Lawinengespür - Paula Schweers - E-Book

Lawinengespür E-Book

Paula Schweers

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Beschreibung

Es gibt zwei Arten, auf das Heranrollen einer Lawine zu reagieren: Die einen erstarren, die anderen ergreifen die Flucht. Umgeben von schlecht laufenden Berghotels und ordentlich bepflanzten Vorgärten wachsen die Halbgeschwister Nora und Leo in einem bayerischen Dorf auf. An den zu guten Tagen löst Nora der Mutter Schmerztabletten in Wellnesswasser mit Pfirsichgeschmack auf, wischt Wimperntusche aus ihrem Gesicht. Leo zertrümmert Fenster und Erwartungen, dealt auf dem Schulhof. Als ihr Elternhaus in Flammen aufgeht, verschwindet Leo spurlos. Zehn Jahre später steht Nora in Berlin als junge Geologin kurz vor ihrem Durchbruch. Sie weiß nicht, dass Leo sich nahe Moskau eine prekäre Existenz aufgebaut hat: Mit den europäischen Sanktionen nach der Krim-Annexion und der Zuspitzung im Donbass floriert der Schwarzmarkt, Leo treibt per Anhalter durchs Land und schmuggelt westliche Waren. Während seine Schwester versucht, alles unter Kontrolle zu behalten, hat Leo alle Bindungen gekappt, lebt ein freies, schutzloses Leben. Doch beide eint ein besonderes Talent: die Vorahnung von Katastrophen, ihr »Lawinengespür«. Und so nehmen beide das beginnende Beben wahr – ein Unheil naht. Paula Schweers erzählt die Geschichte zweier Halbgeschwister, deren Sinne das Leben zu früh geschärft hat. Ein Debüt von souveräner Kraft und mitreißender Erzähllust.

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Es gibt zwei Arten, auf das Heranrollen einer Lawine zu reagieren: Die einen erstarren, die anderen ergreifen die Flucht. Umgeben von schlecht laufenden Berghotels und ordentlich bepflanzten Vorgärten wachsen die Halbgeschwister Nora und Leo in einem bayerischen Dorf auf. An den zu guten Tagen löst Nora der Mutter Schmerztabletten in Wellnesswasser mit Pfirsichgeschmack auf, wischt Wimperntusche aus ihrem Gesicht. Leo zertrümmert Fenster und Erwartungen, dealt auf dem Schulhof. Als ihr Elternhaus in Flammen aufgeht, verschwindet Leo spurlos.

Zehn Jahre später steht Nora in Berlin als junge Geologin kurz vor ihrem Durchbruch. Sie weiß nicht, dass Leo sich nahe Moskau eine prekäre Existenz aufgebaut hat: Mit den europäischen Sanktionen nach der Krim-Annexion und der Zuspitzung im Donbass floriert der Schwarzmarkt, Leo treibt per Anhalter durchs Land und schmuggelt westliche Waren. Während seine Schwester versucht, alles unter Kontrolle zu behalten, hat Leo alle Bindungen gekappt, lebt ein freies, schutzloses Leben. Doch beide eint ein besonderes Talent: die Vorahnung von Katastrophen, ihr »Lawinengespür«. Und so nehmen beide das beginnende Beben wahr – ein Unheil naht.

Paula Schweers erzählt die Geschichte zweier Halbgeschwister, deren Sinne das Leben zu früh geschärft hat. Ein Debüt von souveräner Kraft und mitreißender Erzähllust.

 

 

Für Marina

 

Inhalt

Prolog

Berlin, Juli 2019

Moskau, Juli 2019

Berlin, Juli 2019

Moskau, Juli 2019

Berlin, August 2019

Moskau, August 2019

Berlin, August 2019

Moskau, August 2019

Berlin, August 2019

Moskau, August 2019

Berlin, November 2019

Bayerisch Eisenstein, November 2019

Dezember 2019, Bayerisch Eisenstein

Epilog

 

Prolog

Bayerisch Eisenstein, Dezember 2019

Es hat sich wenig verändert. Der einzige Unterschied ist, dass vor zehn Jahren mein großer Bruder Leo noch neben mir auf dem Feld stand und in die leuchtenden Fenster unseres Hauses starrte. An den zu guten Tagen, die für unsere Mutter Clara den Morgen zur Nacht und die Nacht zu einem Vollrausch werden ließen, wurden wir zwischen den Getreidehalmen unsichtbar, die der Wind wie Wellen zum Wogen brachte. Wir wussten, dass das Haus voller Menschen war und Clara am nächsten Morgen Schmerztabletten in Wellnesswasser mit Pfirsichgeschmack auflösen und sich für das Chaos entschuldigen würde, das sie in unseren Zimmern hinterlassen hatten.

Es hat sich wenig verändert. Das Drama folgt Leo wie sein Hund, den ich ins Tierheim bringen musste, weil zu viele Flöhe in seinem Fell lebten. Immer wieder schleicht sich mein Bruder heran. In den zehn Jahren, die er verschwunden war, flutete er meine Gedanken, als er vor ein paar Wochen zurückkam, floss das Wasser in seine Lungen. Sein Gesicht schimmerte blau, lila, grün. Brandwunden überzogen seinen Rücken wie Masern. Die Rippen auf der linken Brustkorbseite waren zersplittert. Seine schwarzen Locken, an denen ich als Kind gezogen habe und die alle bewunderten, hatte er abrasiert. Sie wachsen nur langsam nach. Mittlerweile ist er fast achtundzwanzig, die vielen Jahre auf der Straße haben Spuren in seinem Gesicht hinterlassen: Auf der Stirn sind Falten entstanden, viele seiner Zähne wackeln. Die Ärztin gibt sich Mühe und hat ebenso tiefe Augenringe wie ich. Immer wieder überprüft sie seine Vitalwerte, immer wieder sagt sie: »Mensch, der Junge ist echt zach, gell?«

Es hat sich wenig verändert. Eisenstein besteht aus ordentlich bepflanzten Vorgärten und schlecht laufenden Berghotels. Die Winter sind milder geworden. Trotzdem klaftert der Schnee bungalowhoch auf den Gipfeln. Auf Spaziergängen hört man es knallen und krachen, kleine Lawinen reißen Geröll und marodes Holz mit sich. Vor zehntausend Jahren schmolzen hier die letzten Eismassen vom Großen Arber und flossen als Gletscher ins Tal. Nur wenige Pflanzenarten überstanden die Erwärmung auf Kälteinseln im Wärmemeer, wie mein Vater es uns einmal erklärt hatte. Ich habe diese Beschreibung immer gemocht, macht sie das Dorf doch zu einem Ort, der potenziell vom Aussterben bedroht ist. Aus dem gleichen Grund sympathisierte ich als Jugendliche mit sich ausweitenden Ozonlöchern, heißer werdenden Sommern, dem demografischen Wandel, der ganze bayerische Landstriche veröden ließ.

