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In diesem New-Adult-Roman trifft deutsche auf lettische Kultur und Realismus vermischt sich mit Fantasy. Eine Coming-of-Age-Geschichte für alle, die irgendwann daheim ausgezogen sind. Mia, Lucy und Daniel haben bis auf ihre Familie und ihre Superkräfte wenig gemeinsam. Nur die Tatsache, dass es nicht so richtig läuft bei ihnen – keine Wohnung, keine Ausbildung, keine konkreten Zukunftspläne. Was passt da besser als ein Auslandspraktikum? Die Familie hat schließlich Kontakte in Lettland. Job, Wohnung und finanzielle Unterstützung inklusive. Doch bald merken die drei, dass man auf eigenen Füßen am besten steht. Leider bedeutet Unabhängigkeit auch Herausforderungen, auf die niemand vorbereitet ist. Zum Beispiel, dass das Leben auf einmal eine fremde Sprache spricht. Und wie soll man herausfinden, was man will, solange man im Ausland festsitzt?
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Seitenzahl: 271
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Stephanie K. Foster
Latvijā
Eine Geschichte vom
Fliegenlernen
Urban Fantasy
Texte: © 2025 Stephanie K. Foster
Umschlaggestaltung: © 2024 Jenny Grams
Lektorat: Alina Schüttler (Lektorat Kalliope)
Korrektorat und Satz: Stephanie K. Foster
Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
1. Auflage
Herausgeber:
Stephanie K. Foster
c/o Anna Schlichting
Holzgünzer Straße 10
87781 Ungerhausen
Hinweis:
Am Ende dieses Buches gibt es ein Glossar.
»Wie kannst du sagen, wer du bist,
wenn dir jeder sagt, wer du zu sein hast?«
Aus dem Buch »Schamlos« von Amina Bile, Sofia Nesrine Srour und Nancy Herz; aus dem Norwegischen übersetzt von Maike Dörries.
»… deshalb hab ich dieses Tutorial für euch gemacht«, sagte die junge Frau auf dem Bildschirm. »Holländische Zöpfe flechten ist eigentlich überhaupt nicht schwer.«
Daniel griff an seiner Schwester vorbei nach der Maus und stoppte das Video. »Und wir sind uns absolut sicher, dass ich das machen muss?«
Lucy zupfte an ihrem fransigen Pony, der mit den Spitzen an den Rahmen ihrer Brille stieß. Sie musste dringend jemanden bitten, ihn nachzuschneiden. »Ich hab mir in meinem ganzen Leben noch nie ordentlich die Haare geflochten. Das ist bei mir genetisch nicht angelegt.« Sie drückte auf die Leertaste und das Video lief weiter.
»Haarbürste«, sagte Daniel resigniert.
Lucy reichte sie ihm. »Haarbürste.«
Eine knappe Stunde später ließ er sich rückwärts auf Lucys Bett fallen. »Fertig! Jetzt leg dich bloß nicht mehr hin bis zum Essen.«
Jemand klopfte an der Tür. »Lucy?«
»Ja?«, rief Daniel.
»He, du bist nicht Lucy!« Die Tür ging auf und einer der Cousins steckte den Kopf herein. »Wir essen in einer halben Stunde, kommt ihr? Oh, schicke Haare übrigens!«
»Danke«, sagte Lucy. »Die hab ich schon immer.«
Er schlug sich an die Stirn und ließ die beiden allein.
Erst jetzt fiel Lucy auf, dass sie noch ihren Schlafanzugpulli trug. »Hoppla.«
Ihr Bruder warf ihr einen warnenden Blick zu. »Pass bloß auf die Zöpfe auf.«
* * *
Der Saal war voll mit Leuten, von denen Lucy nicht einmal die Namen kannte. »Und so was nennt sich Familientreffen«, murmelte sie.
Daniel zeigte auf den großen fünfzackigen Stern, der an einer Wand hing. Eine der Zacken war mit aufgemalten Blumen geschmückt, die nächste zierte eine Libelle, auf einer anderen prangte ein Symbol für Wasser und die letzten beiden zeigten Flammen und Eiskristalle. »Hey, woran erkennt man unsere Verwandten? Sie kritzeln ihre komischen Pentagramme überallhin.«
»Das ist nicht mal lustig, so tragisch ist es«, sagte Lucy trocken. »Ich geh mir Kuchen holen.«
Daniel folgte ihr. »Warum machen die das Kuchenbüfett vor dem Essen auf, hat ihnen keiner gesagt, dass du auch kommst?«
»He!«
»Ich mein ja nur, da ist bis zum Nachtisch nichts mehr übrig – aua!« Lucy hatte ihm den Ellenbogen in die Rippen gestoßen. »Was denn?«
Sie zeigte auf eine junge Frau in der Nähe des Kuchenbüfetts, die als Einzige viel zu weite Kleider trug. Auf dem Kopf hatte sie statt der aufwendigen Flechtfrisur eine Baskenmütze. »Ist das die Youtuberin von vorhin?«
»Glaub ich nicht, die muss mittlerweile viel älter sein als wir. Vielleicht ist es die kleine Schwester oder so.«
»Was meinst du, Schwester oder Cousine?«
Die »Cousins« waren alle, die mit dem Patriarchen Corleone blutsverwandt waren. Alle anderen nannten sich »Geschwister im Geiste« und waren von Familienmitgliedern adoptiert worden. Die meisten von ihnen hatte man aus Kinderheimen und ähnlichen Einrichtungen aufgesammelt, damit sie die Kontakte der Familie nutzen konnten. Das Netzwerk um den Patriarchen war dadurch so gewachsen, dass es sich heute über ganz Deutschland zog.
