Lea und das blaue Glück - Wiebke Wiedeck - E-Book + Hörbuch

Lea und das blaue Glück E-Book und Hörbuch

Wiebke Wiedeck

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Beschreibung

Eine junge Frau, ein Fahrrad und ein Adler. So beginnt ein Weg, auf dem nicht nur ein Familiengeheimnis gelüftet wird, sondern auch die Erkenntnis reifen darf, dass alles miteinander verbunden ist. Lea ist mit ihren siebzehn Jahren ganz schön stark, obwohl sie sich nicht so fühlt und alles in ihrem Leben schief zu laufen scheint. Als die ihr wichtigste Person plötzlich stirbt, scheint es zunächst, als bräche alles zusammen, und doch es ist der Anfang von etwas, das sie endlich zu sich selbst führt. Leas Erkennungszeichen ist eine blaue Mütze, unter der sie am liebsten unsichtbar wäre. Hin und her gerissen zwischen Wut und Traurigkeit beginnt sie, ihren eigenen Weg zu gehen. Der führt sie Richtung Meer und lässt sie auf Menschen treffen, die auf überraschende Weise miteinander verbunden sind. Ein Adler weicht nicht von ihrer Seite, bis sie wieder befreit atmen kann. Was Lea am Ende für sich verstanden hat ist weit mehr, als nur die Zusammenhänge in dieser Welt.

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Seitenzahl: 145

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Zeit:4 Std. 21 min

Veröffentlichungsjahr: 2020

Sprecher:Wiebke Wiedeck

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Für meine Söhne

und alle Töchter dieser Welt

Ich weiß, dass ich vertrauen kann. Es wird passieren,

was passieren soll.

Woher ich das weiß? Frag den Adler. Er wird dir ganz

sicher eine Antwort geben.

Ich bin mittelgroß, schmalbrüstig und habe Haut, die aussieht, als würde der Mond durchscheinen. Meine Haare sind blond. Nicht das tolle Blond, welches Menschen glitzern lässt und ihnen eine Art Heiligenschein beschert. Nein, eher so Straßenköterblond, ein Blond, bei dem du ständig das Gefühl hast, du müsstest es waschen. Oder färben. Oder verstecken. So ein Blond. Deshalb trage ich auch am liebsten meine blaue Mütze, die wie ein Eierwärmer meinen Kopf schützt. Diese Mütze hilft mir, mich zu verstecken. Oder auch Dinge nicht zu hören, die ich nicht hören möchte. Es ist kaum zu glauben, wie wunderbar es möglich ist, sich unter einer solchen Mütze unsichtbar zu machen. Für all die, die mich nerven.

Ich habe zu lange Beine und einen zu kurzen Oberkörper. „Heb‘ sie“, sagt meine Sportlehrerin immer, wenn ich versuche, über den Bock zu springen. Oder über das Pferd. Oder wenn ich die Stange hochkrieche. Die anderen Mädchen lachen, wenn meine Lehrerin das sagt und wispern sich blöde Begriffe zu, die mich wohl treffen sollen. Doch sie treffen mich nicht, sie machen mir nicht einmal etwas aus. Wirklich nicht. Es ist mir egal, was sie von mir denken. Ich muss nicht dazu gehören. Nirgends.

Irgendwann musste ich mich entscheiden. Zwischen einem Leben mit Lippenstift und Instagram und Fotos und Küsschen rechts und Küsschen links. Dann bist du „In“. Oder einem Leben draußen. Kein Insta. Nicht cool sein. Kein Lippenstift und erst recht kein Küsschen. Dann bist du „Out“. Ist beides gleich anstrengend übrigens. „In“ genauso wie „Out“.

Wenn alle anderen ihren Weg gehen und du deinen, der anders ist, fühlst du dich wie ein Stein, der in einem Flussbett das Wasser teilt. Du fließt nicht mit. Du bist anders, aber du kommst auch nicht voran. Du krallst dich fest an dem Untergrund und hast doch unglaubliche Mühe, nicht doch irgendwann einfach mitgespült zu werden. Anders sein ist anstrengend. Nicht anders sein genauso. Muss es einfach sein. Wenn ich mir die Mädchen meiner Klasse anschaue, die „in“ sind, und wie sie ständig damit zu tun haben, das auch zu bleiben, tun sie mir manchmal richtig leid. Sie machen Fotos, laden diese hoch, zählen ihre „Likes“, warten auf Antworten von Jungs, die sie cool finden. Sie haben den ganzen Tag damit zu tun, sich abzugleichen, sich zu vergleichen, sich gegenseitig toll zu finden und unter ihre Bilder zu schreiben, wie wundervoll sie die andere finden. Dabei können sie sich manchmal nicht in die Augen schauen, so sehr widern sie sich an.