Es hat sich wenig verändert. Tumbe Männer verbrennen Laub und Amazon-Kartons in ihren Feuerschalen. Sie grillen selbst erschossenes Wildschwein und interessieren sich nicht für die Blicke einer jungen Frau aus der Stadt. Sie ignorieren mich wie die Kälte, hacken in Muskelshirts Holz und entblößen ihre Tribals. Manche von ihnen müssten mich noch kennen, aber als ich grüße, tun sie so, als wäre ich unsichtbar. Hier redet man nicht mit Weggezogenen. Lieber zieht man Zäune um seine Grundstücke oder lässt blickdichte Hecken wachsen.

Es hat sich wenig verändert. Hinter der Grenze zu Tschechien, etwa eine Autostunde entfernt, liegt Bayerns Hinterhof, der große Markt von Folmava. Auf den Ladentischen fliegender Stände liegen Plastikspielzeug, Räucherstäbchen und billige Handys aus. An der Straße nach dem Grenzposten reihen sich Nachtclubs und Casinos aneinander, vor einer Großtankstelle parken Autos mit deutschen Kennzeichen. Alles, was in den Kur- und Urlaubsorten von den Straßen verschwunden ist, lässt sich hier inmitten der Wohnhäuser finden. Was 1944 die Panzerschokolade war, ersetzt seit 2007 den Griechen das Koks und noch länger der bayerischen Landjugend die Metropole. Mit zehn aßen die Jungs Ingwerbonbons und Pistazienkekse, bis ihre Münder brannten und die Ohren kribbelten. Mit vierzehn brachte Leo, frisch gewaschen und mit Bianchi-Trikot bekleidet, eingerollte Päckchen Crystal Meth im Oberrohr seines Rennrads aus Folmava mit. Die halbe Schule kaufte bei ihm: die Linksjugend mit ihren letzten lebenden Emos, die Landjugend mit zu Hahnenkämmen gegelten Robbie-Williams-Haarschnitten. Jungs in Jogginghosen und Springerstiefeln, Nerds mit Zöpfen, riesigen Rucksäcken und zu langen Fingernägeln, die auf Blicke der schönen Mädchen aus der Raucherecke hofften. Ihnen ging es nicht um ein kalkuliertes Wirkungsfeuerwerk einzelner Substanzen wie den Großstadtjugendlichen, die mit Sorgfalt nach der idealen Keta-Koks-Kombo suchten, sondern um einfaches Wegballern: Rausch, Betäubung, Zerstörung. Dabei halfen Rum-Cola, Wodka-O, Erdbeer- und Apfelschnaps in Pappbechern, das gemeinsame Vorglühen auf zertretenen Rasenflächen mit dem Rücken an den Bierwagen für Scheunenfest oder Schaumparty. Manchmal fand ich Leo nach so einer Nacht bewusstlos in einem Vorgarten oder im Park unter einer Sprinkleranlage, die den Rasen benetzte. Er schlief seinen Rausch aus. Oft saß er auch bei den Männern, die vor dem Bahnhof schliefen, und trank mit ihnen Bier, das er kastenweise für sie kaufte. Als ich aufhörte, Zöpfe zu tragen, anfing, mir die Haare pink zu färben und mit meinen Freundinnen Röcke und Piercings zu tauschen, saß er immer noch auf einer Bank am Gleis, als wartete er auf einen verspäteten Zug. Kurz bevor er verschwand, sah ich ihn vor dem Supermarkt herumlungern, mit roten Augen und zerfetzten Schuhen. Er war gerade erst aus Russland zurückgekehrt, aus der letzten intensivpädagogischen Maßnahme, die meinen Eltern noch eingefallen war. In jeder Hand hielt er eine Plastiktüte. In seinem Mundwinkel steckte eine abgebrannte Kippe. Ich hoffte, dass er unsere Gruppe nicht wahrnahm, als wir uns umdrehten und wegliefen. Die anderen kichernd und aufgekratzt, ich mit einem schweren Stein im Magen.

Es hat sich wenig verändert. Wenn Leo mich anruft, befiehlt er mir, sofort ins Krankenhaus zu kommen. Er fühle sich einsam und ich sei schließlich alles, was er noch habe. Und er sagt »Nora«, und ich hoffe, dass er übertreibt und es längst nicht so schlimm um ihn steht, wie er tut. Aber natürlich steige ich trotzdem in den Zug und fahre zur Klinik. Und wenn ich ins Zimmer komme, sagt Leo stolz: »Dieser Kroschka da wird mal Professorin!«, und die Pfleger, die damit beschäftigt sind, Schläuche auszuwechseln, drehen sich um und lächeln. »Reg dich nicht auf, ist doch alles schick«, sagen sie.

