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Katrin Rodeit

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Beschreibung

Als die Tochter des Fleischfabrikanten Falkenberg entführt wird, setzt Kriminalhauptkommissarin Jessica Wolf alles daran, das Leben des Mädchens zu retten. Wer steckt hinter der Entführung? Ist es die Racheaktion eines ehemaligen Mitarbeiters Falkenbergs? Oder ist alles nur eine Inszenierung für die Versicherung? Als die geplante Lösegeldübergabe scheitert ist Jessica Wolf verzweifelt - von Hannah fehlt weiterhin jede Spur. Doch dann geht überraschend eine neue Lösegeldforderung ein und ein mörderischer Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

Der erste Fall für Kriminalhauptkommissarin Jessica Wolf.

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Über das Buch

Als die Tochter des Fleischfabrikanten Falkenberg entführt wird, setzt Kriminalhauptkommissarin Jessica Wolf alles daran das Leben des Mädchens zu retten. Wer steckt hinter der Entführung? Ist es die Racheaktion eines ehemaligen Mitarbeiters Falkenbergs? Oder ist alles nur eine Inszenierung für die Versicherung?

Als die geplante Lösegeldübergabe scheitert ist Jessica Wolf verzweifelt - von Hannah fehlt weiterhin jede Spur. Doch dann geht überraschend eine neue Lösegeldforderung ein und ein mörderischer Wettlauf mit der Zeit beginnt …

Der erste Fall für Kriminalhauptkommissarin Jessica Wolf.

Über Katrin Rodeit

Katrin Rodeit wurde 1977 am Rande der Schwäbischen Alb in Ulm geboren und ist dort aufgewachsen. Nach dem Abitur mit Schwerpunkt BWL hat sie eine Ausbildung zur Diplombetriebswirtin Fachrichtung Bank (BA) absolviert. Bis 2008 hat sie als Kundenberaterin bei Leasinggesellschaften gearbeitet. Mittlerweile lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Ulm und arbeitet seit 2015 ausschließlich als freie Autorin.

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Lauernde Schatten

Inhaltsübersicht

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Teil 1

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Impressum

Teil 1

Freitag

Kapitel 1

Vergnügt warf Hannah die Haustür hinter sich ins Schloss und trat auf die Straße. Für April war es erstaunlich warm und die Sonnenstrahlen berührten ihre Haut wie ein Versprechen.

Sie vergewisserte sich, dass sie ihren neuen Bikini eingepackt hatte. Er war von kräftigem Rot und betonte ihre schlanke Gestalt. Was Marcel wohl sagte, wenn er sie darin sah? In den letzten Wochen waren sie sich nähergekommen und allein der Gedanke an ihn ließ ihr Herz Purzelbäume schlagen. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als von ihm geküsst zu werden. Verliebt zu sein war herrlich! Es würde, ja, es musste ein perfekter Tag werden! Auch wenn sie sich vorerst mit dem Hallenbad begnügen mussten. Es dauerte nicht mehr lang, dann konnten sie wieder auf der Wiese im Freibad liegen.

Hinter der dicken Thujahecke zum Nachbargrundstück lief der Rasenmäher und auf der Straße war der Motor eines Autos zu hören. Sonst war es ruhig, wie meistens in dieser Wohngegend. Oder sterbenslangweilig, dachte Hannah und lächelte in sich hinein. Wenn sie einmal zu Hause auszog, würde sie im Zentrum wohnen. Dort, wo das Leben tobte. Am besten in einer Penthousewohnung mit Blick über die Dächer der Stadt.

Sie war spät dran und überlegte daher einen Augenblick, ob sie den üblichen Weg durch die Siedlung in Kauf nehmen oder stattdessen die Abkürzung durch das Waldstück einschlagen sollte. Wenn sie den Bus verpasste, könnte sie zwar einen anderen nehmen, müsste auf dieser Strecke aber einmal umsteigen. Damit dauerte die Fahrt fast eine halbe Stunde länger. Die Aussicht, abgehetzt und als Letzte im Schwimmbad einzutreffen, ließ sie kurz entschlossen auf den Feldweg einbiegen.

In der Nacht hatte es geregnet. Im Schutz der Bäume waren der Boden und das Gestrüpp ringsum noch feucht und es war merklich kühler. Tief atmete sie die würzige Luft ein. Herrlich! In der Ferne zwitscherten Vögel und ein Specht pochte stakkatoartig an einen Baum. Vom fernen Lärm der Stadt war nichts zu hören.

Die Bushaltestelle kam in Sichtweite. Zu gern hätte Hannah die angenehmen Temperaturen noch ein wenig genossen. Aber die Vorfreude auf Marcel überwog und sie beschleunigte ihren Schritt.

Beim Verlassen des Waldstücks fiel ihr ein heruntergekommener Geländewagen auf, der am Straßenrand stand. Verwundert sah sie ihn an, nur selten verirrten sich Fremde hierher. Als sie auf gleicher Höhe mit dem Auto war, öffnete sich die Fahrertür.

Sie warf einen überraschten Blick in das Gesicht des Fahrers, der ausgestiegen war und ihr den Weg versperrte. Er trug eine Schildmütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte, sodass sie ihn nicht richtig erkennen konnte. Vermutlich wollte er nach dem Weg fragen, dachte sie und schüttelte ihr Unbehagen ab. Ein säuerlicher Geruch wehte zu ihr herüber. Ehe sie sichs versah, packte der Mann sie am Oberarm.

»Hey!«, machte Hannah empört, konnte aber nicht verhindern, dass sich schlagartig Angst in ihrem Brustkorb breitmachte und ihr Atem stockte. Sie riss sich los. Adrenalin schoss durch ihren Körper und ihr Herz schlug schneller, als er Anstalten machte, sie erneut anzufassen.

Reflexartig drehte sie sich um und begann zu rennen. Schneller, immer schneller. Nur fort von hier, weg von dem Wagen und dem Mann! Die Umhängetasche schlug bei jedem Schritt gegen ihren Oberschenkel, aber sie ließ sich nicht davon beirren.

Sie brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, dass der Fremde ihr folgte. Sie hörte ihn näher kommen, meinte seinen Atem in ihrem Nacken zu spüren. Was sollte sie tun? Wohin fliehen? Panik stieg in ihr auf und Hannah kämpfte verzweifelt dagegen an.