»Cousine«, sagte Daniel sofort. »Geschwister würden sich nie trauen, so rumzulaufen. Obwohl wir krass in der Mehrheit sind! Wo sind unsere Privilegien?«
Lucy nahm sich einen Teller. »Ist sie auch allein da, so wie wir?«
Für ihren Bruder war die Antwort offensichtlich, denn die angebliche Cousine hielt ein Baby auf dem Arm. »Wenn das ihr Kind ist, wird sie wohl nicht ganz allein da sein.«
»Dann muss sie aber ziemlich früh geheiratet haben.«
»Mysteriös.«
»Willst du Apfel- oder Birnenkuchen?«
* * *
Das Essen dauerte ewig. Gefühlt zumindest. Lucy und Daniel saßen an einem Tisch zwischen lauter Leuten, die alle mit ihren Eltern und jüngeren Geschwistern da waren. Außer ein paar gezwungenen Gesprächsversuchen passierte nichts. Die beiden fragten sich schon, ob man sie nur zum Essen eingeladen hatte.
Bis alle beim Nachtisch waren, wurde am Tisch gesessen und die Teller angestarrt. Erst dann stand Corleone auf.
»Brüder und Schwestern, Cousins und Cousinen«, begann er seine Ansprache. »Ihr wisst wahrscheinlich, was jetzt kommt. Alle, die demnächst 21 werden, stellen sich bitte der Reihe nach vor. Wir fangen einfach hier vorne am ersten Tisch an.«
»Willkommen auf dem Heiratsmarkt«, murmelte Lucy.
»Es gibt überhaupt keinen Grund, sich jetzt unter Druck gesetzt zu fühlen«, fuhr Corleone fort, was wohl beruhigend wirken sollte. »Niemand erwartet von euch, dass ihr euch gleich verlobt oder heiratet. Hier geht es nur darum, dass ihr euch mit Gleichaltrigen austauschen könnt.«
»Mit genau 21«, höhnte Daniel so leise, dass der Patriarch ihn nicht hören konnte. »Man kennt es.«
Offiziell war eine Verlobung zwar keine Pflicht, aber wer mit 25 nicht verlobt war, wurde trotzdem von allen möglichen Verwandten unter Druck gesetzt. War jemand mit 30 noch Single, konnte er sich auf ein Leben ohne die Unterstützung der Familie einstellen.
Ein dünner rothaariger Typ, der neben Corleone saß, machte den Anfang. »Hi, ich bin Maurice. Ich studier BWL mit Schwerpunkt Marketing Management in München und nebenher arbeite ich im Drogeriemarkt. Ich hab verschiedene Elektrokräfte, ist schwierig zu erklären …«
Was alle in der Familie verband, waren ihre das gewöhnliche Maß übersteigenden körperlichen Fähigkeiten, wie es in Behördensprache hieß – umgangssprachlich: Superkräfte. Wer diese Kräfte besaß, vererbte sie an die nächste Generation. Es kam auch vor, dass sie zufällig bei den Kindern Normalbegabter auftauchten. Das klang aufregend, aber für die Familienmitglieder gehörte es zum Alltag. Mehr noch – kaum einer konnte gut mit seiner Superkraft umgehen.
Daniel schaute aus dem Fenster und Lucy spielte mit einem Haargummi, während sich noch einige weitere Zwanzigjährige vorstellten und von ihren Jobs, Ausbildungen, teuren Studienplätzen und den verschiedensten Superkräften erzählten. Große Lust, jemanden kennenzulernen, hatten die beiden nicht.
Spannend wurde es erst, als das Mädchen mit der Baskenmütze aufstand. »Hallo zusammen, ich bin Mia. Wahnsinnig kreativer Name, ich weiß, aber ich bin die Jüngste von acht Geschwistern und meinen Eltern sind wohl die Ideen ausgegangen. Ich war nur zwei Jahre auf der Klosterschule, die kennt ihr ja alle, danach bin ich aufs städtische Gymnasium gegangen und hab Abitur gemacht. Was kann ich noch erzählen … Ihr habt wahrscheinlich vom Russlandkrieg gehört. Der ist mittlerweile vorbei, meine Geschwister sind alle, na ja, gefallen – jetzt bin eben ich noch da. Offensichtlich. Ich wohne allein, in dem großen Haus an der Hauptstraße, kennt ihr vielleicht, und im Moment arbeite ich unter der Woche in der Wäscherei und nebenher als freiberufliche Illustratorin. Meine Superkraft sind meine Ohren, ich hör wirklich alles – irgendjemand hat übrigens seinen Wecker nicht ausgemacht, der klingelt da oben schon seit fünf Minuten.«
Bei diesem Satz stutzte Daniel. Dann sprang er auf und lief aus dem Raum.
Jeder in der Familie wusste, dass es zwei offizielle Kategorien für Superkräfte gab: Fähigkeit und Behinderung. Über die Zuordnung entschieden im Einzelfall die zuständigen Beamten. Erfahrungsgemäß konnte Mia in beiden Kategorien landen, doch Lucy hätte wetten können, dass man der Cousine ohne Weiteres eine Behinderung mit allen Zusatzversicherungen anerkannt hatte.
