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Kriminalhauptkommissarin Jessica Wolf bleibt kaum Zeit sich von ihrem letzten Fall zu erholen, als der hochangesehene Kinderarzt Dr. Harald Fechner tot in seinem Haus aufgefunden wird. Wenige Tage später stirbt eine Kindergärtnerin auf sehr brutale Art und kurz darauf wird eine junge alleinerziehende Mutter tot aufgefunden. Hängen die Fälle zusammen? Hat es jemand auf Menschen abgesehen, die mit Kindern arbeiten? Und wer steckt hinter dem Erpresserschreiben, das zeitgleich auftaucht?
In der Stadt geht die Angst um und Jessica Wolf und ihr Team stehen vor einem Rätsel. Bis sie plötzlich einem unglaublichen Skandal auf die Spur kommen, der alles verändert …
Der zweite Fall für Kriminalhauptkommissarin Jessica Wolf.
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Seitenzahl: 389
Veröffentlichungsjahr: 2021
Kriminalhauptkommissarin Jessica Wolf bleibt kaum Zeit sich von ihrem letzten Fall zu erholen, als der hochangesehene Kinderarzt Dr. Harald Fechner tot in seinem Haus aufgefunden wird. Wenige Tage später stirbt eine Kindergärtnerin auf sehr brutale Art und kurz darauf wird eine junge alleinerziehende Mutter tot aufgefunden. Hängen die Fälle zusammen? Hat es jemand auf Menschen abgesehen, die mit Kindern arbeiten? Und wer steckt hinter dem Erpresserschreiben, das zeitgleich auftaucht? In der Stadt geht die Angst um und Jessica Wolf und ihr Team stehen vor einem Rätsel. Bis sie plötzlich einem unglaublichen Skandal auf die Spur kommen, der alles verändert …
Der zweite Fall für Kriminalhauptkommissarin Jessica Wolf.
Über Katrin Rodeit
Katrin Rodeit wurde 1977 am Rande der Schwäbischen Alb in Ulm geboren und ist dort aufgewachsen. Nach dem Abitur mit Schwerpunkt BWL hat sie eine Ausbildung zur Diplombetriebswirtin Fachrichtung Bank (BA) absolviert. Bis 2008 hat sie als Kundenberaterin bei Leasinggesellschaften gearbeitet. Mittlerweile lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Ulm und arbeitet seit 2015 ausschließlich als freie Autorin.
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Katrin Rodeit
Tödliches Serum
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Impressum
Dr. Harald Fechner öffnete die Tür und schloss geblendet von den Strahlen der Sonne für einen Moment die Augen. Etwas Warmes, Flauschiges streifte seine nackten Beine. Automatisch warf er einen Blick nach unten.
»Na, Chipsy, gut geschlafen?« Er bückte sich und kraulte den getigerten Kater hinter den Ohren. Der antwortete mit einem freundlichen Schnurren und genoss die Streicheleinheit. Kurz schmiegte er sich in die Hand, ehe er drei Schritte nach vorn machte und die Milchflasche musterte, die der Bote der Molkerei verlässlich wie jeden Morgen vor der Haustür abgestellt hatte.
Fechner erhob sich und griff nach der Flasche. »Du hattest doch erst dein Frühstück, Chipsy«, meinte er und lachte. »Später bekommst du auch einen Schluck, okay? Du weißt, dass Frauchen das nicht mag, wenn ich dir unsere Milch gebe.« Er zwinkerte verschwörerisch. Andererseits war Frauchen im Urlaub und kam erst morgen zurück. Nicht nur der Kater genoss die Ruhe.
Mit großen Augen blickte der hinauf und miaute protestierend, als offensichtlich war, dass Herrchen jetzt nicht teilen würde. Dann wandte er sich beleidigt ab und stolzierte mit erhobenem Haupt die drei Treppenstufen hinab in den Vorgarten, wo er unter einer Hecke verschwand.
Kopfschüttelnd sah Fechner ihm nach. Für einen Augenblick reckte er die Nase genießerisch in die noch kühle Morgenluft und gönnte sich einen Moment des Durchatmens. Er hatte noch ein wenig Zeit, ehe er in die Praxis musste.
Er seufzte, drehte den Verschluss der Milchflasche auf und nahm einen großen Schluck. Frauchen mochte auch das nicht, dachte er und grinste in sich hinein. Um genau zu sein, hasste sie es, wenn er aus der Flasche trank. Trotzig nahm er einen weiteren Schluck und setzte den Deckel wieder auf.
Pfeifend marschierte er die Treppe hinunter und zog die Zeitung aus dem Briefkasten. Konnte ein Morgen schöner beginnen als mit Sonnenschein und Ruhe?
Er warf einen Blick auf Chipsy, der unter der Hecke ausharrte. Still wie eine Statue lauerte er einer Amsel auf, die sich vorwitzig in seine Nähe gewagt hatte. Fechner wusste, dass das nichts brachte. Chipsy war zu alt und zu bequem, um sich sein Futter selbst zu holen. Trotzdem tat er gern, als wäre er ein gefährlicher Kater.
Fechner ging zurück ins Haus, ließ die Tür aber einen Spaltbreit offen, damit Chipsy wieder hereinkonnte, wenn er wollte. In der Küche legte er die Zeitung auf den Tresen und nahm ein Glas aus dem Schrank, das er großzügig mit Milch füllte. Die gute Erziehung seiner Frau färbte auf ihn ab. Nach fünfundzwanzig Jahren Ehe durfte man das auch erwarten.
Er trank beinahe die Hälfte, ehe er den Kaffeeautomaten einschaltete, damit er Betriebstemperatur hatte, wenn er aus der Dusche kam. Automatisch überflog er die erste Seite der Zeitung nach Artikeln, die ihm interessant erschienen. Ein Minister war wegen privater Flüge in Regierungsmaschinen zurückgetreten, in Kabul war eine Autobombe explodiert und sein Lieblingsverein musste sechs Wochen auf einen Abwehrspieler wegen eines Kreuzbandrisses verzichten.
Er rümpfte die Nase. Nach sechs Wochen wollte der Mann wieder auf dem Platz stehen? Und dann wunderten sich die Sportler, wenn sie im Alter Probleme mit den Gelenken bekamen.
Verständnislos legte er das Blatt zur Seite und ging nach oben. Unter der Dusche überlegte er, wie der heutige Tag ablaufen würde. Vormittags die U-Untersuchungen bei den kleineren Kindern und ein paar Impfungen. Glücklicherweise war die Grippewelle vorüber und auch sonst war es ruhig im Moment. Solange, bis ein neues Magen-Darm-Virus die Kindergärten und Grundschulen heimsuchte, dachte er mit einem Anflug von Ironie.
Einen Augenblick später fragte sich Fechner, ob er zur Abwechslung der Patient werden würde. Unvermittelt überkam ihn ein leichter Schwindel. Hatte er etwas mit Kreislauferkrankungen zu tun gehabt am gestrigen Tag? Er konnte sich nicht daran erinnern. Auch das Luftholen fiel ihm schlagartig schwer.
Unwirsch schüttelte er den Kopf. Das konnte er jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Morgen kam seine Frau aus dem Urlaub zurück und seine Praxis wollte er auch nur ungern schließen.