Ich mache gar nichts von all dem. Das scheint die anderen unglaublich aufzuregen. Und deshalb bin ich ständig ihre Zielscheibe. Das an sich abprallen zu lassen, ist anstrengend. Wirklich.

Ich kann mit niemandem groß darüber reden. In unserer Klasse gibt es nur noch ein Mädchen, das auch nicht „in“ ist. Susi. Susi ist mir keine große Hilfe. Sie redet ständig mit sich selbst und ich habe das Gefühl, manchmal auch mit ihrer Federtasche oder mit ihren Heftern. Das finde sogar ich irgendwie etwas komisch. Ich habe kein Problem mit ihr, suche aber auch nicht intensiv ihre Nähe. Ansonsten gibt es noch zwei Jungs, die auch nicht „in“ sind. David. Und Matti. David ist neu. Er spricht noch nicht so viel Deutsch. Er hat eine Hautfarbe wie das dunkle Braun unseres Esstischs in unserem Wohnzimmer. Seine Haare sind schwarz und kraus und ich möchte am liebsten ständig da hineinfassen. Einfach, weil ich solche Haare noch nie angefasst habe. Mach ich aber nicht. David ist nicht besonders offen. Er schaut kaum hoch und schweigt viel. Ich glaube, er versteht sehr wenig und versucht das nicht zu zeigen. Manchmal sehe ich ihn vom Klo kommen und könnte wetten, dass er geweint hat. Seine Augen sind dann rot und er schaut verzweifelt. Doch das versucht er nicht zu zeigen. Wir weinen nicht. Wir sind 17. Da weint keiner mehr, der nicht ab sofort als Looser einen festen Platz in unserer Schule haben möchte. Und doch tut er mir irgendwie leid. Er sieht aus, als hätte er Dinge erlebt, die er nicht hätte erleben sollen.

Dann ist da noch Matti. Matti ist schwer zu beschreiben. Und noch schwerer zu verstehen. Manchmal wirkt er wie jemand, der total durchsieht. Ein anderes Mal hat er sich null im Griff. Er war schon so oft beim Direktor, weil er austickte, dass es sich ganz normal anfühlt, wenn er sich mal wieder auf den Weg zu ihm macht. Er haut einfach mal hin, wenn ihm was gegen den Strich geht. Und das passiert oft. Ihn regen vor allem die Jungs auf, die von Papa in seinem dicken Auto zur Schule gefahren werden und die dann den ganzen Tag nur von Kohle reden und davon, wie cool sie sind und noch davon, wen sie alles angeblich schon flachgelegt haben. Neulich hat so einer dieser Jungs Witze über Susi gemacht, da ist Matti einfach aufgestanden und hat ihm eine gelangt.

Der Junge lag auf der Erde, wand sich und seine Nase tropfte anklagende rote Punkte auf den verdreckten Schulfußboden. Aus seinem verzerrten Mund kamen Worte wie „Anwalt“ und „meinem Vater“, was Matti noch wütender machte. Erst eine wirklich entschlossene Lehrerin schaffte es, den weißgewordenen Kopf mit roten Punkten aus Mattis Zangenumklammerung zu ziehen, die sich um den dünnen Hals des Jungen gelegt hatte. Dabei musste sie Matti in Aussicht stellen, dass er von der Schule fliegen würde, wenn er den anderen nicht sofort loslassen würde. Dieser röchelte bereits und Matti grinste schief, als er mit einem Ruck die Arme öffnete. „Platsch“ machte es, als der Junge zu Boden sank und dabei erneut mit dem Kopf gegen einen Stuhl knallte. Die Lehrerin nahm Matti nur stumm mit und zerrte ihn zum Direktor. „Drei“, sagte ich leise. Es war das dritte Mal, dass das in diesem Monat passierte. Ich zähle mit.