Es hat sich wenig verändert. Der einzige Unterschied ist, dass vor zehn Jahren mein großer Bruder Leo noch neben mir auf dem Feld stand und in die leuchtenden Fenster unseres Hauses starrte. Wenn draußen die Flüsse anschwollen und das Schneewasser mit den Gebirgsbächen hinunter ins Tal strömte, begann Claras Körper Tränen zu produzieren, die als Rinnsale aus ihren Augen flossen. Ich löste ihr Schmerztabletten in Wellnesswasser mit Pfirsichgeschmack auf, entschuldigte mich für das Chaos, das unsere dreckigen Schuhe auf dem Fischgrätenparkett hinterließen. Wir schlugen die Haustür hinter uns zu, liefen über den Marktplatz, und Leo steckte in die Taschen, was sich im Vorbeigehen mitnehmen ließ. Im Bus frühstückten wir Heidelbeeren. Mit violett verfärbten Fingern flocht ich Leo Zöpfchen. Seine Haare verfilzten im Nacken, auf seinem Lieblingspullover stand unter einem Bild von Britney Spears »Rebel without a cause«. Wir fuhren von Dorf zu Dorf, schwammen im Arbersee von Insel zu Insel, liefen den Wolkenschatten nach, die über die Felder zogen. Leo und ich haben uns immer alles aufgeteilt: Ich kochte Suppen, Kaffee, wusch die Wäsche, wischte den Staub von den Böden und die Wimperntusche von Claras Gesicht. Leo zertrümmerte Fenster und Erwartungen, bemalte Wände, Autos, Güterzüge. Alles ging seinen Gang. Leo zog zum ersten Mal selbst eine Nase in der Werkstatt eines depressiven Glasmachers und kam glücksselig zurück. Schnell suchte er nach der perfekten Route nach Tschechien, die Geldscheine knisterten bald in seinen Hosentaschen. Seine Stammkunden kauften bei ihm Crystal, um einen gut bezahlten Job effektiver zu erledigen, den sie hassten, um genug Geld zu verdienen, um Crystal zu kaufen. Oder sie brauchten den Stoff für das gnadenlose zweite Staatsexamen, für Mädelsabende und lange Nächte am Feuer in den leerstehenden Glashütten, die einst den Wohlstand der Region sicherten. Wir wuchsen aus den Baggy Pants heraus, in die Skinny Jeans hinein, Leo blieb versetzungsgefährdet, ich schrieb eine Eins mit Sternchen nach der anderen. Die Mädchen mit den bunten Nägeln und glänzenden Lippen, mit denen wir auf Parkhausdächern in Cham oder Deggendorf rumhingen, wurden reihenweise abgeschoben, nach Moldawien oder in den Kosovo, andere Mädchen rückten an ihre Stelle.

Es hat sich wenig verändert. Tumbe Männer trimmen mit abweisenden Gesichtern die Hecken in ihren Vorgärten. Die meisten von ihnen haben ihre Drogenphase längst hinter sich. Andere hängen immer noch drin und fahren jeden Freitag nach der Arbeit über die Grenze. Ich weiß nicht, was sie davon haben, aber ich kann es mir vorstellen, wenn ich ihnen beim Holzmachen zusehe. Wie am Fließband zerbrechen sie Reisig, spalten die Scheite, zerkleinern Baumstämme mit einer Kettensäge, schleppen den Holzkorb ins Haus. Die Hecken und Kinder wachsen ihnen über den Kopf. Der Schnee kleistert ihre Häuser zu wie Bauschaum. Sie haben immer zu tun und würdigen mich keines Blickes. Nur die Natur strahlt mich an, ein weißer Himmel will beachtet werden. An den zu guten Tagen, die für Clara den Morgen zur Nacht und die Nacht zu einem Vollrausch werden ließen, wurden wir zwischen den Getreidehalmen unsichtbar, die der Wind wie Wellen zum Wogen brachte. Die Fenster unseres Hauses leuchteten zu uns herüber. Die Straße war voller Autos mit ortsfremden Kennzeichen und achtlos hingeworfener Fahrräder. Hüte und Bolero-Jäckchen hingen an den Ästen des Apfelbaums vor dem Haus. Notgemeinschaften aus Männern und Frauen warfen die Arme in die Luft. Nachbarn linsten durch die Rollläden, irgendwer rief immer die Polizei. Schlager ballerten, Lachen schrillte, Geschirr zerbrach.

Ich setze mich auf den Boden, taste nach Leo. Meine Hand findet gefrorene Erde, er schläft vierzig Kilometer entfernt in seiner Klinik. Ich stehe wieder allein da. Es hat sich wenig verändert.

 

Berlin, Juli 2019

Eigentlich veränderte sich nie etwas, bis ich eines Tages plötzlich verrückt wurde. In jedem Winter verlor Berlin neu seinen Charme, wurde schlammig und farblos. Das einzig Bunte zwischen schwarzen Mänteln, Regenschirmen und Mützen waren die glitzernden Smartphones der Teenies. Die U-Bahn roch nach nassem Hund, Zimt und Nelken, die Bahnsteige klebten vor Glühwein. Die Touristen blieben bis nach Silvester, dann leerten sich die Straßen für ein paar Monate. Das Stadtzentrum wurde zu einer öden Kulisse: Zwischen den Mode- und Bäckereiketten ragte der Fernsehturm in graue Wolken. Im Frühling kehrten dann die Touristen zurück und verstopften mit ihren Koffern die Züge. Die Stadt blühte auf. Junge Frauen mit Angeber-Englisch verkauften Smoothies an Muttis, die sich bei den ersten Sonnenstrahlen auf Parkbänken trafen. Säuglinge krähten nach einer Brust. Schwule brachten ihre Dates zur S-Bahn, verteilten Küsse an die niedlichen Jungs aus der Provinz mit ihren Fußballerhaarschnitten und groben Turnschuhen. Der Sommer war immer die schönste Zeit, in der ich die Stadt sogar ein bisschen liebte. Die Kellner stellten die Stühle und Tische auf die breiten Fußwege vor den Restaurants. Es wurde wieder draußen gefrühstückt, geraucht, getrunken. Auf dem Weg in die Bibliothek, die nur zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt lag, sog ich die Atmosphäre der ersten Julitage auf. Es war acht Uhr morgens, und ich hatte vor, mich in die Sonne zu setzen und mir dafür einen Kaffee und ein Brötchen bei der neuen Bäckerei zu holen, von der Harriet erzählt hatte. Angeblich hatten sie noch besseren Cappuccino als unser Stammladen, den wir für seine cremigen Pastéis de Nata liebten. Meine Hände zitterten, als ich in der Tasche nach meinem Geldbeutel kramte, um nachzusehen, ob ich Bargeld dabeihatte.