Ruhig, ganz ruhig! Es half nicht, wenn sie kopflos wurde. Was sagte ihr Vater immer? Wenn man keine Chance hat, sollte man verdammt noch mal genau die nutzen. Und den Nachteil zum Vorteil umkehren.

Hannah nahm all ihren Mut zusammen und blieb abrupt stehen. In einer fließenden Bewegung wandte sie sich um und riss sich die Umhängetasche von der Schulter. Sie verfing sich zwischen den Beinen ihres Verfolgers und er strauchelte, ehe er stürzte. Selbst von hier roch sie, dass er nach Alkohol stank.

All das geschah in Bruchteilen von Sekunden. Hannah rannte an ihm vorbei zurück in Richtung Wald, hin zu seinem Auto. Die Tür des Wagens stand offen und der Motor lief. Das war ihre Rettung! Sie sprang hinter das Steuer. Ihr Verfolger hatte sich aufgerappelt und rannte auf sie zu. Hannah langte nach der Gangschaltung und drückte den linken Fuß nach unten.

Doch was war das? Sie trat ins Leere.

Einen Moment sah sie sich um, während ihr linkes Bein hektisch im Fußraum herumstocherte. Mit der rechten Hand versuchte sie verwirrt, den Ganghebel zu betätigen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals und ihr Atem ging stoßweise. Sie warf einen Blick nach draußen. Ihr Jäger war nur noch wenige Meter vom Auto entfernt.

Tränen der Panik und der Verzweiflung stiegen ihr in die Augen und ließen sie blind werden, als sie erkannte, dass sie es mit einer Automatikschaltung zu tun hatte. Ein entsetzter Schrei löste sich von ihren Lippen.

Das dickliche Gesicht zu einer wütenden Fratze verzerrt, fasste der Mann ins Wageninnere und packte sie am Hals. Ihr Schrei verstummte augenblicklich. Hannah zappelte und schlug um sich, konnte gegen den kräftigen Mann aber nichts ausrichten. Dann spürte sie einen feuchten Lappen auf ihrem Mund. Sie hielt die Luft an. Panisch suchte sie nach einem Ausweg. Nur ja nicht einatmen!

»Nun mach schon!«, stieß der Typ zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er drückte ihren Kopf mit dem Lumpen über Mund und Nase ins Polster des Wagens.

Hannah zögerte es hinaus bis zum letzten Moment, während sie noch immer um sich trat. Aber er hielt sie umklammert wie in einem Schraubstock.

Sie kämpfte gegen sich selbst, weigerte sich, Luft zu holen. Dann setzten die Reflexe ihres Körpers ein und zwangen sie, Atem zu schöpfen. Sie sog Luft in ihre brennende Lunge. Erst wenig, dann immer mehr. Gleichzeitig verstärkte sich der Schwindel und ihre Beine zappelten unkontrolliert hin und her, ehe sie ihr den Dienst versagten.

Ein zufriedenes, fieses Grinsen unter einer Baseballkappe war das Letzte, was Hannah wahrnahm. Dann senkte sich Dunkelheit herab und riss sie mit.

Kapitel 2

Es war still in der Wohnung. Jessica saß am Frühstückstisch und sah sich um. Ein offenes Nutella-Glas, Marmeladenkleckse auf der Tischplatte, eine Tasse Kaffee, zur Hälfte gefüllt, inmitten einer dunklen Pfütze. Daneben ein benutzter Teller.

Ihr Blick streifte die beiden leeren Stühle. Sie seufzte, ehe sie an ihrem Becher nippte und versuchte, den Ärger hinunterzuschlucken. Finn hatte ganze Arbeit geleistet. Sie war sich sicher, dass er das mit Absicht getan hatte. Es wäre Zeit genug gewesen, vor der Schule wenigstens den Teller und die Tasse in die Spülmaschine zu räumen. Mehr verlangte sie nicht. Ein bisschen Teilnahme am sozialen Miteinander, etwas Hausarbeit. Er musste ja keine Fenster putzen oder Hemden bügeln.

Wie so oft mahnte sie sich zur Nachsicht. Der Junge hatte es im Moment nicht leicht. Der Tod seines Vaters lag erst ein halbes Jahr zurück und er steckte mitten in der Pubertät. Sie sollte froh sein, dass er sich nicht mit falschen Freunden einließ, nächtelang wegblieb oder mit Drogen experimentierte.

Und wer fragte nach ihr? Sie hatte ihren Mann verloren. Manchmal verspürte sie den Wunsch, einen Teller mit Wucht an die Wand zu werfen und zuzusehen, wie er in tausend Einzelteile zerbrach. Oder abzuhauen. Einfach ins Auto zu steigen und wegzufahren. Wohin auch immer.

Doch was sollte das ändern? Ihre Gedanken kreisten unablässig um Tobias und die Frage, wie das Unglück hatte geschehen können.

Abrupt stand sie auf und vergoss dabei ihren Kaffee. Sie sollte nach vorn sehen. Auch wenn das manchmal verdammt schwer war.

Mechanisch räumte sie den Tisch ab und holte einen Lappen, um das Verschüttete aufzuwischen. Sie hatte es nicht eilig, ins Kommissariat zu kommen. Die Kollegen waren nachsichtig. Einer der wenigen Vorteile. Der Gedanke erfüllte sie mit Verbitterung.

Was sollte sie mit der Zeit anfangen? Betten überziehen? Staubsaugen? Einkaufen?

Sie wusste, dass sie endlich Tobias’ Schrank ausräumen sollte. Es war an der Zeit und würde nicht besser werden, wenn Tage, Wochen und Monate ins Land zogen. Bisher hatte sie sich innerlich gewehrt und auch heute sträubte sich alles. Aber es würde ihr helfen abzuschließen. Wenn sie sich wohler fühlte, würde sich das vielleicht auf Finn übertragen und sie wieder Zugang zu ihm finden.