Zu Hause erwartet mich das dunkle Wohnzimmer. Es ist dunkel, seit ich denken kann und seit ich denken kann, liegt meine Mutter im Bett. Sie liegt da und starrt die Decke an und steht nur auf, um etwas zu essen oder kurz das Bad zu benutzen. Sie ist ganz dünn, kein einziger Muskel bleibt an ihren Knochen hängen, wodurch sollte er sich auch bilden? Die Haare meiner Mutter haben dasselbe Aschblond wie meine, nur sind ihre dünn und lang. Wirklich lang. Sie gehen ihr fast bis zum Po. Manchmal, wenn sie zu verfilzt sind, nimmt sie eine Schere und schneidet einfach ein Stück ab. Die abgeschnittenen Haare segeln dann traurig zu Boden, wo sie liegenbleiben wie Gardinen. Irgendwie erinnern mich die Strähnen an Boote, die auf dem nackten Boden zerbrochen sind und verzweifelt das Meer suchen, auf dem sie frei sein könnten. Doch es gibt kein Meer, keine Freiheit. Nur die kalten Fliesen im Bad, auf denen die kleinen Boote entlangsegeln, wenn ein Lufthauch über sie hinwegfegt. Sie landen traurig unter der Badewanne. Oder in einer der schmutzigen Ecken. Und sterben da.

Meine Mutter hat aufgegeben. Irgendwann. Ich kann sie nicht dafür verurteilen, ich will sie nicht dafür verurteilen. Sie tut mir nur leid. So unendlich leid. Es muss einmal eine andere Version meiner Mutter gegeben haben. Es gibt Fotos von ihr, bevor ich geboren wurde, da war sie jung. Schön. Und schon damals hatte sie diese langen Haare und die Jungs waren verrückt nach ihr. Erzählte mir einmal meine Oma. Sie tanzte und sang und dann irgendwann kam wohl ich. Und mit mir die Traurigkeit. Warum das so ist? Ich weiß es nicht. Meine Oma hat immer nur tief geseufzt, wenn ich sie danach fragte. Und ich musste gleich mitseufzen. Es ist nicht schön, wenn du denkst, dass du der Grund für die Traurigkeit deiner Mutter bist. Für eine Traurigkeit, die so bodenlos ist, dass meine Mutter keinen Halt mehr hat und ständig über einem Abgrund schwebt. Ehrlich gesagt ist es nicht nur nicht schön, es ist sogar furchtbar. Ich fühle mich, als ob ich mein Leben nicht verdient hätte. Und nicht nur das. Als ob ich jedes Lachen, jede Freude und jedes Glück nicht verdient hätte. Irgendwie bin ich der Grund dafür, dass meine Mutter in diesem Loch aus Matratzen liegt und kaum noch am Leben ist. Sie hat sich verabschiedet. Als ich kam. Wie absurd.

Dass unser Leben überhaupt irgendwie funktioniert und ich nicht längst bei einer Pflegefamilie lebe, habe ich meiner Oma zu verdanken. Sie hat sich um mich und meine Mama gekümmert, seit ich denken kann. Meine Oma war immer sehr praktisch. Ich habe nie gesehen, dass sie meiner Mama über den Kopf strich oder einmal ihre Hand hielt. Für solche Gesten hatte sie nichts übrig. Auch mir gegenüber nicht. Wenn ich weinte, packte sie mich ein und ging mit mir hinaus. Sie zeigte mir die Blätter an den Bäumen und die dünnen Adern, die in ihnen wohnen. Dann zeigte sie auf ihre Hand und brachte mir bei, dass alles eins ist. Dass wir alle verbunden sind. Die Blätter, ihre Hand, der Himmel, die Erde, ich, meine Mutter. Oma meinte, dass diese Verbundenheit tief in uns ist und wir sie spüren, wenn wir still sind. Und wenn wir wirklich in uns hineinfühlen. Und so war ich still und spürte. Ich weiß nicht, was Oma meinte, aber so mit ihr da zu stehen, ganz still und zu fühlen – das war schön.