Vor ein paar Minuten hatte ich die E-Mail meiner Professorin Annette gelesen, in deren Betreffzeile »Glückwunsch!« stand. Die Mail war mit hoher Priorität gesendet worden. Sie verkündete, dass meine Abschlussarbeit im Fach Geologie, an der ich seit einem Jahr arbeitete, einen Nachwuchspreis gewonnen hatte. Ohne mir Bescheid zu sagen, hatte Annette das Exposé eingereicht, und die Jury hatte sich dafür entschieden. Ich wusste, dass der Preis mit 10 000 Euro dotiert war und dass er mir helfen würde, aus der Unsichtbarkeit meines Arbeitszimmers herauszukommen. Als wissenschaftliche Hilfskraft hatte ich für Annette Tausende Buchseiten kopiert, Texte geschrieben, sexistische Kommentare unter ihren Artikeln geblockt, Seminararbeiten korrigiert, Kaffeetassen abgewaschen und Bachelorstudenten die Mensa gezeigt. Selten hatte ich genug Zeit für meine eigene Forschung. Ich wusste, dass es nur wenige in den akademischen Mittelbau hinein und noch weniger darüber hinaus schafften. Deshalb trieb ich mich an, arbeitete nachts am Fließband, morgens für meine Forschung, nachmittags für Annette. Sie hatte heute schon dreimal angerufen. Die Frau schlief nie. Vermutlich hatte sie gerade an einer Studie oder einem Essay geschrieben, als sie die Nachricht der Jury bekommen hatte, und war davon ausgegangen, dass ich auch schon wieder am Schreibtisch saß.

Münzen rollten über den Bürgersteig, und das klirrende Geräusch brachte mich zurück auf die Straße in Kreuzberg, auf der ich herumstand und mit offenem Mund in den Himmel starrte. Ich sammelte das Geld auf, das mir heruntergefallen war, steckte das Portemonnaie wieder ein und ließ mich dann auf die Bank an einer Bushaltestelle sinken. Wie immer kam der M29, der auf Twitter zu Recht als Bus aus der Hölle gedisst wurde, viel zu spät. Darüber schimpfte auch die alte Dame, die neben mir saß und ihre Einkaufstasche, aus der massenhaft Karottengrün herausschaute, umklammert hielt, als wollte ihr jemand alles wegnehmen. Ihr Mann hatte die Tastentöne auf seinem Handy eingeschaltet, es piepte und klackerte, als er eine Nachricht schrieb. Ungeduldige Menschen schrien sich auf Sächsisch an. Grummelnd fotografierten sie die blinkende Abfahrtsanzeige mit ihren Smartphones.

Meine Augen blieben an einem großen grellpinken Plakat auf der anderen Straßenseite hängen. Darauf fütterten sich zwei halbnackte Frauen mit Eiscreme. Eine fette Schlagzeile verdeckte ihre Gesichter. Ich versuchte sie zu lesen. Der erste Buchstabe musste ein Z sein, der letzte vielleicht ein P. Weiter kam ich nicht. Wie bei einer fremden Sprache ergaben die aneinandergereihten Buchstaben keinen Sinn. Ich kniff die Augen zusammen. Wartete. Riss sie wieder auf. Versuchte es noch einmal. Das musste die plötzliche Aufregung sein, die mich überfallen hatte. Mein Leben war in den letzten Jahren zwar anstrengend, aber ruhig gewesen, ich war nichts mehr gewohnt. Es war nur ein kurzer Schock, der schnell vorbeigehen würde, redete ich mir ein. Für einen Moment breitete sich ein trügerischer Gleichmut in mir aus. Erleichterung, wie nach einer Lüge, an die man nicht mehr geglaubt hat und die dann doch noch verfängt und die Wogen eines Streits glättet. Ich wartete ein paar Minuten, bevor ich mein Handy aus der Hosentasche zog. Meine Hände zitterten noch immer. Das Display war voller kleiner Anzeigebilder der Apps, darunter mussten ihre Namen stehen. Egal, wie sehr ich mich anstrengte, sie zu lesen – das Einzige, was ich sah, waren Ansammlungen weißer Krümel. In meiner Brust zog sich etwas zusammen. Was war das? Ein Schlaganfall? Lähmung, Sprachstörungen, Schwindel, Kopfschmerzen. Ich spürte alle Symptome, von denen ich einmal gehört oder gelesen hatte, die auf eine schlimme Krankheit hindeuten konnten.

Ich wusste, dass ich Katastrophen voraussehen konnte, bevor sie eintraten. Das lag an dem Lawinengespür, das ich als Kind entwickelt hatte. Bevor Schnee und Schlamm einen Abhang am Großen Arber herunterstürzten, fühlte ich, dass etwas in der Luft lag. Wie bei Migräne oder Epilepsie gab es dafür Vorzeichen, eine Aura des eigentlichen Geschehens. Die Stille, die Konsistenz des ungewöhnlich schnell fallenden Neuschnees, eine schmerzhaft beißende Kälte. Irgendwann wurde ein Kipppunkt erreicht, und der Abgang war nicht mehr aufzuhalten. Manchmal löste ihn ein Tier aus oder ein Skifahrer, der außerhalb der Pisten unterwegs war. Blitzartig konnte dann eine ganze Schneeschicht abreißen und ins Tal rutschen. Der leichte Schnee, der ganz oben lag, vermischte sich zusätzlich mit der Luft und bildete eine Schneewolke. Diese konnte eine gigantische Druckwelle vor sich herschieben, die schon vor der Lawine alles zu Boden riss.