Das Baby zog an dem Davidstern an Mias Halskette. Mia nahm ihm den Anhänger vorsichtig weg und gab ihm stattdessen eine Stoffblume aus der Tischdekoration. »Übrigens gehört das Kind nicht zu mir, sondern zu meinem Onkel, keine Sorge. Dir ist klar, dass man seine Verwandten nicht als unbezahltes Kindermädchen verpflichten darf, oder?« Mit einem kritischen Blick zu Corleone setzte sie sich wieder hin.
Nach ihr stellten sich die anderen Zwanzigjährigen reihum vor. Gerade als der letzte fertig war und wieder auf seinem Platz saß, kam Daniel zurück. Alle Augen im Saal wanderten zu ihm.
»Du kannst eigentlich gleich stehen bleiben«, sagte Corleone.
Daniel machte ein verwirrtes Gesicht. »Wer, ich? Warum?«
»Ich möchte, dass du dich bei der Gelegenheit auch vorstellst. Wie heißt du, was machst du …?«
»Ja. Ähm. Ich bin Daniel … und soweit ich weiß, bin ich erst 19, also weiß ich nicht genau, was ich hier soll. Meine Eltern, na ja, sind heute nicht da … ich war bis zur zehnten Klasse in der Klosterschule … und ich kann ziemlich schnell laufen, so fünfzig, fünfundfünfzig schaff ich normalerweise. Also nicht hier im Haus, aber draußen.«
Corleone bedeutete ihm, sich zu setzen. »Lucy, du auch, bitte.«
»Okay …?« Ruckartig stieß sie ihren Stuhl zurück und stand auf. »Hi, ich bin Lucy, auch 19, Daniels Schwester, ich hab auf der Klosterschule meinen Abschluss gemacht und weiß noch nicht genau, welche Ausbildung ich machen werde. Hab aber keine Ambitionen, da als Lehrerin anzufangen.«
»Möchtest du uns sonst noch etwas sagen?«, fragte Corleone freundlich.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich wüsste nicht, was.«
Corleones Lächeln wurde etwas angestrengt. »Doch, ich bin mir sicher, da ist noch mehr.«
»Also gut …«, sie überlegte kurz, »ich bin Nichtraucher, mag Kuchen total gern, ich hab noch keinen Führerschein und hör gern The Offspring.« Damit setzte sich Lucy wieder hin. »Das war’s von mir.«
»Er meint deine Wasserkraft!«, flüsterte eine Schwester von Lucys rechter Seite, während sich zwei weitere Geschwister oder Cousins vorstellten.
»Weiß ich!«, gab Lucy zurück. »Ich bin ja nicht vollkommen bescheuert. Denkst du, ich blamier mich vor allen Leuten mit meiner Kraft, mit der ich nichts anfangen kann?«
Es war nichts Besonderes, dass sie kaum einen Tropfen Wasser mit der Kraft ihrer Gedanken bewegen konnte. So viel bürokratischen Aufwand eine Superkraft mit sich brachte, so klein war das Interesse daran, sie wirklich zu nutzen. Im ganzen Landkreis gab es kein einziges Trainingsprogramm für Jugendliche. Hätte Lucy die Wahl gehabt, sie hätte ihre Wasserkraft sofort gegen eine bessere Sehstärke eingetauscht.
»… die beiden haben nämlich im September vor zu heiraten«, verkündete der Patriarch jetzt.
Die Begeisterung, gerade unter den jungen Erwachsenen, hielt sich in Grenzen. Bloß nicht zu enthusiastisch schauen, sonst erwischt es dich als Nächstes, war die Devise.
»Und es freut mich, dass ich es jetzt auch öffentlich machen kann – sie werden in das große Haus an der Hauptstraße ziehen!«
»Einspruch!« Mia schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Das Baby fing an zu jammern. Der Cousin neben ihr nahm ihr das Kind ab und ging mit ihm nach draußen. »Wann wolltet ihr mich eigentlich fragen? Ich kann absolut keine Untermieter brauchen.«
Corleone blieb ruhig. »Mia, zu dir kommen wir jetzt. Wie du weißt, bin der Eigentümer dieses Hauses immer noch ich. Die schriftliche Kündigung müsste in deinem Briefkasten liegen. Bis Mitte September bist du umgezogen.«
Mia verschränkte die Arme. »Schon mal von gesetzlicher Kündigungsfrist gehört?«
»Du meinst die Kündigungsfrist, auf die deine älteste Schwester ausdrücklich verzichtet hat, als sie den Vertrag unterschrieben hat.«
»Ah, du meinst die Schwester, die seit zwei Jahren tot ist«, konterte Mia. »Wahre Geschichte. Ich hab die Beerdigung organisiert.«
»Die Beerdigung, nach der du den exakt gleichen Vertrag unterschrieben hast?«
»Ernsthaft?« Mia stand so abrupt auf, dass ihr Stuhl umfiel. »Du bist so ein mieses Schwein, Corleone.« Ohne sich um den Stuhl auf dem Boden zu kümmern, drehte sie sich um und ging. Sie ging langsam und gefasst, als verließe sie aus Protest eine politische Veranstaltung. Als hätte sie nicht gerade ihre Wohnung verloren. An der Tür blieb sie kurz stehen. »Im Ernst, Leute. Sucht euch eine andere Wohnung. Wenn ihr wisst, was gut für euch ist, geht morgen früh los und sucht euch irgendeinen anderen Vermieter. Irgendeinen.«
Als sie weg war, blickten sämtliche Cousins und Geschwister zwischen der Tür und Corleone hin und her.