Vielleicht bin ich nur zu schnell aufgestanden, beruhigte er sich und trat aus der Dusche, um sich abzutrocknen. Wie es schien, vergingen die Beschwerden wieder. Doch als er den Rasierapparat ansetzte, durchzuckte es ihn erneut. Sein Spiegelbild verschwamm vor seinen Augen und ihm war, als schnüre ein breites Band seinen Brustkorb zu und hindere ihn am Atmen. Gleichzeitig machte sich Übelkeit breit.
Fechner stützte sich auf dem Waschbecken ab und überlegte, was er tun könnte. Als Arzt wusste er, dass die Alarmzeichen auf Rot standen. Zwar hatte er mit dem Herzen bisher keine Probleme gehabt, aber Infarkte kündigten sich nicht selten so an.
Sein Körper gönnte ihm einen kurzen Moment der Ruhe und er schaffte es, sich anzuziehen. Doch als er nach unten ging, musste er sich am Treppengeländer abstützen, so heftig traf ihn die erneute Welle.
Nur mit Mühe schaffte er es in die Küche, wo das Telefon auf dem Tresen neben dem Milchglas lag. Er sah nur noch verschwommen und die Atemnot ließ ihn panisch werden. Beim Versuch, nach dem Hörer zu greifen, langte er daneben und stieß das Glas um. Der Inhalt ergoss sich über die durchsichtige Platte und tropfte nach unten auf den Boden, während das Glas weiterrollte, dem Rand entgegen. Fechner hielt sich krampfhaft an der Arbeitsplatte fest und schnappte verzweifelt nach Luft.
Der Schwindel sorgte dafür, dass ihm schwarz vor Augen wurde, dann knickten die Beine weg und er sank zu Boden. Als er mit dem Kopf aufschlug, hatte er bereits das Bewusstsein verloren.
Er merkte nicht, dass sich Blut aus einer kleinen Platzwunde mit der am Boden verteilten Milch mischte. Ebenso wenig hörte er Chipsy, der zur Tür hereinkam und leise miaute. Langsam kam er näher, schnupperte an seinem Herrchen und leckte ihm über das Gesicht, ehe er die Köstlichkeit entdeckte, die sich einem See gleich ausbreitete. Und von oben kam mehr! Chipsy kümmerte sich nicht mehr um sein Herrchen, das am Boden lag, und schleckte stattdessen mit Hingabe die Milch auf.
»Finn, du musst aufstehen!« Jessica Wolf klopfte an die Tür. Unfassbar, der Bengel schlief immer noch. Dabei sollte er in zehn Minuten das Haus verlassen, wenn er pünktlich zur Schule kommen wollte. Fing das schon wieder an?
Sie rubbelte mit dem Handtuch über ihr nasses Haar und schüttelte sich.
»Finn!« Diesmal begnügte sie sich nicht mehr mit Hämmern. Mit einem Ruck riss sie die Tür auf.
Helligkeit flutete die düstere Höhle und offenbarte schonungslos das Chaos eines typischen Teenagerzimmers. Klamotten auf dem Boden, Pizzateller auf dem Schreibtisch und Poster von gruselig geschminkten Hardrock-Stars an der Wand.
Dort könnte noch immer ein Bild von Che Guevara hängen, ermahnte sie sich tapfer beim Anblick der Unordnung.
Aus dem Bett war ein Grunzen zu hören. Etwa dort, wo sie den Kopf vermutete. Dann tauchte ein dunkler Schopf auf und ihr Sohn blinzelte verwirrt, bevor er die Augen mit der Hand bedeckte.
»Was’n los?«, maulte er. »Mach das aus, ist viel zu hell.«
»Das hättest du wohl gern.« Jessica legte an Strenge in die Stimme, was sie aufbringen konnte, und stemmte die Fäuste in die Hüften. Gleichzeitig durchströmte sie ein Gefühl tiefer Liebe. Obwohl er schon siebzehn Jahre alt war, war er in manchen Situationen noch immer ihr kleiner Zwerg. Trotzdem sprach sie bestimmt weiter: »Du bewegst deinen Hintern auf der Stelle aus dem Bett und machst, dass du aus dem Haus kommst. Und zwar auf direktem Weg.«
Finn ließ sich stöhnend ins Kissen zurücksinken. »Mensch, Mama, mach nicht so einen Stress. Heute fängt das Praktikum an, ich habe keine Schule. Muss erst um zehn da sein.«
Jessica setzte zum Sprechen an, hielt aber augenblicklich inne. Ihr Blick huschte zur Uhr. Halb acht, verdammt.
»Du hast es vergessen«, stellte Finn mit geschlossenen Augen ungerührt fest.
»Habe ich nicht. Ich wollte an diesem wichtigen Tag nur mit dir zusammen frühstücken.« Die Lüge ging ihr glatt von den Lippen und sie wandte sich zur Tür. Nicht, dass Finn die Augen öffnete, sie wollte nicht beim Schwindeln ertappt werden. Eilig verließ sie das Zimmer und schlich kleinlaut in die Küche.
So ein Mist! Sie hatte tatsächlich nicht mehr daran gedacht, dass heute das Praktikum bei der Zeitung begann. Schlimmer noch, er hatte einen kürzeren Weg dorthin als zur Schule. Sie hätte ihn längst nicht so früh aufwecken müssen.
Jessica seufzte und strich sich das Haar aus der Stirn. Manchmal war es nicht einfach. Eine berufstätige Mutter zu sein, erforderte ihre ganze Konzentration. Zeitweise musste sie sich eingestehen, dass sie nicht in beiden Jobs einhundert Prozent geben konnte. Sie war auch nur ein Mensch. Und seit Tobias nicht mehr bei ihnen war, war es ungleich schwerer geworden.
Entschlossen holte sie Frühstücksgeschirr aus dem Schrank und vertrieb die düsteren Gedanken. Wenigstens hatte Finn sich wieder gefangen, dafür sollte sie dankbar sein und nicht immer nur das Negative sehen. Wenn sie ihn schon so früh aus dem Bett warf, war sie ihm jetzt ein anständiges Frühstück schuldig.
Sie hörte das Wasser im Badezimmer rauschen. Finn schien gnädig gestimmt zu sein und ihr den verfrühten Überfall verziehen zu haben. Sonst hätte er vermutlich die Decke über die Ohren gezogen und weitergeschlafen.
Sie deckte in Ruhe den Tisch, stellte Marmelade und Nuss-Nougat-Creme dazu und holte Gläser für Orangensaft. Kurze Zeit später trat Finn mit nassen Haaren und barfuß in die Küche. Er gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange, als er den Kaffeebecher in Empfang nahm.
»Ist schon Süßstoff drin?«
»Eine Tablette und ein Schuss Milch wie immer. Genau so, wie es mein Lieblingssohn mag.«
»Du hast nur einen.«
»Aber der ist mein Lieblingssohn«, beharrte sie und lächelte.
Finn grinste zurück und nickte zufrieden. »Dankeschön.«
Sie setzten sich und Finn nahm ein Brötchen aus dem Korb.
»Du hast es vergessen«, stellte er erneut fest, während er es aufschnitt und mit Butter bestrich.
Jessica blickte schuldbewusst zu ihm hinüber und nippte an ihrem Kaffee. »Es tut mir leid, ich wollte dich nicht so früh wecken. Aber ich dachte ehrlich, dass du zu spät kommst.«
»Ist nicht so schlimm, Mama.«
Jessica atmete auf und ein Gefühl tiefer Dankbarkeit breitete sich in ihr aus. Noch vor kurzem wäre nicht daran zu denken gewesen, dass ihr Sohn freiwillig mit ihr gefrühstückt hätte. Jetzt verzieh er ihr sogar, dass sie ihn zu dieser für ihn nachtschlafenden Zeit aus dem Bett gerissen hatte.