Tu es für ihn, wiederholte sie einem Mantra gleich und ging in die Abstellkammer, um Müllsäcke aus dem Schrank zu nehmen. Im Schlafzimmer blieb sie lange Zeit regungslos stehen, ehe sie mehrmals tief einatmete und Tobias’ Schranktüren öffnete. Es musste sein. Stück für Stück nahm sie Unterwäsche und Strümpfe heraus und ließ alles in dem Sack verschwinden. Als sie ihre anfängliche Scheu überwunden hatte, ging es besser, und sie machte sich an die Hemden und T-Shirts.

Die Badehose hatte er sich für den letzten Urlaub gekauft. Sie schluckte, als sie sich daran erinnerte, wie er bei der Anprobe gelacht hatte. Er gehöre noch lange nicht zum alten Eisen, hatte er gesagt. Was für eine gute Figur er am Strand gemacht hatte! Sie drei waren so glücklich gewesen.

Nach einer halben Stunde war ihr schlecht und sie öffnete das Fenster. Sonnenstrahlen fielen auf das Bett. Auf seine Hälfte. Jessica fühlte sich verhöhnt.

Sie verschloss die ersten beiden Säcke und schleppte sie in den Flur. Dann schnürte sie einen weiteren zu, der Tobias’ Schuhe enthielt, und begann, Anzugtaschen auszuleeren. Sie tat es automatisch, wie früher, wenn sie die Sachen zur Reinigung gebracht hatte. Ein kleines Häufchen bildete sich am Boden. Taschentücher, ein Knopf, ein Fünf-Euro-Schein. Als sie die Visitenkarte herausnahm, leuchtend weiß mit dem schwarz und leicht erhaben gedruckten Namen Tobias Wolf darauf, kamen ihr doch Tränen. Sie fuhr über die Buchstaben, und obwohl sie sich dagegen wehrte, war ihr Gesicht bald nass.

Sie musste raus aus der Wohnung, brauchte trotz des geöffneten Fensters dringend frische Luft. Jessica stellte den Sack mit den Schuhen in den Flur zu den anderen, schnappte ihre Schlüssel und die Handtasche und ging durch das Treppenhaus nach unten. Ihre Sohlen quietschten leise auf den alten Stufen. Vor der Haustür atmete sie mit geschlossenen Augen durch und versuchte sich zu sammeln, ehe sie sich nach rechts wandte, in Richtung des Parkplatzes, auf dem ihr Auto stand.

***

»Nein, Sie bekommen diesen Monat keinen Termin mehr«, hörte Oskar Falkenberg seine Sekretärin Barbara Hübner sagen.

Mit gerunzelter Stirn saß die zierliche, aber resolute Frau hinter ihrem Schreibtisch und tippte mit dem Kugelschreiber auf die Unterlage vor ihr. Ihre Stimmlage ließ keinen Zweifel daran, dass er schwerer erreichbar war als der Papst, und Falkenberg lächelte in sich hinein.

»Vielleicht Ende nächsten Monats. Ja, Sie dürfen sich gern noch einmal bei mir melden.« Sie betonte »bei mir«, ehe sie das Gespräch beendete und den Kuli zur Seite legte. Sie schüttelte den Kopf, erst dann nahm sie ihren Chef wahr.

»Das war ein Kunde, der sich persönlich beschweren wollte.« Ihr Gesichtsausdruck zeugte von tiefer Empörung, wie es jemand wagen konnte zu nörgeln.

»Worüber?«, fragte Oskar sofort und war um einen ruhigen Klang in der Stimme bemüht.

Sie zuckte mit den Schultern und sah ihn an. »Qualität. Vermutlich möchte er den Preis drücken. Immer das Gleiche!« Ärgerlich wandte sie sich ihrem Computer zu und so bemerkte sie nicht, dass Falkenberg zusammenzuckte. Dabei entging ihr sonst so gut wie nichts.

Er musste sich zusammenreißen, damit sie am Ende nicht doch noch hellhörig wurde. Sie war seit Jahren bei ihm beschäftigt und mit jeder Faser das, was man als »eine gute Seele« bezeichnete, sie erkannte anfallende Arbeit, bevor er sie ihr auftrug, und schirmte ihn gegen allzu aufdringliche Lieferanten und Kunden ab. Mit schnellen Schritten ging er zur Tür und verließ das Büro. Gerade hatte er erfahren, dass ein Käufer, der die Ware gestern hätte abholen sollen, insolvent geworden war. Das war sehr ärgerlich, denn er blieb jetzt auf achthundert Kilogramm Fleisch sitzen und musste zusehen, wie er den Schaden begrenzte.

Was er tat, fiel ihm nicht leicht. Es war ihm nie leichtgefallen. Aber die Konkurrenz kämpfte mit harten Bandagen und er musste im Haifischbecken überleben wie alle anderen auch. Selbst wenn das manchmal einen schalen Nachgeschmack hatte. Der Gedanke an seine Angestellten ließ ihn das bittere Gefühl verdrängen.

Er ging über den geteerten Hof hinter das Bürogebäude. Dort standen die Hallen, in denen die Waren verarbeitet und verpackt wurden. Am Ende der Reihe befand sich das Lager, das drei Kühlhallen umfasste und das er jetzt ansteuerte. Das nahtlose Einhalten der Kühlkette war das A und O in seinem Geschäft, deswegen ließ er hier größte Umsicht walten.

Er betrat das Gebäude und sah sich nach dem Lageristen um. Früher hatte Bruno Mauser diese Arbeiten erledigt. Er war sein Mädchen für alles gewesen. Dann hatte er sich wegen seines Alkoholproblems von ihm trennen müssen und mittlerweile war Ralf Walter sein engster Vertrauter. Ein Mann, mit dem er schon Jahre zusammenarbeitete. Außerdem verdiente Walter bei der Sache ordentlich. Sein schlechtes Gewissen, sollte er eines haben, wurde großzügig entschädigt.

Oskar fand ihn im hinteren Bereich des Lagers auf einem Gabelstapler. Sie waren allein. Walter stieg von seinem Gefährt und lachte laut.

»Na, Chef, schon zu warm im Büro? Wie wird das erst im Sommer werden? Die Kühlhalle ist angenehmer, kann ich schon verstehen.«

Als wäre es nichts, hob der schlanke, drahtige Mann eine Kiste vom Stapler und schichtete sie auf eine andere. Die Sehnen an seinen Unterarmen traten hervor. Sein Atem beschleunigte sich nicht. Auch sonst war kein Zeichen von Anstrengung erkennbar.