Die Katastrophe breitete sich vor mir aus. Ich sah mich im Notarztwagen liegen, blass, schwitzend, ohne Hoffnung auf Rettung. Ängstlich im Krankenhausflur, auf einem Klinikbett liegend, wartend auf Hilfe. Ich sah mich endlos Buchseiten kopieren, die ich nicht verstand, Bachelorstudenten, die über mich lachten, Annettes enttäuschtes Gesicht, als ich ihr sagte, dass ich nicht mehr für sie arbeiten konnte. Eine skeptische Jury, die mir den gerade gewonnenen Preis sofort wieder aberkennen wollte. Der faustgroße blutrote Klumpen in meiner Brust hämmerte panisch. Vor meinen Augen flimmerte die Luft. Die Menschen, die Bushaltestelle, die Hunde und Einkaufstaschen verschwammen. Tunnelblick; ich starrte auf das Display. Das Handy fiel mir aus der Hand und landete auf dem Bürgersteig, ein Riss durchschoss sofort das Glas. »Passen Sie doch auf!«, rief die alte Dame neben mir, als ich aufsprang. »Es tut mir leid«, murmelte ich und sammelte meine Sachen auf. Die Bücher lachten höhnisch, als ich die Tasche verschloss. Auf dem Weg zurück zu meiner Wohnung vermied ich es, die Straßenschilder oder Speisekarten vor den Restaurants anzusehen. Ich starrte auf den Boden und konzentrierte mich auf die abertausend Kaugummiflecken, die den Bürgersteig übersäten. Die vertraute Umgebung beruhigte mich ein wenig. Ich fand den Heimweg auch blind, so oft war ich ihn schon gegangen.

Seit einem Jahr verbrachte ich jeden Morgen in der Bibliothek. Ich hatte dort meine Lieblingsecke vor einem Fenster, in der ich meine Bücher stapeln und den Laptop mit einem großen Bildschirm verbinden konnte, auf dem ich das Modell des Gebirges gut sah. Nach ein paar Stunden konzentrierter Arbeit, die mich schweigsam und müde machte, aß ich ein spätes Mittagessen mit meinen Freundinnen und hastete ins Institut. Dort stellte ich ein paar Texte für Annette zusammen, schaute nach, ob sie etwas brauchte. Den frühen Abend verschlief ich vor irgendeinem YouTube-Video auf dem Laptop. Dann machte ich mir Brote, band meine Haare zu einem Zopf zusammen, zog den Overall und die Sicherheitsschuhe an und fuhr für die Nachtschicht mit dem Bus nach Marienfelde. Zusammen mit Orientalisten und Literaturwissenschaftlerinnen schliff ich dort im Werk kleine Makel aus Autokarosserien, verschraubte Autotüren und baute Bremslichter ein. Die Facharbeiter schüttelten jedes Mal den Kopf, wenn sich ein neuer Orchideenfächler vorstellte, um sich etwas dazuzuverdienen. Ich mochte die monotone Arbeit, die ganz anders war als das viele Lesen und Schreiben über den Tag hinweg. Meine Augen blieben über Stunden auf den Bildschirm gerichtet, auf dem Teile des jeweiligen Wagenmodells aufleuchteten. CLA 180 Coupé, GLA SUV, CLA Shooting Brake, ich hatte sie alle verinnerlicht. Ich drückte Grün, wenn die Karosserie intakt, Rot, wenn sie defekt, oder Gelb, wenn ich mir nicht sicher war.

Wir verbrachten die Pause in großer, lauter Runde im Innenhof, versammelt um das Glimmen der Zigaretten, und die Wortführer erzählten von Vietnam, Lateinamerika und dem Leben aus dem Rucksack, das sie angeblich führten, wenn sie nicht gerade mit Hochdruckreinigern den Werkstattboden sauber machten. Morgens zog ich den Overall aus, wusch mir das Gesicht, begrüßte meine Ablöse per Handschlag und kehrte zurück in die andere Welt. Ich schlief die Busfahrt über oder trank auf dem Weg durch die langsam erwachende Stadt einen staubigen Espresso aus der Kantine. Mit den Nachtschichten verdiente ich genug Geld, um mir eine Einzimmerwohnung in einem Haus leisten zu können, in dem keine Kinder durch das Treppenhaus rannten, niemand Gitarre übte oder so laut betete, dass ich mich nicht auf die Arbeit konzentrieren konnte. Außer mir wohnten glücklicherweise nur ältere Menschen hier.

Nachdem ich die Treppen in den zweiten Stock überwunden hatte, schlug ich die Wohnungstür hinter mir zu und sackte zusammen. Meine Beine gaben einfach nach. Auf Knien kroch ich durch den Flur zu meiner Matratze, rollte mich darauf zusammen, starrte auf die weiße Zimmerwand und die vielen Ausschnitte aus Zeitungen, die ich daran gepinnt hatte. Bilder, die mir nicht aus dem Kopf gegangen waren, nachdem ich einen Artikel gelesen hatte, und die ich um mich haben wollte. Spanische Strohhäuser, die von Überschwemmungen bedroht waren, eine ausgestorbene Fußgängerzone in Duisburg. Ich versuchte, an etwas Langweiliges zu denken und ruhig zu atmen. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Noch nie hatte ich jemanden hierher eingeladen, weil ich wusste, dass meine chaotischen Freundinnen ihre Chipstüten und Bierflaschen überall abstellen und ich am nächsten Tag die Asche ihrer Zigaretten von den Fensterbänken würde wischen müssen. Sie würden meine Kleider anprobieren, Essen aus dem Kühlschrank nehmen und mit fettigen Fingern in meinen Büchern blättern. Außerdem würden sie mich fragen, warum ich denn in einer Wohnung ohne Möbel lebte. Ich besaß tatsächlich nicht viel mehr als die Kisten für meine Kleidung und die Matratze, auf der ich schlief, aß und fernsah. Dann gab es noch einen Schreibtisch, an dem ich aus Gewohnheit nicht schreiben konnte, aber unter dem alle meine Bücher aufgestapelt waren.

Auf dem Tisch stand das 3D-Modell des Gebirges an der Grenze zwischen Tschechien und Polen, über das ich meine Abschlussarbeit schrieb. Mein Blick blieb daran hängen. In Gedanken kletterte ich über Felsen und Schutt, bis ich endlich die Gipfel vor mir sehen konnte. In meiner Arbeit versuchte ich zu beweisen, dass Teile des Gebirges ein sehr hohes Maß an Unversehrtheit aufwiesen und somit den besonderen Schutz der UNESCO verdienten. Dafür sollte ich nun also einen Preis bekommen. Es war surreal. Ich drehte mich zur Seite. Eine Teetasse vom letzten Abend stand noch auf der Spüle und störte die Ordnung. Wie in Trance stand ich auf, wusch die Tasse ab, wischte mit einem Lappen über das Spülbecken, den Schreibtisch und die silbrige Oberfläche meines Laptops, bis alles glänzte. Ich räumte meine Bücher wieder ein, wusch mir das Gesicht, zog meinen dunkelblauen Kaschmirpullover an, setzte mich auf den Stuhl und wählte den Notruf.