»Freust du dich denn auf die Arbeit?«
Finn zuckte gelassen mit der Schulter. »Ich könnte mir schon vorstellen, später mal was mit Medien zu machen. Ob das unbedingt so etwas Altbackenes wie eine lokale Tageszeitung sein muss, weiß ich nicht.«
»Aber hör mal, das ist doch nicht altbacken!«
Finn grinste frech und biss in sein Marmeladebrötchen. »Mama, wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Tageszeitung ist alt. Wofür gibt es das Internet?«
Demonstrativ strich Jessica die Vorderseite der Zeitung glatt. Ein Frühstück ohne war für sie undenkbar. Dabei war es mehr das Festhalten an alten Gewohnheiten. Aber Finn machte sich gern lustig über sie und ihren Umgang mit den neuen Medien. Sie ließ ihm den Spaß und das Gefühl, dass er seiner alten Mutter etwas beibringen konnte. Für Jessica war das okay. Sie lehnte die Technik nicht rundheraus ab, aber im Beruf hatte sie genug damit zu tun, sodass sie in ihrer Freizeit nicht auch noch in ein Tablet starren wollte. Nein, da behielt sie lieber ihre knisternde Papierzeitung.
Finn lachte laut über den linkischen Versuch, ihren Standpunkt zu unterstreichen.
»Es ist Journalismus. Das interessiert mich schon«, fuhr Finn, wieder ernst, fort. »Gut recherchierte Berichterstattungen, solche Sachen. Aber nicht so Kleinkram einer Regionalzeitung.«
»Du glaubst aber nicht wirklich, dass du direkt bei der Frankfurter Allgemeinen einsteigst, oder?« In Jessicas Magen breitete sich ein unangenehmes Gefühl aus. Wenn Finn tatsächlich solche Pläne hatte, hieße das, dass er die Stadt verlassen würde.
Natürlich wusste sie, dass diese Empfindung ihrem Glucken-Gen geschuldet war. Rational betrachtet verstand sie, dass Finn nicht ewig bei ihr bleiben würde. Das wollte sie auch gar nicht, weil es weder ihm noch ihr guttäte. Tobias’ Tod hatte sie noch enger zusammengeschweißt. Sie hatten eine harte Zeit durchgemacht, waren aber gestärkt daraus hervorgegangen.
Sie atmete tief durch und biss in ihr Brötchen. Noch war es nicht soweit, also musste sie daran auch nicht denken.
»Musst du heute nicht ins Revier?«, wollte Finn wissen.
»Im Moment ist wenig los, ich baue Überstunden ab. Und nutze die Zeit, um mit meinem Sohn zu frühstücken.« Sie zwinkerte ihm zu und lächelte verschmitzt.
Das Läuten ihres Handys unterbrach die wohltuende, morgendliche Ruhe.
»Das war es dann wohl mit dem Frühstück«, stellte Finn fest und beschmierte die andere Hälfte seines Brötchens ungerührt dick mit Nuss-Nougat-Creme.
Jessica griff verwundert nach ihrem Telefon. »Nanu, ich dachte, ich darf heute später anfangen. Wolf«, meldete sie sich.
»Schober, guten Morgen, Jessica«, drang die Stimme ihres jungen Kollegen Felix aus dem Hörer.
»Guten Morgen. Ist was passiert oder gönnst du mir das Frühstück mit meinem Sohn nicht?« Sie lächelte Finn an und lauschte aufmerksam.
»In Böfingen gibt es einen ungeklärten Todesfall.«
»Was soll das heißen?«
»Wir wissen es noch nicht. Der zuständige Notarzt hat den Tod festgestellt und uns hinzugerufen, weil ihm etwas merkwürdig erschienen ist.«
Jessica seufzte und stand auf. »Gibst du mir bitte die Adresse?«
Sie notierte die Anschrift in ihrem Notizbuch und wollte gerade auflegen, als Felix weitersprach.
»Du denkst daran, dass heute die neue Kollegin kommt?«
Innerlich stöhnte Jessica. Auch das hatte sie vergessen. Wohl eher verdrängt, verbesserte sie eine dunkle Stimme in ihrem Inneren. Seit sie ihren Kollegen Dennis Steiner verloren hatte, tat sie sich schwer mit personellen Veränderungen. Am liebsten wäre ihr gewesen, wenn Felix nachgerückt wäre. Aber ihr Chef, Markus Norton, war dagegen gewesen. Felix war ein toller Kollege und sicher würde er es weit bringen. Aber noch fehlte ihm die nötige Berufserfahrung.
Insgeheim pflichtete Jessica ihrem Boss bei. Sie würde mit der neuen Kollegin schon klarkommen, hatte er gemeint, und sie hoffte, dass er damit recht behielt.
»Geht klar«, sagte sie daher mit fester Stimme. »Ist sie schon da?«
»Nein.«
Das auch noch. Die Neue war zu spät. Das fing ja gut an. »Schick sie einfach gleich zum Fundort.«
Jessica beendete das Gespräch und nahm ihr Brötchen vom Teller.
»Finn, ich ...«
Der sah nur auf und aß unbekümmert weiter. »Schon in Ordnung. Du musst gehen. Mach nur, ich räum auf und geh dann auch.«
»Du bist ein Schatz. Ich wünsche dir ganz viel Spaß an deinem ersten Tag im Praktikum. Genieß es einfach.« Sie winkte ihrem Sohn liebevoll zu und ging zur Tür.
***
Sie brauchte fast zwanzig Minuten, um nach Böfingen zu kommen, weil sie zuerst ihr Auto hatte holen müssen. Sie besaß keinen festen Parkplatz, der Nachteil, wenn man mitten in der Stadt wohnte. Da musste man abends nehmen, was den Anwohnern übrigblieb. Dafür lag ihr Zuhause zentral und sie brauchte nicht lang zum Revier.
Die Wohngegend in Böfingen hatte früher zu den besten in Ulm gezählt. Als Kind hätte sie es toll gefunden, wenn sie dort gewohnt hätten. Doch die Bauplätze waren für Durchschnittsverdiener unbezahlbar gewesen.
Heute wirkte alles ein wenig in die Jahre gekommen, dachte sie, als sie ihren Wagen langsam durch die verkehrsberuhigte Straße lenkte. Die Lage war noch immer hervorragend, aber die Häuser brauchten hier und da einen neuen Anstrich und das eine oder andere Dach war auch neu gedeckt worden.
Vor dem angegebenen Haus parkten mehrere Fahrzeuge. Der Notarztwagen stand da, ebenso ein Streifenwagen und Felix’ Zivilfahrzeug. Ob er die Neue gleich mitgebracht hatte?
Jessica stellte ihr Auto hinter dem ihres Kollegen ab und stieg aus. Felix erwartete sie am Eingang des Hauses. Es gehörte zu den größten in der Straße und der Vorgarten wirkte gepflegt. Jessica seufzte in sich hinein. So ein Haus war noch immer undenkbar für sie.
Sie grüßte die uniformierten Kollegen, die am Rand des Grundstücks Stellung bezogen hatten, um neugierige Nachbarn abzuhalten. Eine ältere Dame linste vorwitzig herüber. Hinter vorgehaltener Hand tuschelte sie einem Mann mit einem Yorkshireterrier an der Leine etwas zu. Weitere Schaulustige standen am Gartenzaun, jeder bemüht, zu erfahren, was passiert war, oder einen Blick ins Innere des Hauses zu erhaschen.