Der seufzte unmerklich. »So kann man das Problem natürlich auch lösen. Lucy, Daniel, für euch haben wir etwas Besonderes. Die Familie in Lettland – Christoph lebt dort – «
»Muss ich den kennen?«, murmelte Daniel, während Lucy verwirrt wiederholte: »In Lettland?«
»Viele junge Leute machen nach der Schule ein Auslandspraktikum«, erklärte der Patriarch. »Ihr beide habt euch bis jetzt für kein Programm angemeldet, aber wir von der Familie können euch privat eine Art Praktikum organisieren. Christoph, mein Sohn, lebt seit einigen Jahren bei der lettischen Familie. Er wird euer Mentor sein.«
»Okay, aber wessen Familie?«, wunderte sich Daniel.
»Na, die Familie-Familie«, erinnerte Lucy ihn. »In … diesem Land.«
»Das ist im Baltikum«, flüsterte die Schwester neben ihr. »Osteuropa.«
»Eure Flugtickets sind schon bezahlt und wir haben Beschäftigungsmöglichkeiten für euch. Ihr müsst nur noch packen und eure Zeitschriftenabos kündigen«, sagte Corleone. »Christoph hilft euch dann bei allem anderen, wenn ihr angekommen seid. Übrigens würde ich euch empfehlen, eine Kreditkarte zu beantragen.«
Daniel schaute so entsetzt, als hätte er vergessen, welche seine Bank war.
Lucy stützte den Kopf in eine Hand. »Ich hätte wissen müssen, dass der Russischkurs in der Grundschule zu irgendwas gut war.«
Knapp vier Wochen nach dem Familientreffen hatte Mia ihren gesamten Haushalt in Kartons gepackt, auf dem Dachboden ihres Schwagers abgestellt und sich von ihm zum Münchener Flughafen fahren lassen. Dort war es laut, es war voll, und Lucy und Daniel nervten sie schon jetzt. Im Moment hätte sie nicht sagen können, warum sie nach dem Familienessen das Flugticket von Corleone angenommen hatte.
Während die Teenager auf der Anzeigetafel den Flug nach Rīga suchten, rief Mia ihren Cousin Christoph an, ihren zukünftigen »Mentor«. Was auch immer das für ein Job sein sollte. Er war von seinem Lettlandpraktikum vor neun Jahren nie zurückgekommen, was bedeutete, dass Mia ihn zum letzten Mal mit elf gesehen hatte. Nicht dass sie das störte. Sie hoffte nur, dass ihr eigenes Praktikum nicht so lang dauern würde.
»Warst du schon mal in Rīga?«, fragte Christoph.
»Soll das ein Witz sein?« Mia lachte kurz auf. »Für mich ist Hannover schon im Norden, weiter oben war ich bisher nicht.« Aus dem Augenwinkel erkannte sie einen Jugendlichen, dessen Sneaker unter dem Knöchel endeten und viel zu breite Sohlen hatten. Idiotisch. Wie sollte man damit bitte um sein Leben rennen?
»Oh.« Eine unangenehme Pause entstand, die erfahrungsgemäß bedeutete, dass er sich an die Sache mit dem Krieg erinnerte. »Stimmt. Das ergibt Sinn.«
Mia seufzte. Vor ihr stolperte ein Rentner über seinen offenen Schnürsenkel. »Wie auch immer. Holst du uns vom Flughafen ab?«
Am anderen Ende der Leitung raschelte es. »Würde ich gern, aber ich kann heute nicht«, sagte Christoph. »Ist alles ein bisschen kompliziert im Moment. Warte … ich hab’s mir aufgeschrieben.« Mehr Geraschel folgte.
Mia kniete sich hin und überprüfte die Doppelknoten an ihren eigenen Schuhen.
»Okay, meine Schwägerin wollte es eigentlich machen – Ieva – aber um die Zeit ist sie noch in der Schule. Also wird es eine von ihren Mitschwestern sein, Māsa Aiva oder Jeanny. Ist auch besser so, Ievas Deutsch ist … grenzwertig.«
»… okay …?« Nervös zupfte sie ihre BH-Träger zurecht. Dabei konnten die gar nicht herunterrutschen, weil sie sich im Rücken kreuzten.
»Es werden wohl nicht wahnsinnig viele Frauen im Habit am Flughafen sein«, meinte Christoph. »Wird schon klappen. Ansonsten rufst du einfach nochmal an. Guten Flug euch.«
Sie warf einen Kontrollblick zu Lucy und Daniel, die ein paar Meter entfernt auf ihren Koffern saßen und aus ihren Checklisten Origami falteten. Allein der Anblick von Lucy in ihrem weiten Rock, der so viel mehr Platz einnahm als nötig, machte sie nervös. Lucy würde darüber stolpern und hinfallen. An irgendeinem Eck hängenbleiben. Den Rock in einer Tür einklemmen. »Danke …« Aus dem Handy kam das Signal, dass Christoph aufgelegt hatte. Mia kratzte sich an der Stirn. Ihre Wollmütze juckte nicht nur wie verrückt, sie war auch viel zu warm.
»Und?«, fragte Daniel, als sie das Telefon sinken ließ. »Gibt’s einen Bus oder laufen wir?«
»Und wohin laufen wir?«, fügte Lucy hinzu.
Mia ging zu ihnen hinüber. »Wir laufen überhaupt nicht, jemand holt uns ab. Aber fragt mich nicht, wer. Ausweise habt ihr?«
»Also, meiner ist da.«
»Meiner auch.«
»Ausweise«, wiederholte Mia.