Meine Oma hat mir ein Zuhause gegeben in dem dunklen Loch, in dem ich gemeinsam mit meiner Mutter hause wie ein Eremit. Manchmal, wenn ich früh wach werde, sehe ich Stalagmiten und Stalaktiten, die von unten und oben in den Raum hineinwachsen. Ich sehe Feuchtigkeit auf den Wänden, die wie farbige Kugeln kreuz und quer Richtung Teppich perlt. Ich sehe grünes, blaues und rotes Moos, aus dem dieser Teppich zu bestehen scheint. Und darinnen winzige Käfer, die wispernd ihren Weg ziehen und mich mit langen Blicken ansehen. Ich sehe kleine Tausendfüßler, die an meinen Füßen kleben und meine Zehen lecken. Ich spüre ihre kleinen Zungen und ihre Füßchen und muss kichern. In dieses Kichern mischt sich der Laut meiner Mutter, wenn sie versucht, aus dem Bett aufzustehen. Ich bin schlagartig wach und alle Stalagmiten und Käfer und Würmchen, ja selbst das blaue Moos zerfallen in der Klarheit der Realität zu Staub. Ich versuche bei ihr zu sein, bevor ihre kraftlosen Beine zerbrechen und ich versuchen muss, sie von dem hochzuheben, was letztlich nur ein alter, verblichener und trauriger Teppich ist. Ich wäre am liebsten ständig bei meiner Oma, aber dann würde meine Mutter nichts mehr essen. Oder noch schlimmer. Sie wäre vermutlich in der Psychiatrie. Ich war dort einmal. Gemeinsam mit meiner Oma. Wir hatten versucht, einen Platz zu finden für meine Mutter, einen Platz, wo sie in ihrer Traurigkeit sein kann und behütet ist und umsorgt wird. Einen Platz, der mir hilft, ein eigenes Leben zu führen. Einen Platz, der mich rettet. Doch gefunden hatten wir nur leere Blicke von Ärzten, kalte Fliesen, Patienten, die sich aufzulösen schienen und ein riesiges Nichts, das dir den Atem nimmt, sobald du ihm näherkommst. Dieses Nichts roch nach Desinfektionsmittel und hatte sich eingegraben in die Haut der Menschen, die uns dort begegneten. Es wohnte in deren Augen und noch schlimmer, es hatte auch ihre Herzen besetzt. Dieses Nichts war so umfassend und einnehmend, dass meine Oma nach zehn Minuten in großen Schritten das Krankenhaus verließ. Draußen atmete sie mehrmals tief ein und aus und brabbelte etwas wie: „Dass es so was heute noch gibt.“ Und: „Ist ja furchtbar.“ Dann sah sie mich von oben bis unten an, wischte einen Fussel an mir weg, den es gar nicht gab, und sagte laut und bestimmt: „Wir schaffen das schon.“

Und ich nickte und glaubte ihr. Ich glaubte ihr wirklich. Bis sie letztes Jahr starb.

Ich liege in etwas sehr Weichem. Nein, ich liege nicht, ich schwebe fast. Um mich herum ist es geborgen und schummrig und mir geht es gut. So unendlich gut. Neben mir ist jemand. Und das fühlt sich wunderschön an. Dieser Jemand berührt immer wieder meine Haut, als ob er sich vergewissern wollte, dass ich wirklich da bin. Er schmiegt sich an mich und ich mich an ihn. Es ist warm und meine Haut seufzt, so wohl fühle ich mich. Eine Hand streicht sanft über meine Stirn, Lippen streicheln meine Wange. Ich bin zufrieden und unendlich glücklich. Alles ist perfekt, so, wie es ist. Ich will nichts, suche nichts und könnte ewig so schweben. Durch diese Geborgenheit dringt der Schrei eines Vogels. Eines großen Vogels. Ich höre ihn und fühle mich seltsam berührt.

Ich wache auf. Es ist Morgen. Der letzte Schultag vor den Ferien. Draußen brüllt der Sommer, und ich möchte ihn am liebsten reinlassen. Ich möchte sehen, wie sich unsere Wohnung mit Licht füllt, während ich die Fenster öffne. Möchte sehen, wie meine Mutter sich langsam diesem Licht zuwendet und erstaunt in das Blau des Himmels schaut. Ich möchte sehen, wie die Staubkörnchen sich davonmachen und mit dem Wind aus dem Fenster tanzen, der durch unser Wohnzimmer saust. Und aufräumt. Für immer. Doch, ich tue es nicht. Ich lasse die Vorhänge zu und bringe meiner Mutter eine Tasse Tee.