Jessica schluckte ihren Ärger hinunter. Es gehörte zum Job, sich mit der Sensationsgier anderer herumzuschlagen. Richtig sauer wurde sie nur, wenn ihre Arbeit behindert wurde.
»Guten Morgen«, grüßte sie Felix. »Was ist los?«
Felix war bereits hellwach und sprudelte über vor Tatendrang. Jessica schmunzelte in sich hinein. Der junge Kollege war groß und von sportlicher Statur, die dunklen Locken glänzten in der Sonne. Wenn es nicht so warm gewesen wäre, hätte er sicher seine Lederjacke getragen. Felix Schober sah gut aus, und wenn sie fünfzehn Jahre jünger gewesen wäre, hätte er ihr sicher gefallen. Jetzt war sie seine Vorgesetzte und für ihn verantwortlich. Doch Jessica machte sich keine Sorgen. Mit seinem Verstand und dem ausgeprägten Ermittlerinstinkt würde er seinen Weg gehen.
»Der Hausbesitzer liegt tot in der Küche. Verena ist schon da«, sagte Felix und deutete ins Innere des Hauses auf die Kollegen der Spurensicherung.
Jessica warf nur einen kurzen Blick hinein. Beamte in Schutzanzügen waren in der Wohnung zugange. »Wann dürfen wir rein?«
»Keine Ahnung. Kann nicht mehr so lange dauern.«
»Wer hat den Toten gefunden?«
»Die Putzfrau. Sie kommt einmal in der Woche zwischen halb neun und neun.« Mit gerunzelter Stirn überflog er seine Notizen. »Sie hat sich gewundert, dass die Tür offenstand. Manchmal kommt das vor, damit die Katze rein- und rauskommt. Aber um die Uhrzeit hätte Dr. Fechner beim Arbeiten sein müssen.«
»Ist das der Tote? Dr. Fechner?«
»Ja. Er ist Kinderarzt und hat eine Praxis ganz in der Nähe.«
»Wo ist die Putzfrau?«
»Nebenan im Büro. Der Notarzt ist bei ihr. Ihr geht es nicht besonders gut und er hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.« Felix deutete auf eine Tür, die vom Flur abging.
Jessica nickte langsam und betrat das Haus. Entschlossen drückte sie die Klinke der angegebenen Tür und betrat den Raum. Eine Frau in mittleren Jahren, die Haare zum Pferdeschwanz hochgebunden, saß in einem Stuhl hinter dem Schreibtisch. Ihre Augen waren vom Weinen rot und das Gesicht geschwollen. Der Notarzt nahm gerade die Blutdruckmanschette ab und blickte auf.
»Guten Morgen«, grüßte Jessica.
»So toll ist der Morgen«, brummte er zurück und verstaute die Manschette zusammen mit dem Stethoskop in seiner Tasche. »Ein Kollege ist verstorben.«
Jessica ging nicht darauf ein und wandte sich an die Putzfrau. »Und Sie sind ...?«
»Margot Pflüger«, antwortete sie mit dünner Stimme und zog den Kopf zwischen die Schultern, als erwarte sie, von Jessica geschlagen zu werden.
»Sie sind die Putzfrau?«
Ein bestätigendes Nicken. Frau Pflüger kramte in ihrer Hosentasche vergeblich nach einem Taschentuch und sah entschuldigend auf. Neue Tränen kullerten über ihre Wangen. Der Arzt reichte ihr ein Päckchen und sie nickte ihm dankbar zu, ehe sie sich geräuschvoll schnäuzte.
»Erzählen Sie mal«, bat Jessica sanft. Die arme Frau schien völlig durcheinander zu sein. Kein Wunder, wenn der Chef tot in der Küche lag.
Die Putzfrau schluckte und richtete sich auf. »Ich komme jeden Mittwoch zum Putzen her. Seit fünfzehn Jahren. Normalerweise ist nur Frau Fechner da. Ihr Mann ist immer schon in der Praxis um die Uhrzeit. Allerdings ist sie im Moment im Urlaub. Ich habe aber einen Schlüssel, damit ich reinkann, wenn sie beim Einkaufen ist oder so.« Sie schüttelte verwirrt den Kopf und suchte offenbar nach dem roten Faden.
Jessica ließ ihr die Zeit, die sie brauchte.
»Heute Morgen war die Tür einen Spalt offen. Das ist normalerweise nicht ungewöhnlich, weil die Fechners keine Katzenklappe haben. Chipsy ist schon alt, wissen Sie.« Ihre Stimme drohte zu brechen, aber sie fing sich. »Aber Frau Fechner ist ja verreist. Und der Herr Doktor hätte längst beim Arbeiten sein müssen. Die Praxis macht ja um acht auf. Zuerst habe ich gedacht, dass er vielleicht krank ist. Oder er hat einfach nur vergessen, die Tür zuzumachen. Er ist da ein bisschen nachlässig, der Doktor, wissen Sie. Aber dann bin ich rein. Und da lag er auf dem Boden.« Ein Schluchzen drang über ihre Lippen und die Tränen kullerten wieder. Sie schniefte in das Taschentuch. »Ich habe ihn geschüttelt, aber er hat nicht geantwortet. Da habe ich den Notarzt angerufen.«
Jessica legte ihre Hand auf den Oberarm der Frau und tätschelte sie beruhigend. »Das haben Sie genau richtig gemacht.«
Sie sah mit tränennassem Gesicht zu Jessica auf. »Ich hätte doch nichts tun können, oder?« In ihrem Blick lag Angst.
»Nein, Sie hätten nichts mehr tun können«, mischte sich der Notarzt ein.
Jessica nickte. »Wir haben für den Augenblick alles, was wir wissen müssen. Ich lasse Sie nach Hause fahren. Herr Schober, das ist der nette, junge Mann dort, bringt Sie nach draußen.« Jessica deutete zur Tür, wo Felix mit unerschütterlicher Ruhe stand. Sie wusste, dass ihm nicht die geringste Kleinigkeit entging. »Sag den Kollegen bitte, dass sie Frau Pflüger daheim absetzen sollen«, schnitt sie der Frau das Wort ab. »Ich möchte nicht, dass Sie in dieser Verfassung fahren. Außerdem hat der Arzt Ihnen ein Beruhigungsmittel gegeben, da dürfen Sie gar nicht ans Steuer. Ihre Personalien haben wir, für den Fall, dass wir noch etwas brauchen.«
Felix nahm die Frau beim Arm und begleitete sie nach draußen, wo er sie in die Obhut der uniformierten Kollegen übergab, während Jessica sich dem Notarzt zuwandte.
»Sie waren also zuerst am Fundort.«
»Die Kollegen vom Rettungsdienst haben mich gerufen, als sie ihn gesehen haben. Da war er bereits tot.«
»Und wie kommen Sie zu der Annahme, dass es ein unnatürlicher Tod war?« Auf die Antwort war Jessica wirklich neugierig.
Der Arzt nickte langsam. »Nun, im ersten Augenblick hat nichts darauf hingedeutet. Ich habe zunächst auf einen Infarkt getippt. Alles sah ganz normal aus. Er ist nicht mehr der Jüngste, leichtes Übergewicht, das kommt immer mal vor. Geraucht hat er außerdem, ich habe einen vollen Aschenbecher vor der Tür gesehen.«
»Und was hat Sie dann veranlasst, uns zu rufen?«
»Ganz einfach: Hinter dem Bartresen in der Küche liegt die tote Katze in der Milch. Sie war zwar auch nicht mehr die Jüngste, aber geraucht hat sie definitiv nicht, und dass beide innerhalb kurzer Zeit an derselben Todesursache sterben, war mir etwas zu viel des Guten.«
Jessica unterdrückte ein Schmunzeln beim Gedanken an die qualmende Katze.