»Impfpässe hab ich«, versicherte Lucy. »Sind beide in meiner Tasche.«
Mia verdrehte die Augen. »Behindertenausweise?«
Lucy wechselte einen kurzen Blick mit ihrem Bruder, den Mia nicht zuordnen konnte. »So was hab ich nicht, aber ich hätte einen …«, sie fächelte sich damit Luft zu wie mit einer Handvoll Scheine, »Ausweis über das gewöhnliche Maß übersteigende körperliche Fähigkeiten! Aber den braucht man sowieso nie.«
Resigniert setzte sich Mia auf ihren eigenen Koffer. Ein AkF war natürlich um einiges cooler. Und Leute, die einen hatten, mussten auch nie zum Arzt wegen ihrer Kräfte. »Eure Probleme will ich haben.«
* * *
In Rīga angekommen mussten die drei nicht lang warten. Kaum hatten sie ihre Koffer abgeholt, kam auch schon eine Frau auf sie zu, deren Kleider Mia mit viel gutem Willen als Ordensgewand identifizierte. Im Gegensatz zu den Lehrerinnen an der Klosterschule trug sie kein langes Kleid, sondern eine weite schwarze Hose zu einer grauen Bluse und Turnschuhen. Ihr schwarzer Schleier war so schlicht, dass er beinahe einem Faschingskostüm ähnelte. Außerdem saß er recht weit hinten, sodass einige lockige Haarsträhnen der Schwester ins Gesicht fielen. Das geschwungene Kreuz an ihrer Halskette hätte auch locker als Modeschmuck durchgehen können.
»Ihr seid die Familie von Ieva, oder?«, fragte sie. »Cool. Ich bin Aiva.« Sie sprach Deutsch mit minimalem Akzent.
Die drei tauschten überraschte Blicke. »Ist das so offensichtlich?«
Māsa Aiva zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, war nur so ein Gefühl. Ihr seht irgendwie verloren aus.« Sie fing einen Blick von Lucy auf, die stumm das ungewöhnliche Habit musterte und anscheinend versuchte, die einzelnen Details etwas Bekanntem zuzuordnen. »Was ist, dürft ihr in Deutschland keine Hosen anziehen?«
Lucy fiel auf die Schnelle keine Antwort ein. »Ähhh …«
»Und ich dachte immer, ihr seid schon weiter als wir.« Māsa Aiva seufzte. »In diesem Fall, willkommen im Paradies.«
* * *
»Mach mal das Fach auf«, meinte Māsa Aiva im Auto zu Mia, die vorne saß. »Da müsste mein Zettel sein, wo alles draufsteht …«
Mia öffnete das Handschuhfach. »Hier ist auf jeden Fall eine Brille, ist das deine?«
»In der Tat.« Māsa Aiva setzte sie sich auf. »Ah, jetzt seh ich was. Und wo ist mein Zettel?«
Mia fischte ein zerknittertes Blatt Papier aus dem Fach. »Der hier?«
»Ja, lies mal vor.«
»Kann ich nicht«, sagte Mia. »Die Notizen sind auf Lettisch.«
»Ach so, stimmt …« An einer roten Ampel hielt Māsa Aiva an und streckte die Hand aus. »Zeig mal.« Sie las sich den Zettel durch, bis die Ampel wieder umschaltete.
»Grün«, sagte Mia.
Māsa Aiva gab ihr das Papier zurück und griff nach dem Schalthebel. »Also, es gibt eine winzige Planänderung«, erklärte sie. »Ieva wollte dir ja das kleine Haus in der Kantora geben, aber unser Orden und Ievas Familie fanden es beide nicht so toll, dass Daniel mit in ihre Wohnung einziehen soll.«
»Witzig, dass irgendjemand denkt, ich kann allein wohnen«, sagte Daniel. »Mia, krieg ich ’nen Crashkurs?«
»Wen wollen sie damit beschützen, sie oder ihn?«, fragte Lucy ironisch. »Wir müssen jetzt nicht so tun, als ob Daniel der größte Playboy von ganz Rīga wäre.«
»Davon geht auch niemand aus, aber der Patriarch hat die Worte ›Ieva‹ und ›Schulabbrecher‹ gehört und hält die Kombination für ungünstig.« Māsa Aiva schaute kurz in den Rückspiegel. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, wer den schlechteren Einfluss auf wen hat.«
»Das wird nicht kontrolliert, oder?«, fragte Mia hoffnungsvoll.
»Na ja, die Priorin hängt ziemlich oft in der Wohnung rum. Ich denke, es würde ihr schon auffallen.«
Mia stöhnte. »Wenn ich hier wieder raus bin, braucht mein Therapeut eine Therapie.«
* * *
Zuerst brachte Māsa Aiva Daniel nach Mārupe. Das Haus war tatsächlich winzig: Küche und Wohnzimmer im Erdgeschoss, Bad und Schlafzimmer direkt unter dem Dach. Es war quasi eine Zweizimmerwohnung.
»Find ich gut«, sagte Daniel. »Hier kann man jedenfalls nichts auf dem Dachboden verlieren.«
Er blieb gleich dort, um seinen Koffer auszupacken und sich einzurichten. In der Zwischenzeit brachte Māsa Aiva Lucy und Mia zu Māsa Ievas Wohnung in Āgenskalns.