»Die Temperatur im Büro könnte wirklich besser sein«, brummte Oskar. »Wer weiß, vielleicht komme ich im Sommer zum Arbeiten in die Kühlhalle.«

Das war nicht einfach so dahergesagt. Er hatte schon oft ausgeholfen, wenn Not am Mann war. Gerade deswegen schätzten ihn seine Mitarbeiter. Und Falkenberg war stolz darauf, ein Familienunternehmen zu führen, in dem alle an einem Strang zogen.

»Wie geht’s sonst?«, fragte er.

Walter unterbrach seine Arbeit und schüttelte ihm kräftig die Hand. Oskar atmete verstohlen auf, als er seine Rechte aus dem Schraubstock befreit hatte.

»Alles bestens. Hier habe ich alles im Griff und die Familie ist auch wohlauf.«

»Das freut mich zu hören.« Falkenberg räusperte sich. Obwohl es nicht das erste Mal war, kostete es ihn Überwindung. »Im Lager ist ein größerer Bestand, der eigentlich gestern abgeholt werden sollte.«

Walter nickte und sah ihn abwartend an.

»Der Käufer ist im letzten Moment abgesprungen. Ich werde neu darüber verhandeln und einen anderen Abnehmer finden müssen. Mir wäre es recht, wenn das Fleisch sein Haltbarkeitsdatum nicht überschreiten würde.«

Wieder nickte der Lagerist und sah ihm fest in die Augen. »Wie lange?«

»Sagen wir ein halbes Jahr. Das sollte im gefrorenen Zustand auf jeden Fall ausreichen. Bis dahin habe ich einen neuen Käufer gefunden.« Wenn nicht, haben wir ein Problem, dachte Oskar und konnte nicht verhindern, dass er eine Gänsehaut bekam.

Er holte einen Umschlag aus der Tasche und drückte ihn seinem Angestellten in die Hand. Der steckte ihn ungeöffnet in die Brusttasche seines Blaumannes. Sie hatten nie einen Preis verhandelt, aber Oskar wusste, dass er anständig bezahlte. Und Walter hatte sich nie beschwert.

Er nickte zum Gruß, drehte sich um und ging. Plötzlich hatte er es eilig, die Kühlhalle zu verlassen. Ihm blieb keine andere Möglichkeit, als die Haltbarkeitsdaten des Fleisches, das in der Halle lagerte, über die gesetzliche Frist hinaus zu verlängern. Die Luft war dünn und die Konkurrenz hart. Viele taten es. Und kaum einer merkte es. Außerdem trug er seinen Mitarbeitern gegenüber Verantwortung.

***

Jessica parkte neben Dennis’ altem Passat und warf einen Blick auf die Uhr. Bei allem Verständnis, ihr Chef hatte eine Sonderbesprechung anberaumt, die vermutlich schon angefangen hatte. Wenn sie die schwänzte, würde er sauer werden. Auch wenn sie deren Notwendigkeit nicht einsah.

Ärgerlich schüttelte sie den Kopf und strich das halblange braune Haar aus der Stirn. Sie hoffte, dass die verräterischen Spuren aus ihrem Gesicht verschwunden waren, und warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen und ihre Haut wirkte fahl. So wollte sie ihren Kollegen keinesfalls gegenübertreten. Mit nichts konnte Jessica schwerer umgehen als mit Mitleid und salbungsvollen Worten. Sie musste allein klarkommen. Zusammen mit Finn wollte sie es schaffen. Sie war seine Mutter und würde nicht versagen.

In den letzten Wochen war ihr Sohn immer verschlossener geworden, trug fast nur noch schwarze Kapuzenpullis und dunkle Jeans. Wie eine Uniform der Traurigkeit und Leere.

Jessica holte die Puderdose aus ihrer Handtasche und fuhr sich mit dem Schwamm über das Gesicht. Zwecklos. Trotzdem erneuerte sie die Wimperntusche und stieg aus.

Ihre Schritte hallten auf dem kalten Steinboden des alten Gebäudes, als sie die Treppe hinauf in den zweiten Stock hastete. Atemlos erreichte sie das »Kriminalkommissariat für Todesermittlungen und Fahndung« und ging durch die gläserne Tür direkt in ihr Büro, das sie sich mit ihrem Kollegen Dennis Steiner teilte.

Er blickte mit gerunzelter Stirn von seinem Platz hinter dem Schreibtisch auf.

Selten war ihr bewusster, warum er bei Tätern so gefürchtet war. Er konnte böse schauen wie kein Zweiter. Sein Schädel wirkte kantig und hart und die schwarzen Haare standen wie Borsten von seinem Kopf ab. Wenn er jemanden mit versteinerter Miene fixierte, glich er einem Gorilla kurz vor dem Angriff.

Als er sie sah, verschwand der strenge Gesichtsausdruck und ein ehrlich erfreutes Lächeln huschte über seine Lippen.

»Entschuldigung«, murmelte Jessica und legte ihre Handtasche auf den Schreibtisch. »Du hättest auch ohne mich gehen können.«

»Dann hättest du keinen Begleitschutz«, antwortete er und zwinkerte ihr zu.

»Brauche ich den?«

»Dir geht es nicht besonders, ich denke schon.« Ein prüfender Blick aus blauen Augen traf sie.

Jessica sah zu Boden. Es war ihr unangenehm, auch wenn es Dennis war. Er hatte ihr im letzten halben Jahr viel Arbeit abgenommen.

»Jetzt sind wir beide zu spät.« Sie konnte nicht verhindern, dass sie unwirsch klang. Sie war kein kleines Kind.

Ein Lächeln umspielte Dennis’ Lippen und die Ähnlichkeit mit dem Gorilla war endgültig verschwunden. »Darauf kommt es auch nicht mehr an.«

Jessica seufzte. Es hatte keinen Zweck. Dennis gefiel sich in der Rolle des Beschützers. »Wir müssen los«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.

Er knuffte sie freundschaftlich in die Seite und legte ihr den Arm kurz auf die Schulter. Jessica ließ es geschehen. Im Grunde war es das, was sie brauchte. Jemanden, der sich um sie kümmerte. Auch wenn sie das nie zugeben würde.