»Wenn ich einen Tipp abgeben müsste, würde ich sagen, dass die Milch nicht mehr gut war.« Er malte Gänsefüßchen bei dem Wort ›gut‹ in die Luft.
Jessica nickte langsam und überdachte die Situation. »Das ist in der Tat seltsam.«
»Vermutlich hätte ich keinen Anlass gehabt, an einer normalen Todesursache zu zweifeln, wenn die Katze nicht gewesen wäre.«
»Und der Unglücksfall wäre nie ans Licht gekommen«, ergänzte Jessica. Noch hütete sie sich davor, das Wort ›Mord‹ in den Mund zu nehmen. Die Möglichkeiten waren vielfältig. Bis hin zu der Überlegung, dass alles doch ein Zufall gewesen sein könnte. Ein unwahrscheinlicher, aber im Moment konnte sie nichts ausschließen.
Felix hatte Frau Pflüger zu einem Streifenwagen gebracht und kehrte jetzt zurück.
»Wo ist eigentlich die Neue?«, fragte Jessica und sah sich suchend um.
»Ich habe keine Ahnung.«
Jessica wandte sich an den Notarzt. »Sie können gehen. Danke, dass Sie uns gerufen haben.«
Der Arzt nickte, packte seine Tasche und überreichte ihr den Durchschlag des Totenscheins, auf dem ›unklare Todesursache‹ angekreuzt war, ehe er nach einem kurzen Gruß verschwand.
»Guten Morgen«, sagte eine Frau in den Dreißigern und kam auf sie zu. Ihren Schutzanzug hatte sie abgestreift. Darunter war sie eine auffallende Erscheinung mit unnatürlich rotem Haar. Auch ihr restliches Outfit war alles andere als langweiliger Durchschnitt. Heute trug sie einen Leder-Minirock und eine tief dekolletierte rote Rüschenbluse. Der Aufzug wurde von hochhackigen Glitzerpumps gekrönt, die sie nach getaner Arbeit wieder übergestreift hatte.
Jessica schloss unwillkürlich die Augen. Die Leiterin der Abteilung Spurensicherung, Verena Baal, hatte einen Hang dazu, mit ihrem Äußeren aufzufallen, bisweilen sogar zu provozieren.
Jessica war das einerlei. Sie schätzte die Kollegin für ihre Arbeit, und wenn man hinter ihre Fassade blickte, verbarg sich da ein warmherziger Mensch. Sie war jemand, den man mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen konnte und der sofort kommen würde. Speziell bei ihrem letzten Fall war Verena ihr eine große Stütze gewesen. Auch abseits der Arbeit.
Nur der Anblick ihrer Schuhe verursachte Jessica Schmerzen in den eigenen Füßen, die in bequemen Turnschuhen steckten, und sie schüttelte sich kurz.
»Hallo, Verena«, grüßte sie und freute sich ehrlich, ihre Kollegin zu sehen. Trotz der Umstände. »Kannst du schon was sagen?«
»Sehe ich aus wie ein Hellseher?«, fragte sie spöttisch zurück. »Wir haben die Milchflasche und die Katze eingepackt, und sonst noch die eine oder andere Kleinigkeit. Die Auswertung dürfte ein paar Tage dauern.«
»Darf ich rein?«
»Wir sind soweit fertig.« Verena grinste vergnügt, drehte sich um und stöckelte auf ihren Glitzerpumps davon.
Gemeinsam mit Felix ging sie ins Haus. In dem hellen Flur standen weiße Möbel. Der Wohnbereich dahinter wirkte großzügig, Küche und Wohnzimmer waren nur durch einen Bartresen getrennt. Keine Frage, hier war nichts in die Jahre gekommen. Die Einrichtung war geschmackvoll und modern. Nicht ins Bild passte allerdings die am Boden liegende Person in einer großen weißen Lache.
»Herrje!«, entfuhr es Jessica beim Anblick des Chaos, das sich bot. Glasscherben lagen herum und an einer Stelle rund um den Kopf des Toten zogen sich rote Schlieren durch das Weiß. Überall waren Anzeichen der Arbeit der Spurensicherung zu sehen.
»Hat ein Kampf stattgefunden?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
Jessica nickte und sah sich um. Felix ging zurück zum Auto, während sie sich einen Überblick über die Situation verschaffte.
Langsam ging sie durch das Haus und warf einen Blick in jedes der Zimmer. Auch hier zeigte sich die hochwertige Einrichtung. Die Bewohner hatten Geschmack bewiesen.
Als sie eine Viertelstunde später das Haus verließ, stand neben ihrem Kollegen eine Frau mit langen, blonden Haaren in Jeans und T-Shirt, in der Hand einen Kaffeebecher. Felix winkte Jessica herüber.
»Das ist Charlotte Pietsch, unsere neue Kollegin.«
Jessica ging hinüber und streckte der Frau die Hand entgegen. Sie musste Anfang dreißig sein, war ähnlich groß wie sie selbst und hatte graugrüne Augen und ein freundliches Lächeln auf den Lippen.
»Charlie bitte«, sagte sie und schüttelte die Dargebotene mit der Rechten. In der linken Hand hielt sie einen jener Kaffeebecher, auf denen pummelige Einhörner prangten und mehr oder weniger witzige Sprüche abgedruckt waren. Sie sollten die Flut an Styropor-Bechern eindämmen, die es überall zum Mitnehmen gab.
»Jessica Wolf. Willkommen im Team. Sie können gleich anfangen. Gehen Sie rein und verschaffen Sie sich einen Überblick über die Lage.«
Jetzt breitete sich ein Anflug von Verunsicherung auf dem Gesicht der neuen Kollegin aus. Ihr Blick wanderte zwischen Felix und Jessica hin und her. Schließlich nickte sie und ging davon. Felix und Jessica sahen der neuen Kollegin nach.
»Gib ihr eine Chance«, bat Felix sie um Nachsicht.
»Pfff«, machte Jessica nur, fühlte sich aber unwohl..
»Es ist nicht jeder neue Kollege so wie Dennis.«
Unwillkürlich zuckte Jessica bei der Nennung des Namens zusammen. »Ja, vermutlich hast du recht«, zwang sie sich, zu sagen, und seufzte. »Hat sie schon einmal eine Leiche gesehen?«
»Ich gehe davon aus, dass das nicht ihre erste ist.«
»Wo kommt sie überhaupt her?«
»Aus Frankfurt.«
Überrascht sah Jessica auf. »Ach, und da wollte sie nicht bleiben? Da ist doch sicher mehr los, oder?«
»Die Liebe ...«, sagte Felix nur und grinste. »Kann ich übrigens verstehen.« Sein Grinsen wurde noch ein wenig breiter. »Sie sieht nicht schlecht aus.«
»Felix, untersteh dich! Sie ist eine Kollegin.« Bei allem Talent, das er hatte, ging er doch mit jugendlicher Unbekümmertheit durchs Leben und ließ sich von schönen Frauen schnell begeistern. Aber ein Techtelmechtel am Arbeitsplatz brachte Unruhe ins Revier.
