Angeblich bekommt bei dem immer nur eine einzige Person im ganzen Kurs eine Eins.« Kathleen lehnte sich zurück und zeigte mit ihrem Stift auf Lily. »Garantiert bist das du.«

»Nie im Leben. Wenn das Gerücht stimmt, kriegt bestimmt Michael Reid –«

»He, ihr kommt ja total vom Thema ab«, unterbrach sie Shirley. »Was war noch mal die dritte Frage? Ach ja, Schritte, um den Traum wahr werden zu lassen.«

»Aber Kathleen hat noch gar nicht gesagt, was ihr aktueller Traum ist«, wandte Lily ein.

Shirleys Miene verhärtete sich. »Dann mach schon, Kathleen. Was ist dein aktueller Traum?«

Kathleen hob die Augenbrauen wegen der Ungeduld in Shirleys Ton, sagte aber nichts dazu. »Ich will immer noch Pilotin werden.«

»Und was willst du tun, damit dein Traum wahr wird?«, fragte Shirley.

»Na ja, der erste Schritt ist klar: aufs College gehen und einen Abschluss in Luftfahrttechnik oder Ingenieurwesen machen. Der zweite Schritt –«

»Du und aufs College? Das wird ja wohl nichts«, sagte Shirley.

Lily war schockiert über ihre Freundin. Was war bloß in sie gefahren? Aber Kathleen wirkte nicht besonders überrascht. Mit einem feinen Lächeln gab sie zurück: »Die Cal nimmt alle, die zu den besten fünfzehn Prozent in ihrem Jahrgang zählen. Ich werde damit kein Problem haben. Lily auch nicht. Aber du bist dafür ja nicht so der Typ.«

Shirley lief rot an, doch bevor Lily irgendetwas tun konnte, um die Situation zu entschärfen, tauchte Miss Weiland bei ihrer Gruppe auf. Freundlich lächelnd fragte sie: »Wie kommt ihr zurecht? Gibt’s irgendwelche Fragen?«

»Alles in Ordnung«, antwortete Kathleen. »Lily schreibt alles genau mit und Will trägt nachher die Ergebnisse vor.«

»Das hör ich gerne«, sagte Miss Weiland. »Schön, dass ihr so gut zusammenarbeitet.«

Nachdem Miss Weiland zur nächsten Gruppe weitergegangen war, saßen die vier erst mal einen Moment lang still da. Will wirkte ziemlich erschüttert, Shirleys Gesicht war immer noch tiefrot. Kathleen war die Einzige, die gelassen erschien. Lily selbst war seltsam aufgeregt, fast begeistert. Noch nie hatte sich irgendwer so gegen Shirley behauptet.

Nach der Schule passte Shirley Lily bei deren Schließfach ab und fragte: »Was machst du am Samstag?«

»Weiß nicht. Warum?«, fragte sie, während sie ihre Tasche packte.

Shirley lehnte sich an die Wand. »Will hat uns zu einem Picknick im Golden Gate Park eingeladen. Hanson und Flora sind anscheinend auch dabei. Du solltest mitkommen.«

»Ich muss lernen«, versuchte Lily sich herauszuwinden. In ihrem Mathekurs waren Kathleen und sie die einzigen Mädchen, und nach Lilys Eindruck ging ihr Lehrer davon aus, dass sie es sowieso nicht schaffen würden. Sie wollte ihm unbedingt das Gegenteil beweisen.

»Das kannst du doch vor dem Picknick machen. Komm schon, ich will da nicht allein hin.«

»Du hast doch gerade gesagt, Hanson und Flora sind auch dabei.«

Shirley machte einen Schmollmund. »Wenn wir nur zu viert sind, bildet sich Will ein, das wäre ein Pärchending oder so. Du musst mitkommen.«

Shirley war schon immer fordernd gewesen, sie hatte eine fast jungenhafte Art, sich durchzusetzen. Manchmal fühlte sich Lily geschmeichelt, dass Shirley so unnachgiebig war – als wäre sie die einzige Freundin, auf die es ankam –, aber heute funktionierte diese Methode bei ihr nicht.

Auf einmal hakte sich Shirley bei ihr unter und drückte sie verschwörerisch an sich. »Lily, du musst einfach kommen. Ich hab Will schon gesagt, dass du dabei bist. Irgendein Kulturverein von seinem Bruder richtet das Picknick aus – wir müssen gar nichts machen, nur Will Gesellschaft leisten.«

»Also seid ihr gar nicht nur zu viert«, stellte Lily fest.

Shirley sah sie flehentlich an. »Bitte komm mit. Ohne dich macht es keinen Spaß.«

Lily seufzte, aber noch während sie so tat, als wäre sie ernsthaft entnervt, spürte sie, wie sich eine kribbelnde kleine Vorfreude in ihr breitmachte, die nicht zu ihrem Ärger passte. »Na gut, dann komm ich halt mit.«

Begeistert drückte Shirley ihren Arm. »Wunderbar! Dann hol ich dich Samstag um kurz vor zwölf ab und wir gehen zusammen hin. Jetzt muss ich los, zur Schülervertretung. Gehst du gleich nach Hause?«

»Ja, ich –«

»Alles klar, wir sehen uns morgen!«

Lily schaute Shirley hinterher, wie sie durch den Gang davonlief. Hinten bei der Pokalvitrine fiel ihr Blick auf eine Gestalt, die wohl Kathleen Miller sein musste. Da kam ihr die Idee, dass sie ja gemeinsam Mathe lernen könnten. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen und eilte in Richtung Vitrine, aber als sie dort ankam, war von Kathleen weit und breit nichts mehr zu sehen.