»Wer kommt eigentlich alles?«, fragte sie.

»Ausnahmsweise die ganze Mannschaft.«

Jessica schnaubte, aber Dennis lachte nur. »Maikundgebungen sind immer ein großes Ereignis. Ein bisschen wie ein Überraschungsei. Man weiß nie, was man bekommt, bevor man es nicht geöffnet hat.« Er lächelte. »Von einer hübschen Sensation bis zum größten Mist kann alles dabei sein.«

Solch große Besprechungen waren unüblich. Einmal in der Woche traf sich das Team am Montagmorgen, um zu besprechen, was es Aktuelles gab und was am Wochenende vorgefallen war. Wenn es die Vorkommnisse erforderten, auch öfter. Aber nur selten in voller Besetzung und abteilungsübergreifend.

Wie üblich hatten einige Gewerkschaften am »Tag der Arbeit« zu einer Demonstration aufgerufen. Erfahrungsgemäß wurde aber nicht nur demonstriert, es gab auch jedes Mal Gruppierungen, die das zum Anlass nahmen, Unfrieden zu stiften. Und gerade am Ersten Mai war man aufgrund vergangener Ereignisse in besonderer Alarmbereitschaft.

»Ich frage mich nur, was wir da sollen. Das ist doch Sache der Bereitschaft.«

Dennis drückte ihre Schulter. »Komm schon, Augen zu und durch. Ich bin bei dir und halte deine Hand.«

Ehe sie etwas erwidern konnte, stieß er die Tür auf und betrat vor ihr den Besprechungsraum, der bis auf den letzten Platz gefüllt war.

***

Oskar verdrängte die Gewissensbisse, als er in sein Büro zurückging. Es war nicht korrekt, was er tat. Aber zu Schaden kam niemand durch das Ändern der Haltbarkeitsdaten. Für die Verbraucher war wichtig, dass sie günstig kaufen konnten. Zur Gesundheitsgefahr wurde das Fleisch nicht, denn darauf achtete er. Sein Unternehmen verließ keine verdorbene Ware. Auch wenn es in letzter Zeit gehäuft zu Beschwerden gekommen war. Über die Dummheit der Endkunden schüttelte Oskar nur den Kopf. Sie kauften ihr Fleisch bei Discountern und verlangten Metzgereiqualität. Und wenn ein Skandal aufgedeckt wurde, taten sie entrüstet und zeigten mit dem Finger auf die Hersteller. Dabei zwangen gerade sie mit ihrer Gier nach immer niedrigeren Preisen die Händler zu solchen Maßnahmen.

Er seufzte. Vielleicht sollte er sich langsam aus dem Geschäft zurückziehen und es Jüngeren überlassen, die mit ganz anderen Bandagen kämpften. Seiner Tochter zum Beispiel. Er merkte, wie er von Woche zu Woche müder wurde.

Die Tür zu seinem Büro war angelehnt. Er wusste, dass er sie geschlossen hatte. Das tat er immer, auch wenn sie zunächst ins Vorzimmer führte. Und heute wollte er mit niemandem mehr reden.

»Barbara …«, begann er.

»Es tut mir leid, er hat sich nicht abwimmeln lassen.« Sie zuckte mit der Schulter und sah von ihrer Schreibtischarbeit zu ihm hoch. Keineswegs schuldbewusst.

»Wer?«

»Axel Burger.«

Sein Prokurist hatte ihm gerade noch gefehlt. Aber das Gespräch war überfällig und in den letzten Tagen war er ihm aus dem Weg gegangen. Jetzt ließ es sich wohl nicht länger hinausschieben.

»Sie können Schluss machen, Barbara«, sagte Oskar nach kurzer Überlegung. Er wollte keine Zuhörer. »Ich brauche Sie heute nicht mehr.«

Erstaunt warf seine Sekretärin einen Blick auf die Uhr an ihrem Bildschirm.

»Ich gehe mit meiner Tochter zum Essen«, kam er ihrer noch unausgesprochenen Frage zuvor und hoffte, ihre Neugier damit befriedigt zu haben. Außerdem ergriff ihn ein Anflug kindischer Boshaftigkeit, Axel Burger für den Überfall noch ein wenig schmoren zu lassen.

Zögernd packte die Sekretärin ihre Tasche und fuhr den Computer herunter.

»Wie geht es Ihrer Tochter?«, fragte Barbara.

Small Talk. Oskar tat ihr den Gefallen. Zögerte das unangenehme Gespräch damit noch eine Weile hinaus.

»So weit ganz gut. Sie macht gerade den Führerschein und steht kurz vor den Abiturprüfungen. Ich hoffe, es wird sich eine Gelegenheit ergeben, mit ihr über die Zukunft zu sprechen.«

»Da gibt es sicher jede Menge Möglichkeiten«, antwortete Barbara.

Nicht nur sie wollte wissen, wie es mit der Firma weiterging. Jetzt hatte sie den letzten Stift zurechtgerückt und Oskar verabschiedete sich von ihr und wünschte einen schönen Nachmittag. Dann atmete er tief durch und öffnete mit einem strahlenden Lächeln, das seine Stimmung Lügen strafte, die Tür.

»Axel!«, rief Oskar und breitete die Arme aus. »Was für eine Freude! Was kann ich für dich tun?«

Die hagere Gestalt stand am Fenster und blickte hinaus. Sie kannten sich seit Jahrzehnten. Axel Burger war einer seiner Wegbegleiter der ersten Stunde. Und das Gegenteil von ihm selbst. Nicht nur optisch. Mit seinen knapp einen Meter siebzig und dem schütteren sandfarbenen Haar wirkte er neben Oskars imposanter Figur wie ein Lakai. Doch er besaß einen messerscharfen Verstand. Mehr als einmal hatte er Oskar zurückgepfiffen, wenn dieser in Euphorie für ein neues Produkt oder eine innovative Idee davonzugaloppieren drohte. Oskar hatte ihm viel zu verdanken. Sie harmonierten gut miteinander und ergänzten sich, wo es nötig war.