»Ach Jessica, komm schon. Das war doch nur ein Spaß.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir sollten anfangen zu arbeiten«, schlug sie vor. »Wir befragen zuerst die Nachbarn. Du nimmst die linke Seite, ich die rechte. Die Personalien der Schaulustigen sollen die Kollegen von der Streife aufnehmen.«
»Bin schon unterwegs.«
»Den schönen Romeo muss ich auch noch anrufen«, murmelte Jessica vor sich hin.
»Soll ich das übernehmen?«
»Nein, lass mal. Ich mache das schon.«
Jessica zückte ihr Handy und wählte die Nummer des Staatsanwalts, Dr. Romeo Weitbrecht, um ihn in Kenntnis zu setzen. Er war der, der die Leichenöffnung anordnen musste. Ruhig, wie es seine Art war, hörte er zu und entschied dann, sich selbst einen Überblick zu verschaffen.
***
Finn legte den Weg zu seiner neuen vorübergehenden Arbeitsstelle in weniger als zehn Minuten zurück. Nachdem er so bald wach gewesen war, stand er nun zu früh vor dem großen Gebäude, in dem die Büroräume der Zeitung untergebracht waren.
Eigentlich war das ja die Schuld seiner Mutter, sinnierte er. Sie hatte vergessen, dass heute das Praktikum begann, und war in dem Glauben gewesen, dass er zur Schule musste. Dass sie sich so gluckig benahm, hatte er sich allerdings selbst zuzuschreiben. Im Grunde musste er dankbar sein. Nur, manchmal war es schwierig, ihrer Fürsorge zu entrinnen.
Es würde auch wieder besser werden, mahnte er sich zur Geduld, als er an dem hohen, altehrwürdigen Gebäude emporblickte.
Von dem Gefühl, das er gehabt hatte, als er sich beworben hatte, war nicht mehr viel übrig. Eine Gänsehaut hatte er gehabt, als er sich vorgestellt hatte, dass er in Zukunft knallhart recherchieren würde.
Und jetzt? Keine Spur von Aufregung oder gar Erregung weit und breit. Es war ein Job. Wie jeder andere, über den er nachgedacht hatte. Und damit war er weit entfernt von Lokführer, Polizist oder Raumfahrer. War es das, was er wollte? Journalismus? Es musste nicht unbedingt eine Zeitung sein, beruhigte er sich, wie er seiner Mutter heute Morgen erklärt hatte. In der heutigen Zeit gab es eine Vielzahl an Möglichkeiten.
Aber interessierte ihn das wirklich? So ganz packte ihn die Vorstellung nicht, wie er zugeben musste. Nun, genau dazu war er hier, dachte er. Ein Hoch auf den Erfinder der Praktika! Vielleicht konnte er herausbekommen, ob Journalist ein Beruf für das ganze Leben war.
Er drückte die Tür zum Eingangsbereich auf und sah sich unentschlossen um. Hier sah es aus wie in einer Behörde. Frauen hinter Schreibtischen, die in ihre Rechner hackten, davor Bürger, die ihr Anliegen vorbrachten. Gab es noch immer so viele Menschen, die eine Annonce aufgeben wollten? Im Zeitalter von eBay und Co. wirkte das ein wenig altmodisch.
Unsicher trat er an einen der Tische heran, nachdem vor ihm eine ältere Dame im Kostüm aufgestanden war.
»Guten Morgen, mein Name ist Finn Wolf. Ich darf heute hier ein Praktikum beginnen.«
Unschlüssig, was von ihm erwartet wurde, blieb er zunächst stehen und ließ die Musterung der Angestellten über sich ergehen, ehe sie nach dem Telefonhörer griff.
»Guten Morgen und herzlich willkommen. Ich rufe oben in der Abteilung an und lasse Sie abholen. Sie dürfen gern Platz nehmen.« Sie wählte schon, blickte ihn über den Rand ihrer Brille hinweg aber an und deutete auf eine Sitzgruppe gegenüber.
Während er darauf wartete, in Empfang genommen zu werden, beobachtete Finn weiter die Vorgänge um ihn herum. Hier ging es zu wie auf dem Bahnhof. Ständig kamen und gingen Menschen und wollten irgendetwas von den Frauen in der Empfangshalle. Offenbar wurden hier nicht nur Annoncen aufgegeben. Vielmehr neue Abos abgeschlossen, Beschwerden eingereicht und sogar Konzertkarten konnte man kaufen.
Dann kam eine strahlend lächelnde junge Frau auf ihn zu. Das blonde Haar kurz geschnitten, aber in einer modischen Frisur schräg zur Seite gekämmt. Sie war dezent geschminkt und trug eine locker sitzende Bluse und enge Jeans. Sie konnte kaum älter sein als er selbst, dachte er, und stand langsam auf. Sie erinnerte ihn an ein Model, das einen gewollt schlabbrigen Look seriös präsentieren musste. Dazu passten die Grübchen in ihrem Kinn aber nicht ganz, die ihr etwas Verspieltes, beinahe Spitzbübisches verliehen, wenn sie lächelte.
»Guten Morgen, ich bin Pia Schreiner«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Du bist Finn, richtig?«
Finn nickte nur verdattert und schüttelte ihre Hand.
»Dann kannst du gleich mitkommen. Ich zeige dir alles und bin dein Babysitter für die ersten Tage. Es würde sich also lohnen, wenn du dich gut mit mir stellst.«
Sie zwinkerte ihm zu und Finn hatte keine Zweifel, dass das eine große Herausforderung war. Pia wandte sich ab und ging voran in Richtung der Fahrstühle. Sein Blick blieb an ihrer Rückseite kleben, als er ihr folgte.
Zukunftswünsche hin oder her, auf dieses Praktikum freute er sich nun wirklich. Pia machte einen netten Eindruck und war obendrein ein Hingucker. Zwei Wochen durfte er nun ihre Nähe genießen. Journalismus war vielleicht doch eine tolle Sache!
***
Felix und die Neue befragten weitere Nachbarn, was beinahe den ganzen Vormittag in Anspruch nahm. Der Staatsanwalt war eingetroffen und sah sich um, während Verena ihren Krempel zusammenpackte und zurück ins Büro fuhr.
»Und, gibt es schon etwas?«, fragte Dr. Weitbrecht, als Jessica sich zu ihm gesellte.
»Nichts bis jetzt«, antwortete sie und musterte ihn.
Er sah aus wie aus dem Ei gepellt. Trotz der wärmeren Temperaturen trug er einen Anzug, darunter ein langärmliges Hemd. Jessica hätte einen Zwanziger darauf gewettet, dass beides maßgeschneidert war. Der Staatsanwalt galt als eitel und hatte sich nicht zu Unrecht den Spitznamen ›der schöne Romeo‹ oder ›Dr. Romeo‹ eingehandelt. Allerdings wurde er so nur hinter vorgehaltener Hand genannt. Im Kriminalkommissariat war er bekannt dafür, dass er korrekt und verlässlich arbeitete. Ob er tatsächlich so unnahbar war, wie er wirkte, wusste niemand genau. Irgendwie war er allen auf seltsame Weise suspekt. Auf Jessica wirkte er stets, als habe er einen Stock verschluckt.