5

Lily und Eddie trafen sich fast jeden Morgen an der Kreuzung Grant Avenue und Washington Street mit Shirley und ihrem jüngeren Bruder, um gemeinsam zur Schule zu gehen. Ein Stück weiter, beim Dupont Market, sammelten sie Hanson und Will ein, eine Straßenecke weiter nördlich stießen Flora und Linda Soo zu ihnen. Bis sie am Broadway ankamen, waren sie eine ganze Gang und steuerten wie bei der Chinatown-Parade gemeinsam auf die Columbus Avenue zu. Die Jüngeren bogen dort zur Junior High ab, die Älteren liefen Richtung Westen durch Russian Hill zur Galileo-Highschool.

Lily ging gern mit ihren Freunden zur Schule, doch insgeheim mochte sie den Rückweg, den sie meist allein zurücklegte, noch mehr. Dann konnte sie die stillen Seitenstraßen nehmen und ab und zu stehen bleiben, um die schöne Aussicht zu genießen. Heute stieg sie die Treppen von der Chestnut Street hoch zum Russian Hill. Oben blieb sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und drehte sich zum Presidio hin. Sie hatte schon immer gefunden, dass diese Stadt irgendwie magisch war mit ihren steilen Treppen und dem Blick auf die Bucht, die zwischen den hohen Gebäuden oft ganz unerwartet auftauchte. San Francisco wirkte so weitläufig und verheißungsvoll, jede halb versteckte Lücke zwischen den Häusern war wie ein Hinweis darauf, dass es in ihrem Heimatort immer neue Geheimnisse zu entdecken gab.

Sie setzte ihren Weg über die Larkin und die Lombard Street fort, bis sie von den Touristen verschluckt wurde – hier in diesem am stärksten gewundenen Straßenabschnitt waren sie in Massen zu finden und machten unentwegt Schnappschüsse vom Coit Tower, wie er in der Ferne oben auf dem Telegraph Hill thronte. Der Anblick erinnerte sie an die Anzeige vom Telegraph Club, die sie den ganzen Weg die Columbus Avenue runter bis zur Ampel am Broadway nicht mehr aus dem Sinn bekam.

Der Club musste ganz in der Nähe sein, auf der linken Seite. Von hier aus sah sie ihn nicht, aber wenn sie die Kreuzung überquerte und ein bisschen weiterging, käme sie vielleicht daran vorbei. Schon der Gedanke reichte, um ihren Herzschlag zu beschleunigen, und sie wollte gerade diese Richtung einschlagen, als ihr der Thrifty Drug Store ins Auge fiel, ein Stück weiter die Columbus Avenue entlang, am Café Vesuvio vorbei. Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass ihr noch ein bisschen Zeit blieb, bis Frankie aus der chinesischen Schule kam. Als die Ampel grün wurde, lief sie eilig über die Kreuzung.

Irgendwann im letzten Jahr war Lily zum ersten Mal in diesem Laden gewesen. Sie war reingehuscht, um eine Packung Binden zu besorgen, denn sie wollte sie nicht in einer Drogerie in Chinatown kaufen, wo sie womöglich jemanden treffen würde, den sie kannte. Thrifty’s lag einen Tick außerhalb ihres Viertels, ihre Freunde gingen normalerweise nicht dorthin. Außerdem hatte sie festgestellt, dass Thrifty’s den chinesischen Drogerien auch in anderer Hinsicht überlegen war: Es gab dort eine große Auswahl von billigen Taschenbüchern. Die Bände standen in mehreren Drehständern in einem kleinen Nebenraum direkt beim Regal für Monatshygiene. In einem Ständer gab es Thriller mit reißerischen Covern, auf denen spärlich bekleidete Frauen in den Armen dunkelhäutiger Männer zu sehen waren. Normalerweise ging Lily an dieser Drehsäule vorbei, aber heute blieb sie stehen, gepackt von der Abbildung auf einem Buch namens ›Das Blutschloss‹. Über dem üppigen Busen einer blonden Frau spannte sich ein rotes Kleid, das kurz vorm Wegrutschen schien, ihre Brustwarzen zeichneten sich durch den dünnen Stoff deutlich ab.

Im Nebenraum mit den Büchern war fast nie irgendwer, trotzdem drehte Lily den Ständer schnell weiter und versteckte sich dahinter, damit niemand sie entdeckte. Die Frauen auf diesen Büchern schienen alle ein Problem mit ihren Kleidern zu haben. Männer lauerten bedrohlich hinter ihnen, umfassten sie mit ihren muskulösen Armen und bogen die Frauen nach hinten, sodass deren Brüste sich in die Höhe reckten.

Irgendwas an diesen Abbildungen war verstörend – und das lag nicht an den anzüglichen Blicken der Männer, sondern an den biegsamen Frauenkörpern, ihren nackten Beinen und fülligen Brüsten, ihren Mündern, die bonbonrot glänzten. Auf einem Einband waren gleich zwei Frauen abgebildet, eine Blonde und eine Brünette. Die Blonde trug ein pinkes Negligé und kniete schüchtern auf dem Boden, mit niedergeschlagenen Augen, während hinter ihr die wohlgeformte Brünette aufragte. Das Buch hieß ›Sonderbare Zeiten‹ und der dazugehörige Slogan lautete: »Den widernatürlichen Neigungen ihres Herzens konnte sie nicht entkommen.«