Doch seine ewige Schwarzmalerei kostete auch Nerven. Er mahnte ständig zu Vorsicht und Besonnenheit. Gerade jetzt bekam er graue Haare wegen der finanziellen Situation und Oskar hatte zunehmend Mühe, ihn zu beruhigen. Dabei wurde ihm selbst langsam mulmig.

»Oskar, wir müssen miteinander reden.«

Er klang ernst und Falkenberg war für einen Moment beschämt. Er sollte ihn wenigstens anhören.

»Was ist los?«, fragte er und ließ sich mit einem Seufzer hinter seinem Schreibtisch nieder. Er deutete auf den Platz davor. Normalerweise hätte er Axel etwas zu trinken angeboten. Sie tranken oft einen Bourbon zusammen. Heute wollte er das nicht. Er freute sich auf den Abend mit Hannah und wollte das Gespräch nicht unnötig in die Länge ziehen.

»Es geht um die laufende Linie und den Kredit für die neue Verpackungsanlage.«

»Was ist damit?«, fragte Oskar ärgerlich. Seines Wissens war das erledigt und die Auszahlung Formsache.

»Der Kredit wurde gestrichen und die Linie statt ausgedehnt zurückgefahren. Wir haben einen akuten Liquiditätsengpass. So können wir nicht einmal die Löhne nächsten Monat bezahlen.«

Die Worte standen zwischen ihnen wie eine Mauer und Oskar merkte, wie Schweißperlen auf seine Stirn traten. Für einen Moment stockte ihm der Atem. Das war schlimmer, als er es sich in den schrecklichsten Träumen ausgemalt hatte.

»Puh«, machte er nach einer kurzen Pause. In seinen Ohren rauschte es.

»Ja«, antwortete Burger und sah ihn anklagend an. »Ich weiß schon, dass du das nicht hören willst. Aber in Anbetracht der Situation erschien es mir angebracht, dass wir uns unterhalten.«

Oskar dachte fieberhaft nach und ignorierte die bisweilen umständliche Ausdrucksweise seines Prokuristen. Er griff nach einem Stift aus der Ablage und drehte ihn zwischen den Fingern.

»Und jetzt ist uns auch noch ein Käufer abgesprungen. Die achthundert Kilogramm Schwein und Rind liegen aber schon im Lager. Das ist totes Kapital, Oskar! Rausgeschmissenes Geld, weil wir das Fleisch vernichten müssen.« Er machte eine Pause. »Wir müssen anders disponieren. Künftig sollten wir Vorverträge abschließen, um nicht wieder in solche Situationen zu geraten. Oder mit Konventionalstrafen drohen. Ich habe das schon oft genug gesagt.«

Oskar legte den Stift zur Seite und schlug die Hände vors Gesicht. Das tat er immer, wenn er nachdenken musste. Es gab ihm das Gefühl, sich von der Außenwelt abzuschotten. Er hörte nicht mehr, was Burger zu ihm sagte, blendete seine Umwelt aus, die anklagende Stimme, die Vorwürfe.

Sie brauchten Liquidität. Und zwar schnell. Sonst waren sie erledigt. Seine Gedanken rasten, welche Schritte er unternehmen konnte, um das Unausweichliche abzuwenden. Schließlich nahm er die Hände von den Augen. Sie zitterten kaum. Er atmete tief durch.

»Okay«, sagte er entschlossen und unterbrach den Redefluss seines Prokuristen mit einer Handbewegung. »Ich spreche mit dem Vorstand der Bank. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Er ist mir noch etwas schuldig. Die Investition in die Verpackungsanlage können wir verschieben. Das ist zwar ärgerlich, aber die alte läuft im Moment noch. Aber dass sie uns die Linie zurückfahren, dürfen wir nicht zulassen. Wir brauchen das Geld.«

Er stand auf und begann, hinter seinem Schreibtisch auf und ab zu gehen. Er musste den überflüssigen Lagerbestand verkaufen. Schnellstmöglich. So prekär war die Situation noch nie gewesen. Doch Panik half ihnen nicht. Er musste handeln.

»Ich kümmere mich darum«, versprach Oskar und drehte sich zu seinem Prokuristen um. Er sah ihn fest an. »Ich erwarte in Kürze einen Zahlungseingang.«

Axel sah ihn fragend an. Obwohl er den Rauswurf sicher verstanden hatte, machte er keine Anstalten aufzustehen.

»Wie viel ist das? Und von wem?«, fragte er und zog argwöhnisch die Brauen nach oben. »Mir ist nichts bekannt.«

»Lass das mal meine Sorge sein.« Oskar hatte nicht vor, den Prokuristen in all seine Geheimnisse einzuweihen. Das war seine Sache. Und die von Ralf Walter. Der überkorrekte Burger wäre entsetzt, wenn er wüsste, was sie trieben. Doch wenn Oskar diesen Weg nicht beschritten hätte, gäbe es die Firma längst nicht mehr.

»Lass mich machen, ich kriege das schon hin.« Oskar ging um den Schreibtisch herum und legte Axel die Hand auf die Schulter. Er klang zuversichtlicher, als er war. Woher er in so kurzer Zeit einen neuen Käufer bekommen sollte, war ihm ein Rätsel. Fest stand, dass er es schaffen musste. Stellte sich die Bank quer, war davon ihr Überleben abhängig. Dann konnte er die Firma schließen und sein Lebenswerk wäre zerstört.

Obwohl es ihn Mühe kostete, komplimentierte er Burger hinaus. Er musste für einen Moment allein sein. Oskar schloss die Bürotür und öffnete ein Fenster. Dann lockerte er seine Krawatte und tat ein paar kräftige Atemzüge. Trotz der Wärme, die von draußen hereinkam, fröstelte ihn. Schließlich hatte er sich so weit beruhigt, dass er ein Glas in der Hand halten konnte, ohne den Inhalt zu verschütten.

Nachdem er den Fingerbreit Bourbon getrunken hatte, fühlte er sich imstande, den Vorstand der Bank anzurufen. Dafür musste er zuversichtlich klingen. Der Alkohol hatte sich in seiner Blutbahn verteilt und seine Kehle geschmeidig gemacht. Er fühlte sich dem Gespräch gewachsen.