Nachdem ich dem Mann in der Leitung alles erzählt und seine Fragen beantwortet hatte, räusperte er sich. Seine Stimme klang gelangweilt, routiniert. Zur Sicherheit sollte ich alles abklären lassen, das sei ja klar. Er glaubte aber an eine harmlose Panikattacke durch die große Aufregung, die plötzlich über mich gekommen sei. Ich solle ruhig zum Mittagessen mit meinen Freundinnen gehen, vielleicht auch noch ein bisschen arbeiten, das würde mich entspannen, das spüre er auch aus der Ferne. »Rein für den Kopf« empfahl er einen Arzttermin für den nächsten Tag und wünschte väterlich eine schöne Woche. Auf sein Geheiß kämmte ich meine Haare, trank ein Glas Wasser und wartete auf die Erschöpfung, die mich nach der Ausschüttung von Adrenalin und Cortisol überkommen würde. Mein Hausarzt hatte am nächsten Tag eine Akutsprechstunde, zu der ich gehen konnte, und sicher würde er mir bestätigen, dass alles harmlos war. Als ich die Wohnung verließ und den immer gleichen Weg zum Gold Thai nahm, glaubte ich schon wieder an einen kleinen Ausreißer. Daran, dass ich auf gerader Strecke nur kurz gestolpert war und sich schon morgen alles aufklären würde. Dann könnte ich auch endlich Annette anrufen und mich für die Nominierung bedanken.

Zum Gold Thai lief ich wie über Watte. Jasmin und Harriet warteten schon in dem Imbiss auf mich, in dem wir zusammen Mittag aßen, wenn wir zwischen Kinderbetreuung, Forschung, Jobs und Dates dazu Zeit fanden. Sie waren gewohnt, dass ich nach der Arbeit konfus wirkte und schnell den Gesprächsfaden verlor. Meist zogen sie mich damit auf, manchmal waren sie genervt von meiner Abwesenheit. Aber sie tolerierten sie, so wie ich ihre vielen kleinen Spleens tolerierte, und unsere Freundschaft hielt schon seit vielen Jahren. Auch dieses Mal zogen die beiden nur kurz die Augenbrauen hoch, als ich sie, verschwitzt und für das Wetter viel zu warm angezogen, begrüßte und den Tisch mit einem Reinigungstuch abwischte.

Meine Besessenheit von dem einen für sie völlig beliebigen Gebirge war ihnen nicht ganz geheuer. Jasmin, die einzige Person über zwanzig, die ich kannte, die wieder bei ihren Eltern lebte – in einer schönen alten Villa mit einer knarrenden Treppe und einer Terrasse mit Seeblick, um die wir sie alle beneideten (um die Eltern und die Terrasse) –, verstand nicht, warum ich es so eilig hatte, mit der Arbeit fertig zu werden. Sie selbst studierte Filmwissenschaften im sechsten Jahr und liebte die Unverbindlichkeit, die mit der Zeit an der Uni einherging. Bevor sie sich von ihrem Freund getrennt hatte und wieder in ihr Elternhaus gezogen war, hatte sie durch Austauschprogramme in vier Ländern gelebt, sogar außerhalb Europas, wie sie betonte. Mit perfekt choreografierten Kurzvideos hielt sie uns und ihre zehntausend Follower auf Instagram darüber auf dem Laufenden, was sie auf ihren Reisen erlebte. Harriet hingegen glaubte, mich gut zu verstehen. Sie wusste, wie es war, wenig Geld zu haben, und meinte, dass ich all das tat, was ich tat, um endlich aus der Armut herauszukommen. Sie war immer knapp bei Kasse, weil sie nach einer abgebrochenen Ausbildung zur Schneiderin und den Schwangerschaften keiner mehr einstellte. Ihr großer Traum war es, Schauspielerin zu werden, was jedoch an mangelnder Ausbildung und Kontakten scheiterte. In einer Zeit, in der die Generation Z Praktika sammelte wie wir früher Festivalbändchen, würden die verlorenen Jahre schwer aufzuholen sein. Die schwarze Träne, die sie sich unter das linke Auge hatte tätowieren lassen, bekräftigte die gefühlte Aussichtslosigkeit ihrer Lage: Mit Mitte dreißig saß sie als Alleinerziehende mit zwei Kindern und traumatisierten Teilzeitpartnern in ihrer kleinen Wohnung in Neukölln fest und hielt sich mit Aushilfsjobs in Bars über Wasser.

»Du stinkst«, sagte Jasmin, nachdem sie mich umarmt hatte. Weil sie wusste, wie sehr sie mich damit nervte, schob sie hinterher: »Wann hast du eigentlich das letzte Mal einen Mann getroffen?« Jasmin wusste, dass ich seit der Trennung von Tom vor einem Jahr, der ihrer Meinung nach wirklich überhaupt nicht zu mir gepasst hatte, kaum mehr ausging und noch weniger Wert als vorher auf mein Äußeres legte. Jasmin, die immer über neue Berliner Modelabels Bescheid wusste und ihre Wochenenden auf Kleiderkreisel und Flohmärkten in den Außenbezirken verbrachte, nannte das Verschwendung von Potenzial. Ich verschwieg ihr, dass ich in einer Art stillem Arrangement manchmal mit meinem Kollegen Boris schlief, der durch seinen unsicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland viel arbeitete und sich nicht fest binden wollte, was mir nur recht war. »Das weißt du doch«, antwortete ich stattdessen. Jasmin rollte mit den Augen. Sie klopfte mit ihrem Smartphone auf den Tisch. »Dabei gibt es so viele Möglichkeiten, jemanden kennenzulernen. Und es würde dir ganz bestimmt guttun.« Ich wusste, dass Jasmin die Herzen der Männer auf OkCupid reihenweise brach. Manchmal stellte sie uns einen von ihnen vor, der sich dann unsterblich in sie verliebte und ihr noch wochenlang Nachrichten schickte, obwohl sie schon längst jemand anderen traf, den der Algorithmus in ihr Leben gespült hatte. Harriet fuhr sich durch die kurzen dunklen Haare und schielte auf den Teller, der vor Jasmin auf dem Tisch stand. Sie nahm einen kleinen Löffel ihrer Suppe, die sie sich über die lange Mittagspause einteilte, damit sie besser sättigte. Jasmin schob Harriet kommentarlos ihren Teller hin und ließ nicht von mir ab. »Nora, ich meine, es ist und bleibt ein grauer, alter Fels. Wie viel kann man darüber noch herausfinden? Nie hast du Zeit für die wichtigen Dinge.«