Schon auf der Treppe zog Lucy die Nase kraus. Der Geruch im Treppenhaus erinnerte sie unangenehm an Daniels Freunde aus der Schule: Cannabis. »Von einem Drogensumpf in den nächsten, oder wie?«
»Nicht wundern, die Nachbarn kiffen ab und zu«, sagte Māsa Aiva beiläufig. »Aber dafür rufen sie auch nicht gleich die Polizei, wenn’s mal lauter wird.« Sie schloss die Tür auf. »Eure Schuhe sind sauber, oder? Könnt ihr von mir aus anlassen. Hier ist die Küche, Bad da drüben … Das ist Ievas Zimmer, ich weiß nicht, wann sie heute aus der Schule kommt.«
»Schwester Ieva ist Lehrerin?«, fragte Lucy beiläufig. »Kommt ja wenig überraschend.«
»Nein, Hausmeister«, antwortete Māsa Aiva ernst. »Ihr wisst schon, Türen reparieren und so was.« Sie öffnete die Tür des Schlafzimmers neben der Küche. »Lucy, das hier ist dein Zimmer – bisschen klein, aber wird schon gehen. Mia bekommt das Zimmer am Ende des Ganges. In dem dazwischen ist noch eine Mitbewohnerin, ich glaub, sie studiert irgendwas. Keine Ahnung.« Sie ging durch Lucys Zimmer und lehnte sich an den Schreibtisch. »Eigentlich könnt ihr euch kurz hinsetzen.«
Zögerlich nahmen Lucy und Mia auf dem Bett Platz.
»Eure Betten und Kleiderschränke und Schreibtische hat Ievas Vater irgendwo gefunden«, erzählte Māsa Aiva. »Also, falls ihr noch einen Stuhl dazu wollt oder einen zweiten Tisch … nicht dass hier noch einer reinpassen würde … da könnt ihr wahrscheinlich bei ihm nachfragen. Verlängerungskabel kann ich euch besorgen, falls ihr euch mal eine Nachttischlampe anschafft.« Sie sah sich im Zimmer um. »Was kann ich euch sonst erzählen? Daniels Haus ist ganz in der Nähe von einem Einkaufszentrum, da könnt ihr nachher zusammen hingehen. Meine Handynummer schreib ich euch auch noch auf … Braucht ihr sonst noch was?«
Lucys Blick klebte schon seit einer Weile an dem Kruzifix, das neben der Tür hing. »Wir müssen nicht beten, oder?«
Māsa Aiva lachte. »Von mir aus kannst du hier drin auch einen Kreidekreis zeichnen und satanische Rituale durchführen, falls das Zimmer groß genug ist. Ich hab das Kreuz nur da gelassen, weil ich dachte, dir gefällt’s vielleicht.« Sie suchte in ihren Taschen und fand einen alten Kassenzettel, auf dem sie ihre Handynummer notierte. »Kirchen gibt’s ja genug, schaut euch einfach mal im Zentrum um«, sagte sie im Gehen. »Und Mia, Ieva zeigt dir in den nächsten Tagen die Synagoge.«
»Nein … das muss wirklich nicht – «, setzte Mia an, aber Māsa Aiva ging darüber hinweg.
»Sie spielt Eishockey mit dem Rabbi, also kommt sie da sowieso ab und zu vorbei. Viel Spaß in der Mall!«
An ihrem zweiten Tag in Lettland fuhren die drei mit dem Bus nach Jugla, wo Christoph auf einem kleinen Bauernhof lebte. Die Strecke hatte er Mia gestern Abend am Telefon beschrieben. In Māsa Ievas Haus fanden sich außerdem eine Stadtkarte und mehrere Reiseführer.
An der Haltestelle in Jugla erwartete sie allerdings nicht Christoph, sondern ein fremder Mann um die zwanzig. »Ihr seid die Cousins aus Deutschland?«, fragte er kurz angebunden.
»Geschwister«, korrigierte Mia. »Wir sind nicht verwandt mit euch.«
»Wie auch immer«, brummte er und schwieg für den Rest des Wegs. Auf dem Hof angekommen ging er zum Stall, rief etwas auf Lettisch durch die halb offene Tür und verschwand in Richtung Wohnhaus.
Daraufhin erschien endlich Christoph selbst auf der Bildfläche. »Jānis, gut drauf wie immer«, kommentierte er trocken. »Beachtet ihn einfach nicht. Wartet kurz, ich komm zu euch raus – « Umständlich lief er von ihnen weg am Zaun entlang, der um den Stall verlief, bis zur Tür. »Wollt ihr alle zusammenbleiben oder sollen wir uns für den Anfang einzeln unterhalten?«, fragte er, als er schließlich wieder vor ihnen stand.
Lucy und Daniel wechselten einen Blick. »Egal, oder?«
»Einzeln ist gut«, sagte Mia.
»Alles klar.« Er betrachtete prüfend einen nach dem anderen und blieb bei Lucy hängen. »Hast du Angst vor Ziegen?«
Lucy zuckte unschlüssig mit den Schultern. »Denk nicht.«
»Sehr gut, dann kannst du Anežka helfen.«
»Kann ich machen«, sagte sie. »Wer ist nochmal Anežka?«
»Meine Verlobte, sie ist gerade im Stall. Siehst du das Fenster da neben der Haustür, mit dem Stern aus Papier?« Christoph zeigte auf das Wohnhaus. »Wenn du nach der Tür nach links gehst – da liegen alte Klamotten von Anežka, falls du was anderes anziehen willst. Mia, willst du mithelfen oder ins Haus gehen? Du kannst dich ja mit Jānis unterhalten oder … gut, du kannst auch einfach in der Küche sitzen und nicht reden. Von der Haustür aus rechts.«
»Ich geh mir diese Küche anschauen.« Mia drehte sich um und ging.