»Die Sache mit der Katze stinkt zum Himmel«, stellte er fest. »Sie haben sie ebenso wie den Leichnam mitgenommen. Sannwald wird seine Freude haben, wenn er eine Katze zum Obduzieren bekommt.«
Jessica blickte überrascht auf. Dr. Romeo wirkte heute außerordentlich aufgeräumt, für seine Verhältnisse geradezu witzig. Bei allem Mitleid mit dem armen Tier konnte auch sie sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie daran dachte, wie der Rechtsmediziner die Katze auf den Tisch bekam.
»Habt ihr was?«, fragte Jessica, als Felix und Charlie näherkamen.
»Frau Fechner ist noch bis morgen verreist«, erklärte Felix.
»Vermutlich zusammen mit ihrem Liebhaber«, ergänzte Charlie und grinste breit.
»Ach ne, oder?«
»Doch. Die Nachbarin gegenüber hat sehr viel Zeit und steht gelegentlich am Fenster.« Sie nickte vielsagend. »Es hat nicht viel Überredungskunst gebraucht, damit sie erzählt hat, wer hier ein- und ausgeht. Sie konnte mir sogar das Kennzeichen des Fahrzeuges nennen. Ich habe es schon zur Halterermittlung weitergegeben. Er heißt Gregor Blum.«
Jessica nickte. Zumindest ihre Arbeit erledigte die Neue ordentlich.
»Ist er wirklich ihr Liebhaber?«
»Keine Ahnung. Er besucht die Arztgattin auf jeden Fall recht oft. Und immer nur dann, wenn der Herr Doktor nicht zu Hause ist.«
»Okay, wir fahren zurück ins Büro. Sie kommen mit mir.« Jessica deutete auf Charlie. »Wir machen einen Abstecher in die Arztpraxis. Felix, du informierst den Chef. Ich möchte bei der Obduktion dabei sein.«
»Ich auch«, warf der Staatsanwalt eilig ein und Jessica sah ihn mit zunehmender Überraschung an. Der schöne Romeo unterdrückte ein Lachen und wollte sich den Anblick Sannwalds offenbar nicht entgehen lassen.
Sie nickte. »Also schön, fahren wir.«
***
Der Weg in die Praxis war nicht besonders lang. Trotzdem war das Schweigen in Jessicas Wagen unangenehm.
»Sie sind sauer, weil ich zu spät war«, stellte Charlie schließlich fest und warf einen Blick zu ihrer Kollegin hinüber.
Jessica starrte geradeaus auf die Straße und biss die Zähne zusammen. Sie wusste, dass sie nicht fair war. Sie sollte der Neuen wenigstens eine Chance geben, wie Felix vorhin gesagt hatte.
»Es tut mir leid«, fuhr sie fort. »Was das anbelangt, bin ich leider ein Chaot. Ich habe kein optimales Zeitmanagement und vergesse schon mal die Uhr. Morgens aufstehen ist nicht meine Lieblingsdisziplin. Aber dafür macht es mir nichts aus, abends länger zu arbeiten. Wenn man mich braucht, bin ich da. Ich kann Ihnen nur versichern, dass ich alles tun werde, um mich schnell einzugewöhnen und um Ihnen bei diesem Fall zu helfen. Und bei den anderen natürlich auch.«
Nun sah Jessica doch zu ihr hinüber. Sie hatte ein weiches Profil. Auch die langen Haare standen ihr hervorragend. Schlank und mit den großen, graugrünen Augen verdrehte sie sicher manchem Mann den Kopf.
Sie seufzte und sprang über ihren Schatten. »Tut mir leid«, sagte sie schließlich. »Ich hatte ein bisschen Pech mit meinem letzten Partner, aber das sollten Sie natürlich nicht ausbaden müssen. Ja, ich war verärgert, dass Sie zu spät waren. Ich bin ein Pünktlichkeitsfanatiker.«
»Puh«, machte Charlie nur und wandte den Kopf.
In dem Moment, als ihre Blicke sich trafen, hatte sich Entsetzen auf Charlies Gesicht ausgebreitet, das so komisch wirkte, dass Jessica unwillkürlich zu lachen begann. Charlies Miene verwandelte sich ebenfalls in ein breites Grinsen.
»Fangen wir noch einmal von vorn an. Jessica Wolf. Willkommen im Team.« Sie streckte die Hand hinüber.
Charlie schüttelte die Dargebotene. »Charlie Pietsch.«
Das folgende Schweigen war weniger drückend. Als Jessica ihren Wagen in eine Parklücke manövrierte, schien das Eis gebrochen, denn Charlie nickte anerkennend.
»Rückwärts einparken ist leider auch nicht meine Paradedisziplin«, murmelte sie vor sich hin.
»Dafür haben wir ja das Blaulicht«, scherzte Jessica. »Damit sollte parken eigentlich überall möglich sein.«
»Ich schätze, ich bediene das Klischee der blonden Frau.«
Jessica lächelte süffisant. »Sorry, aber das zieht bei mir nicht. Wer es so weit gebracht hat, kann nicht blöd sein. Darauf mögen manche Männer hereinfallen, aber bei mir klappt das nicht.«
Einen Moment sah Charlie sie schweigend an und Jessica glaubte, etwas wie Anerkennung in ihrem Blick auszumachen. »Ihnen kann man nicht leicht etwas vormachen, oder?«
Jessica zuckte mit der Schulter und verriegelte den Wagen. Sie zwinkerte Charlie zu und grinste. »Am besten überzeugt man mich immer noch mit guter Arbeit.«
Charlie nickte und folgte ihr schweigend.
Die Kinderarztpraxis lag im ersten Stock eines älteren Gebäudes. Die Mauer um den Eingangsbereich war mit kaum leserlichen Schmierereien vollgesprayt und im Treppenhaus roch es abgestanden nach Bohnerwachs und dem undefinierbaren Mief der Achtzigerjahre, der älteren Mehrfamilienhäusern oft anhaftete. Jessica fragte sich, wo die Assoziation herkam, und erinnerte sich daran, dass ihr Kinderarzt einst in einem ähnlichen Gebäude gewesen war. Ohnehin hatte sie eine Abneigung gegen Ärzte und ging nur dann in eine Praxis, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
»Gruslig«, sagte Charlie hinter ihr und sprach damit aus, was Jessica dachte. Ob sie ähnliche Kindheitserinnerungen plagten?
Oben angekommen, wirkte die Praxis dagegen erfrischend hell und freundlich. Zwar war die Einrichtung größtenteils weiß, aber überall klebten Wandtattoos oder Kinderbilder, die erst gar kein Gefühl von Sterilität aufkommen ließen.
Hinter dem Anmeldetresen standen drei Frauen unterschiedlichen Alters zusammen, die wie verschreckte Hühner ängstlich zu ihnen herüberblickten. Eine hatte offensichtlich geweint, die andern wirkten angespannt. Kinder waren keine zu sehen und auch sonst war es still in den Praxisräumen.
»Guten Morgen«, grüßte Jessica in die Runde. »Mein Name ist Jessica Wolf, Kriminalhauptkommissarin der Kripo Ulm.« Sie zeigte ihren Ausweis, den jedoch keine der Frauen näher ansehen wollte. »Das ist meine Kollegin Charlotte Pietsch.«
»Charlie bitte«, sagte die und Jessica warf ihr einen irritierten Blick zu.
»Charlie Pietsch«, wiederholte sie und steckte den Ausweis weg. »Sie wissen bereits, was geschehen ist?«
Die Frauen nickten ängstlich.