Anschließend würde er einen Partner in Berlin kontaktieren, der dafür bekannt war, dass er gern billig Ware einkaufte und nicht nachfragte. Zwar würde Oskar das Fleisch zu einem noch niedrigeren Preis hergeben müssen, als ihm lieb war. Aber besser, das Lager war leer und er hatte zumindest ein gewisses Maß an Kapital, als dass er darauf sitzen blieb und seine Mitarbeiter entlassen musste.

Kapitel 3

Hannah rührte sich nicht. Sie hatte Schwierigkeiten, sich zu orientieren, und es gelang ihr nur schemenhaft, sich ins Gedächtnis zu rufen, was passiert war. Langsam öffnete sie die Augen und starrte an eine dunkle Holzdecke, die gräulich schimmerte und mit Flecken übersät war.

Vorsichtig blinzelte sie und drehte den von einem dumpfen Schmerz geplagten Kopf zur Seite. Sie stellte zweierlei fest: Erstens war es draußen hell und zweitens lag sie auf einem Bett, das sie ebenso wenig kannte wie die Holzdecke. Sonst stand außer einem hölzernen, ungemütlich aussehenden Stuhl nichts in dem Raum.

Nur keine Panik, dachte sie und versuchte, ruhig zu atmen. Dann kehrte die Erinnerung zurück. Und sosehr sie sich sträubte, mit ihr kam die Angst und kroch unaufhaltsam in ihr hoch.

Ruckartig richtete sie sich auf, achtete nicht auf ihren pochenden Kopf und überlegte, was passiert war. Das Letzte, an das sie sich deutlich erinnern konnte, war die Verfolgungsjagd, die sie sich mit ihrem Entführer geliefert hatte.

Sie versuchte abzuschätzen, wie lange sie bewusstlos gewesen war, und richtete ihren Blick automatisch auf die Stelle an ihrem Handgelenk, an dem die Uhr sein müsste. Sie war unschuldig weiß.

Ihr Herz schlug schneller. Wo war sie? Sie konnte längst im Ausland sein. Bis Frankreich, Holland oder Richtung Süden, sogar nach Osteuropa war es nicht weit. Wenn sie längere Zeit bewusstlos gewesen war, konnte er sie überallhin verschleppt haben. Und dank der offenen Grenzen hätte niemand mitbekommen, dass in dem schwarzen Geländewagen ein ohnmächtiges Mädchen auf dem Rücksitz lag. Welcher Tag war überhaupt? Wie viele Stunden oder gar Tage waren seit der Entführung vergangen?

Hannah kämpfte gegen die Tränen, das Herzklopfen und die Angst an. Sie musste hier raus!

Sie stand auf und rannte zur hinteren Wand. Ignorierte weiterhin den Kopfschmerz, von dem ihr übel wurde. Weit oben befand sich ein Fenster, das sie zu erreichen versuchte. Es war vergittert und ohnehin zu klein, um hindurchzuschlüpfen, wie sie im nächsten Moment feststellte. Trotzdem sollte es irgendwie möglich sein, einen Blick nach draußen zu erhaschen. Vielleicht konnte sie sich orientieren. Möglicherweise kannte sie den Ort.

Suchend sah sie sich um. Auf der anderen Seite des Raumes an der Wand stand der hölzerne Stuhl. Sie trug ihn zum Fenster. Er knarzte bedenklich, als sie, die Hand an der Lehne, erst den rechten, dann den linken Fuß daraufsetzte. Vorsichtig richtete sie sich auf und hielt sich an den Gitterstäben fest. Sie erspähte nur ein paar Baumwipfel.

Mit Tränen der Enttäuschung in den Augen stieg sie von dem wackeligen Möbelstück hinunter und blickte sich nach weiteren Fluchtmöglichkeiten im Raum um. Außer einer schweren Holztür gab es nichts. Obwohl sie bereits ahnte, dass es erfolglos sein würde, ging sie hinüber und drückte die Klinke nach unten. Die Tür bewegte sich nicht, als sie zuerst zaghaft, dann immer verzweifelter am Griff zog.

Fast ohnmächtig vor Angst trat sie gegen das stabile Holz, um sich kurz darauf mutlos und von lauten Schluchzern geschüttelt daran hinabsinken zu lassen.

Ihre Lage war aussichtslos. Niemand außer ihrem Peiniger kannte ihren Aufenthaltsort. Wer war er? Hannah konnte sich nicht erinnern, ihn jemals zuvor gesehen zu haben. Er war von mittlerer Statur mit einem abstoßenden Bierbauch und trotz der Baseballkappe hatte sie etwas von seinem Haar erkennen können.

Das Papiertaschentuch, mit dem sie sich die Tränen abgewischt und die Nase geschnäuzt hatte, war bald nur noch ein nasser Fetzen, der sich langsam in seine Bestandteile zerlegte. Schließlich ging sie zurück zum Bett und ließ sich darauffallen. Bestimmt hatten ihre Freundinnen Alarm geschlagen, als sie nicht ins Schwimmbad gekommen war, überlegte sie verzweifelt.

Sie bekam Hunger. Schlimmer noch war der Durst. Zum Frühstück hatte sie ein Magermilchjoghurt und eine Nektarine gegessen und zu Mittag einen Salat. Sie hatte sich auf die Pizza gefreut, zu der ihr Vater sie eingeladen hatte. Endlich wollten sie einmal wieder einen Abend zusammen verbringen.

In die Stille, die nur von ihren gelegentlichen Schluchzern unterbrochen wurde, drang das Geräusch eines näher kommenden Autos. Reifen knirschten auf Kies, dann wurde der Motor abgestellt. Hannah hielt den Atem an. Erst als sie Schritte hörte, stieß sie die Luft aus.

Was, wenn das der Entführer war?

Wer sollte es sonst sein? Was hatte er mit ihr vor?

Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf, als sie hörte, wie jemand vor der Tür verharrte.

Sie kauerte sich auf dem Bett zusammen, die Arme schützend um die angezogenen Knie geschlungen, und hielt unwillkürlich wieder die Luft an. Die Tür ging auf und ein großer Mann mit dunklem, kurzem Haar und schwabbeligem Bauch betrat den Raum.