Auf dem Weg zur Schule denke ich über diesen Traum nach. Ich habe ihn oft und in letzter Zeit fast täglich. Nirgendwo in meinem Leben fühle ich mich so wohl, wie in diesen Momenten in der Nacht. Es ist zum verrückt werden, dass ich in meinen Träumen so geborgen bin, doch mein Leben ein einziges Drama ist. Während ich das noch denke, werde ich von hinten unsanft geschubst und ein widerliches Lachen begleitet meinen Fall. Ich schaue nicht einmal hoch, da es mir egal ist, wer es war. Ich sehe nur, dass mein ohnehin maroder Rucksack durch den Stoß völlig seinen Geist aufgegeben hat und meine Schulsachen sich in einem stillosen Durcheinander neben mir auf der Erde befinden. Na prima, denke ich, und reibe über mein aufgeschürftes Knie. Plötzlich sehe ich Hände, die mit mir gemeinsam meinen Kram einsammeln und sogar mein Haargummi aufheben, das ein ganzes Stück weiter geflogen ist. „Das sind doch Idioten“, sagt Matti, als er mir meine Sachen hinhält. „Ehrlich, ich könnte jedem jeden Tag stundenlang welche reinhauen. Ich weiß gar nicht, warum es nur mir so geht, aber ich scheine der Einzige zu sein, der diese Riesenwut in seinem Bauch hat.“ Ich weiß genau, wie es ihm geht, nur meine hat sich irgendwann die Jacke angezogen und ist jämmerlich davongeschlichen. Ich hätte sie sehr gern wieder, diese Wut, denn ich mochte sie. Sie half mir, zu überleben, wenn meine Mutter kaum noch atmete. Sie wohnte auch in meiner Oma und manchmal droschen wir mit Kissen aufeinander ein, um ihr Platz und Raum zu geben. Wir nannten das „Kissenschlacht“ und waren am Ende immer völlig erledigt. Aber wir lachten, wir lachten uns kaputt, wenn wir mit unseren zerbeulten Kissen nebeneinandersaßen, unsere dicke, rote Wut zwischen uns. Wir lachten und unsere Wut lachte mit und das war alles in Ordnung so. Doch als meine Oma starb, ist sie gegangen. Meine Wut muss einen neuen Besitzer haben, denn ich habe sie nicht mehr gespürt, seit ich von Omas Grab weggegangen bin. Ich war einmal noch dort im letzten Jahr und hoffte auch, dass meine Wut da vielleicht irgendwo säße. Aber sie war nicht da. Sie ist weg. Und sie war mir so viel lieber, so sehr viel lieber als dieses leere, graue Nichts, dass jetzt ihre Stelle eingenommen hat. „Mein Therapeut nennt das Impulskontrolle. Das heißt so, wenn ich nicht allen eine reinhaue, denen ich gern eine reinhauen würde. Merkwürdiges Wort. Aber, es hilft. Anstatt jemandem eine reinzuhauen, einfach was anderes machen.“ Er blinzelt in das Sonnenlicht. „Aber Wut habe ich trotzdem.“ Sagt es und geht. Ich schaue ihm nach. Vielleicht hat sich meine Wut mit seiner verbündet und beide wohnen jetzt bei ihm?

Der Sekundenzeiger rückt sehr langsam voran. Es ist, als ob er mitten in jedem seiner Schritte anhalten würde, um zu stoppen. Er stoppt, schaut auf mich hinunter und setzt ganz langsam seine Schritte fort. Und dann bei dem nächsten Schritt macht er es genauso. Ich starre ihn an. Gleich ist es geschafft. Die letzte Stunde vor den Ferien ist gleich vorbei. Mein Zeugnis ist im Rucksack und ich kann dann alle hier hinter mir lassen. Nicht, dass mich etwas allzu Tolles erwartet. Es sind meine ersten Ferien, seit Oma tot ist und ich weiß überhaupt nicht, wie ich all die Wochen totschlagen soll, die nun auf mich warten. Aber hier drin zu bleiben, in diesem Klassenzimmer, fühlt sich einfach nur falsch an. Und ich muss hier raus, dringend, das spüre ich. Klack, wieder einen kleinen Schritt weiter. Ich schiebe meine blaue Mütze auf dem Kopf hin und her. Sie beschützt mich und hält mich. Wahrscheinlich falle ich einfach auseinander, wenn ich sie abnehme. Ich überlege kurz, ob ich das soll.