Lucy folgte ihr nach einem kurzen Blick auf ihr eigenes weißes T-Shirt.
»Und ich?«, fragte Daniel.
»Kommt drauf an«, sagte Christoph. »Was willst du machen – Getränkekisten schleppen, Regale putzen, Äpfel aufsammeln …? Gemacht werden muss sowieso alles.«
»Die Getränkekisten können wir für Mia übrig lassen«, entschied Daniel. »Du hättest echt sehen sollen, wie sie unsere Koffer durch die Gegend geworfen hat, als ob die nicht zwanzig Kilo wiegen würden! Ich würd lieber die Regale putzen.«
Sie gingen ins Haus, vorbei an Lucy, die sich in der Zwischenzeit ein altes Hemd übergezogen hatte und wieder auf dem Weg nach draußen war. Christoph zeigte Daniel die Vorratskammer und verschwand selbst in der Küche. Mit einem Eimer Wasser, Schwämmen und Lappen kam er zurück. »Was hast du denn bisher so gemacht?«, fragte er als Erstes.
Daniel fummelte an seinem T-Shirt-Kragen. »Na ja … nicht viel eigentlich.«
»Schule, Hobbys …?« Christoph stellte den Wassereimer zwischen den Regalen ab.
»Ouh. Ähm. Thema Schulabschluss.« Daniel nahm einen Schwamm und tauchte ihn unter.
»Ja?«
Er drückte das Wasser aus dem Schwamm. »Wie schlimm wäre es, wenn man den eventuell nicht bestanden hätte?«
Christoph sah ihn überrascht von der Seite an. »Ich meine, man kann auch ohne Abschluss arbeiten. Der lettische Patriarch hat euch ein paar Jobangebote organisiert, dazu kommen wir noch. Wie gefällt dir Ievas Haus?«
»Ist ganz okay«, meinte Daniel. »Ziemlich viel Platz.«
Dafür erntete er einen halb ironischen, halb besorgten Seitenblick. »Im Vergleich zu was?«
»Okay, verglichen mit meinem Kinderzimmer, nicht mit einem normalen Haus.« Er warf den Schwamm zurück in den Eimer. »Mit was soll ich anfangen?«
»Lebensmittel ausräumen, Regal einmal durchwischen, abtrocknen, wieder einräumen«, ordnete Christoph an. »Schon mal allein gelebt?« Er wischte über die Tiefkühltruhe, die in einer Ecke stand.
Daniel nahm eine Reihe Marmeladengläser nacheinander von ihrem Brett. »Meine Eltern waren manchmal übers ganze Wochenende breit, zählt das?«
Christophs Miene wechselte ganz ins Besorgte. »Ähm …«
Daniel lachte. »Sollte ein Witz sein. Nein, bisher noch nie. Ich muss mal schauen, ob Mia mir irgendwelche Tipps geben kann.« Bei der Erwähnung der Cousine geriet er ins Schwärmen. »Überhaupt, du kennst ja Mia, oder? Die hat ihr Leben echt im Griff, es ist gruselig. In Deutschland hat sie schon Packlisten geschrieben und alles, ein Lettischbuch gekauft hat sie auch schon – gestern waren wir beim Einkaufen und sie denkt einfach direkt an Spülmittel und alles!« Er lud sich den Arm voller Müslischachteln und Papiertüten. »Und dann ich so: hätte beinahe keine Socken eingepackt. Wie macht sie das?«
Christoph schmunzelte. »Das kommt von allein.«
Daniel blieb stehen, immer noch beladen mit Lebensmittelpackungen, und starrte ihn an wie in einer Comedyshow. »Das? Von allein?! Ich glaub nicht, dass mein Gehirn so funktioniert.«
* * *
Lucy hatte sich umgezogen und stand wieder vor dem Ziegenstall. Diesmal war sie allein. Sie schloss das Zauntor hinter sich, stieß vorsichtig die Stalltür auf und ging hinein. »Anežka?«
»Was gibt’s?«
Lucy folgte der Stimme. Anežka saß in einer Ecke und hatte ihr Handy in der Hand, mit der anderen Hand streichelte sie eine Ziege.
»Christoph meint, ich soll dir helfen.«
»Wobei, beim Ziegenstreicheln?« Anežka sah von ihrem Bildschirm auf. »Lucy, oder?«
»So nennt man mich.«
Anežka zog sich an der Futterkrippe hoch und steckte das Handy ein. »Du siehst nicht aus wie eine Lucy.«
»Warum, wie seh ich aus?«
»Russisch«, sagte Anežka sachlich. »Aber dein Deutsch ist viel zu gut für jemanden aus Russland.«
Lucy schnaubte. »Mein Nachname ist russisch, aber ich war da noch nie. Ist das ein Problem?«
Anežka zuckte mit den Schultern. »Nicht für mich.«
Lucy folgte ihr aus dem Stall. Im Sonnenlicht fiel ihr auf, wie ähnlich sie Māsa Ieva sah. Beide hatten die gleichen braunen Stirnfransen, ein buntes dreieckiges Kopftuch und ähnliche Gesichtszüge – nur waren Anežkas Augen blau statt braun.
»Ist Schwester Ieva deine … Schwester?«
»Zwillingsschwester«, sagte Anežka.