»Frau Pflüger hat es uns heute Morgen erzählt«, sagte schließlich die älteste von ihnen. »Weil wir sie angerufen haben«, schob sie nach. »Als der Chef nicht gekommen ist. Wir haben die Patienten weggeschickt, die schon da waren, und die anderen Termine abgesagt. Wie soll es denn jetzt weitergehen?«, platzte es aus ihr heraus.
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen«, antwortete Jessica sanft. Sie hatte Verständnis dafür, dass die Frauen um ihren Arbeitsplatz bangten. Aber sie hatte Licht in einen Todesfall zu bringen. »Wir sind hier, um die näheren Umstände von Dr. Fechners Tod zu klären.«
»Es war doch ein Unfall, oder?« Eine pummelige Frau mit schwarzem Haar sah sie mit großen Augen an. Sie war die jüngste der drei und Jessica war sich nicht sicher, ob sie überhaupt schon ihre Ausbildung beendet hatte.
»Im Moment wissen wir nicht viel«, antwortete sie vage. »Aber deswegen sind wir ja hier. Wir würden Sie gern einzeln befragen. Können wir uns irgendwohin zurückziehen?«
Die Älteste erhob sich. »Im Wartezimmer ist Platz, ist ja niemand da.« Sie hörte sich traurig an. »Oder im Pausenraum.«
»Schön, dann kommen Sie bitte mit mir in den Pausenraum«, sie deutete auf die junge Frau, »und Sie gehen bitte mit Frau Pietsch.«
Jessica sah Charlie kurz an, aber die nickte resolut und ging bereits voran in das Wartezimmer.
»Sie warten bitte, bis wir Sie rufen.«
Die mittlere der drei Frauen nickte verunsichert und tupfte sich mit einem Taschentuch über die Augen. Nur mit Mühe gelang es ihr, ein Schluchzen zu unterdrücken.
Die junge Frau ging mit unsicheren Schritten voran und Jessica folgte ihr durch eine Tür in einen Raum, der eine Küchenzeile beherbergte. Außerdem standen ein Tisch und vier Stühle darin.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, wollte die junge Sprechstundenhilfe wissen, und Jessica hatte den Eindruck, dass sie mehr aus Verlegenheit, denn aus Höflichkeit fragte.
»Gern«, antwortete sie. Wenn es dem Mädchen half, sich zu sammeln, sollte es ihr recht sein. Außerdem hatte sie wegen ihres überstürzten Aufbruchs heute Morgen ein Koffeindefizit.
Sie setzte sich und wartete, bis die Frau ihr einen Kaffee aus der Kanne eingeschenkt hatte. Schließlich stellte sie den Becher auf dem Tisch vor Jessica ab und setzte sich ebenfalls. Nur, um gleich wieder aufzuspringen.
»Milch und Zucker?«
»Danke, ich trinke meinen Kaffee schwarz.«
Im Zeitlupentempo sank sie auf den Stuhl zurück und blickte Jessica mit schreckgeweiteten Augen an.
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, beruhigte sie die Frau. »Das ist nur eine Befragung, weil ein paar Dinge unklar sind. Fangen wir doch zunächst mit Ihrem Namen an.«
»Simone Kraft.«
»Ich brauche später Ihren Ausweis.«
Sie nickte.
»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«
»Seit einem Jahr. Davor habe ich bei Dr. Fechner meine Ausbildung gemacht. Er hat mich direkt übernommen.«
»Dann müssen Sie ganz schön tüchtig sein«, fühlte Jessica vor. Das Mädchen war kaum älter als Finn und hatte vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben mit der Polizei zu tun.
Sie zuckte mit der Schulter, nahm das Lob aber kaum wahr.
»Wie war das Verhältnis zu Ihrem Chef?«
»Immer gut«, sagte sie eilig. »Er war freundlich und nett und das Klima war toll. Ich hätte mir nichts Besseres vorstellen können, als hier zu arbeiten.«
Beim Gedanken an ihre unsichere Zukunft sank sie in sich zusammen.
»Mit den Kolleginnen gab es auch nie Ärger?«
»Ich habe mich mit allen gut verstanden.«
»Damit meinte ich nicht Sie. Eher das Verhältnis der Kolleginnen zu Dr. Fechner.«
»Oh«, hauchte Frau Kraft und blickte auf die Tischplatte. »Mir ist nichts bekannt«, würgte sie schließlich hervor. »Ich arbeite ja auch noch nicht lange hier.«
Jessica runzelte die Stirn. Wenn man in einem so kleinen Team zusammenarbeitete, blieb es nicht aus, dass man viel aufschnappte. Sicher hätte Frau Kraft mitbekommen, wenn es Ärger gegeben hätte. Es sei denn ...
»Hatte Ihr Chef mehr als ein gutes Verhältnis zu Ihnen?«, hakte sie nach, und als die Frau zusammenzuckte, wusste sie, dass sie den richtigen Riecher gehabt hatte.
»Nicht zu mir«, entfuhr es Frau Kraft.
»Aber zu einer Kollegin. Zu welcher?«
Die Arzthelferin schwieg und sah Jessica nicht an.
»Hören Sie, wir verdächtigen niemanden. Noch wissen wir nicht einmal, was überhaupt passiert ist. Im Moment versuche ich nur, mir einen Überblick zu verschaffen. Und da hilft mir das kleinste bisschen Information, das Sie mir geben können. Von mir wird niemand erfahren, dass ich das von Ihnen weiß.«
»Wirklich?«
»Ich werde tun, was ich kann«, versicherte Jessica.
»Ich bin mir ja auch nicht sicher.« Frau Kraft faltete die Hände wie zum Gebet, nahm sie dann aber schnell wieder auseinander und fuhr sich über das Gesicht. »Ich glaube, er und Franzi hatten ein Verhältnis.«
»Wer ist Franzi?«
»Meine Kollegin, die noch draußen wartet. Franziska Sieber.«
»Wissen Sie das oder vermuten Sie es nur?«
Nun legte sie die Hände flach auf den Tisch. »Nein. Ich sagte ja, dass ich mir nicht sicher bin. Es waren mehr die versteckten Gesten. Hier eine zufällige Berührung, da ein kleines Lächeln. Er war nie ungerecht zu jemandem von uns«, fügte sie eilig hinzu. »Aber zu Franzi war er immer ein bisschen netter als zu mir oder Britta.«
Jessica machte sich eine entsprechende Notiz in ihrem Buch und trank einen Schluck Kaffee.
»Wie war sein Verhältnis zu den Patienten?«
»Er war ein toller Arzt«, sagte Frau Kraft mit tiefer Überzeugung in der Stimme und zum ersten Mal hatte Jessica das Gefühl, dass die Frau keine Angst mehr vor ihr hatte. »Die Kinder haben ihn geliebt. Er hatte immer ein nettes Wort für besorgte Mütter oder ängstliche Patienten. Und fragen Sie mich nicht, wie er das geschafft hat, aber er hat die Kinder, egal welchen Alters, immer um den Finger gewickelt. Sie hatten alle Vertrauen zu ihm und wenn doch mal eines geweint hat, hat er auch das hinbekommen.«
»Wissen Sie sonst etwas? Hatte Dr. Fechner Feinde?«
»Der Chef?« Frau Kraft sah sie an, als spräche sie von jemand anderem als ihrem Arbeitgeber. »Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«
Jessica nickte langsam und kam zum Ende. »Gut, dann gehen wir wieder nach draußen«, sagte sie. »Sie dürfen mir noch Ihren Ausweis zeigen und ich werde Frau Sieber befragen.«
Ein besorgter Blick traf sie.
»Ich werde nichts sagen.«