Jasmin kokettierte oft mit Oberflächlichkeit. Tatsächlich hätte sie eine der besten Studentinnen ihres Jahrgangs sein können, wenn sie sich nicht entschieden hätte, zurück zu ihren reichen Eltern zu ziehen, in ihrem Kinderzimmer abstrakte Aquarelle zu malen, Videos für Instagram zu drehen und durch die Welt zu reisen. Anders als Harriet und ich hatte sie auch keinen Druck, endlich Geld zu verdienen. Schließlich hatten ihre Eltern so viel zu vererben, dass noch Jasmins Kinder und wahrscheinlich auch ihre Enkelkinder nie würden arbeiten müssen. Trotzdem war Jasmin nicht ganz zufrieden mit ihrer Lage, sie vermisste etwas, das sie nicht richtig benennen konnte, und geriet darüber regelmäßig in Streit mit Harriet. Harriet wusste nämlich ganz genau, was ihr fehlte, und hielt Jasmins Sorgen für eine Unverschämtheit.

Ich wusste, dass ich den beiden die Neuigkeit mitteilen musste, weil sie es sowieso erfahren würden. Auch wenn ich Annette noch nicht geantwortet hatte, war bereits ein Foto von mir auf der Institutsseite veröffentlicht worden, das mich Arm in Arm mit ihr zeigte. Sie hatte es mir an ihre E-Mail angehängt. Eigentlich waren es gute Nachrichten, dass ich bald mehr Geld und Anerkennung bekommen würde, und ich wusste nicht, warum es mir so schwerfiel, sie auszusprechen. Ich atmete tief durch. In der Luft hing eine Mischung aus verbranntem Curry, Hoffnung und Neid. Um uns herum redeten alle über sich und warteten auf die Reaktionen der anderen: »Hast du schon von diesem Projekt gehört, das ich mache? Es läuft super.« Die beiden schauten mich erwartungsvoll an, als ich endlich begann zu erzählen, und Jasmin brach in übertriebenen Jubel aus, für den ich mich schämte. Sie fiel mir um den Hals, und ich wusste, sie meinte es ehrlich. Das machte es aber nicht besser. Harriet nickte anerkennend. Ihre Mundwinkel zuckten und formten etwas Ähnliches wie ein Lächeln, was in diesen stressigen Tagen schon sehr viel für sie war. Vermutlich enttäuschte ich die beiden, als ich mich schnell bedankte und das Lokal verließ, ohne die gebackenen Bananen und den Likör abzuwarten, den sie zur Feier des Tages für uns bestellen wollten.

Boris hatte momentan die Kurzwahltaste vier. Direkt nach den ersten drei Tasten, die mit Harriet, Jasmin und meiner Professorin belegt waren. Wie immer nahm er nach dem ersten Klingeln ab und schwieg. Wahrscheinlich hatte er geschlafen oder stundenlang ferngesehen. Cartoons und amerikanische Serien, die wir uns manchmal zusammen anschauten, wenn wir von der Aussicht, bald zur Arbeit zu müssen, sehr schlechte Laune bekamen. Ich brauchte Ablenkung und bat ihn, zum Flughafensee zu kommen. Wir trafen uns dort oft an einer der wenigen Buchten, die nicht zugemüllt oder von Hippies belegt waren, die nackt Hang spielten und verzückt vom Klang mit den Augen rollten.

Boris war früher da als ich und wartete, auf einem Baumstamm sitzend, der ins Wasser ragte. Seine Jeans hatte er hochgekrempelt, sodass die Knöchel sichtbar wurden. Seine schwarzen Haare hatte er ganz kurz schneiden lassen, sodass man die breite Narbe sah, die sich vom Scheitel bis hin zum rechten Ohr zog. Ich wusste nicht, woher sie stammte, aber es sah nach einer tiefen Wunde aus, die schon vor langer Zeit verheilt war. Boris lächelte mich an und balancierte auf dem Stamm zurück zum Ufer. Er tat so, als würde er abrutschen, nur um mein erschrockenes Gesicht zu sehen. Beleidigt schwamm ich ein paar Bahnen. Das Wasser war grün und algig, und trotzdem hatte ich kurz die Hoffnung, alle Probleme einfach zusammen mit dem Angstschweiß abwaschen zu können.