***

Jessica war froh, als sie das Büro verlassen und nach Hause gehen konnte. Der Tag war lang und anstrengend gewesen und die Besprechung hatte kein Ende genommen. Sie wollte nur noch die Schuhe ausziehen und die Füße hochlegen.

Die Haustür war nicht verschlossen. Jessica atmete tief durch und wappnete sich innerlich, weil sie nicht wusste, was Finn in ihrer Abwesenheit getan hatte und in welcher Stimmung sie ihn vorfinden würde. Doch nichts konnte sie auf das vorbereiten, was sie erwartete.

Im Flur sah es aus, als befände sie sich inmitten von Wühltischen in einem Discounter mit Sonderangeboten kurz nach Ladenöffnung. Was sie am Morgen mühsam und unter Qualen in Kleidersäcke gestopft hatte, lag verstreut auf dem Boden.

Im Chaos wütete Finn. Die dunklen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab, das Gesicht war gerötet, der Hals fleckig. Wieder trug er einen schwarzen Kapuzenpulli, auch die Hose war dunkel. An den Füßen derbe Stiefel, die Jessica noch nie an ihm gesehen hatte.

Einen Augenblick starrte sie auf das Bild, das sich ihr bot, dann fand sie die Sprache wieder. »Was, um Himmels willen, machst du da?«

Finn blickte kurz auf und Jessica schluckte, als sie bemerkte, dass er geweint hatte.

»Das siehst du doch!« Seine Stimme schnappte über. »Wie kannst du Papas Sachen rauswerfen? Hat er dir nichts bedeutet?«

Sie stellte ihre Tasche ab. Hinsetzen, die Beine hochnehmen, den Kopf in den Nacken legen. Sie fühlte nur noch Müdigkeit.

»Finn«, begann sie und versuchte, ihrem Tonfall einen beruhigenden Klang zu geben. »Lass uns in Ruhe darüber reden.«

»Darüber reden? Du willst darüber reden? Ich nicht! Du kannst seine Sachen nicht einfach wegwerfen. Du kannst ihn nicht aus dem Leben streichen.« Finns Stimme wurde immer höher und lauter. »Er war da, verstehst du? Hier!« Er hatte in der Bewegung innegehalten, einen Müllsack in der rechten Hand, ein T-Shirt von Tobias in der linken. Trotz seiner siebzehn Jahre wirkte er wie ein verletzliches Kind.

»Niemand will ihn aus unserem Leben streichen. Das sind nur Dinge.« Sie legte ihre Hand auf das Herz und sah ihn eindringlich an. »Hier ist er drin. In uns beiden. Für immer. Die Erinnerung kann und wird uns niemand nehmen.«

»Du willst jede Erinnerung an ihn löschen und einfach zur Tagesordnung übergehen.«

»Das stimmt doch gar nicht. Finn, bitte. Lass uns reingehen, ich koche uns etwas und dann setzen wir uns auf das Sofa.«

Tränen rannen ihm über das Gesicht, er ließ fallen, was er in Händen hielt, und schluchzte haltlos. Jessica überkam eine Welle des Mitleids. Sie trat auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Doch Finn schubste sie grob zur Seite. Trotzig sah er sie an, während ihm der Rotz aus der Nase lief. »Lass mich.« Seine Stimme zitterte, dennoch klang sie kalt. Er wandte sich ab.

Jessica hörte die Tür mit einem Knall ins Schloss fallen und stand wie betäubt inmitten der Unordnung. Finns Worte hatten sie bis ins Innerste getroffen. Wie konnte sie ihm nur begreiflich machen, dass er in seinem Schmerz nicht allein war? Sie litt ebenso wie er und sehnte sich nach nichts mehr, als ihn in die Arme zu schließen. Wie sollte es nur weitergehen?

***

Er kam später nach Hause, als er beabsichtigt hatte. Erleichtert stellte Oskar fest, dass Hannah noch nicht da war. Beim Gedanken an sie lächelte er in sich hinein. Er liebte seine Tochter abgöttisch. Sie war verträumt und wusste doch gleichzeitig, was sie wollte. Ein typischer Teenager eben, mit jeder Menge Flausen im Kopf. Er ahnte, dass es besser war, nicht alles zu wissen.

Der Tod seiner Frau hatte ihr Verhältnis noch enger werden lassen. Er wusste, dass er aufpassen musste. Zu viel Liebe erdrückte ein siebzehnjähriges Mädchen und vielleicht wehrte sie sich irgendwann dagegen und kehrte ihm den Rücken. Aber seit Julia nicht mehr lebte, war seine Tochter der Halt in seinem Leben.

Oskar ging in die Küche und nahm ein Bier aus dem Kühlschrank. Er trank einen Schluck und spürte das herbe Getränk erfrischend die Kehle hinunterrinnen. Eine Wohltat bei der Hitze.

Er freute sich auf den Abend. Beide liebten sie italienisches Essen. Und nicht nur darauf. Er hoffte, mit Hannah über ihre Zukunft reden zu können. Bisher hatte sie keine Anstalten gemacht, sich darum zu bemühen, obwohl die Abiturprüfungen vor der Tür standen. Oskar hatte beunruhigt beobachtet, wie sorglos Hannah durch das Leben ging, sein Geld ausgab und sich um alles kümmerte, nur nicht um einen Beruf.

Er nahm das Bier mit ins Badezimmer und stellte es auf dem Rand des Waschbeckens ab. Beim Duschen spürte er, wie die Anspannung des Tages und die Sorgen von ihm abfielen, als das warme Wasser über seinen Rücken rann. Der Abend mit Hannah würde ihm guttun und ihn von den Geschehnissen in der Firma ablenken. Vielleicht konnte er noch einmal mit ihr über das Unternehmen reden. Zwar hatte sie bisher kaum Interesse daran gezeigt, aber unter Umständen konnte er es ihr doch schmackhaft machen. Das war alles eine Frage der Präsentation. Sein größter Wunsch war, dass sie in seine Fußstapfen trat und fortführte, was er begonnen hatte.

Denn es würde weitergehen, daran glaubte er fest. Es musste. Der Schwarzmalerei seines Prokuristen zum Trotz. Kraft und Zuversicht kehrten zurück mit den Minuten, die er unter der Dusche verbrachte.