»Okay, und euer Vater ist …?«
»Indiana Jones, ja. Ich weiß, man sieht es nicht so.« Lucy musste wohl sehr verwirrt aussehen, denn Anežka lachte und erklärte: »Indie ist unser Patriarch.«
»Warum sucht man sich bitte so einen Namen aus?« Sie wusste, dass viele Patriarchen verrückte Namen wählten – der italienische Patriarch hieß Mussolini – aber auf Indiana Jones wäre sie nie gekommen.
»Er sagt, das Leben ist ein Abenteuer und am Ende muss man immer die schöne Frau retten.«
Lucy verzog das Gesicht. »Sicher, dass er sich nicht eher Don Juan nennen sollte?«
»Ganz sicher.« Anežka kicherte. »Die einzige Frau, die der rettet, ist Ieva.«
»Na dann.« Lucy kratzte sich am Kopf. Klang schon mal nach einem angenehmeren Patriarchen als Corleone. »Gut zu wissen.«
Ein paar Sekunden lang schwiegen beide.
»Sieht gut aus«, sagte Anežka dann unvermittelt.
»Was?«
»Christophs altes Hemd. Äußerst stylisch.«
Lucy sah an sich herunter. »Er hat gemeint, das Ding gehört dir.«
»Echt jetzt? Na gut, man muss nicht alles verstehen.« Sie griff nach einem Blecheimer, der an der Stallwand stand. Im Inneren des Eimers schepperte ein kleinerer Messbecher. »Hinten im Garten ist ein Wasserhahn, ich muss die Sachen abspülen.«
Lucy ging mit ihr in den Garten auf der Rückseite des Wohnhauses und sah zu, wie sie das Wasser aufdrehte. »Ist es sehr unhöflich, wenn wir über deine Schwester reden?«
Anežka warf ihr einen schiefen Blick zu. »Hält dich so was davon ab, über deinen Bruder zu lästern?«
»Guter Punkt«, gab Lucy zu. »Also … warum wohnt sie nicht bei den anderen im Kloster? Heute früh hat sie so geflucht, als sie zum Bus gerannt ist – ich war richtig froh, dass ich kein Lettisch kann.«
Anežka hängte den gespülten Messbecher umgekehrt auf einen Pfahl. »Ach, das hängt irgendwie damit zusammen, dass die im Kloster einen Gasherd haben. Ieva hat als Teenager mal fast das Polizeirevier abgefackelt – sie hat diese komische Feuerkraft. Deshalb will sie keiner in der Nähe der Gasleitung schlafen lassen.«
»Warum war sie bei der Polizei?«
»Weiß ich auch nicht mehr genau.« Sie ließ Wasser in den leeren Eimer laufen. »Damals war sie ständig wegen irgendwas in Schwierigkeiten, und das eine Mal hat Indie sie eben nicht abholen können. Oder wollen. Aber seit sie im Orden ist, hat sie nichts Größeres mehr in Brand gesetzt.«
Lucy dachte, sie musste etwas falsch verstanden haben. Ihrer Erfahrung nach entschieden sich immer nur die Menschen für das religiöse Leben, die sowieso schon Heilige waren. »Wie zum Teufel kommt man von so was ins Kloster?«
Anežka zuckte nur mit den Schultern. »Hat ihr anscheinend nicht so gut gefallen, die Sache mit der Kriminalität und allem. Das ging auch nur so lang, bis wir zwanzig geworden sind. Da hat sie dann von einem Tag auf den anderen aufgehört, keine Ahnung warum.« Sie hob den Eimer hoch und schüttete das milchige Wasser mit Schwung ins nächste Blumenbeet. »Dazu kann ich aber nicht viel erzählen, ich war im Praktikum in Deutschland, als das alles passiert ist.«
»Spontane Berufung«, grinste Lucy. »Kennst du Sister Act?«
»Genau, das wird’s sein.« Anežka kicherte. »Keine Ahnung, religiös war sie schon immer. Jeden Tag in der Kirche, ihr Lieblingsbuch ist das Markusevangelium … Viel geändert hat sich nicht für sie.«
»Interessant.«
»Wieso, hast du Ambitionen?« Sie hielt den sauberen Blecheimer noch einmal unters fließende Wasser.
»Für die Kriminalität oder fürs Klosterleben?«, hakte Lucy nach. »Bis jetzt find ich die beide eher so semi-überzeugend.«
Anežka legte den Kopf schief. »Vielleicht beides?«
»Mmh …«
»Schon mal in der Ausnüchterungszelle gelandet?«, fragte Anežka weiter.
»Nee, bei mir hat’s bisher nur für Hausarrest und einen Haufen blaue Flecken gereicht.«
»Ouh.« Sie stellte den Eimer auf den Kopf und ließ das restliche Wasser herauslaufen. »Und, gefällt’s dir? Das Zeug, für das du Hausarrest bekommst?«
Lucy hob zaghaft die Schultern. »Ich denk schon?«
* * *
In der Küche hatte Mia so viel Ruhe wie schon lang nicht mehr. Als sie hereingekommen war, war Jānis wortlos aufgestanden und ins obere Stockwerk gegangen. Christoph hatte kurz Wasser zum Putzen geholt, kam aber erst eine gute halbe Stunde später zurück.
»Hast du Zeit?«, fragte er.
Mia setzte ihren Kopfhörer ab. »Ich wüsste nicht, womit ich beschäftigt sein soll.«
»Sehr gut. Kannst du Getränkekisten stapeln?«
»Meine Lieblingsbeschäftigung.« Sie legte Kopfhörer und Handy auf dem Tisch ab und stand auf.
Christoph sah ehrlich überrascht aus. »Wirklich?«