Wir lagen auf unseren Schlafsäcken, zugedeckt mit seiner Jeansjacke, schauten in den Himmel, durch dessen tiefes Blau sich zuerst gelbe Schlieren zogen, dann sattes Orange, schließlich flammendes Rot, bis er irgendwann schwarz wurde. Der See lag direkt in der Einflugschneise des Flughafens, weshalb die Flugzeuge ganz nah über unsere Köpfe hinwegzogen. Wir tranken sauren Weißwein aus der Flasche, verscheuchten neugierige Menschen. Schläfrig lächelnd zupfte Boris trockene Blätter aus meinem Haar. Er war der netteste meiner Kollegen, der neben Autotüren verschweißen auch schon Schokolade verpackt, Teller gespült und Spargelstangen sortiert hatte. Er bekam für die gleiche Arbeit fünf Euro weniger in der Stunde als ich, was er nie erwähnte, aber wir doch beide sehr genau wussten. Boris erzählte von den Feldern in Brandenburg und den Ferieninseln in der Ostsee. Es roch nach Harz und Sommer, irgendjemand sang laut ein erfundenes Lied über einen schwarzen Hund, den er nicht loswurde. Vielleicht waren es die Blumenkinder ein paar Buchten weiter. Boris’ Augen wurden dick von den fliegenden Gräserpollen. Dann schliefen wir miteinander, und ich vergaß den Unterschied zwischen uns gründlich, bis er sich nach seinem Orgasmus an mich schmiegte und mit den Armen meinen Brustkorb umklammerte, als wäre ich seine letzte Rettung. Sobald er eingeschlafen war, schob ich ihn zur Seite. Er grummelte ein bisschen und schlief dann weiter. Eine Weile lag ich noch in meinem Schlafsack herum und schaute in die traurige Krone einer Erle, die sich vom Wind herumschubsen ließ, bevor ich auch einschlief. Im Traum sah ich einem Herz beim Kontrahieren und Erschlaffen zu. Es saugte das Blut ein, pumpte es hinaus in die Gefäße. Als ich genauer hinsah, entdeckte ich, dass es nur eine Attrappe war, der Kunststoffabguss eines Herzens, den ich einmal aus dem Torso-Modell meiner Grundschule geklaut hatte. Aus lauter Angst, erwischt zu werden, hatte ich es auf dem Nachhauseweg in einen Mülleimer geworfen und unter einem Pizzakarton versteckt.

Als ich aufwachte, tränten auch meine Augen. Ich legte Boris sein T-Shirt zum Schutz vor Nacktschnecken über das hübsche Gesicht und schlich mich davon. Wir hatten die Nachtschicht verpasst und würden beide verwarnt werden. Es wurde schon wieder hell, und ich musste an die Bibliothek denken, den Ort, den ich so mochte und der mir jetzt Angst machte, weil er voller Bücher war, in denen Sätze, Wörter, Buchstaben standen. Der Anruf bei Annette und der Besuch beim Hausarzt standen mir bevor.

In der Nacht war es kalt geworden, und ich beeilte mich, meinen Pullover anzuziehen und einen halben Liter Wasser zu trinken, während ich mich auf die warme U-Bahn freute. Auf der Müllerstraße führten in dicke Mäntel eingehüllte Männer die Pinscher ihrer Freundinnen aus, um in Ruhe eine Morgenzigarette zu rauchen. Die Hunde wühlten in den Laubhaufen am Straßenrand. Vor den Bäckereien tranken kleine Gruppen Schwarztee. Verlorene Kebabreste lagen auf der Straße. Die Stadtreinigung begann mit dem Aufräumen. Halbe Kinder in Peniskostümen torkelten vorbei, ich tippte auf Erasmus-Studenten. Sie trugen Stammestattoos: schwarze Ringe um die Oberarme, Maori-Symbole auf den Waden. Ihnen flossen die Sätze, die sie am nächsten Tag bereuen würden, nur so aus dem Mund, immerhin kotzte noch keiner.

Ich wich ihnen aus und versuchte, den Text auf einem Straßenschild zu lesen, das leuchtende Logo eines Dönerladens, das Etikett meiner Wasserflasche. Doch es funktionierte nicht, die Worte verweigerten sich mir einfach. Zitternd stieg ich in die U-Bahn. Mein Chef rief an, später Annette, noch später Boris. Ich erkannte es an den Emojis, die ich hinter ihren Namen eingefügt hatte. Eins schnaubte vor Wut, eins dachte nach, eins heulte vor Lachen.

Mein Hausarzt, dem ich von meinem neuen Problem, Buchstaben zu Wörtern und Wörter zu Sätzen zu formen, erzählte, schüttelte den Kopf, als ich von einem Schlaganfall sprach, von Demenz oder Erblindung. Er glaubte mich zu beruhigen, als er sagte, für all das spräche nichts und dass auch seine Tests nichts ergeben hätten. Er stellte mir eine Überweisung für ein CT aus. Weil ich keine Ruhe gab, verwies er mich noch an seinen Praxiskollegen, der mich ebenfalls schulterzuckend ansah und etwas von »psychosomatisch« murmelte. Ich verstand nicht, was er meinte. Bis er das Wort aussprach, war ich davon ausgegangen, gar keine Psyche zu haben. Und erst recht keine Seele. Mir war klar, dass selbst die Plastikflasche, die ich in der U-Bahn vergessen hatte, eine längere Halbwertszeit haben würde als meine Gedanken und Gefühle. Plastik vermodert nicht, es verrottet nicht, es zerfällt nicht, oder jedenfalls nur sehr, sehr langsam. Eine Einkaufstüte schwimmt zehn bis zwanzig Jahre lang im Meer, bis sie ganz zerrieben ist, eine PET-Flasche zersetzt sich erst nach vierhundertfünfzig Jahren und wird auch dann nicht vollständig abgebaut, sondern nur immer kleinteiliger. Dann reichern sich die Kunststoffpartikel an Stränden, in Meeresstrudeln und Sedimenten an. Wie viel flüchtiger waren da mein Schuldgefühl angesichts des Unterschieds zwischen Boris und mir und meine Angst vor einem Preis für meine Arbeit, der mich doch endlich weiterbringen sollte.

Der Arzt sagte, dass ich eigentlich gesund sei. Zumindest verstand ich ihn so. Er hatte das Wort »psychosomatisch« auf eine Weise ausgesprochen, die keinen Zweifel daran ließ, dass es nicht so schlimm um mich stand. »Psyche ist wie Rücken«, hatte er gesagt. »Das hat jeder mal. Vielleicht brauchen Sie einfach ein bisschen Entschleunigung.« Als ich von der Abschlussarbeit und meinen zwei Jobs erzählte, nickte er wissend. »Da haben Sie’s.« Auch wenn ihm alles klar zu sein schien, kapierte ich trotzdem nichts. Ich wusste nur, dass ich als Kind stundenlang im Garten gesessen und gelesen hatte, die Bücher sich neben mir stapelten und in meinem Kopf Wissenschaftler mit runden Brillen Silikatgestein zerschlugen. Das Lesen stieß mir einfach zu, wie die vielen kleinen Schürfwunden, die ich mir auf den Knien rutschend holte, während ich zusammen mit meinem Vater Proben aus Felsspalten schabte.

Die Bibliothek war mein safe space